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Rotkäppchen

von

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Drittes Kapitel: In dem es passiert

Drittes Kapitel: In dem es passiert

 

Paul wusste, dass er sie anstarrte. Er versuchte es nicht zu tun. Es machte sie nervös, das konnte er sehen. Die schnellen Blicke die sie ihm zuwarf, ihre Augen, die sich nicht lange auf etwas fixieren konnten. Sie justierte die Brille auf ihrer Nase und zupfte an ihrem Haar.

Oh ja, er machte sie nervös. Paul konnte es riechen.

Also betrachtete er die Decke – ihm gefielen die Holzpaneelen – und jeden winzigen Winkel der Küche, die ihn nicht interessierte. Aber es half wenig. Seine Augen fanden sie. Immer und immer wieder. Saugten sich an ihrer Gestalt fest. Ihrer schüchternen Art sich zu bewegen.

Sanft und ruhig, trotz der Nervosität.

Ihre Präsenz erinnerte ihn an ein Reh.

Und es war verdammt beruhigend. Nicht der Fakt, dass er sie nervös machte. Nicht mal dem Wolf gefiel das, obwohl der vor wenigen Stunden noch danach gehechelt hatte. Beute, hatte er geschrien und darum gekämpft, frei zu kommen. Mittlerweile wusste Paul allerdings nicht mehr, was geschehen wäre, hätte er die Kontrolle verloren. Ob der Wolf sie hatte verletzen oder bespringen wollen.

Vor ein paar Stunden wäre die Antwort klar gewesen.

Jetzt nicht mehr.

Oder vielleicht doch.

Er spürte, wie sich etwas in ihm entspannte. Ein eng gezogener, undurchlässiger Knoten, der in seiner Mitte existierte. Die Stellschraube, die an allen Aspekten seines Wesens drehte. Die alles enger machte, fester und angespannt. Ein innerer Zug der beinahe schmerzte, nur dass Paul es für gewöhnlich nicht mal bemerkte. Er jetzt, als er spürte, wie etwas nachließ, fühlte er die permanente Dehnung. Und die erschöpfte Zufriedenheit im Nachgang der Anstrengung.

Aus irgendeinem seltsamen Grund wirkte Rotkäppchen auf ihn wie ein warmes Bad. Wie eine Massage für die Stahlseile, die ihn zusammenhielten.

Und es sollte ihm eigentlich die Socken von den Füßen spuken. Die Frage nach dem Warum schlich sich einige Male an, nur um mit einem bösen Knurren verjagt zu werden.

Die flüssige Behagen, das sich in seine Knochen gesetzt hatte, war einfach zu verlockend. Zu frisch und zu lange ersehnt.

Es war merkwürdig. Aber Paul hatte darauf gewartet. Aber dieses Gefühl. Was immer es auch war.

 

Er wollte, dass sie mit ihm redete. Wollte von ihrem Tag hören, davon, was auch immer das Problem mit ihrer kleinen Schwester war. Paul wollte Seth, den kleinen Wichser, auf dem Rücken sehen, dafür, dass er irgendwie für Aufruhr in diesem Haus sorgte. Dieses Haus, das Paul umfing wie eine Decke, die warm und kühl zu gleich war.

Etwas stimmte nicht. Paul spürte es. Das waren nicht seine normalen Gedankenmuster. Es entsprach ihm nicht. Er war ein Bastard und ein Hitzkopf und er brauchte niemanden außer sein Rudel.

Und obwohl er spürte, dass er untypisch handelte, dachte und fühlte, entschied er, dass es ihn einen Scheiß interessierte.

Er wollte sie zum Reden bringen. Dafür sorgen dass sie sich entspannte. Damit er sich noch mehr entspannen konnte und der Wolf endlich aufhörte, in ihm aufgewühlte Kreise zu laufen. Aber Paul traute sich selbst nicht. Etwas hielt ihn zurück. Der letzte Rest männlicher Stolz, ursprünglich ein Gebirge in seiner Brust, jetzt nur noch eine erbärmlich kleine Ansammlung Murmel-großer Steinchen.

Aber sie rasselten und ließen ihn schweigen. Sie konnten allerdings nichts gegen das Starren tun.

 

Er sah ihr zu, wie sie die Kühlschranktür öffnete und wieder schloss. Mit einem kleinen Kick ihrer Hüfte, was er süß und gleichzeitig höllenmäßig sexy fand.

Er verzieh ihr sogar, dass es Butter war, die sie aus dem Kühlschrank geholt hatte. Er hasste harte Butter.

Aber dann starrte sie die Uhr an und schien über irgendetwas nachzudenken, was Uhrzeiten abhandelte und er fand auch das süß und höllenmäßig sexy.

Wahrscheinlich war es in diesem Moment, dass Paul bemerkte, dass er ernsthaft in Schwierigkeiten steckte.

Seine Reaktion war einfach zu stark.

Er mochte Frauen und deren Kurven. Aber Frauen und das Rudel, das war schwer zu vereinbaren. Und auch wenn Mädchen auf ihn reagierten, seit die Wandlung ihn groß und muskulös an all den Stellen gemacht hatte, auf die sie eben abfuhren, hielt Paul Abstand.

Und es war in Ordnung. Das inoffizielle Date-Verbot das Sam nicht hatte aussprechen müssen, störte Paul nicht. Er hatte starke körperliche Bedürfnisse. Das schon. Aber er kam klar.

Irgendwie.

Nur dass etwas ihn das hatte vergessen lassen. Ihn durcheinander gebracht hatte.

Frauen verknüpfte Paul mit Aufwand.

Und das hier fühlte sich nicht nach Aufwand an.

Was auch immer das hier eigentlich war. Und worauf es hinaus lief.

Und was zur Hölle er eigentlich wollte. Außer Dinner.

Das fantastisch roch.

In dem Moment, als sie ein Blech mit Brötchen aus dem Ofen zog, die selbst gemacht aussahen, brachen riesige Brocken aus den Mauern des letzten Bisschen noch überlebenden Misstrauens.

Sein Mund wurde buchstäblich geflutet und alle Skepsis verdunstete in der Wolke aus Sabber-auslösendem Wohlgeruch.

„Oh Mann, das riecht fantastisch.“

Rotkäppchen sah ihn erstaunt an, dann regte sich ein langsames Lächeln, als sie ihn länger betrachtete.

Ihr Schultern zuckten kurz.

„Naja. Hoffen mir mal, es hält was es verspricht.“

Sie streckte sich, um an einen der Schränke zu kommen, eine Bewegung, bei der ein kleiner Streifen weißer Haut freigelegt wurde.

Die Erektion die er beherbergte, seit er die Küche mit genau diesem Bild vor sich betreten hatte, regte sich erneut. Rotkäppchen, gestreckt wie ein kleiner in Wolle gehüllter Bogen, auf den Zehenspitzen, der monströse Pullover in die Taille hochgerutscht.

Er hatte ihren Rücken angestarrt. Die zarten Grübchen im Kreuz und die schimmernde, nackte Haut. Milchig und sahnig und absolut köstlich.

Es wurde wirklich lächerlich. Paul Lahote und die Legende des Dauerständers. War sie eine Art Hexe oder was?

 

Hey, er lebte in einer Welt, in der alles möglich war. Und ihren Haare waren rot.

Vielleicht war sie eine neue Art von Hexe. New-Age Feministinnen Magie oder so ein Bullshit.

Die Evolution der Sündenfall-Nummer (und war die Kombi nicht scheiß komisch).

Süße Mädchen von nebenan, die Erektionen verteilte wie Kaugummi und dann über die Oberflächlichkeit der Männer zickte. Eine selbst induzierte Ursache für anti-maskuline Flüche.

Wer eine Latte bekam, wurde verflucht. Reagierst du ein Mal und du wirst den Ständer nie wieder los.

So kam es ihm zumindest vor. Schwanzgesteuert war er noch nie gewesen.

Diesen Teil von sich hatte er für gewöhnlich ein bisschen besser unter Kontrolle.

Vielleicht musste Paul auch einfach nur mal wieder Einen weg stecken.

Nicht bei dieser hier, allerdings. Das war ihm sofort klar.

Und war es nicht scheiße, dass allein der Gedanke an eine Andere ihm beinahe Übelkeit verursachte?

„Was ist los?“

Paul erwachte aus dem Labyrinth seiner Gedankenwelt. „Hm?“

Nora starrte ihn an, einen Korb in der Hand, in den sie die Brötchen transferiert hatte. Paul hatte es nicht mal mitbekommen.

„Du siehst aus, als hättest du Schmerzen. Muskelkrampf?“

Ihre Frage überraschte ihn.

Es war die Aufmerksamkeit, die ihn überraschte. Allerdings war ihre Frage derartig befremdlich, dass er ein Lachen nicht verkneifen konnte. Muskelkrampf. Oh, was für eine beschissen fantastische Vorlage.

Er verkniff sich das Arsenal sexistischer Witze, das er daraufhin abfeuern könnte, da sie ihn für jeden einzelnen davon hassen würde.

„Nein“, er schüttelte den Kopf. „Kein Muskelkrampf.“ Die Belustigung verschwand nicht zu hundert Prozent aus seiner Stimme, was sie skeptisch machte, Paul konnte es sehen.

Er versuchte sie abzulenken, in dem er auf das Geschirr zeigte, das sie irgendwann in dem Zeitraum seines mentalen Mäanders formvollendeter Schwanzfixiertheit hervor gezaubert haben musste.

Paul räusperte sich.

„Soll ich das übernehmen? Dann kannst du die Kleine rufen.“

Noras Blick folgte dem Weg den seine Hand beschrieb. Dann starrte sie das Geschirr an, als hätte sie es noch nie zuvor gesehen.

Anscheinend war er nicht der Einzige, der ein bisschen abgelenkt war. Allerdings war Paul realistisch genug, um zu erkennen, dass es nicht die gleichen Gründe waren. Außerdem konnte er es riechen. Nervosität. Anspannung. Misstrauen.

Keine Spur von Erregung. Es war der einzige Grund, aus dem der Wolf ruhig war. Einigermaßen.

Sie sah wieder auf. „Okay.“

Es klang so zögerlich, dass Pauls Mundwinkel gegen seinen Willen zuckten.

„Bist du dir sicher?“ Er legte den Kopf schief, um ihrem Blick zu begegnen. Manchmal nicht ganz leicht, wenn der Gegenüber kleiner war und die Augen senkte.

Kleiner als er war fast jeder und Rotkäppchen schien ihn nur dann direkt anzusehen, wenn sie versuchte, ihn zu durchschauen. Wozu sie nicht immer den Mut hatte.

„Nein?“, sagte sie mit einem Fragezeichen auf der Zunge.

Daraufhin musste sie selbst lachen, was ein wenig der Spannung aus ihren Schultern fließen ließ. Sie fuhr sich mit der rechten Hand an den Hinterkopf und wühlte in ihrem Haar.

„Es tut mir leid. Ich bin keine besonders gute Gastgeberin. Und du warst so freundlich, mit dem Fahrrad und...“ Die Hand senkte sich. Stattdessen hob sie die Schulter der gleichen Seite zum Ohr. Als wolle sie sich in sich selbst verkriechen.

Ein tiefes Seufzen hob ihre Brust, wobei der Anblick allerdings durch den großzügigen Schnitt des Pullovers vollständig verdeckt wurde.

Schade.

„Ich bin abgelenkt. Das ist nicht fair.“ Sie lächelte dieses komplett entwaffnende Lächeln. „Und ich decke den Tisch immer. Auf eine ganz bestimmte Weise.“ Ein ausgestreckter Zeigefinger vollführte eine spiralförmige Bewegung neben ihrem Kopf. Das internationale Zeichen für Schraube locker.

Wirklich. Wenn sie noch liebenswerter wurde, wäre es lächerlich. Kilimandscharo Ausmaße lächerlich.

„Ein Fall von OCD?“ Paul grinste. „Cool. Erzähl mir davon!“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin kein Kontrollfreak“, sagte sie, wobei allein dadurch völlig klar war, dass es sie es war. „Ich habe einfach Probleme in die Fähigkeiten anderer Menschen zu vertrauen, wenn es um Dinge geht, die mir wichtig sind.“ Ihr Handfläche drehte sich nach oben und sie deutete auf die Tischplatte.

„Wie das ästhetisch ansprechende Arrangement von … -“, sie schien zu bemerken, dass ihre Worte nicht zu ihrer Verteidigung beitrugen. Und das obwohl Paul wirklich versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen.

Ihr Blick begegnete seinem.

„Dingen“, schloss sie mit einem Stirnrunzeln. Dann bewegten sich ihre Schultern in einem resignierenden Rollen.

Paul sah sie an wie er Jared ansah, wenn der versuchte einen Witz zu machen.

„Rotkäppchen, das war eine Wörterbuch reife Definition für OCD und Kontrollfreak.“

Er wusste, sie wollte den Namen kommentieren. Er sah es dem Aufblitzen von Abwehr in ihrem Gesicht, aber etwas in Ihrem Geruch berichtete von Gefallen. Eine interessante Mischung die ihm mehr über sie verriet, als es Worte allein jemals könnten.

 

Sie war traditioneller als sie sie gern wäre. Traditioneller und mädchenhaft. Aber die modernen Ideale schmückten die Außenfassade und sie hatte noch nicht gelernt Beides friedvoll zu vereinen.

Zwei Impulse, die sie in zwei verschiedenen Richtungen zogen.

Bevor sie etwas sagen konnte, beschloss Paul, ihr die Situation zu erleichtern.

„Ich kann nicht pissen, wenn die Anzahl der Urinale ungerade ist.“

Es war ein bisschen übertrieben, aber die Worte erfüllten ihren Zweck. Der Schatten von Irritation lüftete sich und nach Ungläubigkeit, leuchtete pure Belustigung auf ihren Augen.

„Ist das so?!“

Er wusste, dass sie es ihm nicht ganz abnahm, aber dennoch ließ er nicht locker. Er hob die Schultern, die Hände mittlerweile in den Taschen seiner Shorts.

„Hey, was kann ich sagen, ich bin ein komplexer Typ. Mit Tiefen und dem ganzen Scheiß.“

Sie gluckste. Ein kehliges Geräusch, das unendlich weiblich klang und nichts mit dem hohen Gekicher zu tun hatte, das Paul so schnell nervte.

„Oh, große Tiefen, das kann ich sehen.“

Wieder verschmolz ihr Lächeln mit seinem, der letzte Rest Anspannung aus Noras Haltung verschwunden.

„Du hast ja keine Ahnung. Ich muss richtig aufpassen, dass ich nicht in die Abgründe meiner Seele hineinfalle. Ich würde nicht wieder herauskommen, so scheiße tief sind die.“

Rotkäppchen schüttelte den Kopf. „Natürlich.“

Okay, sie wusste, dass er Bullshit von sich gab, aber wenigstens lächelte sie.

„Also“, sagte Paul und führte sie zum Thema zurück. „Kann ich mich jetzt um das verdammte Geschirr kümmern?“

Sie verzog das Gesicht. Denn seufzte sie.

„Ich schätze, wenn ich von Hannah verlange, dass sie ihre Probleme angeht, kann ich

für einen Abend meine Ansprüche an das Tischgedeck senken.“

Paul hob eine Augenbraue. „Du tust so, als würde ich den Tisch in einen scheiß Picasso verwandeln.“ Er ging um besagtes Objekt herum, achtete aber darauf, dass er ihr nicht zu nahe kam. Er mochte diese würzige Süße in ihrem Geruch, die aufgetaucht war, als sie sich entspannt hatte. Außerdem, wie gesagt, er traute sich selbst nicht.

„Es sind nur Teller.“

Anspannung setzte ein paar Spitzen in ihren Geruch, die sich aber schnell wieder harmonisierten. Sie war wirklich ein nervöses kleines Ding.

Er hatte also Recht mit der Nähe-Sache. Außerdem schien sein Fluchen sie zu stressen.

Er erinnerte sich. Tribal School. Sie arbeitete mit Kindern.

 

Auf ihrem Gesicht war davon allerdings nichts zu sehen. Sie wäre nicht schlecht im Pokern. Zumindest gegen jemanden ohne Superheldennase.

„Siehst du? Es sind Aussagen wie diese, die mich an der Umwelt zweifeln lassen. Das hier-“, sie deutete auf den Stapel Geschirr auf der Küchentheke hinter sich.

„Ist Pfaltzgraff Geschirr. Und es ist wunderschön. Es verdient Respekt. Und Servietten.“

Ihr Augen hatten angefangen zu leuchten, als sie sich heiß redete, ein kleines Mädchen mit wilden Händen. Paul sah sie einfach nur an. Es war ihm scheiß egal, wovon sie sprach. Es zählte nur, dass es ihr wichtig war. Auch wenn sie ein bisschen verrückt wirkte.

Also, anscheinend stand er auf verrückt.

Das war neu.

„So lange ich mir keine umbinden muss.“

Rotkäppchen seufzte. Sie bedachte ihn mit einem Blick gespielter Enttäuschung und schüttelte dann den Kopf.

Paul mochte diese Dynamik. Das Hin und Her. Ein bisschen wie mit den Jungs, nur nicht so derb.

„Ich hole Hannah. Versuch einfach, nichts kaputt zu machen.“

Sie wandte sich zum Gehen. Aber nicht ohne eine Ansage von Paul.

„Ich werde deinen Tisch zum Schnurren bringen, so gut werde ich ihn decken.“

Er grinste und hob eine Augenbraue. Anzüglich und dreist. Einer seiner liebsten mimischen Ausdrücke. „Und danach wird er betteln, dass ich es wieder tue.“

Ihr Blick wirkte ein bisschen verstört, aber unten drunter spürte Paul ihre Belustigung.

„Wir werden sehen.“ Sie lächelte ihr kleines Halblächeln, weniger beeindruckt, als er es gewollt hätte und verschwand durch die Tür. Nicht aber aus seiner Aufmerksamkeit. Er war derartig auf sie fixiert, dass er ihren Herzschlag immer noch hörte, als sie leise murmelnd ihre Schwester aufforderte, den Fernseher aus zu schalten.

Es folgten einige erbärmliche Widerworte von der Kleinen. Das hatte Paul mit vier Jahren besser gekonnt.

Aber es gab ihm genug Zeit, seine Prophezeiung zu erfüllen. Oder auch nicht.

Denn er hatte natürlich keine Ahnung, wie man einen verdammten Tisch irgendwie besonders deckte. Dass es seine Aufgabe gewesen war, als er und seine Schwester noch jünger gewesen waren, qualifizierte ihn nicht wirklich. Er hatte sich nicht mal merken können, auf welche Seite das verdammte Messer kam.

Deswegen sortierte er das Besteck auf die rechte Seite. Allerdings wusste er, dass er mit der Serviette punkten würde. Die faltete er zu zwei Rosen.

Es war so kitschig, dass ihm übel wurde, aber er hatte schließlich etwas zu beweisen.

 

Gemessen an ihren hängenden Schultern wollte Hannah überall sein, nur nicht hier. Ihre kleinen Mundwinkel waren tragisch nach unten gezogen und auf der Stirn ihrer Schwester war eine Falte entstanden.

Das versprach interessant zu werden.

Nora roch nach Sorge, was ihre würzige Süße überdeckte. Und sie war so abgelenkt, dass sie beinahe die Rosen übersah.

Sie entdeckte seine Serviettenkunst, als sie die Teller zurecht rückte. Gemusterte flache nach unten, die kleineren Einfarbigen darüber. Natürlich hatte Paul es falsch gemacht.

Aber es sah nett aus, wie sie es machte, das musste er ihr lassen.

Sie starrte die Papierrose an, ohne sie anzurühren. Dann sah sie ihn zweifelnd an. Das „Rosen? Wirklich?!“ sprach sie zwar nicht aus, aber es klingelte trotzdem in Pauls Ohren.

Er grinste.

Hannah war zu sehr in ihrer kleinen Selbstmitleids-Party verfangen, um etwas zu bemerken. Sie hielt den Kopf gesenkt und bekam es fertig sich zu setzen und gleichzeitig zu zeigen, dass sie es eigentlich überhaupt nicht wollte. Es war eine Kunst, die nur Teenager beherrschten und Paul freute sich, dass sie wenigstens was das anging, ein wenig Feuer zeigte.

Er zog den Stuhl ihr gegenüber heran und ließ sich nieder. Aus Holz und von solider Bauart, machte er nicht mal ein angestrengtes Geräusch. Rotkäppchen bevorzugte Qualität.

„Irgendwelche Touren mit dem Rad gemacht, seit wir uns gesehen haben?“

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Nora ihm einen irritierten Blick zu warf. Sie war gerade dabei Eintopf in Schüsseln zu füllen und er wollte sie wirklich nicht dabei stören. Deswegen ignorierte Paul sie und konzentrierte sich deswegen vollständig auf die Kleine.

Hannah schüttelte nur den Kopf. Dieses Mal jedoch wurde sie nicht in Schuld gebadet. Stattdessen zupfte sie an ihrem Fingernagel herum.

„Das ist gut“, sagte Paul. „Diese Dinger können dich umbringen.“

Entweder sie war zu mies drauf, um die Ironie seiner Worte zu verstehen oder rebellierte auf Teenagerart. Jedenfalls schwieg sie.

Paul grinste trotzdem. Er fand die herumgedrehte Anspielung auf Zigaretten – der eigentliche Zeitvertreib von Teenagern – ziemlich witzig.

Rotkäppchen auch. Er hatte ihr unterdrücktes Lachen genau gehört. Ein kleines Keuchen. Seine Brust schwoll ein bisschen an.

 

Und dann schwoll nur noch seine Zunge. So gierig war er auf was auch immer diesen Geruch verbreitete.

Rotkäppchen setzte erst ihm und dann ihrer Schwester eine Schüssel vor die Nase. Köstliche Schwaden von guuut stiegen ihm in die Nase, ausgehend von Kartoffeln und Bohnen. Selbst der Anblick war appetitlich, der Eintopf angerichtet mit geriebenen Kräutern. Paul verzieh sogar den Fakt, dass sein Dinner diesen Abend fleischlos ausfallen würde.

Er griff sich ein Brötchen und pfiff einmal, um Hannahs Aufmerksamkeit zu erlangen. Also sie aufsah, warf er ihr ebenfalls eine der warmen Krusten zu. Sie war zu perplex, um nicht zu fangen.

Paul gab ihr ein Daumen hoch. Kurz kämpfte die Kleine mit einem Lächeln, dann verlor ihr zarter Teenager Stolz und ihre Mundwinkel hoben ab wie zwei winzige Glühwürmchen.

Und dann begann er zu essen.

Er versuchte nicht all zu sehr zu schlingen. Obwohl er am liebsten die ganze Schüssel inhaliert hätte. Buchstäblich.

Sein Magen hätte bestimmt kein Problem mit der Keramik.

Paul hatte Hunger. Schon eine Weile. Und das hier war großartig. Herzhaft und füllend und warm.

Er war bei seinem zweiten Brötchen, als er die Blicke bemerkte.

Hannahs Versteckte und Noras Offensichtliche.

Er hatte zwei Drittel der Schüssel geleert und hoffte auf Nachschlag. Ein wenig befangen fragte er sich, ob er Sauce am Kinn hatte oder so was.

Manchmal versank er während des Essens in einer Art Delirium. Es war bei ihnen allen so. Sie verbrannten Kalorien schnell. Und sie konnten nicht immer sofort die Batterie auffüllen.

Also schaufelte jeder im Rudel bei jeder Gelegenheit so viel wie er konnte. Man wusste nie genau, wann es die nächste Mahlzeit geben würde.

„Was?“

Hannah fuhr fort mit ihrem Löffel eine Form in ihren Eintopf zu strudeln, aber Rotkäppchen tat nicht mal so, als würde sie sich für die Starrerei schämen.

Sie hatte ihre Portion noch nicht angerührt.

Es machte Paul wütend. Ein gutes Dinner musste man wertschätzen. Das tat man nicht, in dem man es kalt werden ließ.

Verdammt noch mal!

Nora verzog die Lippen zu einem unschuldigen kleinen Kräuseln.

„Nur überrascht, das ist alles.“

Paul nahm sein Messer und bestrich sein drittes Brötchen mit einer dicken Schicht Butter. Sie schmolz ein bisschen, so warm was es noch.

Oh Gott. Allein der Geruch.

Es war ein kleines Wunder, dass Paul nicht sabberte.

Was ihm passierte.

Manchmal.

„Wieso?“, fragte er, bevor er abbiss.

Rotkäppchen beobachtete die Bewegung. Da ihr Blick nun auf dem unteren Teil seines Gesichts ruhte, wollte Pauls Hirn ihn davon überzeugen, dass sie auf seine Lippen starrte.

„Von deinen Essmanieren“, antwortete sie schließlich.

Das schien sie hatte los werden wollen, denn damit begann sie zu essen. Auf diese anmutige Art, die manche Frauen hatten. Es lag irgendwie daran, wie ihre Lippen das Besteck umschlossen.

Obwohl sie einen riesigen Löffel aus der Schüssel schaufelte.

Es bestätigte seine Vermutung, dass sie eine Hexe war. Denn das schien irgendwie nicht zusammen zu passen.

Paul starrte sie an. Versuchte den Fokus nicht zu verlieren. Denn es konnte ihn nicht wirklich anturnen, Rotkäppchen beim Essen zu zu sehen.

Sie schien seinen Blick als fragend zu werten, denn sie hob eine Schulter und lächelte.

„Naja, sie sind erste Sahne. Trotz des Schlingens. Es ist beeindruckt, das mit anzusehen.“

Also, war es nicht so, dass er sich daneben benommen hatte, sondern genau das Gegenteil?

Unsicher, ob es eine als Kompliment getarnte Kritik oder vielleicht sogar ein Witz gewesen war, nahm Paul einen weiteren Bissen.

Er überlegte, ob er schmatzen sollte, nur um sie zu ärgern, wurde aber vom Geschmack abgelenkt. Er seufzte.

Es war ein langes Seufzen.

Schließlich schluckte er und hob den Kopf. Sitzend überragte er Nora nicht so sehr wie im Stehen, aber trotzdem musste sie zu ihm aufblicken.

„Was soll ich sagen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Meine Mama hat mich gut erzogen.“

Das erntete ein spöttisches Lippenzucken.

„Deine Mama?“

Paul verehrte seine Mutter. Und wie konnte er auch nicht? Sie hatte ihn und seine Schwester großgezogen. Quasi alleine, während sein Vater auf Baustellen in jedem Staat Geld verdiente. Sie hatte in der Klinik an der Rezeption gearbeitet und alte Damen zum Tee eingeladen, damit sie nicht so einsam waren.

Sie hatte mit Paul Drachen gebaut und ihm einen Modellsegler geschenkt, jeden Tag Dinner gekocht und die Karotten für sein Lunch in lustige Formen geschnitten, um sicher zu stellen, er sie aß.

Sie lebte jetzt in Toronto, um seiner Schwester mit den Zwillingen zu helfen, die vor zwei Jahren zur Welt gekommen waren. Seine Mutter war eine Heldin.

Deswegen wurde Paul ein wenig stachlig, wenn er etwas witterte, das potentiell Spott sein könnte.

Niemand beleidigte seine Mama.

Sein Ton fiel darum wohl derber aus, als nötig.

Ja. Meine Mama!

Rotkäppchen war ein cleveres Mädchen und verstand sofort.

Sie lächelte.

„Schon okay. Ein Mann der seine Mutter liebt, ist ein guter Mann.“

Paul teilte ihre Ansicht prinzipiell. Aber er war sich nicht sicher, ob er ein guter Mann war. Er hätte es drastischer formuliert. Ein Mann, der seine Mutter nicht liebte, gehörte in die Hölle.

 

Der Kommentar schien Rotkäppchen zu persönlich zu sein. Ihr Rücken spannte sich an und sie wandte den Blick ab.

„Das ist zumindest so ein Sprichwort.“

Sie nahm einen Bissen von ihrem Eintopf.

Paul ließ ihre Worte Revue passieren. Ihn beschlich ein Verdacht.

„Du sprichst nicht aus Erfahrung?“

Ihre Wimpern flatterten, als sie geradeaus starrte und ihr Atem wurde ein wenig flacher. Kurz ruhte ihr Blick auf ihrer Schwester, die den gesamten Inhalt des Brötchens, das Paul ihr zugeworfen hatte, heraus gezupft hatte – ohne etwas davon zu essen.

Sehr interessant.

Der Blick, nicht die Sache mit dem Brötchen. Das war einfach traurig.

„Ich weiß nicht“, antwortete Rotkäppchen schließlich. Paul hatte seine Schüssel in der Zwischenzeit geleert und überlegte, ob es dreist wäre, wenn er sich noch ein viertes Brötchen unter den Nagel reißen würde.

„Ich mag sie nicht besonders“, schloss sie und senkte den Blick, um einen weiteren Löffel zu nehmen.

Paul Blick wanderte zum Topf auf dem Herd.

Ach, was solls.

Er stand auf und nahm sich eine zweite Portion.

Rotkäppchen schien nichts dagegen zu haben.

Als er wieder saß, nahm Paul den Gesprächsfaden wieder auf.„Du magst was nicht?“

Die Antwort war prompt.

„Männer.“

Er verschluckte sich beinahe an seinem Eintopf.

„Du bist eine Lesbe?“ Er klang ein wenig erstickt. Warum es ihn so schockierte, verstand Paul in diesem Moment nicht. Er wusste nur, dass es ihn sehr schockierte. So sehr, dass er die Frage stellte.

Aber Nora reagierte sehr viel cooler, als er erwartet hätte.

Sie lachte.

Es war mehr ein Schnaufen, gepaart mit einem kleinen Kopfschütteln.

„Ich wünschte, es wäre so.“

Was er von dieser Antwort halten sollte, wusste er beim besten Willen nicht. Er sah ihr dabei zu, wie sie mit ihrem Löffel spielte. Ihn in der Hand drehte, während sie ihre Schwester ansah.

Die starrte auf dem Fenster. Paul konnte nicht erkennen, ob sie auch nur einen Bisschen gegessen hatte.

„Aber nein.“ Rotkäppchen schüttelte wieder den Kopf und begegnete seinem Blick. Er meinte Bedauern darin lesen zu können.

„Ich mag sie nur nicht besonders.“

„Männer.“ Es war keine Frage, sondern eine Wiederholung, die auf eine Bestätigung aus war.

Nora nickte.

So war das also.

Paul begann wieder zu essen.

„Klingt, als hättest du schlechte Erfahrungen gemacht.“ Er sah auf, während er kaute.

Er fragte nicht, er stellte fest. Er wusste, dass es so sein musste. Aber er formulierte es sanfter, weil er wissen wollte, was Nora darüber dachte.

Sie schien zu überlegen. Wieder glitt ihr Blick über die Kleine hinweg.

Schließlich seufzte Nora und sah auf ihre Schüssel hinab.

„Mag sein“, sagte sie schließlich. „Vielleicht.“

Paul beließ es dabei. Er wollte nicht tiefer bohren. Nicht in diesem Moment.

Aber er hatte aufgehorcht. Und er war interessiert.

 

Paul verschlang noch zwei weitere Schüsseln und aß sogar den Salat, den Nora ihm auftischte – jetzt verstand er auch den Sinn des Tellerturms, Rotkäppchen speiste gern mit Stil. Sie selbst konnte ebenfalls ordentlich was verdrücken. Oder vielleicht wirkte es nur so, im Vergleich mit ihrer kleinen Schwester, die schleppend und langsam aß und nach der Hälfte ihrer Schüssel den Löffeln beiseite legte. Die meiste Zeit hatte sie damit zugebracht, den Inhalt hin und her zu schieben und den Eintopf anzustarren, als wäre er ihr schlimmster Feind.

Rotkäppchen bedachte ihre Schwester mit besorgten Blicken, die wortlose Aufforderung zu essen darin so laut, dass sie ein Taubstummer gehört hätte.

Irgendwann schien die Kleine zu denken, dass sie ihren Soll erfüllt hatte. Ihre übergroßen Augen richteten sich erstaunlich direkt auf ihre große Schwester.

„Kann ich aufstehen?“

Er konnte regelrecht dabei zusehen, wie Nora sich anspannte. Ihre Atmung wurde sehr kontrolliert. Die Räder in ihrem Kopf quietschten, während sie nach der richtigen Antwort suchte.

Paul kam ihr zuvor.

„Du willst mich doch nicht etwa mit deiner Schwester allein lassen, huh?“

Zwei Paar blaue Augen richteten sich auf ihn.

„Ich werd mir anhören müssen, dass ich ihre heiligen Teller falsch behandelt habe. Nur deine Anwesenheit steht zwischen mir und dem Tod durch Langeweile.“

Die Kleine lächelte scheu und duckte den Kopf. „Die Kardashians laufen gleich.“

Rotkäppchen seufzte das tiefe Seufzen einer schwer Geplagten.

„Ich wünschte, du würdest dir diesen Mist nicht ansehen.“

Sie reagierte nicht mal auf den Bullshit mit den Tellern.

Nun wäre es an Paul zu seufzen, aber er verkniff es sich. Manchmal konnten kluge Menschen ziemlich dämlich sein.

„Ich mag Spider Man“, sagte er, ohne das jemand danach gefragt hatte. Wieder brannten sich vier blaue Augen in seine Haut. Er zuckte mit den Achseln.

„Ich sag ja nur.“

Rotkäppchen warf ihm einen dunklen Blick zu. Allerdings schien sein Unsinn die Situation ein wenig entschärft zu haben, denn nach einer Weile atmete sie gepresst aus und nickte dann.

„Okay.“ Sie zuckte mit dem Kinn in Richtung des Brötchenschlachtfelds, das Hannah auf ihrem Teller hinterlassen hatte. „Aber du isst auf! Das ist die Bedingung.“

Rotkäppchen konnte ein kleiner Feldwebel sein, das hatte Paul schon am Nachmittag gemerkt. Aber er hatte es beinahe wieder vergessen. Jetzt hörte er den Stahl in ihrer Stimmer erneut.

Die Autorität darin kratzte an seinen Knochen wie Sandpapier. Der Impuls, sich dagegen zu stemmen, frisch und stark in seinem Blut. Paul presste die Zähne aufeinander.

Hier ging es nicht um ihn. Aber es war wie ein Reflex.

Wahrscheinlich ein bisschen pathologisch.

 

Hannahs Kampf war offensichtlich, also konzentrierte er sich darauf. Sie schien zu überlegen, ob es das wert war. Aber der Wunsch zu verschwinden, war stark genug. Mit einem letzten störrischen Blick, begann sie zu schaufeln.

Ein wahrer Hurrikan, die Kleine.

Porzellan klirrte. Das Klappern von Edelstahl auf Keramik. Kling. Kling.

Dann war sie fertig.

Blaue Augen, siegreich und hochmütig. Das hier war allein meine Entscheidung. Ich habe es nicht getan, weil du es gesagt hast. Ich bin mein eigener Herr.

Wieder wurde Pauls Herz mit einem plötzlichen Schwall Beschützerinstinkt übergossen.

Die Kleine war so eine Kämpferin.

„Ich bin fertig.“

Noras Lippen waren aufeinander gepresst, die Mundwinkel verkniffen. Aber sie stand zu ihrem Wort.

„In Ordnung.“

Die Kleine war so schnell verschwunden, dass ihr Schatten kaum hinterher kam.

Rotkäppchen seufzte erneut ein schweres Seufzen und begann dann an ihrer Unterlippe zu kauen.

Ihre Finger zeichneten unzusammenhängende Muster auf die Tischplatte, ihr Kopf so weit in den Wolken, dass er kaum zu sehen war.

Paul nutze den Moment um ungestört die Salatschüssel zu leeren.

Er würde schon erfahren, was der Deal hier war.

 

Mit einem wohligen Ächzen lehnte er sich zurück, die Arme über dem Kopf. Der Küchenstuhl gab nur ein winziges Knirschen von sich.

„Danke“, sagte Paul und streckte sich. „Das war großartig.“

Daraufhin sah sie ihn seltsam an.

„Was?“ Immer noch die Hände über dem Kopf, fischte Paul mit der Zunge etwas aus seinem Backenzahn. Als Wolf waren die Dinger wesentlich effektiver. Reinigten sich besser.

Aber Paul aß trotzdem lieber als Mensch.

Rotkäppchen gab ein unverbindliches Summen von sich.

„Nichts. Nur die Manieren.“

„Was?!“, sagte er, Verteidigung in der Stimme. „Soll ich mich nicht bedanken? War ein großartiges Dinner.“

Wirklich. Sah er aus wie ein Höhlenmensch? Wirkte es derartig Neandertaler-artig, dass es sie verwirrte, wenn er Danke sagte?

Nora lächelte. Es war dieses zarte, vorsichtige Lächeln. Ein Hinweis darauf, dass sie ihm wenigstens glaubte. Und dass sie erfreut war.

„Naja“, sie seufzte. „Wenn das so ist. War mir ein Vergnügen.“ Sie zögerte und warf einen unbewussten Blick in Richtung Wohnzimmer. „Kochen wird hier schon lange nicht mehr wertgeschätzt.“

 

Paul bewegte den Nacken und fand eine bequemere Position auf dem Stuhl. Stabil war er zwar, aber trotzdem zu klein. Wenn er nicht aufpasste, würden ihm die Eier einschlafen.

Er streckte die Beine, die Arme nun wieder gesenkt und locker auf die Tischplatte gelegt.

„Also“, begann er nonchalant, „was ist los mit der Kleinen?“

Er verriet nicht, was er bereits wusste. Oder was er vermutete. Er wollte einfach, dass Nora wusste, dass es ihn interessierte. Aber er würde sie nicht drängen, ihm etwas zu erzählen.

Sie begegnete kurz seinem Blick, stürzte dann allerdings die Lippen und sah weg. Betrachtete den Kühlschrank. Aber ihre Augen verwandelten sich in die von jemanden, der sich aus dem Jetzt verabschiedet hatte. Fast fühlte Paul sich einsam.

Etwas fehlte. Etwas von Nora. Ein Teil ihrer Seele schien verschwunden zu sein. Übrig blieben ihr Körper und eine Wolke aus Traurigkeit.

Er ballte eine Hand, als sie Anstalten machte, in ihre Richtung zu zucken. Wahrscheinlich mit dem Ziel, Rotkäppchen mit einer Berührung in den Moment zurück zu holen.

Vielleicht hätte er nicht fragen sollen. Sie kannten sich, was, eine Stunde? Zwei? Es war zu früh für solche Details. Paul konnte ihr nicht verübeln, dass sie schwieg.

Trotzdem ließ sich das Rumoren in seiner Brust nicht ignorieren.

Ein Sog, der danach gierte, einfach alles zu erfahren. Jede Geschichte aus ihrem Leben. Jeden ihrer Gedanken. Was sie fühlte. Wovon sie träumte. Woran sie dachte, wenn sie im Morgengrauen aufwachte, irgendwo zwischen Schlaf und Tag.

Es brauchte diese Erkenntnis, um Paul endgültig klar zu machen, dass er wirklich in Schwierigkeiten war. Knietief in der Scheiße, steckte er.

Vorher war ein witziger Gedanke gewesen. Ein kurzes Unwohlsein, das er beiseite schieben konnte.

Aber das hier …

Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte. Spannung entstand um seine Augen. Seine Beine waren nicht mehr locker unter den Tisch gestreckt. Und sein Herz begann ein Loch in seine Brust zu hämmern. Hitze brach aus.

Die Vorahnung von … etwas. Seide und Dunkelheit und Rot. Beschützen. Sehnsucht. Gier.

Etwas in ihm brannte.

Ein vages Erkennen. Die Reflexion von Nebel auf einem See. Atem der einen Spiegel beschlägt. Etwas Großes. Etwas Wichtiges. Etwas das seinen Fingern entglitt.

Der Wolf begann zu heulen. Pauls Hände begannen zu zittern.

Es tat weh. Es tat weh.

Etwas war da. Und er konnte es nicht erreichen. Er wusste nicht mal was es war.

Es war grauenhaft.

 

Und dann war es vorbei.

Einfach so.

Der Schmerz war weg. Das Zittern vorbei. Das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren ein dumpfer Nachhall der bewies, dass er nicht einfach eine Episode von Wahnsinn erlebt hatte.

In dem Moment, in dem sie ihn ansah. Blaue Augen hinter Brillengläsern, niedergeschlagen und feucht.

Rotkäppchen lächelte ein tapferes, kleines Lächeln.

„Es ist nicht meine Geschichte.“ Sie faltete ihre Hände in ihrem Schoß. „Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, sie zu erzählen.“

Dann sah sie ihn an und lächelte. „Aber ich werde Hannah danach fragen.“

Er war immer noch ein wenig abgelenkt. Perplex. Und nicht ganz sicher, ob er nicht doch einfach verrückt wurde. Aber ihre Worte wärmten einen Teil von ihm, den sein erhöhter Stoffwechsel nicht berührte und von dem er nicht gewusst hatte, dass er kalt war.

„Sicher“, sagte er deswegen und hoffte, dass es verständnisvoll klang und nicht sarkastisch.

Vielleicht sprach er aus diesem Grund weiter, damit er nicht wirkte wie ein Arschloch.

„Dann frage ich was anderes.“ Er beugte sich leicht nach vorne. „Seid ihr reich, oder so was?“

Das Haus. Das blitzende Auto. Die Küche. Kein Einbaumodell. Maßanfertigung.

Und dann die Einrichtung. Das alles schrie nach Geld.

Nicht nach Luxus. Aber nach Geschmack und Stil. Und den gabs für gewöhnlich nur gegen Cash.

Sonderbar für jemanden, der so jung war.

Paul schätzte Rotkäppchen auf Anfang zwanzig. Außerdem wusste er, dass sie in der Tribal School arbeitete. Kein Job, der reich machte.

Die Frage schien Nora nicht zu überraschen. Vielleicht war sie daran gewöhnt.

Ihre Miene verschloss sich ein wenig.

„Hey, ist doch cool. Ich hätte nichts gegen ein paar extra Riesen“, sagte er, bevor sie ganz zu machen würde.

Auch wenn es ein lausiger Trick war, entlockte es ihr wenigstens ein kleines Seufzen.

„Wir sind nicht reich.“

Paul konnte das Aber förmlich riechen.

Wieder ein Seufzen. Und dann kam es. „Aber wir haben Geld.“

Ihr Zeigefinger klopfte leicht auf die Tischplatte. „Genug für ein gutes Leben.“

Paul spürte die Geschichte kommen. Es musste eine Geschichte dazu geben.

Die Geschichte wahrscheinlich.

„Unsere Mom ist vor fünf Jahren gestorben.“

Sie war tapfer. Das wusste Paul bereits über sie. Aber es war niemals so deutlich gewesen wie jetzt. In der stillen Würde ihres Gesichts, gefasst und schön, trotz oder gerade wegen der Traue,r die er dort sah. Emotionen so rein wie Schnee. Nicht überdeckt von falscher Stärke, nicht unterdrückt und versteckt. Offen ausgebreitet vor ihm wie eine Decke.

Sie war gefasst und anmutig in ihrem Schmerz.

„Es tut mir leid“, sagte Paul leise. So ernsthaft und ehrlich wie er konnte. „Es tut mir so leid.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln, melancholisch aber nicht bekümmert.

Manche Wunden heilten während sie bluteten.

„Es war schwer. Sie war eine wundervolle Frau. Und eine großartige Mom.“

Paul wartete, bis Nora ihm direkt in die Augen sah. „Daran besteht kein Zweifel“, sagte Paul. Denn ihre beiden Töchter waren großartig. Voller Feuer und Mut.

Dankbarkeit leuchtete in Noras Lächeln. Dann senkte sie den Blick.

„Mom war an der Uni in Seattle. Psychologie und angewandte Neurowissenschaft. Sie war klug und gütig. Und witzig. Ich vermisse sie jeden Tag.“

Es war roh. Und gleichzeitig lag darin die Schönheit. Real und echt.

Nie zuvor hatte ein Mensch ihm so schnell so viel Vertrauen geschenkt. Es beschenkte Paul mit einer seltsam neuartigen Demut.

Der Wunsch sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen.

Sie nicht zu enttäuschen.

„Mein Dad starb, da war ich zwölf.“ Und er hatte die Welt in Stücke reißen wollen.

Nora hob den Kopf. Ihre Augen waren trocken, aber die Tiefe an Gefühl, die Paul dort sah, war intimer, als Tränen es je hätten sein können.

Hinter seinen Knien begann ein seltsamer Puls zu pochen. Er spürte, wie Farbe über seine Wangen kroch. Die Hitze von Scham, allerdings nicht gänzlich unerwünscht.

Er wollte darüber sprechen.

Rotkäppchens Lippen hatten sich geöffnet. Ein stummes Wundern. Weich und nachgiebig.

Ihre Hand bewegte sich, als wolle sie ihn berühren. Aber sie stoppte die Bewegung. Enttäuschung flutete Paul.

„Dann weißt du, wie es ist“, sagte Nora leise und Paul nickte, obwohl er sich nicht sicher war.

Woher konnte er wissen, ob sie das Gleiche fühlten. Wut schien nicht ihr primärer Motivator zu sein. Während all seine Energie aus diesem Gefühl geboren wurde.

Trotzdem schienen die Grenzen zwischen ihnen zu verschwimmen, als sie sich ansahen.

Verständnis, das sie schwer und tief verband. Eine Verbindung die überraschen sollte, es aber nicht tat. Sie war eine Fremde. Und doch war sie das überhaupt nicht.

Nicht mehr.

Wieder überkam Paul dieses seltsame Gefühl. Das Gefühl, dass er sich an etwas erinnern musste, es aber nicht konnte. Ein Sehnen, das unter tausend Schichten verschüttet war und versuchte, sich frei zu kratzen.

Noras Worte lenkten ihn von dem Gefühl ab.

„Sie war eine organisierte Frau. Und sie hatte vorgesorgt.“

Wieder diese Geste mit der Schulter. Als würde sie versuchen, damit ihr Ohr zu streicheln.

Paul wollte sie am liebsten in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen.

„Also“, sie lächelte schüchtern. „Nicht reich. Aber ich versuche, ein zu Hause zu schaffen. Hannah braucht das.“

Sie schien mehr sagen zu wollen, sah ihn dann aber entschuldigend an.

Paul nickte. Er verstand. Nicht ihre Geschichte.

 

Das Schweigen das entstand, war zeitlos. Kein zähes, festes Ding, das man aus dem Raum rollen wollte. Sondern friedlich.

Geteilt.

Was immer Paul erwartete hatte, als er an diesem Abend das kleine klapprige Fahrrad auf die Ladefläche von Sams Truck geworfen hatte, was immer Paul gedacht hatte, als die Dinge ihren Lauf nahmen, das hier …

Er hatte nicht mal Worte dafür.

Nach einer Weile machte Rotkäppchen neuen Kaffee. Sie fragte nicht mal, nahm einfach seine Tasse und füllte auf. Sie schien nicht mehr so große Probleme mit seiner Anwesenheit zu haben. Schien so entspannt, wie Paul sich fühlte.

Am liebsten wäre er eingeschlafen. Aber er war nicht müde. Was auch seltsam war. Momente von Ruhe nutzte sein Körper für gewöhnlich für Schlaf. Es war wie mit dem Essen.

Aber er wolle nicht schlafen. Er wollte einfach nur da sitzen. In dieser heimelichen Küche, in diesem gedämpften Licht. Umhüllt von Rotkäppchens Süße und dem Duft von Kaffee, ein fantastisches Dinner im Bauch.

Er war zufrieden.

Es war regelrecht gruslig.

 

Es war Nora, die die Stille brach.

„Paul.“

Er sah auf, in dem Glauben, dass sie seine Aufmerksamkeit wollte.

Aber sie schien nur seinen Namen auf ihrer Zunge zu balancieren.

Sie legte den Kopf schief und hob ihre Tasse mit beiden Händen. Sie hatte irgendwann ein Bein angewinkelt. Den Fuß auf dem Stuhl, die Kniescheibe gegen den Tisch gepresst.

Ihr weißen Hänge umfingen eine dampfende Tasse. Weiter Pullover und Sweatpants, das Haar offen.

Das Bild perfekter Häuslichkeit.

„Nicht wirklich ein indigener Name.“

Paul verstand, was sie meinte.

Diese College Mädchen mit ihren großen Wörtern. Seine Mundwinkel zuckten.

„Tja, vielleicht überrascht es dich, Rotkäppchen, aber die meisten von uns haben die Zeiten von Kleine Feder und Weißer Wolf hinter sich gelassen.“

Er erntete ein kleines Lächeln und deutete es als Triumph. Er belohnte sie mit ein bisschen mehr Information.

„Mein voller Name ist Paul Lahote.“

Nora runzelte die Stirn. „Hm. Auch nicht wirklich indigen.“

„Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen.“

Ihr Interesse schien geweckt.

„Dein Vater“, ihr Blick flatterte, als sie vorsichtig andeutete, eine Frage stellen zu wollen. Als Paul nicht negativ reagierte, fuhr sie fort. „Er war Quileute?“

Der Tod seines Dads lag fast zehn Jahre zurück. Eine Berufsverletzung. Schlechte Heilung. Blutvergiftung. Pauls Mom war beinah verrückt geworden vor Trauer. Und Hilfslosigkeit. Aber sie hatte sich zusammen gerissen. Für ihre Kinder. Paul hatte keine Entschuldigung. Er hatte die ganze Welt bestraft.

Und Wut war zwar ein gutes Ventil, aber sie hatte den Nachteil, das der letzte Rest Trauer nie ganz verschwand. Zorn war eine Mauer. Die letzte Bastion vor Schmerz.

Und Paul hatte viel von allem.

Er atmete schwer ein und nickte. „Ja.“ Er griff nach seiner Tasse. Mehr um seine Hände zu beschäftigen, als um zu trinken.

„Durch Blut oder Heirat?“

„Blut“, antwortete Paul zögerlich.

Rotkäppchens Stirn runzelte sich weiter.

„Und der Name ist immer von männlicher Seite aus weitergereicht worden?“

Paul neigte den Kopf. Trauer und Erinnerungen zogen sich zurück und machten Platz für Belustigung.

„Ich schätze schon.“

Seine Antwort schien sie frustrieren.

„Sind alle deine Vorwaren Quileute? Oder-“

Sie brach ab, als er die Hand hob. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und er betrachtete sie amüsiert.

Kurz wirkte sie ertappt, dann wurde ihre Miene störrisch.

Aus Pauls Lächeln wurde ein Grinsen.

„Ich weiß was du tust, Missy.“

„Ach so?“ Sie klang misstrauisch. „Was denn?“

Pauls Grinsen wurde breiter. Und zahniger.

„Du wähnst mich mit einem guten Dinner und schummrigem Licht in Sicherheit. Die ganze Mädchen-von-Nebenan Nummer“ Er deutete an ihr hoch und runter. „Um dann deine gierigen kleinen Fragen zu stellen.“

Ihre Augen verengten sich und sie kreuzte die Arme vor der Brust. Ihr angestelltes Knie war ein wenig im Weg, aber das schien sie nicht zu stören.

„Und dein Leben ist so mysteriös, dass dir das gefährlich werden könnte, Paul Lahote?“

Die Art wie sie es fragte, sollte ihn vorsichtig werden lassen. Sie war scharfsinnig.

Intuitiv.

Aber ihre Fragen waren einfach neugierig. Sie hatte keine Ahnung, was sie fragte, wenn sie Blut und männliche Ahnenlinien und seinen Stamm bündelte.

Sie konnte es nicht wissen.

Dennoch stellte sie die Fragen.

Und Paul hätte beinahe mehr beantwortet, als er sollte.

Er musste also gestehen, dass es funktionierte. Ein gutes Dinner und schummriges Licht. Ihre Anwesenheit war wie kühles Wasser auf einer Wunde. Wohltuend.

Er war entspannt. So entspannt, dass Paul sich zu einem anzüglichen Blick hinreißen ließ.

Langsam. Kopf, Hals, Arme. So träge wie Sirup.

„Hat nicht jeder Mann seine Geheimnisse?“

Die Antwort kam prompt.

„Ich weiß es nicht, sag du es mir.“

Er richtete sich etwas auf. Ein unbewusstes Anpirschen in sitzender Haltung. Seine Hände ruhten beide auf der Tischplatte. Das Holz fühlte sich natürlich an, als er seine Finger unwillkürlich dagegen presste.

Spannung aufbaute.

Ihre Augen verriegelten sich mit seinen. Ein Kugelblitz der zwischen ihnen hin und her gespielt wurde. Hin und her und hin und her. Und mit jedem Rückstoß spannte sich das Band zwischen ihnen fester.

Dieses Band das irgendwie von Anfang an da gewesen war, an dem aber niemand zu ziehen wagte.

 

Eine zugeschlagene Tür schreckte sie auf. Nora sichtbarer als ihn. Sie zuckte zusammen, Paul fühlte sich nur, als hätte ihm jemand einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet.

Er sollte verschwinden.Wirklich. Bevor er etwas tat, das er bereuen sollte, es aber wahrscheinlich nicht würde.

Das war das Gefährliche hieran.

Noch gefährlicher war, dass er nicht gehen wollte.

„Das war Hannah“, sagte Rotkäppchen unnötigerweise. „Sie knallt gern Türen zu.“ Ihren Worten fehlte der genervte Unterton. Sie klang nervös.

Sie roch nervös.

Ihr Herz schlug schneller und Röte hatte die weiße Haut zwischen ihren Sommersprossen überzogen.

Sie sah reizend aus.

Aber die Zeit der friedlichen Stille war wohl vorbei. Paul hatte zu viel gespielt und nun musste er die Konsequenzen tragen. Er seufzte, als sie sich erhob.

„Ich, eh-“, sie rieb sich über die rechte Augenbraue, „ich fang besser an, aufzuräumen.“

Sie begann das Geschirr einzusammeln.

„Ich helfe dir.“

Paul stand ebenfalls auf und nahm ihre beiden Tassen. Seine war noch beinahe voll. Er leerte sie in drei großen Zügen.

Rotkäppchen hatte die Reste umgefüllt und stellte sie gerade in den Kühlschrank.

Sie hatte ihm den Rücken zu gedreht.

„Das brauchst du nicht. Wir haben eine Spülmaschine.“

Paul stellte seine Tasse in die Spüle und betätigte den Hahn.

„Manche Dinge sollten lieber von Hand gespült werden.“

Es folgte ein angestrengtes Ausatmen ihrerseits. Schien, als wollte sie wirklich, dass er ging. Das war ihr gutes Recht. Ihn überraschte nur der Stich, den es ihm versetzte.

„Okay“, er stellte das Wasser ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Küchenplatte. „Ist komisch, nach dem Essen nicht abzuwaschen. Wir machen es immer, wenn Emily kocht.“

Und schon wieder sagte er mehr, als er sollte.

Wirklich, er sollte verschwinden.

Rotkäppchen war zu clever, um ihn damit davon kommen zu lassen.

„Emily“, wiederholte sie und unterbrach ihre Tätigkeit den Geschirrspüler zu beladen. Sie richtete sich auf. „Sam Uhleys Frau?“

Paul verschränkte die Arme vor der Brust und kreuzte das rechte vors linke Bein.

„Uh-hu. Emily. Sams Verlobte.“

Eine kurze Pause entstand. Wieder stotterte der Motor an ihrer Gedankenmaschine.

„Ihr seid häufig dort?“

Paul war selbst ein Jäger. Er roch die Falle, noch bevor Rotkäppchen wusste, dass sie sie stellen wollte.

Er wandte sich ihr zu. Arme immer noch verschränkt, Miene neutral.

„Pass auf, wo du deine Nase hinein steckst, Rotkäppchen. Schon vergessen, wie das Märchen ausgeht?“

Paul grub die Zähne in die Haut unter seiner Unterlippe und intensivierte seinen Blick genug, damit sie ein bisschen in Schweiß ausbrach. Unwillkürlich zog sie sie Schulten ein wenig hoch. Aber wich seinen Blick nicht aus.

Oh, sie war mutig.

Wie viele Zeichen brauchte er noch?

„Der Wolf ertrinkt im Brunnen“, antwortete sie zögerlich. Als hätten Trotz und Angst gerungen und der Trotz gewonnen „Den Bauch voller Steine.“

Ihre Stimme war nur ein Hauch, während sie ihn anstarrte.

Paul hatte sich in ihre Richtung gedreht und die Arme gelöst. Seine Hand lag auf der steinernen Arbeitsplatte. „Das mag so sein, Kleines“, er senkte den Kopf und lehnte sich in ihre Richtung.

„Aber vorher muss jemand Rotkäppchen retten, weil sie sich selbst in Schwierigkeiten gebracht hat.“

Er ließ das eine Weile wirken und genoss derweil ihren gewandelte Geruch. Nervosität. Aufregung. Aber die würzige Süße war nicht verschwunden. Sie vertraute ihm jetzt. Auf einem unterbewussten, instinktiven Level, vertraute Rotkäppchen dem Wolf.

Sie roch zum anbeißen und Paul musste sich an der Küche festklammern, um nicht genau das zu tun.

„Wer wird dich retten, wenn du dich in Schwierigkeiten gebracht hast, Nora?“

 

Es war das erste Mal, dass er ihren Namen aussprach und sie bemerkte es. Ihre Wimpern flatterten leicht hinter den Brillengläsern, bevor ihre Augen sich verengten.

Sie schien eine Antwort auszubrüten, aber man verließ das Schlachtfeld besser als Gewinner, also überraschte Paul sie mit einem Grinsen.

„Ich sollte gehen. Danke fürs Dinner.“

Er unterdrückte den Impuls ihr auf die Nase zu tippen. Man sollte es nicht übertreiben, diese Lektion war ihm heute bereits erteilt worden. Außerdem wollte er sie nicht berühren.

Er wollte es nämlich zu sehr. Und das war das Problem.

Paul drehte sich um und verließ die Küche. Öffnete die Eingangstür, noch bevor Rotkäppchen reagiert hatte.

Draußen verlangsamte er seine Bewegungen, damit sie Zeit hatte, hinterher zu kommen.

Verschiedene Emotionen wühlten in ihr, als sie die Tür schließlich erreichte. Ihre Atmung ging heftiger und ihre Mundwinkel wirkten verkniffen.

Aber unter allem verweilte die zarte Würze, ihre ganz eigene Essenz. Wäre sie zu aufgeregt, wäre sie überdeckt. Paul verkniff sich ein Grinsen.

Das hier hatte eindeutig zu viel Spaß gemacht. Sam würde sich die Schwanz weg ärgern, wenn er es im Mind-Link sehen würde.

„Danke“, rief Nora, als er schon einige Schritte aus dem Lichtkegel der Tür herausgetreten war. Er drehte sich um und tippte sich an die Stirn. Sie meinte das Fahrrad, so viel stand fest.

„Klar. Und nimm es der Kleinen nicht weg. Sonst wird es richtig mies.“

Nora atmete kontrolliert aus. Sie wusste, dass er Recht hatte, aber sie hatte es einmal bestätigt, sie würde es nicht wieder tun.

„Wir werden sehen“, sagte sie und klang wieder wie der kleine Feldwebel vom Nachmittag. Es musste ihre Lehrerinnen-Stimme sein. Dabei war sie nicht mal eine.

Paul überlegte er einen Moment, dann schnipste er kurz mit den Fingern, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

Seine Stimme war ernst, als er sprach.

„Trotzdem hast du Recht. Es ist keine gute Zeit für Waldspaziergänge und Fahrradausflüge. Hannah sollte das verstehen. Es ist gefährlich da draußen.“

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Noras Gesicht, so schnell dass Paul ihn nicht einordnen konnte.

Dann bekam sie wieder dieses Funkeln in den Augen. Sie legte den Kopf schief. Paul hatte schon gelernt, dass das nichts Gutes bedeutete.

„Komisch“, sagte sie und ließ eine dramatische Pause. „Dein Freund Samuel hat mir genau das Gleiche geraten. Mit exakt diesen Worten.“

Bei der Erwähnung des ungewohnten Namens irritierte ihn kurz der heiße Blitz, den Paul später als Eifersucht erkennen würde, bevor ihm auffiel, dass sie Sam meinte.

 

Er kam ein paar Schritte zurück zur Tür, blieb an der Schwelle stehen, an der Dunkelheit in Licht überging.

„Das ist, was er tut“, sagte Paul ernst. Es war wichtig, dass sie das verstand. „Sam. Er kümmert sich um die Menschen. Wenn man klug ist, dann tut man, was er sagt.“

„Und du, Paul?“

„Was ist mit mir?“

„Tust du, was Sam Uhley dir sagt?“

Die Frage kam so schnell, dass es der Instinkt war, der antwortete.

„Ja.“

Ihr Kinn hob sich.

„Ah.“

Erst da fiel ihm auf, was er gesagt hatte. Er blinzelte. Fühlte sich, als würde er nach Stunden in stickiger Luft, den Kopf aus dem Fenster strecken.

Seine Augen wurden schmal.

Oh, diese kleine Range.

Ihr Blick war nachdenklich, aber nicht triumphierend. Das war es, was sie rettete. Wovor wusste Paul selbst nicht.

 

Er hatte es nicht tun wollen, aber jetzt schien es ihm, als hätte er keine andere Möglichkeit.

„Weißt du, dass dein Verandadach kurz davor, ist zu kollabieren?!“

Seinen Worten klangen vernünftig, aber seine Stimme war eine Kriegserklärung.

Vielleicht sah sie ihn deswegen so irritiert an.

„Was?!“

Seine Nasenflügel bebten.

„Das beschissene Dach deiner beschissenen Veranda.“ Er deutete einen Halbkreis an. Ums Haus herum. Ziemlich energisch. Und dass sie zusammenzuckte, machte ihm bestimmt kein schlechtes Gewissen.

„Das repariert werden muss. Am besten gestern. So ein Scheiß kann jemanden umbringen.“

Sie sah ihn an, als wäre er verrückt. Aber die plötzliche Aggressivität in seiner Stimme schockte sie eindeutig zu sehr, also hielt sie gnädigerweise die Klappe.

„Okay.“ Wieder dieses Zögern. Als spräche sie mit einem Wahnsinnigen.

„Ich komme morgen und kümmere mich drum.“

Es vergingen ein paar Atemzüge, bis sie verstand.

„Nein!“

Ihre spontane Abwehr tat weh. Und machte ihn wütend. Noch wütender.

Am liebsten hätte er sie geschüttelt.

„Hör zu, das Dach ist gefährlich. Jemand muss sich drum kümmern. Bis das passiert ist, könnt ihre die Hintertür nicht benutzen, also-“

„Ich bin morgen nicht da“, unterbrach sie ihn.

Paul atmete. Sah sie an und atmete. Dachte nach. Vielleicht wäre es besser, wenn er nicht so schnell wieder käme. Etwas Abstand zwischen sie brachte. Zeit zum Nachdenken. Und Prioritäten klären.

Und zum Wichsen.

Also kalkulierte er. Dehnte die Zeit in seinem Geist, bis die Vorstellung sie so lange nicht zu sehen, wie ein Gummiband zurückschoss.

„Donnerstag.“

Nora blinzelte.

„Du brauchst wirklich nicht-“

„Mein Dad war Zimmermann.“

„Oh.“

Es entsprach der Wahrheit. Und Paul arbeitete gern mit Holz. Er kümmerte sich um Reparaturen und baute gern Scheiß. Das war es, was er im Reservat tat. Sein Job, irgendwie. Neben dem ganzen Wolfrudel Bullshit.“

Aber seinen toten Dad zu erwähnen, schien der Weg zurück zu sein.

Ein wenig von der Spannung schmolz dahin.

„Donnerstag bin ich schon am Morgen weg und habe bis zum Abend Eltern Gespräche.“

Sie klang entschuldigend, nicht abwehrend. Das war besser.

„Freitag“, sagte Paul und sah das Nein bevor sie den Kopf schüttelte.

„Samstag.“ Das kam von ihr und Paul nickte.

„Cool.“

Ihre Hand hielt ihn davon ab, zu gehen. Sie berührte ihn nicht, sondern blieb in seine Richtung gestreckt. Eine Stumme aufhaltenden Geste.

„Was nimmst du dafür?“

Paul begriff erst nicht. Gedanken waren zu minimalistischen Imperativen zusammengeschmolzen. Er hatte Schwierigkeiten seine Beine zu stoppen, die bei ihrer Geste einen Schritt getan hatten. In ihre Richtung.

Er wollte ihr sagen, dass er ihr Geld nicht brauchte, aber aus seinem Mund kamen andere Worte.

„Dinner“, sagte er. „Meine Bezahlung“, spezifizierte er für sich und für Nora, die verwirrt aussah.

„Dinner“, wiederholte er. „Und Dessert.“

Sie verarbeitete das stumm. Dann nickte sie.

„In Ordnung.“ Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht und Paul bemerkte erst da, dass er es vermisst hatte. Wie ein Ertrinkender.

Oh fuck! Er war so was von ihm Arsch.

„Also, Deal?“

Dann tat sie das bisher Verrückteste.

Sie hielt ihm ihre Hand hin.

 

Die ganze Zeit hatte Paul diesen Moment umschifft. Ihn mal bewusster und dann unbewusster vermieden.

Sie zu berühren.

Nora hatte selbst den Impuls gezeigt und jedes Mal unterbrochen. Sie hatte ihn nicht berühren wollen.

Jetzt scheinbar schon.

Paul starrte ihre Hand an.

Diese kleine, weiße Hand. Mit ihren kleinen, zarten Fingern.

Okay, also, er hatte keine Angst vor einer kleinen, weißen Hand.

Paul hob den Arm.

Und schlug ein.

 

Es war wie ein Elektroschock. Ein Tasern, das seinen Arm hinauf, bis in sein Herz schoss. Ihm entwich ein kleines Keuchen.

Die Muskeln seiner Hand spannten sich im Reflex. Paul wusste nicht, ob sie es auch spürte oder ob sie nach Luft schnappte, weil er ihr weh tat.

Ruckartig ließ er sie los. Der Wolf knurrte.

Rotkäppchen starrte erst ihre Hand an und dann Paul. Er war zu geschockt von der Empfindung, die immer noch in seinem Arm herumsprang, um ihr Gesicht nachvollziehbar zu lesen.

„Deal“, sagte er schließlich, seine Stimme ein erbärmliches, atemloses Ding in seinem Hals.

„By.“

Paul war noch nie vor etwas weggerannt. Nicht physisch.

Aber genau so musste es sich anfühlen.

 

 

Eigentlich hätte das genug sein sollen.

Dafür dass er weg blieb.

Dass er einen Augenblick nachdachte und verstehen sollte, was da vor sich ging.

Aber das war es nicht.

Und Paul tat es nicht.

Denn die alte Schlampe Schicksal hatte ihre Finger mit im Spiel.

 

Und so hechelte Paul dem Samstag so sehr entgegen, dass es jeder im Rudel mitbekam.

Seine gute Laune war irritierend für die anderen.

Sam zwang ihn mit einem Alphabefehl zur Wandlung, um zu erfahren, ob Paul gegen seinen Befehl einen Blutsauger gerissen hatte. Was Bullshit war, denn dann würden sie bereits in einem Krieg untergehen.

Aber der Verdacht hatte seine Logik. Denn nur das konnte Paul sonst so gute Laune machen.

Sie alle hatten Zugriff auf Pauls Gedanken und Erinnerungen und sahen Rotkäppchen und das Dinner. Und das fanden alle noch merkwürdiger.

„Also, magst du sie oder so was?“, fragte Josh. Er war ein neugieriger, frecher Bastard. Aber Paul ignorierte ihn einfach.

„Du kannst sie nicht daten. Das weißt du.“ Jared sah ihn so seltsam an, dass Paul genervt die Augen verdrehte.

„Hey, lass mich in Ruhe mit dem Scheiß. Ihr Verandadach ist kurz davor zusammen zu fallen. Ich tue ihr einfach einen Gefallen. Gute Tat und der ganze Bullshit.“

Jared schwieg eine Weile.

„Sei vorsichtig, Paul“, sagte er schließlich.

„Das bin ich immer.“

„Nein. Nein, das bist du nicht.“

Und was gab es dazu schon zu sagen?

 

Aber die gute Laune hielt an.

Selbst als der kleine Cohen sich verwandelte. Gabe Cohen, ein verdammter Dreizehnjähriger.

Paul wurde nicht wütend.

Er klopfte dem kleinen Scheißer sogar auf die Schulter und sagte etwas, das verdächtig klang wie: „Wird schon.“

Er rief sogar seine Schwester an und fragte nach den Zwillingen. Paul rief seine Schwester nie an, also ging das total nach hinten los, weil sie vor Angst ausflippte. Und als sie aufhörte zu schluchzen und endlich hören konnte, dass nichts Schlimmes passiert war und das nicht der Grund für seinen Anruf war, er nur wissen wollte, wie es ihr und den Zwillingen ging, fing sie an, ihn anzuschreien. Dann legte sie auf.

Es resultierte darin, dass Pauls Mutter ihn anrief und ebenfalls anschrie, weil er seine Schwester nie anrief.

Es war sein Schicksal von verrückten Weibern umgeben zu sein.

 

Trotzdem, als er am Samstagmorgen – viel zu früh – vor Rotkäppchens Haus vorfuhr und den Motor seines Trucks ausstellte, war er überrascht, sich pfeifen zu hören.

Eigentlich sollte er noch nicht hier sein. Die Dämmerung lag noch über dem Waldstück und kühler Nebel umwirbelte Paul, als er ausstieg und so leise wie möglich die Tür des Trucks schloss.

Er benötigte ein paar Maße des Dachs. Die tragenden Balken und die Träger des niedrigen Dachstuhls würde er in seiner Garage passend sägen.

Ein paar Mal hatte er überlegt, in irgendeiner Nacht vorbeizukommen und unbemerkt wieder zu verschwinden. Mit besagten Maßen.

Aber dieser kleine Rest Stolz arbeitete noch für ihn und streute genug Gegenargumente.

Er würde nicht wie ein liebeskranker Hund angehechelt kommen. Er hatte genug Kontrolle über sich. Samstag also. Und nicht eher.

Und er war so früh da, damit er früh mit der Arbeit beginnen konnte.

Sonst nichts.

Leise hob Paul das Werkzeug von der Ladefläche. Maßbänder, Winkel, Bleistift. Mehr benötigte er noch nicht. Auf einen Impuls hin, griff er nach einem Hammer.

 

Er war beinahe fertig, als er die ersten Geräusche hörte. Der Himmel hatte sich orange verfärbt und das erste trübe Morgenlicht war heller geworden. Dann begann es zu nieseln.

Für den Anschein trug Paul Arbeitshosen und lange Ärmel. Schweiß rann ihm in den Nacken.

Er hörte ein Telefon. Dann quietschte die Hintertür. Um die würde er sich auch kümmern müssen.

„Hallo?“ Ihre Stimme klang misstrauisch und ein wenig zittrig, ihr Duft verschlafen und trotzdem voll von strengem, chili-artig scharfem Adrenalin. Da Paul keine Geräusche gemacht hatte, war der Anruf wohl von einem Nachbarn gekommen. Er konnte sich das Gespräch gut vorstellen. Nora, Darling, da hockt ein Kerl auf deinem Dach.

Paul grinste.

„Ausgeschlafen?“, fragte er und zog mit den Fingern an einem dubiosen Nagel. Er hatte ihn sofort in der Hand, den kleinen, rostigen Scheißer. Das Holz war total morsch.

Es entstand eine Pause.

„Paul?!“ Kein Zittern mehr in der Stimme. Sie klang irritiert. Das war besser.

„Genau der.“

Er hörte, dass sie einen Schritt aus dem Haus heraus getan hatte. Er wünschte, sie würde wieder rein gehen. Das verdammte Dach war nicht vertrauenswürdig und es half nicht, dass er darauf kniete.

„Was machst du so früh schon hier?“, fragte sie. Sie klang wenig begeistert, jetzt wo klar war, dass kein Serienmörder auf ihrem Dach hockte. „Ich habe gegen Mittag mit dir gerechnet.“

„Ich brauchte ein paar Maße.“

„Oh. Okay.“ Er hörte Stoff rascheln. Wahrscheinlich ein Morgenmantel, der gegen das Frösteln enger gewickelt wurde.

„Ja, aber ich bin fertig.“ Paul stand vorsichtig auf, bedacht auf die morschen Balken zu achten und strich sich über die Nase. Seine Haut war ganz nass.

Scheiß Regen.

„Achtung, ich komme runter.“

Paul schwang sich seitlich über die Dachkante. Es war nicht sehr hoch, deswegen sah es nicht unnatürlich aus. Nur ziemlich lässig. Er musste zugeben, über solche Angebereien war er nicht erhaben.

Er lächelte, als er den Kopf hob, Vorfreude wie reines Koffein in den Adern.

„Rieche ich da etwa Kaff-“

Er stoppte, als er wäre vor eine Wand gelaufen.

Er fühlte sich, als wäre er vor eine Wand gelaufen.

Eine Wand aus Licht. Aus Rot. Aus Seide.

 

Ein Herzschlag. Dann noch einer. Bumm. Ba-bumm.

Dann flog Pauls Welt auseinander.

Es war nicht schön.

Es brannte.

Wie Feuer.

Wie Erfrierung.

Licht und Leuchten und hämmernder Herzschlag. Zwei hämmernde Herzen. Ein verzweifelter Versuch aufzuholen. Gleichtakt. Gieriger, winselnder Wunsch nach Gleichtakt.

Paul wachte auf.

Seine eingefrorene, auf Eis gelegte Seele wachte auf und es tat weh. Es tat so weh.

Er taumelte.

Sein Körper taumelte.

Paul war gefangen in einer Welt aus Schmerz und Verwirrung, in einem Moment aufrecht wie ein Mann und dann schwach wie ein Welpe.

Er fror. Er verbrannte.

„Paul?“ Ihre Stimme. Gott, ihre Stimme.

Er hatte es gewusst. Er hatte es vorher gewusst. Wieso nur? Wieso?!

„Alles ok?“

Ein Schritt. Sie machten einen Schritt.

Einen einzigen.

Es veränderte alles.

Kippte die Balance, die am seidenen Faden hin und zerriss die Membran der Kontrolle.

Die Luft schlug Wellen und brach sich an Paul. Und der Wolf wurde mörderisch.

Paul begann zu zittern.

Es war keine Wut. Nicht dieses Mal. Nicht das bekannte Feuer, das an seinen Knochen leckte und den Wolf hervor zerrte.

Es war Angst. Reine, nackte Angst.

Der Wolf wollte sie.

Gier, Sehnsucht, Frieden.

Endlich Frieden. Endlich Erlösung.

Nein. Nicht so. Nein. Nicht das.

Paul kämpfte. Nie hatte er so kämpfen müssen. Gegen sich. Gegen etwas in sich.

Mit der alle Logik stehlenden Gewissheit, dass er nicht kämpfen wollte.

Warum kämpfte er dagegen an?

Lass es zu.

Du willst es.

Du wolltest es immer.

Nein.

Nein!

Er gewann. Er machte einen Schritt rückwärts. Noch einen.

Die Augen aufgerissen. Blind vor Licht.

Er hörte sie überrascht einatmen.

Sie. SIE. Nora.

Er sah sie. Er sah sie zum ersten Mal. Wie kein Mal zuvor.

Nachthemd bis zu den Knöcheln. Zarte Rüschen um noch zartere Knöchel.

Nackte Füße und zerzauster Zopf.

Ihre Augen. Es waren ihre Augen.

Wie war das möglich? Das hier war nicht das erste Mal. Er sah sie nicht zum ersten Mal.

Doch. Doch!!!

Ihre Augen. Sie leuchtete ihm daraus entgegen. Sie.

Und es zerrte an ihm. Zerrte etwas hervor, füllte ihn aus. Machte ihn lebendig.

Der Wolf wollte sich ihr zu Füßen werfen. Jaulend zerrte er sich gegen an den haltenden Ketten, kämpfte um Oberhand.

Nein. Wenn er sich jetzt verwandelte …

Irgendwie gelang es Paul, abzudrehen. Er wusste nicht mehr, ob er es schaffte, eine Erklärung zu murmeln. Er dachte an „Ich muss weg.“ und „Mir ist schlecht.“ Aber erinnerte sich nicht daran, ob Worte einen Weg durch seine brennende Kehle fanden.

Niemals zuvor hatte er so sehr gegen sich kämpfen müssen. Gegen seine Impulse, gegen den Wolf. Gegen den Trieb.

Paul war stark. Und hier zeigte sich, wie stark.

Er behielt die Kontrolle. Über seinen Körper. Über den Wolf. Drängte ihn zurück. Es wurde besser, als er sie nicht mehr riechen konnte. Als der Wald, in den er geflüchtet war, ihre süße Würze auslöschte.

Und es war gleichzeitig schlimmer. Der Wolf heulte. Er verstand nicht. Er hatte seine Gefährtin gefunden. Wieso war sie nicht mehr da?! Wieso war er nicht bei ihr.

Paul rannte. Er verwandelte sich nicht. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn er sich verwandelte. Was der Wolf tun würde.

Er durchquerte den Fluss, das kalte Wasser klärend auf seinen überwarmen Körper und morastigen Geist.

Paul wusste, was geschehen war. Er hatte es vom ersten Moment gewusst, als die Welt aufgehört hatte, im Schatten zu liegen.

Er hatte es vorher gewusst.

Und er hatte nichts dagegen unternommen.

Er hatte es geschehen lassen.

Wie ein beschissener, dämlicher, jämmerlicher Vollidiot.

Oh ja, Paul wusste es.

Aber er konnte es sich erst eingestehen, als er vor Sam stand.

Schlammig und nass, übersät mit Blättern und Disteln. Und war das Blut? Paul konnte sich nicht erinnern. Er fand keine Wunde. Aber es war Blut. Sein Blut.

Paul wischte es ab. Starrte es an. Rot. Ihm wurde übel.

Er stand vor Sam wie ein Sünder. Zitternd. Heftig atmend, Dampf stieg von seiner Haut auf.

Er war wie auf Droge. Konnte das Gesicht des Alphas fast nicht erkennen.

„Ich habe mich geprägt“, keuchte Paul, seine Stimme fremd in seinem Ohr, gepresst und atemlos. Ein erbärmliches Krächzen. Er schämte sich. Sein Hals schnürte sich zu, als er die nächsten Worte dachte. Beinahe schaffte er nicht, sie hervorzuwürgen.

„Auf Nora Taylor.“

 

Verblüffte Blicke. Augen voller Freude. Und Vorsicht. Niemand sah wirklich überrascht aus.

Das Rudel schloss sich um ihn, als Paul an der Wand hinab rutschte. Eine Hand, die ein Handtuch hielt, fuhr über seine Stirn.

Er hatte keine Zeit, seine Abwehr zu zeigen, als schon Sams ruhige Stimme die scheinbar wichtigsten Worte in Pauls Leben sagte.

„Nicht. Fass ihn nicht an!“ Sam klang ernst, aber gefasst. „Lass ihn einfach in Ruhe. Sei einfach nur hier.“ Sams Stimme wurde ein weit entferntes Murmeln. „Er braucht uns einfach nur hier.“

Paul war ihm dankbar. Aber er hatte keine Kraft es ihm zu zeigen. Sam wusste es trotzdem. Sein Alpha wusste es. Das Rudel wusste es.

Sie blieben bei ihm. Während Paul auf dem Boden von Emilys Küche kauerte und angestrengt wie nie zuvor darum versuchte, die Kontrolle über sein Leben zu behalten.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, that just happened.

Jetzt kann der Spaß beginnen.

Danke für eure lieben Worte. Und die Zeit und den Aufwand, einen Kommentar zu hinterlassen. Ich hoffe, ihr hattet so viel Freude beim Lesen, wie ich beim Schreiben.


~ von Feuer gemalt Komplett anzeigen

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