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So eisig die Nacht

von

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Chapter 2

18. 12.

4: 36 Uhr
 

Als Tasha in die Nacht hinaustrat, Stunden, bevor die Leiche des bemitleidenswerten Pflegers der Nachtschicht gefunden werden würde, schlug ihr beißend eisige Luft entgegen.

Unwillkürlich machte sie einen tiefen Atemzug; sie war sich dessen gar nicht wirklich bewusst, doch es tat so gut, diese Frische, die durch ihren Körper strömte, so vollkommen anders als die trockene Luft des Gebäudes, aus dem so nun endlich entkommen war…

Wie lange war es her, dass sie frische Luft eingeatmet hatte? Wieder diese Frage, und noch immer keine Antwort darauf. So, wie Tasha sich fühlte, in Anbetracht der Faszination, mit der sie verharrte und zuerst den klaren Nachthimmel, und dann die dünne Schneedecke auf den Boden betrachtete, konnten es Jahre gewesen sein.

Das Erstaunen auf ihrem Gesicht glich dem eines Kindes, so unschuldig und naiv, begeistert von einer solchen Selbstverständlichkeit wie einer kalten Winternacht, und ihre kleine, zierliche Gestalt und das einem Kleid ähnliche Krankenhemd verstärkten eben diesen kindlichen Eindruck noch.

Lediglich die dunkelroten Flecken auf dem weißen Stoff störten das harmlose Bild.

Eine ganze Weile stand sie so da, vollkommen regungslos, und obgleich eine kleine hartnäckige Stimme in ihrem Hinterkopf sie anbrüllte, sie solle sich endlich bewegen, dass sie, wenn sie noch lange hierblieb entdeckt und zurückgeschleift werden würde, in ihre Zelle (oh ja, das war es, kein Zimmer, wie sie es bisher immer genannt hatte, sondern eine Gefängniszelle), und dort würde sie dann ihre Strafe für das bekommen was sie diesem Mann, der auf ihr wahnsinniges Gekreische reagiert hatte, angetan hatte.

Doch Tasha kümmerte das nicht. Sie war zu überwältigt von dem Anblick der Außenwelt, als dass sie ihren Weg sofort hätte fortsetzen können, und überhaupt – sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie eigentlich war. Oder wohin sie wollte.

Als ihr diese Tatsache bewusst wurde, überkam sie eine Welle der Panik. Einige Sekunden lang war sie unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen; was tat sie hier eigentlich, was hatte sie vor, und noch viel wichtiger – was hatte sie getan?

Sie hatte einen Menschen ermordet. „Sei nicht albern!“, fauchte Augenblicklich eine weitere Stimme, und instinktiv hielt Tasha sich die Ohren zu, selbstverständlich ohne Erfolg, denn die Stimme kam aus ihrem Kopf, ebenso wie die, die sie noch immer dazu bringen wollte, sich endlich zu bewegen. „Das kann nicht sein! Das ist alles ein schlechter Traum. Du hast niemanden getötet, Tasha, das kannst du doch gar nicht…“

Wie gerne hätte Tasha der Stimme geglaubt. Dort drinnen, in dieser Zelle, nachdem sie die kalte Stange des Bettgestells in die Hand genommen hatte, war sie wie betäubt gewesen. Nichts von dem, was sie tat, schien ihrer Kontrolle unterlegen zu haben, viel eher war sie sich wie eine Beobachterin vorgekommen… und doch waren es ihre Hände gewesen, die die Schläge ausgeführt hatten, die sich um die Stange geklammert und zum finalen Stoß angesetzt hatten…

Und es war ihr Hemd und ihre Haut, an denen das Blut klebte.

„Du bist eine Mörderin.“, schoss es ihr durch den Kopf, und dieses Mal war es keine Stimme, sondern ein einfacher Gedanke, klar und nüchtern. Und ohne jede Reue.

Es tat ihr nicht leid. Vielleicht war es der Schock, vielleicht ein langfristiger psychischer Ausnahmezustand, aber was spielte das schon für eine Rolle, denn nun war sie frei…

Aber wohin wollte sie?

„Ganz ruhig, Tasha.“ Diese Stimme kam ihr nun sehr bekannt vor. Sie wandte sich um, und dort stand er, ihr Begleiter, dem sie ihren Ausbruch wohl erst zu verdanken hatte und dessen Anwesenheit sie skurrilerweise kurzfristig vergessen hatte.

Der Wendigo betrachtete sie aus der leere seiner Augenhölen, hob eine seiner krummen, deformierten Arme und streckte unter morschem Knacken seine Krallenfinger. Hier draußen wirkte er größer, und, so seltsam es klang, klarer. Als sei er dort drinnen bloß ein Schatten seiner selbst gewesen. Tasha vermochte nicht zu sagen, was genau sich an ihm verändert hatte, doch eines wusste sie: Hier draußen hatte sie diesem Wesen nichts mehr entgegenzusetzen. Dort drinnen hätte sie es vielleicht gekonnt, auch, wenn sie auch das bezweifelte. Aber hier, in der Kälte der Nacht (Er IST die Kälte, Tasha! Das ist er, das ist sein Zuhause!), war er stärker.

„Hier komme ich nicht mehr raus“, schoss es ihr durch den Kopf, und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. „Ich weiß nicht, was er von mir will, aber jetzt ist es zu spät um mich umzuentscheiden… hier draußen… hat er mich…“

Sie hatte vergessen, dass der Wendigo ihre Gedanken lesen konnte, und so erschrak sie, als er mit seiner unmenschlichen Stimme erwiderte: „Das stimmt. Aber du brauchst dir keine Gedanken, zu machen, Tasha. Du wirst keinen Grund haben, dich umzuentscheiden!“ Ein kurzes, kratzenden Geräusch ertönte, das vielleicht ein Kichern war, doch es schwang keinerlei Amüsment darin. „Ich will dir nichts Böses. Ich werde dich zu deiner Familie bringen, so, wie ich es dir versprochen habe! Du willst sie doch wiedersehen, oder, Tasha?“

Tasha nickte, und gleichzeitig schrie die Stimme, die sie zuvor dazu hatte bringen wollen sich zu bewegen, in schrillem Tonfall: „Nein, verdammte Scheiße, das will ich nicht, ich will einfach nur weg, weit weg, irgendwo hin wo ich alleine bin und…“ An dieser Stelle verlor die Stimme sich in vollkommen unverständlichem Gebrabbelt, und Tasha nickte noch einmal, mechanisch wie ein Roboter.

Und der Wendigo, obgleich natürlich unfähig zu einer solchen Reaktion, schien zu lächeln.

„Wunderbar! Dann folge mir, Tasha!“

Und Tasha gehorchte.



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