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Das letzte Streichholz

von

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Graue Gewitterwolken verdeckten den Himmel. Die meisten Menschen, die noch klar bei Verstand waren und für die es keinen Grund gab nun draußen zu sein, zogen sich in ihre Wohnungen zurück. Ye Xiu gehörte nicht zu diesen Leuten. Er war zwar bei Verstand, hatte aber keinen triftigen Grund – rauchen konnte man wohl kaum als solchen bezeichnen – draußen zu sein. Nichtsdestotrotz stand er bei Wind und baldigem Regen vor dem Seiteneingang des eSport Clubs Excellent Era.

Normalerweise begab er sich nicht extra nach draußen, um eine zu rauchen. Heute aber hatte er das Gefühl, er würde ersticken, wenn er noch länger drinnen blieb. Der heutige Tag war nicht sonderliche gut verlaufen – eben so wenig wie der gestrige oder der davor. Excellent Era fiel in den Platzierungen immer weiter ab. Wenn sich nicht bald etwas besserte, könnte es sogar passieren, dass sie aus der Liga flogen. Die letzten beide Plätze – Platz neunzehn und zwanzig – wurden am Ende der Saison durch neue Teams ersetzt. Eines dieser Teams hatte durch ein Bewerbungsverfahren die Befugnis erhalten ein Teil der Liga zu werden und das zweite Team war der Sieger der sogenannten Challenger League. Bis jetzt wurde dieses immer nur von ehemalige eSport Teams gewonnen, was der Challenger League den Namen „Revival Tournament“ eingebracht hatte.

Für Excellent Era wäre die Teilnahme an der Challenger League eine Schmach! Immerhin war das Team einst an der Spitze der Liga gewesen und hatte nicht nur drei Meisterschaften gewonnen, sondern drei aufeinander folgende Meisterschaften! Etwas das bisher kein anderes Team geschafft hatte – es gab noch nicht einmal ein Team, das zwei Meisterschaften hintereinander gewonnen hatte. Leider verbesserte sich Excellent Era seit ihrem dritten Sieg im Final nicht mehr, sondern verschlechterte sich stetig. Hochmut kam bekanntlich vor dem Fall und diesen Fall würde niemand unbeschadet überstehen.
 

Ye Xiu wusste, dass seine Zeit vorbei war. Nicht weil er zu alt für die eSportszene war, sondern weil man ihn hier nicht mehr wollte. Der Grund, warum Excellent Era immer schlechter wurde und nun auch kurz vor dem Rausschmieß aus der Liga stand, war er. Er, weil er nicht, wie vom Management gewünscht und gefordert, an die Öffentlichkeit trat – sie wollten ihn zu Geld machen, aber er spielte nicht mit, blieb im Hintergrund. Seine Teamkammeraden befolgten seine Befehle nicht, weil sie auf ihn herabsahen, dachten sie wären besser als er – weil sie die Schnauze von ihm und seinen Lektionen voll hatten. Ohne Teamwork konnte man aber keine Spiele gewinnen.

Es war zu spät jetzt noch etwas zu ändern. Selbst wenn er den Forderungen des Managements nachkommen würde, so würde es nichts daran ändern, dass ihn seine Teamkollegen hassten und wahrscheinlich hatte man sowieso schon einen Ersatz für ihn gefunden.

Der Gedanke zu gehen tat weh. Der Gedanke, dass Excellent Era, das Team das er mit aufgebaut hatte, so tief sank, dass es in die Challenger League abstieg, tat weh. Das Wissen, dass es seine Schuld war, wenn auch nur teilweise, schmerzte auf eine Art und Weise, die Ye Xiu niemals in Worte fassen könnte – und trotzdem bereute er nichts.

Vielleicht war das alles nur der sogenannte „Wink des Schicksals“. Was das Schicksal aber genau von ihm wollte, wusste Ye Xiu nicht. Jetzt wollte er erst einmal eine Zigarette rauchen und zur Ruhe kommen, bevor er zurück zu seinen Kollegen musste, die ihn mit vorwurfsvollen Blicken und Anschuldigungen strafen würden, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich verstand, dass er nicht mehr willkommen war.
 

So einfach sein Plan war gewesen sein mochte, ohne ein Feuerzeug konnte man schlecht eine Zigarette rauchen. Wie konnte er nur sein Feuerzeug vergessen? Das war ihm bis jetzt noch nie passiert – aber es gab ja immer ein erstes Mal; auch wenn er auf dieses Mal gut und gerne verzichten hätte können, insbesondere in seiner momentanen Lage.

Zu seinem Glück kam Excellent Eras Chef Tao Xuan vorbei, der ebenfalls Raucher war. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser auch kein Feuerzeug hatte war doch sehr gering, oder?

„Hey, Old Tao, hast du ein Feuerzeug für mich?“, fragte Ye Xiu ohne ein Wort zum Gruß.

Warum auch? Sie waren doch Freunde. Oder waren es zumindest mal gewesen.

Tao Xuan war Ye Xius Art gewohnt und in diesem Moment bevorzugte er es auch, nur so wenige Worte wie möglich mit dem anderen wechseln zu müssen, weshalb es ihn auch nicht stört, dass der andere die Begrüßung kurz hielt beziehungsweise ausließ. Ye Xiu hatte etwas an sich, dass seine Mitmenschen schneller als der Wind von null auf hundertachtzig bringen konnte, und Tao Xuan hatte nun wirklich keine Lust sich unnötig aufzuregen – ihre Beziehung zu einander, die sich über die Jahre hinweg verschlechtert hatte, trug hierzu auch ihren Teil bei. Dementsprechend griff er in seine Anzugtasche und holte etwas Kleines hervor.

„Ich rauch‘ nicht mehr“, antwortete Tao Xuan und warf Ye Xiu einen kleinen Gegenstand zu, damit war er dann auch schon verschwunden.
 

Eigentlich war es ungewöhnlich das Tao Xuan den Seitenausgang nutzt, aber wahrscheinlich hatte er Angst sich mit neugierigen Reportern und aufgebrachten Fans auseinander setzten musste. Diese beiden Personengruppen traf man in den letzten Monaten häufiger an. Warum er dann aber so eilig von dannen zog, wenn weder die eine noch die andere Personengruppe anwesend oder in Sichtweite war, war Ye Xiu schleierhaft. Dass er der Grund sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn.

Er starrte seinem Boss – und ehemaligen Freund – verwundert hinterher. Gerade noch so hatte er es geschafft den kleinen Gegenstand, den Tao Xuan ihm zugeworfen hatte, zu fangen. Und wieso teilt ihm Tao Xuan erst mit, dass er nicht mehr rauchte, nur um dann doch ein Feuerzeug oder etwas ähnliches aus der Tasche zu ziehen? War das nicht ein wenig widersprüchlich oder nur die Macht der Gewohnheit?

In Wahrheit machte sich Ye Xiu nicht allzu viele Gedanken, da er dazu noch ein wenig zu verdutzt war. Ja, auch jemand wie Ye Xiu, der eigentlich mit allen Wassern gewaschen war und der zumindest auf dem digitalen Schlachtfeld schon so gut wie alles gesehen und erlebt hatte, konnte man eiskalt erwischen. Dazu bedurfte es noch nicht einmal einer höchst komplizierten Taktik.
 

Reichlich verdattert starrte Ye Xiu noch ein wenig vor sich hin, bis er sich dem Gegenstand, der sich nun in seiner rechten Hand befand, widmete. Anders als erwartet und erhofft, war es kein Feuerzeug, sondern eine kleine viereckige Schachtel. Wäre Tao Xuan nicht Tao Xuan und Ye Xiu nicht Ye Xiu, hätte besagte Schachtel schneller ihren Weg in die Mülltonne gefunden, als eine leere Zigarettenpackung. Vermutlich hätte es auch ein paar Schimpfwörter geregnet.

Auch wenn sich die Beziehung zwischen Tao Xuan und Ye Xiu über die Jahre hinweg verschlechtert hatte, so war sich Ye Xiu sicher, dass der andere ihm nicht einfach Müll in die Hand drücken würde, insbesondere nicht, wenn es nur um ein Feuerzeug ging.
 

Sah man genauer hin, konnte man erkennen, dass die Schachtel an der Längsseite angeraut war. Eine Streichholzschachtel? Hatte Tao Xuan ihm anstatt eines Feuerzeuges eine Streichholzschachtel gegeben? Sofern noch ein Streichholz vorhanden war, würde es auch den gewünschten Effekt erzielen, aber es war doch relativ ungewöhnlich. In den letzten Jahren hatte Ye Xiu fast ausschließlich Feuerzeuge verwendet, um seine Zigaretten an zu zünden. Damals, vor einigen Jahren, als er mit dem Rauchen angefangen hatte, war sein Feuerzeug oft leer gewesen, weshalb er Tao Xuan immer um Hilfe gebeten hatte, der ihm dann gerne mit einem Streichholz zur Seite gestanden war. Über die Jahre war das aber weniger geworden und wenn Ye Xiu darüber nachdachte, sah er auch nur noch selten Streichhölzer zum Kaufen angeboten.
 

Das Schächtelchen, das Tao Xuan ihm zugeworfen hatte, war alt. Man konnte es daran erkennen, dass die Packung an ein paar Stellen eingerissen war und das Logo, welches auf einer Seite abgebildet war, war von einer Firma, die schon vor ein paar Jahren insolvent ging und daher nicht mehr existierte. Ein weiteres Indiz war die kleine krakelige Zeichnung auf der noch freien Seite. Ye Xiu konnte sich nicht mehr erinnern, was das Gekritzel darstellen sollte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Su Muqiu, wann immer er eine neue Idee für ein neues Equipment hatte, besagte Idee auf dem erst besten Gegenstand verewigt. Scheinbar war diese Streichholzschachtel eine der vielen Opfer dieser Ideen gewesen.

Bei genauerer Betrachtung und ein wenig Fantasie, konnte man erkennen, dass es sich um eine längliche Schusswaffe handelte – für Ye Xiu war schnell klar, dass Muqiu hier einer der vielen Formen des Myriad Manifestation Umbrellas abgebildet hatte. Muqiu hatte recht früh angefangen an dieser speziellen Waffe zu basteln. Es war wahrlich eine Tragödie, dass man ihr jäh den Riegel vorgeschoben hatte, in dem man die Möglichkeit seinen Account als „Unspecialised“ zu spielen für die Spieler unattraktiv gestaltet hatte. Leider war der Myriad Manifestation Umbrella nur genau für diese inoffizielle Klasse von Nutzen.
 

Es war erstaunlich, dass Tao Xuan dieses kleine Schächtelchen solange aufbewahrt hatte. Wer behielt über mehrere Jahre hinweg einen eigentlich nutzlosen Gegenstand? Auf der anderen Seite hatte sich Tao Xuan nicht auch jahrlange mit Ye Xiu abgegeben, obwohl letzterer in den Augen des anderen nutzlos war? Ein trauriger Vergleich. Ein trauriger Gedanke. Aber die Wahrheit.
 

Vorsichtig schob Ye Xiu die Schachtel auf. Ein einzelnes Streichholz war noch vorhanden. Nicht nur hatte Tao Xuan die Schachtel für viele Jahre aufbewahrt, er hatte in den letzten Jahren eine fast leere Streichholzschachtel herum getragen – aber damit war sie wohl noch nicht nutzlos für den anderen oder nicht nutzlos genug, um sie los zu werden; anders als Ye Xiu.

Eine Welle an Emotionen brach über Ye Xiu zusammen und er beschloss, lieber doch keine Zigarette zu rauchen – vielleicht später, wenn er sein Feuerzeug wieder hatte. Die Pause, die er für das Team angeordnet hat, war sowieso bald vorbei. Als Kapitän war es nicht angebracht zu spät zum Training zu erscheinen, ganz besonders nicht, wenn der Grund dafür eine Zigarette war.
 

Mit einem kleinen Schächtelchen voller Erinnerungen und Emotionen begab sich Ye Xiu zurück an einen Ort, an dem er nicht willkommen war und aus dem man ihn bald vertreiben würde. Alles was dann bleiben würde waren Erinnerungen und Emotionen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Reeney
2019-04-16T10:14:01+00:00 16.04.2019 12:14
Großartig!
Auch wenn du das wohl nicht tun wirst, ich werde diese FF definitiv häufiger von dir lesen.
Mir gefällt die Atmosphäre, mir gefallen diese ganzen Kleinigkeiten, die die Freundschaft, die gemeinsamen Träume und Ziele ausdrücken und der Kontrast, den die Streichholzschachtel als Verkörperung der glücklichen, gemeinschaftlichen Vergangenheit zu der gespaltenen, entfremdeten, tristen Gegenwart, in der sie sich befindet, darstellt. Das ist richtig schön, so richtig das, was ich mag und sehr gerne lese!
Antwort von:  Naoki_Ichigo
16.04.2019 14:44
Freut mich, dass es dir so gut gefallen hat. Ich hoffe, dass dir die irgendwann kommenden Kapitel auch so gut gefallen werden.

(Ich hab bei sowas eher Angst, dass sich die Leser langweilen, weil ja aktiv nichts passiert. Aber ich bin auch nicht jemand, der gut darin ist Action in die Geschichte rein zu bringen - bin dafür wohl zu verkopf und verliere mich in Kleinigkeiten.
Ist im Übrigen auch schön zu sehen, dass das Wort "Streichholzschachtel" nicht zu oft aufgetaucht ist - ich gehe davon aus, dass du mir das ansonsten gesagt hättest.)
Antwort von:  Reeney
16.04.2019 16:58
Das hoffe ich auch /D

Diese Angst kenne ich, aber nicht jede Geschichte braucht viele umfangreiche oder dynamische Handlungen. Es kommt drauf an, worum es geht und woraus die Geschichte sonst besteht. In dem Kapitel sind bereits so viele Zusammenhänge halb versteckt und man hat damit so viel Interpretationsmaterial, dass es ausreicht (aber so kompakt wie es ist, ist es auch nicht zu viel). Ist zumindest meine Meinung und hierbei fände ich das Kapitel sogar als OS gut, aber ich bin sehr gespannt, was noch folgen wird. Ich freue mich darauf, zu sehen, was du dir da ausgedacht hast!

Öh ... darauf habe ich jetzt gar nicht so sehr geachtet, also ich hatte nicht das Gefühl, das Wort sei zu oft aufgetaucht.
Antwort von:  Naoki_Ichigo
16.04.2019 17:44
Der Plan für diese Geschichte ist eigentlich eher mehrere One Shots, die man einzeln lesen kann, aber auch als Ganzes. Ob mir das so gelingt, wie ich mir das vorstelle und ob die Kapitel auch so werden, wie ich sie will, sei mal dahin gestellt. (Hab sowas schon mal bei Magi (No place I'd rather be) ausprobiert. Ich glaube, es hat eingermaßen gut funktioniert.)

Also das nächste Kapitel wird keinen (direkten) Bezug auf das erste Kapitel nehmen, aber es wird eine (inhaltliche) Verbindung bestehen. (Ich hoffe es zumindest.)


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