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Was nicht gesagt werden kann

von

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Dritter Brief

Hallo V.,
 

es tut mir Leid, dass ich nicht geantwortet habe. Ich wusste einfach nicht, was ich schreiben soll. Deinen Brief hab ich bestimmt hundertmal gelesen und egal, was ich geschrieben hab, es klang einfach alles blöd. Egal, wie sehr ich mich entschuldige und wie Leid es mir tut, es gibt dir halt deine Beine nicht zurück. Trotzdem… Es tut mir unendlich Leid. Ich würde es so gerne ungeschehen machen oder mit dir tauschen. Es hätte besser mich erwischen sollen, immerhin war ich ja dran schuld.
 

Und eigentlich weiß ich schon jetzt nicht mehr, was ich dir noch sagen könnte. Es steht mir nicht zu, dich damit vollzujammern, wie schlecht ich mich fühle. Immerhin bin ich ja gut davon gekommen. Ich wünsche dir wirklich, dass du bald aus dem Krankenhaus kommst und die Reha starten kann. Die wird bestimmt noch härter, als ich es mir vorstellen kann. Ich wünschte, ich könnte dir da irgendwie helfen. Generell kann ich mir nicht einmal ausmalen, wie schlimm es sein muss, nicht mehr gehen zu können und wie groß die Umstellung in so vielen kleinen, alltäglichen Dingen. Es tut mir so, so Leid. So unendlich Leid.
 

<An dieser Stelle hat ein feuchter Fleck die Tinte verwischt. Der Satz wurde durchgestrichen und in der nächsten Zeile scheinbar wiederholt.>
 

Gestern war ich am Krankenhaus. Also draußen. Ich bin nicht reingegangen. Ein ziemlicher Klotz und ziemlich groß. Überall laufen Leute herum. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich dich besuchen soll, aber ich traue mich nicht. Wie könnte ich dir auch in die Augen sehen, nach dem, was passiert ist? Abgesehen davon, dass du mich bestimmt auch nicht sehen willst. Das kann ich gut verstehen. Du hast wirklich jeden Grund, mich zu verabscheuen.
 

Natürlich trinke ich nicht mehr! Keinen einzigen Tropfen! Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, wäre das alles gar nicht passiert. Ich verspreche, ich werde niemals wieder auch nur einen einzigen Schluck Bier oder Wodka oder Wein oder sonstwas anrühren. Nie! Auch wenn es zu spät kommt, habe ich doch wenigstens das gelernt.
 

Am Mittwoch war ich auf dem Friedhof. Ich habe ein paar “Funny Honey” ausgesucht. Sie sahen so hübsch und freundlich aus in ihrem leuchtenden Orange und haben diesen schönen Farbverlauf. Im Laden hat man mir gesagt, dass sie lange blühen werden. Es tut mir Leid, dass du deine Mutter verloren hast. Bestimmt vermisst du sie sehr. Könnte jetzt sagen, dass sie bestimmt vom Himmel zu dir schaut, aber eigentlich glaube ich nicht an Himmel oder Hölle. Allerdings bin ich sicher, es gibt sie noch irgendwo, ihre Seele meine ich, und dass sie in deiner Nähe ist. Vermutlich ist sie auch ziemlich wütend auf mich. Hoffentlich gefallen ihr und dir die Blumen trotzdem. Ich habe dir ein Foto gemacht. Dann ist es ein bisschen, als wärst du auch dort gewesen.

Entschuldige, das ist bestimmt ein schwacher Trost.
 

Grüße

J.



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