Zum Inhalt der Seite

looking for inner peace

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

realization

Kapitel 6 - realization
 

- Warum kommst du mir so nahe und erweckst längst Vergessenes zu neuem Leben?

Spürst du was in mir vorgeht? Ich versuche es doch zu verbergen.

Spielst du nur mit mir? -
 

November
 

Lautes Gelächter und Musik erfüllten den Raum. Rauchschwaden von dutzenden Zigaretten waberten umher und verliehen der Bar, zusammen mit dem leicht düsteren Licht der wenigen Lampen, die urige Atmosphäre einer in die Jahre gekommenen Hinterhofkneipe. Dass dies allerdings ein recht angesagter Treffpunkt in einem der Außenbezirk Tokios war, hätte man wohl auf den ersten Blick nicht vermutet. Nur die vollbesetzten Tische und Sitznischen zeugten von der Beliebtheit des Ortes.
 

Aois Blick schweifte seit einer Weile etwas gelangweilt durch die Bar, dabei immer in der Hoffnung jemanden von der Bedienung auszumachen, um nicht selber zum Tresen gehen zu müssen. Vergebens. Scheinbar waren alle Angestellten wie vom Erdboden verschwunden oder einfach extrem gut zwischen all den Gästen getarnt. Frustriert aufseufzend ließ er den Kopf hängen. Dann blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich selbst auf den weiten, gefährlichen Weg ans andere Ende der Bar zu machen. Während er innerlich noch mit sich rang, schlitterte ein Pappuntersetzer auf dem Tisch in Aois Blickfeld. Missmutig die Stirn darüber runzelnd, wer ihn denn hier mit Bierdeckeln attackierte, hob Aoi seinen Blick und sah direkt in Reitas breit grinsendes Gesicht.

„Bringst du mir ein Bier mit, wenn du bestellen gehst?“, rief er über den dauerhaft anhaltenden Lärmpegel hinweg. Aois Augenbrauen wanderten verwundert nach oben.

„Na, dein Glas ist schon seit einer halben Stunde leer und so suchend, wie du dich die ganze Zeit umschaust…“, beantwortete der momentan um die Nase nackte Bassist die unausgesprochene Frage.

Seufzend gab Aoi sich geschlagen und erhob sich von seinem Platz. Wenn er nicht verdursten wollte, musste er da jetzt wohl oder übel durch. Vor Antritt seiner beschwerlichen Reise wandte er sich noch einmal zu seinen übrigen Anwesenden, um gegebenenfalls weitere Getränkewünsche entgegenzunehmen. Doch Kai, der zusammengesunken auf dem Stuhl neben Aois saß, wirkte eher als würde er gleich einschlafen. Ruki und Uruha auf der anderen Seite des Tisches waren unterdessen in ein angeregtes Gespräch vertieft, so dass sie gar nichts mitbekamen. Außerdem sahen ihre Drinks recht gut gefüllt aus.
 

Mit leicht verkniffener Miene ging Aoi los, Richtung Bar, was sich als wahrer Hindernisparcours herausstellte. Ständig blockierten Stühle oder andere Gäste seinen Weg. Es war einfach nervig.

Endlich am Ziel angekommen, ließ sich Aoi auf einen der Barhocker fallen und gab seine Bestellung auf. Während er wartete, drehte er sich auf dem Sitz herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen. Trotz des schummrigen Lichtes fand sein Blick treffsicher die Ecke, in der sich ihre etwas abgelegene Nische befand. Es wirkte, als würden Ruki und Uruha über etwas lachten, das Reita wohl von sich gegeben hatte. Auf die Entfernung hin war es unmöglich genaueres zu erkennen oder gar zu hören, dennoch versetzte es ihm einen eifersüchtigen Stich. Den ganzen Abend fühlte er sich schon ausgeschlossen – einfach fehl am Platz. Und bei dem fröhlichen Bild, das seine Freunde gerade abgaben, ohne dass er ein Teil davon war, nur noch mehr.
 

Aoi biss sich auf die Lippen und blickte weiter zu ihrer Sitzecke oder vielmehr auf seinen besten Freund.

Uruha. Warum musste der Gitarrist heute ausgerechnet zwischen Reita und Ruki an dem runden Tisch sitzen? Als würde er Aoi bewusst auf Abstand halten wollen. Ein Seufzen entwich ihm, während seine Augen wie magisch von dem anderen angezogen wurden und sich ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust ausbreitete.

Ja, er fühlte sich heute definitiv nicht dazugehörig. Nicht, dass die anderen ihn ignorierten – auf gar keinen Fall. Sie alberten wie immer herum, doch irgendetwas war anders. Nein, nicht irgendetwas, sondern vielmehr Uruha. Der Leadgitarrist hatte ihn kaum eines Blickes gewürdigt, sich dafür lieber, nach einer flüchtigen Begrüßung, sofort in eine Diskussion mit Ruki gestürzt und wenn der Sänger einmal in Fahrt war, konnte sein Redeschwall kaum noch gestoppt werden. Es war, als hätte Uruha ihn direkt weggestoßen und würde ihn seither ignorieren.

Das tat weh – sehr weh.

Doch nicht nur heute schien Uruha ihn kühler zu behandeln als sonst. Bei den Meetings, die sie in den letzten Tagen vor Beginn des neuen Tourteils abgehalten hatten, war er nie auf diese bestimmte Art mit Uruha zusammen gewesen. Ständig war einer der anderen anwesend oder der Jüngere verließ einfach den Raum, sobald Aoi eintraf. Das konnte kein Zufall sein.

Es war, als hätte sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufgebaut und sie wären plötzlich nur noch lose Bekannte. Ihre gemeinsamen Momente oder selbst der Barbecue-Abend schienen so unendlich weit weg. Nichts davon war mehr übrig: keine längeren Gesprächen, kaum Blick- oder Körperkontakt. Als hätte Aoi irgendeine ansteckende Krankheit.

Es war frustrierend. Dabei wollte er doch einfach mit ihm reden, seine wohltuende und vertraute Nähe um sich haben – wie früher. Er vermisste seinen Freund und dass obwohl sie sich ständig sahen.

Und trotz, dass die Situation zwischen ihnen so zermürbend war, hatte Uruhas einzigartige Wirkung auf ihn in keinster Weise nachgelassen hatte. Sie war sogar noch stärker. Seine Gedanken und Gefühle konnte er nun einmal nicht kontrollieren und diese überbrückten diese Distanz zeitweilig sehr gut. Aber eben nur in seinem Kopf.

Er hatte sich nie weiter von Uruha entfernt gefühlt als jetzt. Und trotz allem blieb dieses angenehm warme Prickeln in ihm, begleitete ihn die ganze Zeit, selbst wenn Uruha nicht da war.

Aoi war nicht naiv, er wusste nur zu genau, was mit ihm los war. Aus Neugierde und einem unschuldigen, positiven Gefühl war mittlerweile etwas Anderes geworden. Etwas Stärkeres. Auch dieser intensive Traum letztens war kein Einzelfall geblieben und so wurde Aoi immer wieder aufs Neue in eine Mischung aus erregter Faszination und einer kribbelnden, wohligen Zufriedenheit versetzt, wenn er an den Brünetten dachte. Obwohl die Realität schmerzhaft anders war. Dennoch versuchte er sich so gut wie möglich normal zu benehmen, um den anderen nicht spüren zu lassen, was für Gefühle er in Aoi verursachte. Es war nicht so, dass Aoi kein Vertrauen in ihre jahrelange Freundschaft hatte, aber zum einen wollte er seinen Freund nicht noch mehr verunsichern und zum anderen konnte er ihn gerade einfach nicht richtig einschätzen. Alles schien denkbar.
 

Das dumpfe Geräusch von Glas auf Holz riss Aoi aus seinen Überlegungen. Das Bier. Endlich. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an. Mit seinen neusten Errungenschaften begab sich Aoi auf den Rückweg zum Tisch, wo ihn Reita schon erwartungsvoll entgegensah und freudestrahlend sein kühles Goldenes entgegennahm.

„Hat ja ganz schön lange gedauert.“

Aoi überging die Aussage des Bassisten, denn etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich: die Bank neben Uruha war leer.

„Wo ist denn Ruki?“, fragte er mehr zu sich selbst. Reitas äußerst präzise „Klo“- Antwort erreichte ihn kaum, da war der Schwarzhaarige schon um den Tisch herumgetreten und nahm Rukis Platz in Beschlag.

Uruha schaute kurz von seinem Smartphone auf, was Aoi indirekt dazu zwang, sein Handeln mit einem lapidaren „Der Stuhl war so unbequem“ zu kommentieren.

Seit wann musste er sich eigentlich rechtfertigen?

Ein abwesend wirkendes Nicken war die einzige Reaktion des Brünetten, der sich sofort wieder dem Display vor seiner Nase widmete. Aoi presste die Lippen enttäuscht zusammen, während er versuchte dem starken Kribbeln in seinem Bauch, das sich unweigerlich als Reflex auf Uruhas Nähe eingestellt hatte, Herr zu werden. Es war zum Verzweifeln. Sein Körper spielte verrückt und Uruha zeigte ihm ganz offensichtlich die kalte Schulter. Er ignorierte ihn eindeutig.

Doch warum? Gedankenverloren betrachtete er das schöne Profil des Gitarristen. Dessen Konzentration lag ungebrochen auf dem leuchtenden Gerät in seiner Hand, während seine Zähne auf der vollen Unterlippe herumkauten.
 

Rukis kurz darauf erfolgende Beschwerde über den geklauten Sitzplatz drang gar nicht erst in Aois Bewusstsein vor, zu sehr vereinnahmten ihn seine Gedanken und Gefühle.

War es wirklich seine Schuld? Es musste so sein.

Dabei behandelte er Uruha doch nicht anders wie in den Wochen zuvor, oder? Warum war der Gitarrist so abweisend zu ihm? Hatte er nicht vor geraumer Zeit noch verkündet, er wäre bei Bedarf gerne Aois persönliche Hauskatze, wenn es ihm helfen würde? Von Anschmiegsamkeit war mittlerweile keine Spur mehr übrig und diese spürbare Distanz tat körperlich weh.

Was hatte er getan, um Uruha so zu verändern? Dass es etwas mit ihm persönlich zu tun hatte, war offensichtlich, denn allen anderen gegenüber verhielt sich sein Freund völlig normal. Nur in seiner Gegenwart erkannte er Uruha nicht wieder.
 

Erst als Uruha ruckartig den Kopf zu ihm wandte und ihn aus dieses dunklen Augen ansah, fiel er aus seiner gedanklichen Wolke. Der Blick wirkte fragend und kühl, dennoch machte sein Magen einen Salto und ein leichter Hauch von Triumph durchflutete ihn. Da war sein intensives Starren wohl doch auffällig genug gewesen, um Uruha zu einer Reaktion zu zwingen.

„Was ist denn los, Aoi? Du brennst mir ja förmlich Löcher ins Gesicht“, hörte er seine leise Stimme. Er hatte Mühe, die Worte unter Reitas und Rukis lautstarker Diskussion herauszuhören, doch das war egal. Endlich – endlich beachtete Uruha ihn.

Aois Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln, als er prüfend zu den beiden debattierenden Hitzköpfen sah, die sie nicht beachteten. Und Kai – dessen Kopf lag seelenruhig auf der Tischplatte und Aoi glaubte ein leises Schnarchen zu vernehmen.

Aber was sollte er sagen, ohne dass sich Uruha gleich wieder zurückzog? Mit der Tür ins Haus zu fallen, war vielleicht nicht der beste Weg, aber Aoi war noch nie gut darin gewesen, vorsichtig oder gar diplomatisch vorzugehen. Er wollte ganz einfach seinen Freund zurück und ihr altes Verhältnis, in dem sie ehrlich zueinander hatten sein können.

Er rutschte noch ein Stückchen näher an Uruha heran.
 

„Du redest ja wieder mit mir…“, raunte Aoi seinem Freund ins Ohr, der aufgrund der plötzlichen Nähe zu erschaudern schien. War das ein schuldbewusster Ausdruck in Uruhas Gesicht gewesen? Wenn ja, war dieser im Bruchteil einer Sekunde wieder verschwunden.

War das alles? Das konnte doch nicht sein.

Jetzt hatten sie schon einmal einen Augenblick mehr oder weniger alleine und dann das.

Aoi gab nicht auf. Vermutlich war es töricht anzunehmen, ein kurzes Gespräch würde alles klären, doch es war Aois einzige Hoffnung. Er wollte eine Reaktion von Uruha, er konnte diese distanzierte Art nicht länger ertragen.

„Ich habe letztens von dir geträumt.“

Die Worte hatten seinen Mund schneller verlassen, als er über sie nachdenken konnte. Sein Herz schlug wild in seiner Brust, während er wartete.

Würde Uruha darauf eingehen?

Wenn ja, wie viel würde Aoi ihm wirklich von seinem Traum erzählen? Er war hin- und hergerissen. Warum hatte er nicht vorher nachdenken können? Im Zweifel würde er wohl einfach eine lustige und abgedrehte Geschichte, vielleicht über Tiere oder Filme, zum Besten geben. Lieber das, als Uruha noch mehr zu verschrecken. Denn die Hauptsache war doch, sie redeten miteinander.

Für einen Moment wirkte Uruha wie erstarrt, ehe er sich räusperte.

„Na, da hoffe ich, dass es ein schöner Traum war.“

„Ein sehr schöner…“

Das war‘s. Mehr kam nicht, Uruha hatte ihr Gespräch anscheinend an dieser Stelle für ausreichend und beendet erklärt. Aois leise gemurmelten Worte blieben ungehört, denn Uruha hatte sich schon abgewandt und folgte mit neuem Interesse der Debatte der anderen beiden.

Aoi fühlte sich wie betäubt. Nur ein einziges Wort geisterte durch seinen Kopf, als er diesen betrübt senkte.

Warum?

Warum servierte er ihn so eiskalt ab? Warum konnten sie nicht mehr miteinander reden? War Uruha ihre Freundschaft plötzlich egal? Warum?
 

~*~
 

Ein leises Rascheln war zu hören, dann herrschte Stille.

Das Licht der niemals ruhenden Stadt tauchte das Zimmer in einen nachtgrauen Schein und zauberte sanfte Schatten an die Wände. Auf dem breiten Bett, das den Raum dominierte, kauerte eine bewegungslose Gestalt, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet.

Uruha.

Ein lautloses Seufzen kam über Aois Lippen, während er seinen Freund von der Tür aus beobachtete. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er vor wenigen Stunden, trotz der angespannten und schwierigen Situation zwischen ihnen, aus einer spontanen Eingebung heraus angeboten hatte, dass Uruha bei ihm übernachten könnte. In der Bar waren die Getränke reichlich geflossen, weshalb eine Heimfahrt mit dem eigenen Auto in Uruhas Fall sowieso ausgeschlossen gewesen war.

Ruki und Reita, die mit dem Bus hergekommen waren, wurden von dem inzwischen wieder wachen und ausgenüchterten Kai nach Hause gefahren. Natürlich hätte auch Uruha mitfahren oder sich ein Taxi nehmen können, aber sein Auto stand nun einmal vor der Bar, weshalb Aoi seinem Freund nicht ganz uneigennützig vorgeschlagen hatte, bei ihm zu übernachten, da er schließlich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bar wohnte.

Es war ein neuer, fast verzweifelter Versuch gewesen, der unangenehmen Distanz auf den Grund zu gehen und sie eventuell zu überbrücken. Uruha war dem Alkohol reichlich zugetan gewesen und wer weiß – vielleicht half dies ein wenig. Dass er sich von dieser Idee alles andere als begeistert gezeigt hatte, hatte Aoi nicht sonderlich überrascht. Doch nach Rukis angetrunkener und feuriger Rede über die reine Zeit- und Geldverschwendung, die der doppelte Fahrtweg quer durch die Stadt am nächsten Tag mit sich bringen würde, um Uruhas Flitzer aufzusammeln, hatte er schlussendlich zugestimmt. Wenn auch eindeutig widerwillig. Aoi hatte nichts gegen das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust tun können, gleichzeitig gab sich ein winziger Teil in ihm der Freude hin.
 

Bis vor wenigen Monaten hatten solche Abende nie ein Problem darstellte. Meist hatte Uruha von sich aus bei Aoi übernachten wollen. So hatten sie unzählige Male die Nacht mit schlechten Trashfilmen und Pizza auf der Couch verbracht oder stundenlang im Bett über alles Mögliche diskutiert. Manchmal sogar bis zum Morgengrauen.

Und nun wirkte es eher so, als hätte er Uruha regelrecht dazu gezwungen, ihn zu begleiten. Der Heimweg war sehr wortkarg verlaufen. Der Brünette schien in sich gekehrt seinen Gedanken nachzuhängen, während ihn Aoi immer wieder verstohlen von der Seite gemustert hatte. Dabei war seine Hoffnung wirklich groß gewesen, nach dem gescheiterten ersten Versuch noch einmal mit seinem Freund reden und damit der Mauer, die zwischen ihnen stand, Risse verpassen zu können.

Was war nur zwischen ihnen passiert, dass sie sich nicht einmal mehr ansatzweise normal miteinander unterhalten konnten?
 

Und nun stand Aoi in seinem dunklen Schlafzimmer und betrachtete dieses anziehende Wesen auf seinem Bett. Sein Herz schlug wehmütig vor sich hin, während sich in seinem Magen ein harter Klumpen gebildet hatte. Uruha ging es nicht gut, das konnte Aoi selbst in der Dunkelheit erkennen. Allerdings wirkte er nicht mehr kalt und abweisend wie in den Stunden zuvor – vielmehr verloren, so wie er seine angezogenen Beine umschlang und gänzlich in seinen Gedanken gefangen zu sein schien. Bisher hatte er den Schwarzhaarigen nicht einmal bemerkte, der den Raum vor einigen Minuten betreten hatte.

Aoi erkannte seinen sonst so ausgeglichenen Freund wirklich nicht wieder. Er konnte es kaum ertragen, Uruha nicht so verletzlich sehen, er wollte ihm helfen. Und selbst wenn es bedeuten würde, seine eigenen Gefühle vorerst zu vergessen. Er musste wissen, was er ihm getan hatte. Er vermisste Uruhas liebes Lächeln und seinen warmen Blick, der ihn oft berührt und in Hochstimmung versetzt hatte. Diese kalte Art passte einfach nicht zu ihm. Sie stach ihm in die Seele.

Etwas musste passieren.

Aoi löste sich von der Tür und ging auf leisen Sohlen zum Bett, ehe er sich vor dem anderen in die Hocke niederließ. Behutsam legte er eine Hand auf Uruhas Knie, sofort bereit sie wegzuziehen.
 

„Was ist los?“
 

Mehr als ein Flüstern kam nicht über seine Lippen. Doch Uruha hatte ihn auch so verstanden. Sein Blick wanderte vom Fenster zu der Hand, die auf seinem Bein ruhte. Eine gefühlte Ewigkeit passierte nichts, Aoi rechnete schon beinahe damit, mit Schweigen gestraft zu werden, da ging ein Ruck durch den Körper des Jüngeren ging. Seufzend schloss jener die Augen. Es war, als hätte er die Frage schon längst erwartet. Mit klopfendem Herzen wartete Aoi ab, studierte das Gesicht seines Freundes. Die Stirn leicht gerunzelt, die Lippen zusammengekniffen, als würde er mit sich ringen.

Als die dunklen Augen ihn plötzlich musterten, wäre er vor Schreck fast nach hinten umgefallen.

Einen Moment später gab der Brünette seine schützende Körperhaltung auf und saß nun im Schneidersitz vor ihm. So einem schnellen Umschwung hatte Aoi nicht erwartet und für einige Sekunden war er unfähig überhaupt zu reagieren. Ob es nun der Restalkohol war, der Uruhas Abwehr schmelzen ließ, oder etwas anders war nebensächlich. Augenblicklich versetzte ein hoffnungsvolles Kribbeln seinen Körper in Aufruhr. Uruha hatte ihn nicht angeherrscht, weggeschubst oder war gar abgehauen. Er saß hier, in seiner Wohnung, auf seinem Bett, obwohl ihn keiner gezwungen hatte und Rukis Rede nun nichts gewesen war, was ihm keine andere Wahl gelassen hätte. Also war er doch freiwillig hier – jedenfalls ein bisschen.

Etwas mutiger geworden, setzte sich Aoi umsichtig auf das Bett, darauf bedacht Uruha nicht zu verschrecken, schließlich konnte er ihn weiterhin nicht richtig einschätzen. Sein Mut reichte sogar so weit, dass er eine Hand beruhigend über Uruhas Oberschenkel streichen ließ, so wie er es früher unzählige Male getan hatte, wenn dieser aufgewühlt gewesen war. Einen Moment lang schien er zu erstarren, dann drang ein erneutes Seufzen an Aois Ohr.

„Ich weiß nicht, was los ist…“

Die kühle Hand, die sich über seine schob, ließ ihn verblüfft blinzeln.

„Ich fühle mich in letzter Zeit nicht wie ich selbst…“

Zitterte Uruhas leise Stimme? Seine Hand tat es auf jeden Fall, wie der Schwarzhaarige bemerkte.

„Irgendwie bin ich seit neustem so unruhig und nervös. Ich kann nicht mehr klar denken.“

Seine Hand klammerte sich regelrecht an seine, gleichzeitig erklang ein unsicheres Lachen.

„Es nervt mich, da ich mir gerade selbst nicht über den Weg traue.“

Für einen Augenblick war Aoi sprachlos. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, doch dass Uruha mit einem Mal so viel und so ehrlich mit ihm sprach, überraschte ihn gleichermaßen, wie es ihn freute.
 

„Und darum bist du mir ausgewichen?“

Es war mehr eine Frage, als eine Feststellung, die seinen Mund zu schnell verlassen hatte, als dass er die fast vorwurfsvollen Worte noch einmal hatte überdenken können. Doch statt sich wieder zurückzuziehen, hob Uruha seinen Blick und sah ihn direkt an. Aoi schluckte. Was er in den dunklen Augen seines Gegenübers zu lesen glaubte, ließ ihn sich schuldbewusst auf die Unterlippe beißen. Ein trauriger Glanz lag in ihnen und dennoch strahlten sie eine ungeheure Wärme aus.
 

„Ich wollte dich nicht abweisend behandeln, aber ich hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können, wenn du in meiner Nähe warst.“

Uruha presste kurz die Lippen zusammen, ehe er fortfuhr.

„Mit deinen ständigen Annäherungen hast du mich mit einem Mal komplett aus dem Konzept gebracht und mich in absoluter Unruhe zurückgelassen. Ich … ich bin nur noch unkonzentriert und aufgewühlt, wenn du bei mir bist.“ Ein Schniefen war zu hören. „Ich will das nicht. Ich will mich nicht so fühlen. Ach, ich weiß auch nicht… Es wird einfach nicht besser, egal wie viel Abstand ich zwischen uns bringe. Was soll ich denn machen, Aoi? Es macht mich fertig und trotzdem vermisse ich dich. Ich ertrage diese Distanz nicht mehr.“
 

Noch während der unsicheren und immer leiser werdenden Erklärung, hatte Aoi ihn in eine feste Umarmung gezogen. Besänftigend strich er über den Rücken des anderen, der sich wiederum an ihm festkrallte.

„Ich will dich als Freund nicht verlieren.“

Die in sein Shirt genuschelten Worte brachten Aoi eine Gänsehaut am ganzen Körper, während er das Gesagte erst einmal gänzlich verarbeiten. Meinte Uruha das ernst?

Er konnte nicht verhindern, dass der hoffnungsvolle Funken in ihm aufloderte, allein durch die Aussage, die zwischen Uruhas Worte hindurch gesickert war. Hoffnung darauf, dass es nicht ausweglos mit ihnen war – dass nicht alles kaputt war. Vielleicht auch Hoffnung darauf, in Uruha etwas bewegt zu haben, das irgendwann einmal in einem ähnlich positiven Gefühl enden würde, wie Aoi es empfand.

Eine verwirrende Mischung aus Emotionen brodelte in ihm, Freude und Schuldbewusstsein wechselten sich ständig miteinander ab. Das schlechte Gewissen nagte an ihm. Es war definitiv seine Schuld. Er war zu übermütig, zu gedankenlos gewesen, hatte nur an sich gedacht. Das, was ihn in Uruhas Nähe ruhiger und entspannter hatte werden lassen und ihn stets in Hochstimmung versetzte, brachte bei seinem Freund eher das Gegenteil: er wurde fahrig und unkonzentriert und ließ ihn auf Abstand gehen, fast schon die Flucht ergreifen.

Als Aoi sich des bebenden Etwas in seinen Armen bewusst wurde, das sonst einer der ausgeglichensten Menschen gewesen war, die er kannte, tat es ihm leid. Wirklich leid. Er hatte Uruha nie so durcheinanderbringen wollen oder gar, dass es diesem schlecht ging. Zufrieden darüber, dass er sich zu dem anderen hingezogen fühlte, hatte er verdrängt, dass es umgekehrt vielleicht anders sein könnte und dass Uruha unter dieser Zuneigung litt.

Er seufzte tief, drückte den warmen Körper noch etwas stärker an sich.
 

Was sollte er tun?
 

Er wollte Uruha auf keinen Fall verlieren, aber das würde er sicher auch nicht, denn Uruha brauchte ihn ebenso als Freund. Doch etwas musste passieren. Die Situation hatte sie beide durcheinander gebracht, sie verändert, vermutlich mehr als Uruha bisher überhaupt bisher ahnte. Sie konnten nicht zurück. Aber vielleicht konnten sie zu etwas Neuem werden.

Behutsam löste Aoi sich aus der Umarmung, betrachtete seinen Freund, der ihn beinahe Hilfe suchend ansah.

Etwas Neuem… Das wäre schön. Zwar hatte er seine eigenen Gefühle im Griff, doch Uruha nicht. Selbst wenn sie es irgendwie zum alten Status ihrer Freundschaft zurückschafften, würden diese Gefühle in ihnen nicht augenblicklich verschwinden. Diese Unruhe wäre weiterhin da und würde Uruha verunsichern, da er sie nicht einzuordnen wusste. Nein, ein Zurück war keine Lösung.

Aoi lauschte in sich hinein, spürte seinen schnellen Herzschlag, das angenehme Prickeln, das seinen Körper durchströmte, seit er sich Uruhas Wirkung auf sich bewusst geworden war.

Sie konnten es schaffen. Unabhängig davon, was dabei herauskommen würde: ob Liebe, eine Beziehung oder eine andere Art tiefer Freundschaft. Er glaubte an sie, hatte Vertrauen. Und genau dieses Vertrauen brauchte Uruha ebenso. Vertrauen darauf, dass egal was passieren würde, sie einander hatten und sich immer auffangen würden, wenn einer von ihnen fiel. Dass sie keine Angst vor der Reaktion des anderen haben mussten.
 

Sanft strich Aoi über Uruhas Haar und ließ seine Hand auf dessen Wange ruhen.

„Uruha… Kouyou… auch wenn es gerade kompliziert zwischen uns ist…“

Er hielt inne und griff nach Uruhas Hand. Mit dem Daumen fuhr er zärtlich über den Handrücken, um seine folgenden Worte unterstreichen.

„Du bist mein bester Freund und warst auch immer mein persönlicher Ruhepol, anscheinend so etwas wie meine Entspannungstherapie.“
 

„Ja, das hab ich gemerkt.“ Uruha schniefte, gleichzeitig war ein zaghaftes Lachen aus den Worten herauszuhören.

Da war er wieder – sein Uruha. Ein Schmunzeln glitt über Aois Lippen.
 

„Diese Distanz zwischen uns habe ich nie gewollt, wirklich nicht. Deine Nähe hat mich immer aufatmen lassen und mich in ein wunderbares Hochgefühl versetzt.“
 

Ob sich Uruhas Augen wegen seiner Worte weiteten oder weil sich Aois Hand in seinen Nacken gestohlen hatte und zart darüber strich, konnte Aoi nicht genau sagen. Vielleicht war auch nur die Gänsehaut, die seinen Fingern folgte, dem letzteren geschuldet.
 

„Wir bekommen das wieder hin. Vertraust du mir?“

Das zögerliche Nicken spürte er mehr, als dass er es sah.

„Dann schließe die Augen.“

Sanft fuhr er mit der Nase über Uruhas Wange hinauf zum Ohr. Noch wusste Aoi nicht genau, was er tun sollte, doch das würde schon kommen. Er wollte Uruha zeigen, dass er sein Vertrauen verdiente, dass sie die Nähe des jeweils anderen brauchten und es nichts gab, was sie ängstigen musste. Wirklich nichts.

Er spürte, wie Uruha unter seiner Berührung erbebte, als er ihm zuflüsterte:

„Lass dich fallen und denk nicht darüber nach. Ich glaube, ich weiß einen Weg, der uns beiden Entspannung bringt.“
 

~~*~~
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Uruha-Gazette
2020-01-17T20:42:54+00:00 17.01.2020 21:42
Moah musst du ausgerechnet an dieser Stelle aufhören? Das ist echt nicht fair T_T, dennoch voll niedlich das kapitel^^
Antwort von:  QueenLuna
18.01.2020 22:16
Aaah es tut mir leid. Also so ein bisschen... Wobei ne doch nicht xDD Spannung steigern und so :P und vielen lieben Dank für deinen Kommentar <3 freu mich, wenns dir gefällt ^^
Antwort von:  Uruha-Gazette
18.01.2020 22:18
Ich verfolge die FF auf jedenfall weiter^^


Zurück