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Liberosis

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Liberosis


 

"Sometimes its not the strength but gentleness that cracks the hardest shells."

― Richard Paul Evans, Lost December

 

Es gab Dinge, die brannten sich für immer ins Gedächtnis ein. Bei manchen Menschen waren das sicherlich schöne Erinnerungen, Musik, die ihnen gefiel, ein großartiges Erlebnis, irgendetwas, das ihnen Freude brachte eben.

Bei Gavin war es der Umstand, dass er noch genau hörte, wie Nines' Sprachmodul einen Aussetzer bekam, während er den Namen des Detective rief. Also, bevor Gavin nach einer Rangelei mit einem Verdächtigen zehn Treppenstufen im Freiflug herunter fiel, den anderen Mann noch fest im Griff. Der Aufprall auf dem harten Mamorboden drückte ihm die Luft aus den Lungen, und obwohl sein Arm wie die Hölle schmerzte, schaffte er es trotzdem irgendwie, den Täter festzuhalten. Zumindest so lange, bis auf einmal der RK900 neben dem Knäuel aus Gliedmaßen stand, das lediglich gutturale Laute von sich gab. Wie es der Android geschafft hatte, so schnell bei ihnen zu sein, obwohl er eben noch gute 20 Schritte von ihnen entfernt gestanden hatte, war Gavin ein Rätsel, aber er war froh darüber, dass Nines den anderen Mann von ihm herunter zog und mit Handschellen ans Treppengeländer fesselte. Der Mann stöhnte vor Schmerzen auf, aber warum sollte es ihm auch besser ergehen als Gavin selbst?

"GaVIn!" Da war es wieder. Dieses Aussetzen. Vielleicht sollte er CyberLife mal auf die Füße treten, wenn schon nach einem Jahr die ersten Teile an seinem Androiden kaputt gingen. Der Detective ließ mit einem Stöhnen verlauten, dass er noch immer am Leben war, als auch schon nach seiner Schulter gegriffen wurde. Nicht gerade sanft, wie er feststellen durfte, und würde er es nicht besser wissen, hätte er glatt behauptet, dass sich sein Android Sorgen um ihn machte, so, wie er ihn gegen die kalte Wand lehnte und aufmerksam scannte.

"Gib auf dem Revier Bescheid, dass-"

"BereIts gesChehen", unterbrach ihn der RK900 sofort und Gavin verzog etwas das Gesicht, denn natürlich hatte der beschissene Android das schon erledigt, was hatte er auch erwartet? Mieser Angeber. Es folgte ein tiefer und wahrscheinlich unglaublich unnötiger Atemzug seitens Nines, ehe er weitersprach. "Ich habe auch einen Krankenwagen gerufen."

"Was?", brachte Gavin mit einem Geräusch hervor, das irgendwo zwischen genervtem Wimmern und purem Unglauben lag. "Warum?"

"Weil - unter anderem - eine Kontusion der Costae verae vorliegt." Die Hände des RK900 schwebten vor Gavins Oberkörper in der Luft, und der Detective war sich nicht sicher, ob der Android ihn auffangen wollte, sollte er nach vorne kippen, oder ob er einfach nur überfordert war. Der rot blinkenden LED nach zu urteilen, war es vielleicht sogar beides.

"Ich hab' mir also 'ne Rippe geprellt." Nines sah ihn so überrascht an, als hätte Gavin ihm gerade alle Nachkommastellen von Pi auswendig aufgesagt, ehe er plötzlich lächelte, und einen Moment lang hätte er dem RK900 am liebsten ins Gesicht geschlagen, wenn ihn der Schmerz nicht davon abgehalten hätte. "Fick dich und dein dummes Grinsen, ich hatte auch mal Biounterricht."

Der Gefangene hinter ihnen begann leise zu wimmern, faselte etwas davon, dass er sich wohl den Arm gebrochen hatte, aber Gavin und Nines tauschten nur einen kurzen Blick aus, ehe sie sich mit einem "Halt die Fresse" und einem "Uninteressant" auf den Lippen dazu entschieden, den Mann zu ignorieren, bis Polizei und Krankenwagen eingetroffen waren.
 

Zwei Wochen. Zwei verfickte Wochen Schonzeit. Wegen einer angeknacksten Rippe. Und ein paar Schrammen am Arm. Und einer kleinen Prellung an der Schulter. Zwei Wochen! Er würde umkommen vor Langeweile! Dachte denn niemand daran, dass einem Mann daheim die Decke auf dem Kopf fallen könnte, wenn er so lange herumliegen und sich schonen sollte?

Gavin hätte am liebsten die Tür eingetreten, aber die Schmerzmittel machten ihn groggy und generell wollte er eigentlich nur hier raus und nach Hause fahren. Das war jedenfalls so lange der Plan, bis er fast den RK900 über den Haufen rannte, der urplötzlich vor ihm stand.

"Detective Reed", begrüßte der Android ihn höflich, und Gavins Aufmerksamkeit lag für einen Moment auf der Jacke, die Nines fein säuberlich gefaltet über sein Arm gelegt hatte. Dann wanderte der Blick nach oben, über den Rollkragenpullover, der den Androiden immer noch wie ein Arschloch aussehen ließ, und in das Gesicht des RK900. Die LED an der Schläfe war wieder blau und kreiselte ruhig vor sich hin. Keine Spur mehr von so etwas wie Sorge oder... Nervosität. Oder was auch immer das vorhin gewesen war.

"Was machst du denn noch hier?", fragte Gavin schließlich hörbar irritiert, nachdem er den Androiden einen Moment lang wie ein Idiot angestarrt haben musste. Denn erst jetzt bemerkte er, dass es draußen bereits dunkel war und dass Untersuchung und Behandlung länger gedauert haben mussten, als ihm zuerst bewusst gewesen war. Und konnte der Android ihn bitte nicht mit schiefgelegtem Kopf ansehen? Er hatte die Frage bestimmt verstanden, mit seinem übermenschlichen Gehör und dem ganzen Scheiß!

"Ich dachte, Sie könnten einen Fahrer gebrauchen", erklärte Nines dann betont ruhig, und Gavin bemerkte bei diesem Tonfall jedes Mal, wie er sich darüber aufregen wollte, dass er dabei so besserwisserisch und neunmalklug und einfach scheiße klang, ehe der Gedanke schon im Keim erstickt wurde. Der Android wollte ihn nach Hause fahren? Und hatte deswegen Ewigkeiten hier gewartet? Was war denn nur mit dieser Maschine?

"Ich bin schon groß, Nines, ich schaffe das auch ganz gut allein."

"Sie stehen unter dem Einfluss von Medikamenten und sind verletzt. Zu Ihrem eigenen Wohl und dem aller anderen Verkehrsteilnehmer sollte jemand anders fahren."

Gavin verzog das Gesicht, wieso, zum Teufel, war sein Auto überhaupt hier? Instinktiv betastete er seine Hosentaschen, fand aber nur ein Feuerzeug und den Hausschlüssel darin vor. Mit zusammengezogenen Brauen sah er auf und bemerkte, dass Nines den Schlüssel bereits in seiner Hand hielt. Dieser verdammte...!

"Officer Miller hat mich zurück zu Ihrem Wagen gefahren, damit er nicht länger als zwingend nötig am Tatort stehen muss."

"Ja, ja, toll. Gib her, ich bin schon ein paar Mal Auto gefahren, ich kann das."

Nines umschloss den Schlüssel wieder mit der gesamten Hand, die LED gelb blinkend. Gavin biss die Zähne aufeinander und knurrte nur leise, ehe er die Hand nach dem Autoschlüssel ausstreckte. Musste er jetzt wirklich noch mit dem Toaster diskutieren?

"Gavin, bitte", sagte der RK900 in einem Tonfall, der dafür sorgte, dass sich die Haare auf Gavins Armen aufstellten. "Ich möchte gar nicht wissen, was Sie vorher gemacht haben. Wenn ich Sie nicht fahren soll, dann auf jeden Fall jemand anderes. Officer Chen vielleicht? Irgendjemand?"

Seine Hand schwebte mitten in der Luft. Irgendjemand. Wichser. Als würde es neben Tina und dem RK900 irgendjemanden geben, den Gavin um etwas bitten würde. Scheiße, er bat nicht mal die beiden um etwas, so lange er nicht gänzlich verzweifelt war. Gavin ließ die Hand sinken und seufzte entnervt, rieb sich über die Nase, kratzte sich dort an der Narbe. Fuck, er hatte ja eigentlich gar keine Wahl, oder?

"Gut, okay, phck. Dann fahr mich halt." Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, ein Umstand, den ihm seine Rippen nicht dankten, und stiefelte hinter dem Androiden her, der sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf dem Gesicht umwandte und dabei so elegant seine Jacke anzog, dass Gavin am liebsten gekotzt hätte. Perfektes Arschloch. Als der RK900 verletzt war, hatte es keine zwölf Stunden gedauert, bis er wieder einsatzfähig gewesen war. Aber im Gegensatz zu Nines war Gavin keine Maschine und würde auch nie eine sein, und das war manchmal Fluch und Segen zugleich.
 

"Werden Sie zurecht kommen?" Der Android stand in seinem Eingangsbereich, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schien jede Bewegung des Mannes regelrecht aufzusaugen. Es war gruselig. Gavin warf seine Jacke in Richtung Garderobenständer und interessierte sich nicht einmal dafür, dass er das Ding um einen guten halben Meter verfehlte.

"Wehe, du hebst sie auf, großer Gott!" Er hatte nur aus dem Augenwinkel gesehen, wie sich der RK900 in Richtung der heruntergefallenen Jacke bewegt hatte und er würde den Aushilfsterminator direkt aus seiner Wohnung werfen, wenn er sie jetzt auch nur schief anschauen würde. "Und zu deiner Information: Ja, ich komme hervorragend zurecht, ich werde mir einen Kaffee kochen, und dann werde ich wahrscheinlich so lange auf meiner Couch liegen, bis ich mit ihr verwachsen bin, schließlich habe ich ja zwei Wochen Zeit."

Er ging in die Küche und griff nach einer Kaffeetasse, ehe er weiter vor sich hin schimpfte. "Zwei Wochen, ist das zu glauben."

"Sie sollten Schmerzmittel nicht mit koffeinhaltigen Getränken zu sich nehmen", hörte er den Androiden hinter sich sagen. Als er sich umdrehte, sah er, dass Nines neben dem Sessel stand, auf dem Marbles lag. Das kleine, verräterische Miststück hatte sich auf den Rücken gedreht und ließ sich den Bauch kraulen. Von einem Androiden. Einem verdammten Androiden. Er würde ein ernstes Wörtchen mit ihr reden müssen, wenn Nines erst einmal weg war.

"Hör zu, Robocop, ich bin schon unter dem Einfluss von Schmerzmitteln Auto gefahren, ich hab' sie auch schon zusammen mit Kaffee eingenommen und ich bin immer noch hier und atme. Und ich werde es auch weiterhin tun. Okay? Okay! Kein Grund zur Sorge, ich habe auch schon gebrochene Gliedmaßen und Schusswunden überlebt, also such dir jemand anderen zum bemuttern."

Er blickte zur Seite, als die LED des Androiden gelb zu blinken begann, und Marbles fischte mit den Pfoten nach der Hand des Androiden, die aufgehört hatte, sie zu streicheln.

"Wie zuvor erwähnt, Detective, ich möchte gar nicht wissen, wie Sie was vorher gemacht haben. Bevor ich da war. Aber ich hätte gerne einen Partner im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Bekommen Sie das hin?"

"Fick dich, Nines." Gavin wusste nicht einmal, woher die Wut in seinem Bauch kam. War es, weil er einen Augenblick lang wirklich geglaubt hatte, dass sich der Android Sorgen um ihn machen würde? Oder weil sich gerade herausgestellt hatte, dass er nur wollte, dass Gavin fit genug für die Arbeit war? Was hatte er sich eigentlich erhofft? Dass der RK900 genug für ihn übrig hatte, um ihn über den Job hinweg zu mögen? Er war so ein Idiot. "Ich bin gut in meinem Job, du arrogantes Stück Plastik. Das war ich auch schon, bevor du da warst."

"Das habe ich nicht angezweifelt. Manchmal glaube ich, dass Sie mich absichtlich falsch verstehen möchten."

Gavin biss die Zähne so fest zusammen, dass die Spannung bis zu seinen kaputten Rippen hinunter reichte. Ja, vielleicht wollte er das. Aber er brauchte wirklich nicht noch jemanden, der ihm sagte, dass er rücksichtslos und unvorsichtig war. Nach einem betont tiefen Atemzug wandte er sich zu dem RK900 um, die fertig aufgebrühte Tasse Kaffee in der Hand.

"Vielen Dank für deine Sorge. Ich komme zurecht, werde täglich irgendwas essen, ab und zu mal schlafen und dir dann in zwei Wochen in gewohnter Manier auf die nicht vorhandenen Eier gehen. Es sei denn, du hast welche. Will es gar nicht wissen, also sag lieber nichts dazu."

Ein sanftes Lächeln legte sich auf die Züge des Androiden, aber dieses Mal erreichte es seine kühlen Augen nicht. Manchmal musste er das mit dem menschlich sein wohl noch etwas üben.

"Verstanden, Gavin. Dann bleibt mir nur noch, Ihnen gute Besserung zu wünschen."

Gavin wedelte abwehrend mit der Hand. "Was auch immer. Und lass mal dein Sprachmodul checken. Das muss heute irgendwas abbekommen haben. Klang komisch."

Er sah auf, und der Android starrte ihn an, aber die LED stand still. Keine Bewegung, keine Farbe, keine Drehung, nichts. Der RK900 richtete sich nur auf, nickte stumm, ehe die LED wieder auf blau umsprang und jetzt wusste Gavin gar nicht mehr, woran er war. Andererseits... er wollte es auch gar nicht wissen. Sollte der dämliche Toaster halt weiter vor sich hin glitchen. Nicht sein Problem.

"Gute Nacht, Detective Reed."

Gavin hob nur den Mittelfinger in Nines' Richtung, und diese Art von Abschied schien für den Androiden gut genug zu sein. "Charmant wie immer."
 

Er hatte es gewusst. Bereits nach vier Tagen war alles, aber auch wirklich alles, sterbenslangweilig. Im Fernsehen lief nur Scheiße, Flixnet hatte auch nicht viel zu bieten, Himmel, nicht einmal das Internet war besonders erheiternd. Früher hatte er gerne Streit auf Social Media Websites gesucht, aber mittlerweile hatte er dafür ja eigentlich seinen Partner. Es war leicht, sich an dem Androiden abzureagieren, vor allem, weil er es nicht einfach hinnahm und auch selten genug beleidigt reagierte. Sicher, ja, einmal hatte er sein Programm so umgestellt, dass er nur noch auf seine Seriennummer reagierte, weil dieses kleine Arschloch einfach so verdammt kacke und kleinlich war, aber das war auch eher die Ausnahme. Und jetzt, ohne den Androiden um sich herum, war es tödlich langweilig. Er lag auf der Couch, zappte sich durch langweilige Koch- und Talkshows und seufzte entnervt, ehe er den Kopf gegen die Lehne sinken ließ.

"Meow."

"Was ist los? Geht dir meine ständige Anwesenheit auf den Sack?" Marbles hatte sich am Fußende zusammengerollt und sah jetzt müde blinzelnd auf, ehe sie herzhaft gähnte und es sich danach wieder bequem machte. "Dann red halt nicht mit mir."

In Ermangelung einer anderen, besseren Beschäftigung und entgegen besseren Wissens angelte Gavin nach dem Handy, das auf dem Couchtisch lag und entsperrte es. Es war nicht so, als würde er Aufmerksamkeit wollen, aber er wollte eben auch nicht, dass ihm langweilig war. Und als Nines damals Abby gefunden und aufgenommen hatte, da hatte er sich mit Gavins Smartphone verbunden, damit er noch einmal auf den Detective zukommen konnte, sollte er Fragen haben. Nicht, dass er jemals Hilfe gebraucht hätte, weil der Android sich sämtliche Ratgeber aus dem Internet direkt in seinen hübschen Plastikkopf ziehen konnte, aber es hatte ihn wohl beruhigt zu wissen, dass auch jemand vor Ort war, den er fragen konnte.

"Bitte treiben Sie kein Schindluder damit", hatte der Android gemeint. "Ich bekomme die Nachrichten direkt als Overlay zugesendet, also sehen Sie bitte von Kettenbriefen und Spam ab."

Nun... es war ja kein Spam, wenn er sich einfach nur nach der Lage auf dem Revier erkundigen würde, richtig? Klar, er könnte auch Tina fragen, aber der RK900 war doch so ein tolles, vielfältiges, multifunktionales Aas, da würde ihn die ein oder andere Nachricht nicht stören.

[Hey, Robocop, wie läuft es auf dem Revier?]

Gavin kam sich schon relativ dämlich vor, kurz, nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, aber ein Zurück gab es nicht mehr, weil sofort die "Nachricht gelesen"-Meldung angezeigt wurde. Er legte sich etwas bequemer hin und wartete ab, bis das Telefon in seiner Hand vibrierte.

[Ich bin durch Ihre Abwesenheit zeitweise dazu gezwungen, mit Lieutenant Anderson und dem RK800 #313 248 317 - 51 zusammenzuarbeiten. Manchmal auch mit Detective Collins, was um einiges erträglicher ist. Ist Ihnen das Antwort genug?]

Der Detective grinste. Das einzige, was Nines und er gemeinsam hatten, war eine gewisse Abneigung gegen Connor, und auch, wenn sie sie beide nicht wirklich ausleben durften, war es gut zu wissen, dass der RK900 noch immer von seinem Vorgängermodell genervt war, zumindest so weit, wie es bei einem Androiden überhaupt möglich war. Zwar tat Nines gerne so, als würde er über allen Dingen stehen, aber Gavin hatte einmal sein Gesicht gesehen, als Connor damals direkt vor ihnen eine Blutprobe genommen hatte. Der RK800 hatte seine Finger daraufhin abgeleckt und Nines hatte bei diesem Anblick so verdammt beleidigt ausgesehen, dass sich Gavin das Lachen nicht hatte verkneifen können.

[Hat Connor wieder mal was angeleckt?], schrieb er äußerst amüsiert und daraufhin passierte eine Weile nichts. Nun, vielleicht hatte Nines auch gut zu tun und ignorierte die Nachricht deswegen, aber gerade, als Gavin das Handy wieder auf den Tisch legen wollte, um sich eine Mütze voll Schlaf zu gönnen, vibrierte es erneut. Gavin öffnete den Chatverlauf und...

[ ಠ_ಠ ]

"Fuck!" Gavin lachte laut auf, und seine Rippen protestierten dabei schmerzhaft, aber: Was. Zur. Hölle. "Phck, phck, phck."

Er krümmte sich etwas auf dem Sofa, spürte das Smartphone unter sich vibrieren, aber er brauchte gerade einen Moment, um sich wieder zu fangen. Seine Seite pochte unangenehm, während er sich streckte, aber allein dieser Schnipsel an Kommunikation hatte seine Laune wieder um einiges angehoben. Marbles hatte sich mit einem klagenden Miauen auf die Rückenlehne verzogen und putzte sich betont gleichgültig, während sich der Detective etwas verrenkte, um wieder an sein Telefon zu kommen.

[Es ist furchtbar erniedrigend, dabei zusehen zu müssen.]

Nachdem er sich eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt hatte, setzte sich Gavin wieder etwas bequemer hin und begann zu tippen.

[Tja, tut mir leid, jetzt musst du sie noch länger ertragen, ich habe gerade so laut gelacht, dass ich mir neben der Prellung noch eine Zerrung geholt habe.]

[Bitte nicht.] Die Antwort kam so schnell, dass sich der Mann sicher war, dass Nines wirklich, wirklich, wirklich verzweifelt sein musste. Bei der nächsten Nachricht runzelte er dann aber die Stirn. Sie wurde auf dem Bildschirm angezeigt, verschwand aber genauso schnell, wie sie gekommen war und wurde von einem [Der Absender hat diese Nachricht gelöscht] ersetzt. Gavin starrte mit großen Augen auf den Bildschirm, es folgte nur noch ein [Erholen Sie sich weiterhin gut, Detective, es gibt genug zu tun], ehe nichts mehr passierte. Keine neue Nachricht, nichts.

Seine Nackenhaare stellten sich auf und seine Rippen taten schon wieder weh, obwohl er sich dieses Mal nicht sicher war, ob daran nicht der viel zu schnelle Herzschlag die Schuld trug. Er hatte die Nachricht doch gesehen? Er hatte gerade noch einen Blick darauf werfen können, ehe Nines sie wohl wieder gelöscht hatte. Schwarz auf weiß.

[Du fehlst mir.]
 

Wusste der Teufel, was ihn geritten hatte, den Androiden offiziell zu sich einzuladen. Aber wenn er sich nicht gemeldet hätte, wäre von Nines' Seite aus wohl überhaupt nichts mehr bekommen und nach zehn Tagen in den eigenen vier Wänden war Gavin irgendwann schon etwas unruhig geworden. Er hatte sogar darüber nachgedacht, aufs Revier zurückzukehren, nur, um vielleicht etwas Papierkram zu erledigen und das allein sprach schon Bände über seine Verzweiflung.

Irgendwann hatte er dem RK900 dann einfach geschrieben, ob er nicht Lust hatte, sich ebenfalls tödlich zu langweilen, und zu seiner Überraschung hatte der Android zugesagt. Zwar mit der Anmerkung, dass er das Konzept von Langeweile nicht verstehen würde, aber er dennoch vorbeikommen würde, und sei es nur, um zu sehen, wie es Gavin ergangen war.

[Ich nehme an, dass Sie nicht zur Nachuntersuchung gegangen sind?], hatte er geschrieben und Gavin hatte einfach nur mit den Augen gerollt, ehe eine weitere Nachricht gefolgt war. [Ich muss übrigens nicht vor Ort sein, um zu wissen, dass Sie jetzt gerade mit den Augen rollen.]

Nun, letztendlich hatte der Android vor seiner Tür gestanden, mit einer Schüssel voller Essen in der Hand, die er Gavin übergab, ehe er Jacke und Schuhe auszog.

"Hatte Tina wieder einen ihrer Kochanfälle?", fragte der Detective interessiert und beäugte das Essen eingehend. Die Frau ließ ihren Launen immer beim Kochen freien Lauf und ehrlich gesagt beneidete er sie manchmal um diese Fähigkeit.

"Nein", antwortete der RK900, während er die Jacke aufhängte und Gavin sah die LED gelb blinken, weil seine eigene noch immer auf dem Boden lag. Seit zehn Tagen. "Also, vielleicht schon, ich kenne mich in Officer Chens Privatleben nicht aus, aber das Essen ist von mir."

Gavin verschluckte sich fast an seiner eigenen Spucke und sah den Robocop mit großen Augen an. Er hatte... Essen gemacht? Wollte er ihn eigentlich verarschen?!

"Ich denke, es war gut, die Zeit zu investieren", fuhr Nines dann unbeirrt fort, während er zur Couch hinüber ging und Marbles kurz zur Begrüßung über den Kopf strich, als wäre es das normalste der Welt. "In der Küche stehen drei Boxen vom nächstgelegenen Chinarestaurant, eine Pizzaschachtel, die im Übrigen schon ein Eigenleben zu entwickeln scheint, weswegen eine schnellstmögliche Entsorgung empfehlenswert wäre, vielen Dank im Voraus, und das Geschirr und die Töpfe in Ihrem Geschirrspüler stehen laut der sich dort entwickelnden Bakterienkultur schon länger als zehn Tage dort."

Der Android seufzte so betont laut, dass das altbekannte Gefühl von Abneigung in Gavin hoch kroch, das gegen Rippen, Brustkorb und Hals schlug. Jedenfalls glaubte er, dass es Abneigung war Oder aber... vielleicht...?

"Sie sagten, Sie würden täglich irgendetwas essen und ab und an schlafen, und ich sollte mich nicht wundern, dass Sie Wort gehalten haben. Ihre Vitalwerte sind furchtbar. Ich war damals der Meinung, dass Sie nicht für ein anderes Lebewesen außer sich selbst sorgen können, aber Ihre Katze ist besser dran als Sie. Ich weiß nicht, ob Ihnen diese Art von Selbstgeißelung gefällt, aber ich halte sie für ziemlich gefährlich."

Gavin stand da, mit der Schüssel voller Essen in der Hand, und sah den RK900 einfach nur an. Schwieg. Bis sich irgendwann ein Grinsen auf sein Gesicht schlich und er zu lachen begann. Nines, der wohl mit einer anderen Reaktion gerechnet hatte, legte den Kopf etwas schief, als könnte er nicht so recht glauben, dass jemand eine solche Aussage amüsant fand.

"Mach ruhig weiter, Nines", sagte Gavin, während er in die Küche spazierte, um das Essen abzustellen. "Gib's mir."

"Ich bin nicht hier, um Ihr selbstzerstörerisches Verhalten noch weiter zu fördern oder einen zugegeben wirklich seltsamen Fetisch zu befriedigen, Detective Reed. Ich wollte nur meinen Beitrag zu Ihrer Gesundung leisten, damit Sie so bald wie möglich auf das Revier zurückkehren können."

"Und das ist für dich natürlich komplett uneigennützig?" Gavin sah grinsend zum Androiden hinüber. "Oder möchtest du noch länger mit der alten Saufnase und seiner Knalltüte zusammenarbeiten?"

Es war eigentlich nicht der Plan gewesen, den Androiden so aus der Bahn zu werfen und vielleicht fühlte er sich auch klein wenig schlecht dabei, die LED an dessen Schläfe rot blinken zu sehen, aber er hatte das irgendwie auch vermisst. Ein klein wenig. Nicht, dass er das jemals zugeben würde, aber na ja, so war es jetzt eben.

"Fällt es Ihnen so schwer zu glauben, dass ich einfach gerne meinen Partner zurückhätte, weil ich unsere Zusammenarbeit und Sie als Person schätze?"

"Nun... ja und, Scheiße noch eins, ja? Nichts für ungut, keine Art von Partner hat es jemals lange bei mir ausgehalten. Na ja, einmal vielleicht. Aber bei Alex... Na, das mit dem blinden Huhn und dem Korn gilt wohl auch für mich. Hat dank mir trotzdem nicht geklappt, also scheiß auf Partner. Es bringt nur Ärger, wenn man sich um jemanden Sorgen machen muss."

Nines verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah den Mann einfach nur an. Die LED wechselte von gelb zu rot, zu blau, zu gelb. Wie bei einer Discokugel.

"Leider gehört das zu einer Partnerschaft dazu", erklärte der RK900 ruhig. "Es ist nicht Ihre Entscheidung, ob ich bereit bin, mir Sorgen zu machen oder nicht. Auch nicht die meines Systems. Es ist meine eigene."

"Und warum solltest du das tun?"

Der Android starrte ihn so ungläubig an, als könnte er nicht glauben, dass Gavin diese Frage gerade wirklich gestellt hatte. Es hätte ihn nicht einmal gewundert, wenn der Brummkreisel an Nines' Stirn gleich einen Kurzschluss haben würde. Wäre okay. Gavin war es gewohnt, dass um ihn herum alles irgendwann in die Luft flog oder anderweitig vor die Hunde ging. Er sorgte ja selbst oft genug dafür.

"Weil ich nicht gelogen habe, als ich schrieb, dass du mir fehlst, Gavin. Ich hatte Bedenken, dass es unangemessen sein könnte, aber es ist nun einmal auch die Wahrheit."

Gavin machte automatisch einen Schritt zurück, als der Android auf ihn zukam. Nicht, dass ein gesunder Funken Respekt gegenüber einer Killermaschine nicht gut wäre, aber er war viel eher irritiert als verängstigt von Nines' Worten, so dass er keine Ahnung hatte, wohin er mit sich sollte. Der RK900 blieb vor ihm stehen, und Gavin sah zu ihm auf, hob fragend eine Augenbraue, als er Nines lächeln sah.

"Wenn du gerne ein unhöfliches, aggressives und unausstehliches menschliches Desaster sein möchtest, steht dir das natürlich frei." Seit wann waren sie eigentlich per Du? Nicht, dass es Gavin stören würde, er hasste förmliche Anreden eh, aber... woher kam das jetzt auf einmal? Dass der Android kesse Antworten bereit hielt, das war ihm nicht neu, aber alles andere... das schon. "Aber du bist auch mein Partner, also musst du dann auch damit leben, dass ich alles tun werde, um deiner dir persönlich auferlegten Selbstzerstörung entgegen zu wirken. Egal, wie lange es dauert."

"Da hast du dir ja schon wieder was vorgenommen, Nines."

Der Android hob lächelnd die Hand, zeigte Gavin wieder die To-Do-Liste. Der Punkt [Mit Detective Reed anfreunden] war durchgestrichen, und darunter hatte sich ein neuer Punkt gebildet.

[Mit Gavin über Gefühle sprechen]

Noch während Gavin den Punkt las, wurde er schon wieder gestrichen. Und falls darauf noch ein neuer folgte, dann sah er ihn nicht, weil sich in diesem Moment bereits Nines' Arme um seine Schultern legten. Gavins Hände schwebten einen Moment lang in der Luft, bis sie sich in den dunklen Stoff von Nines' Rollkragenpulli gruben.

Und zum ersten Mal seit verdammt langer Zeit fühlte es sich verdammt okay an, sich fallen zu lassen.
 

"Du redest nicht gerne über deinen Ex, oder?"

Gavin sah von seiner Kaffeetasse auf. Er saß auf dem Küchentresen, weil Nines ihn mitsamt seinem koffeinhaltigen Heißgetränk hierher verbannt hatte, während er in der Küche hantierte. Die Begründung war, dass ihm das selbst gekochte Essen zu schade war, um es von Gavin einfach in die Mikrowelle stecken zu lassen, um es aufzuwärmen wie so ein Neandertaler. Die Worte des RK900, nicht seine.

"Warum sollte ich auch?", fragte Gavin irritiert. "Er ist mein Ex, was geht er überhaupt jemanden an?"

"Du versuchst, seinen Namen zu vermeiden, wenn es geht, und dein Stresslevel schießt jedes Mal in die Höhe, wenn du ihn doch aus Versehen erwähnst."

Der Detective rutschte auf seinem Platz hin und her und brummte leise. Alex war eine Geschichte für sich, eine, die er nicht gerne erzählte, weil sie ihn nur daran erinnerte, dass er verdammt viele Fehler hatte, die er auch immer und immer wieder machte.

"Ja, na jaaaa..." Der Android wandte sich bei diesen Worten um, ließ das Essen Essen sein, auch auf Gavins Widerspruch hin und trat etwas näher. Es war lustig. Das war das erste Mal, das Gavin nach unten sehen musste, um den Blick des RK900 zu treffen. "Ich hab' ihn verletzt, dann hat er mich verletzt und letztendlich ist er mit einem Buchhalter abgehauen. Aber ich hab' die Katze behalten dürfen und bin ihn los, also eine Win/Win-Situation...?"

Der Android trat noch einen Schritt näher, stand jetzt fast zwischen Gavins Beinen. Eine angenehme Wärme legte sich über Gavins Arme, sorgte dafür, dass er eine Gänsehaut bekam. Seine Finger trommelten gegen die Seite der Tasse, und er sah die dunkle Flüssigkeit an, als könnte sie alle Antworten auf die Fragen des Universums liefern. Vielleicht sollte er lernen, aus Kaffeesätzen zu lesen?

"Jetzt habe ich ja eine detailgetreue Nacherzählung und bin bestens im Bilde." Vielleicht sollte er dem sarkastischen Toaster den Kaffee auch einfach über den Kopf kippen. Aber andererseits war sein Lebenselixier dafür auch einfach zu schade. Stattdessen seufzte er lieber leise.

"Meine Arbeit war mir wichtig, okay? Vielleicht sogar wichtiger als meine Beziehung, aber auch nur, weil ich gut war in meinem Job... bin ich manchmal immer noch, ich hab' so meine Momente."

Ein aufbauendes Nicken. Na, immerhin das.

"Ich glaub, mit der Zeit hat es ihn gestört, dass mir der Job so wichtig war und er hat nicht verstanden, dass ich das auch für ihn gemacht habe. Stabiles Einkommen, ein Bereich, in dem Androiden noch nicht besser waren als man selbst... ich wollte, dass das klappt, und ihn hat es gestört, auch, wenn er anfangs nichts gesagt hatte. Ich hab' mich reingehängt und er war der Meinung, dass mir das mal irgendwann das Genick brechen würde. Dass ich aufpassen sollte, mit wem ich mich anlege, nur, weil ich eine Beförderung wollte. Natürlich hab' ich nicht gehört, weil ich nie höre. Am Ende hat mich der Boss von so einem Red-Ice-Drogenkartell beim Schnüffeln erwischt und mir die hier verpasst."

Er tippte sich auf die Nase. "Damit hätte ich leben können. Nur nicht damit, dass sie in unsere Wohnung eingebrochen sind und meinen Freund zusammengeschlagen haben. Als ich an dem Abend nach Hause kam, waren Polizei und Krankenwagen schon da, und Alex... Er hat mir das nie verziehen und ich hab' es versucht, es wirklich versucht, wollte für ihn da sein und alles, aber ich bin beschissen darin, mich um Leute zu kümmern oder Prioritäten zu setzen oder zu sagen, was abgeht. Ich bin gut darin, scheiße zu sein, das ist wenigstens einfach, und damit kann man nicht viel falsch machen."

"Klingt nach einer Menge unaufgearbeiteter Probleme."

"Dr. Nines, bitte. Wenn ich jetzt noch von meiner Kindheit anfange, werden wir gar nicht mehr fertig und ich bin schon etwas hungrig." Seit wann lag die Hand des RK900 auf seinem Bein? Der Android griff nach der halbleeren Kaffeetasse, deren Inhalt ohnehin schon kalt geworden war und stellte sie beiseite.

"Also ein unhöfliches, aggressives und unausstehliches und traumatisiertes menschliches Desaster", wiederholte Nines leise. "Das nicht gerne darüber redet. Damit kann ich umgehen."

"Vielen Dank. Also, was nun? Steht auf deiner komischen To-Do-Liste nicht irgendwas von [Mach Gavin Essen]?" Er griff nach der Hand des RK900 und tippte mit dem Finger gegen die Handfläche, als wäre es ein Smartphone. Die Schultern des Androiden begannen zu beben und jedes Mal wieder war Gavin überrascht, wenn er Nines lachen sah und hörte.

"Auch, aber da hat sich noch ein anderer Punkt dazwischen geschoben."

Gavin runzelte die Stirn, während er den Androiden ansah, blickte dann aber auf dessen Geheiß wieder hinunter auf seine Hand.

Zwischen [Mit Gavin über Gefühle sprechen] und [Gavin etwas zu Essen zubereiten] formte sich ein neuer Punkt und der Detective war sich ziemlich sicher, dass Nines ihn gerade damit beschissen hatte.

[Gavin (im gegenseitigem Einvernehmen und/oder mit vorhergehender Erlaubnis) küssen]

"Aber ich bin hier unausstehlich", meinte Gavin mit einem schiefen Grinsen, das dem des Androiden gar nicht so unähnlich war. "Aber gut, fein. Meinetwegen. Selbst Schuld, Nines."

Der Android stand noch immer zwischen seinen Beinen, aber seine Hand hatte mittlerweile Gavins seit einigen (vielen) Tagen unrasierte Wange gefunden, und so selbstzufrieden hatte er den RK900 wirklich noch nie erlebt.

"Genau deswegen hast du mir gefehlt, Gavin."

"Ha, tse, du...!" Der Rest seiner Worte ging unter, als Nines die kurze Distanz zwischen ihnen überbrückte, um den Detective zu küssen. Und Gavin würde ihn später auf jeden Fall damit aufziehen, dass er echt furchtbar darin war.

Viel, viel später.

Oder vielleicht ließ er es auch einfach sein.
 

Man konnte schließlich üben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Moira-chan
2020-07-27T23:27:41+00:00 28.07.2020 01:27
ich liebe es :D <3


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