Zum Inhalt der Seite

So eisig die Nacht

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Chapter 9

25. 12.

16: 27 Uhr
 

Dad war noch immer nicht zuhause.

Wenn Victor ehrlich war, dann überraschte ihn das nicht wirklich. Sicher, er hatte sich gefreut, als sein Vater ihm gesagt hatte, dass er heute nicht ganz so lange würde arbeiten müssen, und er bereits mittags zuhause sein sollte, sodass sie beide ganz in Ruhe das Essen vorbereiten und sich später einen gemütlichen Tag machen konnten, so wie sich das eben gehörte für Weihnachten und Geburtstag – in Victors Fall traf das Beides auf einmal zu.

Aber nun war es fast halb 5, und Dad war nicht da.

Spätestens vor drei Stunden hatte Victor angefangen, sich einzureden, dass das okay war. Dass er ohnehin nicht damit gerechnet hatte, dass sein Vater wirklich auftauchen würde, anstatt doch noch Überstunden bei seinem aktuellen Projekt zu machen, für das er ja unersetzlich und unentbehrlich war.

Es war immer das Gleiche. Nicht immer das selbe Projekt, wobei Victor selten wusste, woran sein Vater und seine Kollegen aktuell wieder forschten, aber eben immer dieselbe Prozedur.

Dr. Cormins machte entweder Versprechungen, die er nicht einhielt, oder blieb schlicht ohne irgendwelche Erklärungen verschwunden, kam spät nachts oder früh morgens zurück, ohne mehr als ein paar Worte von sich zu geben. Was davon nun schlimmer war, konnte Victor nicht wirklich sagen.

Und obwohl es seit Jahren immer das Gleiche war, er sich nicht einmal daran erinnern konnte, wann sie das letzte Mal wirklich Zeit miteinander verbracht hatten, so hatte Victor doch gehofft, dass es dieses Mal anders sein würde. So, wie er es immer tat.

„Sicher, dass er wirklich kommt?“, hatte Eddie vorhin gefragt, als sie miteinander telefoniert hatten, und Victor hatte sich Mühe geben müssen, nicht gereizt zu klingen, immerhin war die Frage mehr als berechtigt. „Ja, ich bin mir sicher!“

Eddie, der allgemein nicht viel von Dr. Cormins hielt – er versuchte stets, diese Tatsache zu verstecken, aber Victor merkte es nur allzu deutlich – hatte nicht sonderlich überzeugt geklungen, als er erwidert hatte: „Na, wenn du meinst…“, und dann hatten sie das Thema gewechselt, und nach zehn Minuten war Eddie zum Essen gerufen worden, und seitdem hatte Victor seinen Geburtstag damit verbracht, die Küche aufzuräumen, Futter für die Katzen der über Weihnachten verreisten Mrs. Fletcher bereitzustellen und ab und zu aus dem Fenster oder auf sein Handy zu blicken, in der Hoffnung, dass sein Vater endlich auftauchte, oder ihm zumindest mitteilte, wie lange es noch dauerte.

Tja. Und nun war es kurz nach halb fünf, und Victor lag alleine auf seinem Bett, starrte aus dem Dachfenster in den grauweißen Himmel und betrachtete die Schneeflocken, die auf dem angeschrägten Glas landeten und nach wenigen Augenblicken zerflossen.

Dem Sprecher des Podcasts, den er vor einer halben Stunde eingeschaltet hatte, hörte er kaum noch zu, zu sehr war er in seinen eigenen Gedanken versunken, obgleich diese zu wirr waren, um wirklich irgendeinen Mehrwert daraus ziehen zu können.

Die Stimme des Sprechers erzählte im Hintergrund etwas von Strings und Bosonen und Fermionen, plätscherte aus den Kopfhörern und verschwand im Nichts.

Hätte Victor die Kopfhörer nicht getragen – sie waren im Grunde reichlich unnötig, war doch ohnehin niemand zuhause - dann hätte er wohl die Türklingel gehört, und dann, nach wenigen Minuten der Stille, das Splittern einer Scheibe im Erdgeschoss.

Er hätte die Schritte wahrgenommen die die Treppe hinaufkamen; leise Schritte, aber durch das Knarren der Stufen doch deutlich hörbar, und er hätte mitbekommen, wie draußen auf dem Flur erst die Tür des Badezimmers, dann die des Schlafzimmers seines Vaters, und schließlich und endlich seine Zimmertür geöffnet wurde.

So jedoch hörte er nichts davon.

Hätte Tasha sich so langsam und bedacht bewegt, wie sie das zwei Tage zuvor in Dr. Armstrongs Wagen getan hatte, so hätte Victor sie wahrscheinlich erst bemerkt, wenn sie direkt neben ihm gestanden hätte. Doch an diesem Tag waren Tashas Bewegungen fahrig, beinahe mechanisch, und bereits auf dem Weg hier her war sie mehrmals ins Stolpern geraten, und so geschah es auch jetzt, als sie Victors Zimmer betrat.

Victor bemerkte die Bewegung aus den Augenwinkeln, in einer einzigen fließenden Bewegung setzte er sich auf, drehte sich in Richtung Tür und setzte seine Kopfhörer ab, bereit, seinen Vater zu begrüßen…

Doch die Person, die dort vor ihm stand, schwankend und in gekrümmter Haltung, war nicht sein Vater.

Im ersten Augenblick war Victor sich noch nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Mensch war - was für ein bescheuerter Gedanke, was sollte es sonst sein - und er war dermaßen überrascht, dass das einzige, was er im ersten Augenblick tun konnte, war, ein vollkommen unpassendes „Hallo“ hervorzubringen.

Das war wohl alles andere als eine angemessene Reaktion darauf, einen Fremden in seinem Haus vorzufinden, aber etwas Besseres fiel Victor einfach nicht ein.

Sein Gegenüber, bei dem es sich bei genauerer Betrachtung doch eindeutig um einen Menschen handelte, wahrscheinlich eine Frau, antwortete nicht.

Mit stumpfem Blick betrachtete sie Victor, und ihre Augen wirkten seltsam leer, als würde sie ihn gar nicht wirklich sehen, aber irgendwie doch…

Sie war unfassbar dürr, wie Victor nun feststellte, und das war es wohl auch, was sie im ersten Moment derart unmenschlich hatte erscheinen lassen.

Nun, das, und ihre seltsame Körperhaltung, die bleiche, fast weiße Haut und im Kontrast dazu das schwarze Haar, das verfilzt war und ebenso verwahrlost wirkte wie die zerfetzte Kleidung, die die Frau trug.

Und sie war verletzt.

An ihrem gesamten Körper hoben sich dunkelrote Kratzer und eitrige Wunden von der weißen Haut ab, einige von ihnen entzündlich gerötet, andere bereits schwarz verfärbt, nekrotisch.

Ganz kurz, für nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde, verursachte dieser Anblick ein flaues Gefühl in Victors Magen, und er hatte das Bedürfnis, seinen Blick abzuwenden. Dann jedoch war der Moment des Ekels vorüber. Es wäre auch ausgesprochen albern gewesen, wenn er hier und jetzt die Nerven verloren und Übelkeit oder dergleichen empfunden hätte, es war schließlich nicht so, als sei Victor Derartiges nicht gewohnt. In den Ferien half er häufig im Krankenhaus aus - in Seborga gab es, wie in wahrscheinlich jeder Kleinstadt, immer zu wenig Personal - und wenn ihm beim Verbandswechsel von verklebten eitrigen Wunden oder riesigen Dekubitusgeschwüren nicht übel wurde, dann sollte er doch wohl auch diesen Anblick ertragen.

Die Frau betrachtete ihn noch immer, wobei nicht ersichtlich war, ob sie dabei über etwas nachdachte oder ihre Umgebung überhaupt nicht wahrnahm, was bei ihrer sichtbaren körperlichen Verfassung nicht unbedingt verwunderlich gewesen wäre.

„Wie kann sie sich überhaupt auf den Beinen halten?“, schoss es Victor durch den Kopf, und auch das war so eine in dieser Situation vollkommen unangebrachte Frage, ebenso wie die Folgende, die er dieses Mal laut stellte: „Brauchen Sie Hilfe? Sie sollten sich hinsetzen! Sie… Sie sollten ins Krankenhaus!“

Eine angemessenere Aussage wäre wohl gewesen: „Verschwinden Sie aus meinem Haus, oder ich rufe die Polizei!“, doch daran dachte Victor in diesem Augenblick nicht einmal. Er stand auf und machte ein paar Schritte auf die Frau zu, und die wich ein Stück vor ihm zurück, ihre Augen weiteten sich, und kurz schien da etwas hinter diesem dumpfen Schleier zu sein, etwas, das wirklich sehen konnte, etwas, das verstand. Dann war dieser Ausdruck wieder verschwunden. Und an seine Stelle trat nun etwas, das Victor dazu brachte, doch innezuhalten. „Was tust du denn hier? Bist du bescheuert?“, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf, und als die Frau nun mit einer Hand in ihren zerfetzten Mantel griff und einen kleinen, grau-glänzenden Gegenstand herauszog, fragte Victor sich, wo diese warnende Stimme vorher gewesen war.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück