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Ich, er und die Liebe

von

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Von karierten Zetteln und nervigen Oberlippenbärtchen

Ach, da seid ihr ja wieder.

 

Hi.

 

Ja, alles gut bei mir.

 

Warum ich so komisch gucke?

 

Na weil ihr mal so überhaupt gar nichts verpasst habt in der Umkleidekabine.

 

 

T war schneller weg, als ich „schicke Shorts“ auch nur denken konnte. Jo hat ihn in seine Klamotten geprügelt, um „nur Mia“ noch abpassen und ihr ne Frikadelle ans Ohr labern zu können. Und ich? Ich hab einen auf Schnecke gemacht. Die nächste Stunde war nämlich Geschichte und darauf hatte ich ja mal so gar keinen Bock.

 

Ich quälte mich also so richtig motiviert die Treppen hoch bis zu unserem Klassenraum. Der lag zwar nur im zweiten Stock, aber wegen der unterirdischen Turnhalle (Vorsicht Wortwitz!) waren das echt viele. Ich ging so langsam ich konnte, ohne rückwärts wieder runterzufallen, aber irgendwann war halt auch die schönste Galgentreppe mal zu Ende.

 

Als ich oben ankam, saßen die anderen noch auf dem Flur herum. Irgendwer hatte nämlich beschlossen, dass Schüler, die sich bereits vor dem Unterricht in den Klassenräumen befinden, nur Blödsinn anstellen. Deswegen waren die Klassen in der Regel abgeschlossen und wir solange auf den Gang verbannt, bis unsere Lehrkraft geruhte aufzutauchen und uns reinzulassen.

 

Ich ließ mich neben Anton auf den Boden fallen. Er blickte nicht auf, sondern murmelte nur irgendwas hinter seinem Buch hervor, das mit viel Augenzudrücken als Begrüßung durchgehen konnte.

„Morgen“, brummte ich zurück und sah mit Entsetzen, dass am Ende des Gangs bereits Herr Vogel erschienen war, die Geißel meiner jetzigen Geschichtsstunden. Obwohl man ihm zugutehalten musste, dass er es echt versuchte. Für ihn war Geschichte wohl zusammen mit Deutsch, dem anderen Fach, das wir bei ihm hatten, die absolute Königsdisziplin. Leider lief sein Unterricht in der Regel so ab, dass die zwei Geschichtscracks, Jonas und Ben, alles vorlernten und sich mit Herrn Vogel über das jeweilige Thema unterhielten, während der Rest von uns lediglich körperlich anwesend war und versuchte nicht einzuschlafen. Oder zumindest beim Schlafen nicht mit dem Kopf auf die Tischplatte zu knallen.

 

Auch heute kam Herr Vogel wieder voller Tatendrang auf uns zu. Nun, eigentlich war es eher ein würdevolles Schreiten. Der Mann hatte was von einem Graureiher, sag ich euch. Groß, dünn und grauhaarig, mit einer immer leicht gestelzt wirkenden Art und Weise. Trotzdem machte sich nie einer über ihn lustig. Er hatte so etwas Respekteinflößendes, obwohl er nie laut wurde oder Strafarbeiten verteilte, wenn man mal wieder die falsche Antwort gegeben oder die Hausaufgaben vergessen hatte. Aber wenn er einen so ansah mit diesem Blick, bekam man unweigerlich das Gefühl, gerade etwas sehr, sehr Schlimmes getan zu haben.

 

Herr Vogel öffnete also die Tür und wir drängelten uns braven Schafen gleich hindurch zu unseren Plätzen. Als bereits alle saßen, ging die Tür noch einmal auf und T und Jo kamen herein. Sie ignorierten den Blick vom Lehrerpult gekonnt und ließen sich auf ihre Stühle fallen. Jo sah ziemlich zufrieden aus, während an Ts Gesicht mal so gar nichts abzulesen war. Wahrscheinlich ging ihm die Welt im Allgemeinen und Geschichte im Besonderen total am Arsch vorbei. Man, der war so cool, der pinkelte bestimmt Eiswürfel. Haha.

 

Herr Vogel räusperte sich, bevor er zu sprechen begann.

„Da jetzt alle von euch geruht haben, dem Unterricht beizuwohnen, will ich mit einer Ankündigung beginnen. Nachdem wir letzte Stunde erfolgreich die Weimarer Republik abgeschlossen haben …“ (Hatten wir?) „werden wir jetzt mit dem Thema Nationalsozialismus beginnen. Dazu werde ich zunächst eine Reihe von Partnerprojekten verteilen. Wenn das entsprechende Thema dran ist, werdet ihr eurem Klassenkameraden darüber einen etwa halbstündigen Vortrag halten.“

 

Ein Stöhnen lief durch die Klasse.

 

„Die Partner des Projekts werden wir auslosen.“

 

Das Stöhnen verwandelte sich in empörte Ausrufe.

 

„Aber Herr Vogel, das ist doch voll ungerecht.“

 

Natürlich war Ben der Erste, der protestierte. Ich hatte erwähnt, dass er immer dagegen war, oder? Außerdem hatte er bestimmt gehofft, in eine Gruppe mit Jonas zu kommen, damit die beiden ihre halbe Stunde zu einem dreistündigen Vortrag ausdehnen und uns andere damit endgültig zu Tode langweilen konnten.

 

„Warum denn nicht? Ist doch ne gute Idee, mal die Gruppen neu zu mischen. Das ist gut für den Klassenzusammenhalt.“

 

Ach ja, was war Sandra doch engagiert. Die war bestimmt auch Mitglied in drei Tierschutzvereinen und las am Wochenende alten Damen im Altenheim vor.

 

„So ähnlich war die Idee. Danke Sandra.“ Her Vogel lächelte mild und Sandra strahlte. „Deswegen wird jetzt die Hälfte von euch, die links von mir sitzt, ihre Namen auf Zettel schreiben, während die andere Hälfte dann jeweils einen davon ziehen wird. So sollten wir eine genügende Grunddurchmischung erwirken.“

 

Okay, ich gebe zu, ich hatte beim letzten Satz schon abgeschaltet, denn mein Gehirn machte gerade ganz, ganz, ganz dumme Pläne. Wenn ihr euch die Klasse jetzt nochmal vorstellen wollt, hieß die Regelung, die Herr Vogel gerade vorgeschlagen hatte, dass ich dich tatsächlich die Chance hatte, Theodor von Hohenstein, den heimlichen Schwarm von ungefähr zwei Dutzend Mädchen und meiner schwulen Wenigkeit als Projektpartner zu kriegen. Ich kriegte feuchte Hände und sah es schon bildlich vor mir:

 

Wir würden jede Menge Zeit miteinander verbringen und uns auf Anhieb total gut verstehen. Ich würde ihn einladen, die Projektarbeit doch einfach mal zu mir nach Hause zu verlegen. Dort würden wir lernen und ganz die Zeit vergessen, weil wir neben dem Projekt noch ganz viel andere Gemeinsamkeiten entdecken würden, über die wir quatschen konnten. Er würde abends noch bleiben, wir würden mit Chips und Cola im Dunkeln auf meinem Bett liegen und einen Film gucken. Unsere Hände würden sich immer wieder ganz zufällig in der Chipstüte begegnen, ich würde ihm einen hartnäckigen Krümel vom Mund wischen und dann …

 

„Benedikt? Wenn du bitte einen Namen ziehen würdest?“

„Hä?“

Ich blinzelte Herrn Vogel an, der mir die Plastikschüssel unter die Nase hielt, in der normalerweise die Kreide aufbewahrt wurde. Trug denn heutzutage keiner mehr Hüte? Oder wenigstens ein Cappy? Wie stillos! Echt mal.

„Klar“, murmelte ich und zog einen Zettel aus der Schale. Er war klein, ziemlich oft gefaltet und offenbar aus einem Matheheft herausgerissen worden.

 

Ich schluckte und traute mich nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn ich jetzt tatsächlich T gezogen hatte? Im nächsten Augenblick schalt ich mich einen Dummkopf. Wahrscheinlich bekam ich statt meines Traumprinzen ohnehin Timo oder so.

 

Timo war einer der anderen Nerds aus der Lehrmittelbücherei. Er trug grundsätzlich nur braune Klamotten – ich vermute stark, dass seine Eltern ihre Sachen aus dem 70ern aufbewahrt hatten, es sei denn, es gab heutzutage tatsächlich noch irgendwo Cordhosen zu kaufen – hatte eine Pisspottfrisur, die ihm inzwischen fast bis zu den Schultern gewachsen war, und etwa acht Millionen Sommersprossen.

 

Man hätte jetzt denken können, dass er und Anton doch beste Freunde sein müssten, aber während Anton sich auf Computer und die Wirtschaftsseite der Zeit stürzte wie ein Adler auf die Beute, hegte Timo eher eine Leidenschaft für Orks, Elfen und Ritter in glänzenden Rüstungen. Das hatte ich mal herausgefunden, als ich bei einer Klassenfahrt mit ihm in einem Zugabteil saß. Er hatte mir angeboten, bei einem Pen & Paper mitzumachen, und da ich gerade nichts Besseres zu tun gehabt hatte, hatte ich eingewilligt. Der Einfachheit halber hatte ich einen seiner bereits erstellten Charaktere bekommen.

Nach drei Runden war meine schöne Elfenkriegerin den Heldentod gestorben und Timo hatte zufrieden seine Siebensachen zusammengepackt.

„Die wollte ich eh aus der Gruppe haben“, hatte er gesagt und ich hatte den Rest der Fahrt nicht mehr mit ihm geredet, weil er mich ganz hinterhältig hatte von einem Drachen hatte fressen lassen, gegen den ich mit meinen popeligen fünf Rüstungspunkten nicht den Hauch einer Chance gehabt hatte.

 

Anton hatte inzwischen seinen Zettel entfaltet. Er hatte Timo gezogen. Okay, den kriegte ich also schon mal nicht. Es bestand also noch Hoffnung.

 

Ich atmete tief durch und entwurstelte mit zitternden Fingern das Papier. Und dann starrte ich auf die vier Buchstaben, die mich von dem Zettel aus anlachten. Es waren ein E, ein H, ein O und ein T. Nicht in der Reihenfolge.

 

Plötzlich begann sich alles um mich zu drehen. Der schöne Chips-und-Cola-Traum, der sofort wieder in meinem Kopf aufploppte, lief an der Stelle weiter, an der ich Traum-Theos Lippen mit meinen eigenen berührt hatte. Leider nahm er ab da eine ganz und gar nicht erfreuliche Wendung. Nach dem Kuss sprang Traum-Theo nämlich auf einmal aus meinem Bett, nannte mich eine „schwule Sau“ und stürzte zur Tür raus. Am nächsten Tag wusste es bereits die ganze Schule und ich lief nackt durch ein Heer grölender Mitschüler lediglich mit einem Schild vor meinen edelsten Teilen, auf dem „dumm und schwul“ stand. Und selbstredend stand Theo ganz in vorderster Linie und musterte mich voller Abscheu, während „nur Mia“ an seinem Arm hing und sich über mich kaputtlachte. Scheiße.

 

„Scheiße!“

 

Der Ausruf riss mich aus meiner Horrorvision. Er stammte von Oliver.

 

„Ich hab die Fette.“

 

Ich schielte auf seinen Zettel. Tatsächlich hatte er Mia-Marie gezogen. Die Arme. Wahrscheinlich musste sie sich nicht nur die ganz Zeit dumme Sprüche von Oliver anhören, er würde ihr auch noch total die Note versauen und/oder sie alle Arbeit allein machen lassen. Trotzdem hätte ich liebend gern mit ihr getauscht. Lieber Oliver als Theo, vor dem ich mich total blamieren würde. Moment mal … tauschen? Das war die Idee!

 

„Willst du tauschen?“, fragte ich in einem Anfall von geistiger Umnachtung. Wir erinnern uns daran, dass ich immer noch das Ticket für unglaublich viel Zeit mit meinem Traummann in Händen hielt.

Oliver sah mich misstrauisch an. „Du willst freiwillig mit dem Walross arbeiten?“

„Ja, warum nicht? Mia ist nett.“

„Sie ist fett.“

„Na und?“

„Sie ist ein Mädchen.“ Er überlegte und begann dann zu grinsen. „Obwohl dir das ja nichts ausmacht, oder, Schwuchtel?“

 

Okay, an dieser Stelle muss ich einen kleinen Exkurs machen. Diese Beleidigung von Oliver hatte nämlich nicht unbedingt etwas mit meiner sexuellen Orientierung zu tun, die ohnehin niemandem außer mir selbst bekannt war, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass ich als einziger Junge der gesamten Klasse Französisch als zweite Fremdsprache gewählt hatte. Ich bekam also Unterricht in Französisch zusammen mit ganz vielen Mädchen. Ihr ahnt sicherlich, warum es in Olivers Kopf Sinn machte, mich „Schwuchtel“ zu nennen.

 

„Nein, das tut es tatsächlich nicht“, entgegnete ich und verkniff es mir, ihn einen unterbelichteten Höhlenmenschen zu nennen. Manche Offensichtlichkeiten wurden auch nicht besser, wenn man sie laut aussprach. „Also was ist nun? Willst du tauschen oder nicht?“

„Gib her“, grunzte er und warf mir voller Verachtung den Zettel mit Mias Namen hin.

 

Ich reichte das Stück Papier mit Theos Namen drauf zu ihm rüber. Er riss es gierig an sich und ich glaubte zu hören, wie mein kleines, schwules Herz anfing zu weinen, sich mit Eis, einer Kuscheldecke und „Pretty Woman“ aufs Sofa verkroch und vorhatte, sich von dort die nächsten drei Jahre nicht mehr wegzubewegen. Irgendwie tat es mir leid.

 

Ich tat mir auch leid, aber ich hatte keine Zeit, mich in dem Gefühl zu suhlen. Herr Vogel war noch voll in Planungsstimmung und bat uns jetzt, unseren jeweiligen Projektpartner zu nennen, damit er ihn in eine Liste eintragen konnte. Er begann mit Oliver.

 

„Theodor“, sagte der und grinste nach drüben.

 

Ich konnte sehen, wie T die Stirn runzelte und mich ansah. Er sah mich an, nicht Oliver. Verdammt, hatte der etwa den Zettel wiedererkennt, den ich gezogen hatte? Wusste er, dass ich ihn verschenkt hatte? Mein Herz bestellte sich noch eine Familienpizza dazu.

 

„Benedikt?“

„Was?“

Herr Vogel sah mich auffordernd an. „Deinen Projektpartner bitte.“

„Oh, ähm ja. Mia. Mia-Marie.“

„Danke. Anton?“

„Timo.“

 

Ich blendete den Rest der Stunde aus und überließ es Mia, ein Projekt-Thema für uns zu ziehen. Wir bekamen „Die weiße Rose“ zugeteilt. Na ganz toll. Jetzt musste ich auch noch was über schwule Blumen erzählen. Wirklich ganz großes Kino.

 

 

In der großen Pause suchte ich Asyl bei den Nerds in der Bücherei. Ich hatte einfach keinen Nerv auf Pausenhof und die Welt im Allgemeinen. Da hatte ich meine erste Chance auf so was wie ein Liebesleben in Händen gehalten und dann hatte ich sie verschenkt und das ausgerechnet an den Typen, der mir nicht mal ne halbe Stunde vorher fast die Nase gebrochen hatte. War ich denn vollkommen bescheuert?

 

Während ich da so auf dem Boden hockte, weil es nicht genug Stühle gab, und mich fragte, was mit mir eigentlich nicht stimmte, traf mich auf einmal eine Papierkugel am Kopf. Das hieß, eigentlich traf sie mich nicht wirklich. Sie krepierte mehr so einen knappen halben Meter vor mir auf dem Boden, aber Anton hatte trotzdem erreicht, was er wollte. Ich sah zu ihm nach oben.

 

„Was hast du mit deiner Nase gemacht?“, wollte er wissen.

 

Die Frage allein musste man ihm schon hoch anrechnen, da er sich sonst eigentlich nie nach meinem Empfinden erkundigt. Zumal er auch noch vor dem altersschwachen PC der Bücherei saß, die laut seiner Beurteilung die Rechenkapazität einer Atari-Konsole besaß, und versuchte, eine neue Datenbank für die Verwaltung der Bücherei zu programmieren. Ich rangierte also im Grunde auf seiner Prioritätenlisten sehr weit unten.

 

„Oliver hat mir beim Völkerball einen Ball dagegen gedonnert. Mit Absicht.“

„So ein Penner!“

 

Ich zog die Augenbrauen nach oben. Wer war der Kerl und was hatte er mit Anton gemacht? Hatten Aliens ihn entführt und einen Klon hiergelassen? Wurden wir unterwandert?

 

Man muss dazu wissen, dass Anton quasi nie ausfallend wurde. Sich mit ihm zu unterhalten war mehr so, als würde man mit einer Mischung aus Schiller und Nietzsche quatschen. Wenn die beiden Ahnung von Computern gehabt hätten, versteht sich. Wahrscheinlich hatte er auch eine Allergie gegen Schimpfwörter.

 

„Wusstest du, dass die kanadische Bildungsforscherin Joy Butler Völkerball in einer Studie als eine Form des legalen Mobbings bezeichnet? Sie rät dringend dazu, es vom Lehrplan zu streichen. Zumal es eigentlich ein rituelles Kriegsübungsspiel war. In Zeiten der zunehmenden Globalisierung und Völkerverständigung ist das einfach vollkommen fehl am Platz.“

 

Okay, mit Anton war also doch alles in Ordnung. Puh. Ich hatte schon gedacht, die Welt wäre jetzt vollkommen übergeschnappt, aber anscheinend betraf dieses Problem doch nur mich allein. Ich hatte T verschenkt! Am besten ich trat gleich in ein Kloster ein und wurde Nonne. Mönch. Whatever.

 

 

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mich durch den Stundenplan zu langweilen und mich in den Pausen vor Mia-Marie zu verstecken. Die war nämlich ganz begeistert von unserem floralen Projekt-Thema und wollte anscheinend gleich loslegen. Also verschwand ich in den Pausen auf dem Jungenklo im Altbau, in das eigentlich nie jemand kam, weil es da komisch roch und selbst im Sommer arschkalt war, und machte einen auf Maulende Myrte. Nein, ich hab nicht geflennt. Was denkt ihr denn?

 

Als es nach der sechsten Stunde klingelte, machte ich, dass ich wegkam. Endlich raus aus dieser Hölle und nichts wie nach Hause, wo ich mich in Ruhe vor der Ungerechtigkeit der Welt verstecken konnte. Ich konnte mich nicht mal dazu aufraffen, mich in den Fahrradkeller zu schleppen, um dort vielleicht einen Blick auf Ts Hintern zu erhaschen. Ich ließ meine Klapperkiste, wo sie war, und machte mich auf den Weg zum Bus.

 

Mit gesenktem Kopf schlich ich durch die Fußgängerzone. Normalerweise machte es mir Spaß, nach der Schule noch hier langzuziehen und Leute zu beobachten, aber heute war das Einzige, was ich auf dem Weg zu sehen bekam, graue Steinplatten und meine Fußspitzen.

 

Im Bus ließ ich mich auf den erstbesten Sitz plumpsen und stierte aus dem Fenster. Das war doch echt behämmert. Was hatte mich denn nur geritten, so eine Chance zu vertun? Obwohl … war es denn wirklich eine Chance gewesen? Was, wenn T mich total doof fand? Wenn er froh war, stattdessen mit Oliver zusammenzuarbeiten? Und allem voran: Was, wenn er der Idee, mit einem anderen Jungen zu knutschen, sowieso so überhaupt rein gar nichts abgewinnen konnte? Es hieß zwar immer, die Guten wären schwul oder vergeben – und ich war mir ziemlich sicher, dass T nicht vergeben war, das hätte der Flurfunk schon überall verbreitet – aber immerhin war das nur ein dummer Spruch und mitnichten eine Garantie dafür, dass ich mir irgendwelche Hoffnungen machen konnte.

 

„Kacke“, fluchte ich halblaut vor mich hin.

„Aber so was von“, bestätigte eine kratzige Stimme.

 

Ich drehte den Kopf und sah gerade noch, dass jemand an mir vorbei in den hinteren Teil des Busses ging. Der Kerl, der ein Stückchen kleiner war als ich, ließ sich auf die letzte Bank fallen und grinste mich von dort aus an. Er hatte dunkle, leicht lockige Haare und auf der Oberlippe einen Bartschatten. Auf nicht näher zu bestimmende Weise wirklich er prollig. Lag vielleicht auch daran, dass er jetzt die Füße auf die Sitzbank legte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte, als wäre er der Burger-King persönlich.

 

Das war mir dann doch zu blöd und ich wandte mich wieder meinem Fenster zu. Mich mit so einem Mini-Macho anzulegen, war genau das, was ich heute nicht noch brauchen konnte.

 

Als der Bus losfuhr, kramte ich kurzerhand mein Buch aus dem Rucksack und versank in der Welt von Isaak Asimovs Robotern und Androiden. Manchmal wünschte ich mir, meine Welt würde auch auf drei einfachen Gesetzen beruhen. Wenn man die befolgte, lief alles nach Plan und man musste sich nicht mit irgendwelchen Abweichungen und dummen, eiscremesüchtigen Herzen herumschlagen. Ach, was wäre das schön.

 

Ich näherte mich gerade der Stelle, an die Protagonistin nun endlich herausfinden sollte, welcher der vielen total identischen Roboter derjenige war, der aufgrund seiner von den drei Gesetzen abweichenden Programmierung potentiell in der Lage sein konnte, einen Menschen zu töten, als ein flüchtiger Blick aus dem Fenster mir verriet, dass ich gerade meine Haltestelle verpasst hatte. Fuckedifuck!

 

„Halt!“, schrie ich, sprang auf und raste zur hinteren Tür. „Ich muss hier raus!“

Zum meinem großen Erstaunen schienen der Tag und der Fahrer ein Einsehen mit mir zu haben. Der Bus hielt noch einmal an und die Türen öffneten sich für mich, während mir lediglich ein „Pass nächstes Mal besser auf!“ hinterher schallte. Ich nickte, winkte und stand im nächsten Moment wieder allein auf der menschenleeren Straße.

 

Na ja, fast allein. Auf der anderen Seite stand der Proll und grinste mich blöde an.

 

„Na? Eingeschlafen?“

„Muss an deiner reizenden Gesellschaft gelegen haben“, gab ich frostig zurück und würdigte ihn keines Blickes mehr, während ich die Straße überquerte und mich auf den Weg nach Hause machte.

 

Als ich Schritte hinter mir hörte, drehte ich mich um. Er ging hinter mir und hatte eine Kippe im Mund. Proll, eindeutig. Meine Mutter sagte immer, im Laufen Rauchen sei assig.

 

„Rennst du mir jetzt hinterher?“, blaffte ich ihn an.

Er grinste nur umso breiter. „Und wenn? Ist doch ne nette Aussicht.“

 

Nette Aussicht? Auf was denn? Meinen Hintern etwa? Das fehlte mir gerade noch.

 

„Am besten machst du ein Foto, das hält länger“, knurrte ich und beschleunigte meine Schritte, um endlich von diesem Typen wegzukommen. Irgendwie war mir der gruselig. Vor allem hatte ich den noch nie hier gesehen. Wo kam der her?

 

Er musste etwa in meinem Alter sein, aber er war nicht mit mir zur Schule gegangen. Daran würde ich mich erinnern. Vielleicht neu zugezogen. Obwohl er irgendwie nicht wie jemand wirkte, der aufs Land zog. Andererseits konnte man sich das in unserem Alter natürlich nicht aussuchen. Er war also vermutlich von seinen Eltern hierher verschleppt worden und machte jetzt einen auf obercool, um bei der Dorfjugend Eindruck zu schinden.

 

Tja, Junge, da bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich hab mit den ansässigen Mopedfahrern und Dosenbiertrinkern nichts am Hut. Also such dir jemand von deinesgleichen und schwirr ab.

 

Mister Oberlippenbart tat mir den Gefallen allerdings nicht, sondern latschte mir den gesamten Heimweg über nach, was mich mehr aufregte, als ich zugeben wollte. Ja, ich kniff hier den Schwanz ein. Und ja, ich hatte Vorurteile. Jede Menge sogar. Vielleicht war der Proll eigentlich ganz nett und hatte nur am Morgen keine Rasierklingen mehr im Haus, um sich dieses Scheusal aus dem Gesicht zu radieren, das ihn wirken ließ wie eine sehr schlechte Kopie von Kit Harington. Vielleicht las er in seiner Freizeit Sartre und Camus in Originalfassung und diskutierte am heimischen Herd über die globale Erderwärmung, gegen die er sich regelmäßig engagierte. Möglich war ja alles.

 

Als ich endlich unser Haus erreichte, bog ich trotzdem schneller als sonst auf die gekieselte Einfahrt ein. Meine Schritte knirschten auf den weißen Steinen, während Pseudo-Kit am Haus vorbeiging und so tat, als wäre er mir nicht gerade drei Straßenzüge lang nachgedackelt. Na gut, dann eben nicht. Du interessierst mich nämlich auch nicht die Bohne. Arschloch!

 

Ich schloss die Haustür auf und streifte mir gleich die Schuhe von den Füßen. Meine Mutter war da echt pingelig trotz der Tatsache, das fast überall im Haus Fliesen mit Fußbodenheizung lagen. Leicht zu reinigen und schnell wieder trocken. Aber nein, Schuhe mussten leider draußen bleiben.

 

„Honey, I'm home!“, rief ich, obwohl ich wusste, dass meine Mutter den Witz nicht verstehen würde.

„Wir sind hier oben“, klang ihre Stimme aus dem Wohnzimmer.

 

Moment mal. Wir?

 

Ich stutzte und sah aus dem Fenster. Oh nein, bitte nicht. Ich hatte auf der Flucht vor Billy the Kit leider total das Auto übersehen, das vor unserem Haus auf der Straße parkte. Es gehörte meiner liebreizenden Schwester, die mich auch gleich entsprechend unserer hervorragenden Beziehung begrüßte, als ich die Treppe hochkam.

 

Sie fing an zu heulen.

 

Okay, das war jetzt doch ein bisschen übertrieben. Ganz so schlimm stand es um uns nämlich nicht. Ich meine, wir zickten uns ordentlich an, weil sie mich für kindisch hielt und ich sie gerne mal eine blasierte Pute nannte, aber zum Weinen hatte ich sie eigentlich schon lange nicht mehr gebracht. Das letzte Mal war, als ich ihr Lieblings-T-Shirt als Tusch-Lappen missbraucht hatte. Da war ich acht!

 

„Was ist denn los?“, fragte ich meine Mutter, die mich anstrahlte wie ein Honigkuchenpferd.

„Stell dir vor, Benedikt. Diana bekommt ein Baby!“

 

Ach du grüne Neune! Na dann, Schwesterchen: Willkommen im Club der Leute, die heute einen echten Scheißtag haben. Ich geh dann mal eben die Eiscreme holen.



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