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Jade's Diary

von

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Wach auf

Kennst du das, wenn man in einem Traum plötzlich weiß, dass man nur träumt und instinktiv versucht, aufzuwachen?

Ab meinem siebten Geburtstag fühlte sich mein ganzes Leben wie ein einziger Alptraum an, aus dem es mir unmöglich war, jemals wieder aufzuwachen. Ich fühlte mich wie eine leere Hülle. Eine Marionette an Fäden, die ein anderer in der Hand hielt. Im Nachhinein scheint es mir fast so als wäre ich die geborene Marionette gewesen. Mein Leben entglitt mir. Plötzlich lief alles aus dem Ruder. Dads Übergriffe wurden von Tag zu Tag schlimmer. Aber nicht nur mir gegenüber. Sein Hauptziel, was Gewalt anbelangte, war und würde immer Nev sein. Mom? Wie konntest du unseren Lügen Glauben schenken? Konntest du nicht sehen, dass unsere Verletzungen nicht vom Spielen oder von irgendeinem Sturz herrührten? Wir hatten schreckliche Angst. Ich hätte alles erzählt, nur um nicht länger über dieses Thema sprechen zu müssen. Nev war da anders. Er schwieg. Generell hatte ich oft den Eindruck, dass er der Stärkere von uns beiden war. Er verarbeitete die Dinge auf eine andere Weise als ich. Doch keine unserer Herangehensweisen half uns weiter.
 

Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als die Schule zum ersten Mal bei uns zuhause anrief. Ich müsste so um die 11 Jahre alt gewesen sein. Ausnahmsweise ging es einmal nicht um Nev, sondern um mich. Ich kann mich noch an deinen Blick erinnern, als mein Name am Telefon fiel und nicht der meines Bruders. Kam es wirklich so überraschend für dich? Du schienst dir sicher zu sein, dass ich nur etwas angestellt hatte, um Aufmerksamkeit zu bekommen, doch die Stimme am Telefon sorgte dafür, dass dir deine Gesichtszüge entglitten. Ich wusste, dass es Ärger geben würde. Ich wusste es. Und doch war es wie ein stummer Hilfeschrei, den du damals ignoriert hast. Meine Lehrerin klagte über meine anhaltende Teilnahmslosigkeit, meinen Unmut bei jeder Aufgabe, die ich zu verrichten hatte und darüber, dass ich hin und wieder einschlafen würde während des Unterrichts. Kein Wunder. Nachts war ich zu beschäftigt damit, mich unter der Bettdecke zu verkriechen und zu beten, dass er nicht zurückkommen würde. Zu dieser Zeit war kaum an Schlaf zu denken. Doch das, was der Lehrerin am Besorgniserregendsten erschien, waren wohl meine kleinen Kunstwerke, die hin und wieder in kreativen Phasen entstanden. Ich selbst kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf die Motive kam. Es war fast so, als würde ein Geist meine Hand über das Papier führen. Ich zeichnete das, wovor ich mich fürchtete. Das, was mir Angst machte. Ich abstrahierte mein eigenes Leben und das, was noch passieren könnte, ohne das jemand davon Notiz nahm. Sie sahen nur die Dunkelheit und die negativen Eindrücke, die meine gesunde Entwicklung behindern konnten. Sie hatten keine Ahnung, dass meiner Entwicklung längst etwas im Wege stand.
 

Ich gab nicht auf. Selbst nachdem Miss Blake euch kontaktiert hatte. Meine Zeichnungen waren voller Hinweise. Versteckte Botschaften, die niemand sehen wollte. Sie verschlossen die Augen vor der Wahrheit. Leichen, die am Galgen baumelten. Kinder, die verlassen in der Ecke in ihrem eigenen Urin hockten. Kinderaugen, die zu viel gesehen hatten und daher in einem Glasbehälter aufbewahrt wurden. Ich kann mir vorstellen, dass es euch Angst gemacht hat. Mein damaliges Ich schien damit ein Zeichen setzen zu wollen. Und auch Nev war zu dieser Zeit in seinem Leben fleißig damit beschäftigt, sich zu verewigen. Vor allem in seiner Schulakte. Ich war zwar ein Kind, aber nicht dumm. Nev war zu diesem Zeitpunkt bereits 16 Jahre alt und sprang immer nur knapp der Strafverfolgung von der Schippe.

Mom? Ich weiß, dass du wegen ihm oft geweint hast, weil du nicht wusstest, warum er das tat, was er tat. Ich kann dich verstehen. Ich weine auch wegen ihm. Nur nicht auf deine Art. Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig für euch war, seine Aussetzer vor mir geheim zu halten, vor allem wenn ich sie in der Schule live miterlebte. Ich wusste, dass er oft in Schlägereien verwickelt war. Eine seiner liebsten Arten mit seinen Emotionen umzugehen, wenn man es so nennen wollte. Ich hatte deshalb nie Angst vor ihm. Nicht so wie alle anderen Mitschüler oder Lehrer. Ihr wusstet letztlich nicht einmal mehr, wie ihr mit ihm umgehen solltet. Zumindest du nicht, Mom. Dad wusste genau, was zu tun war. Es endete für ihn immer nur in mehr Bestrafungen. Ach Dad, du feiges Arschloch. Hättest du mal die Finger vom Alkohol und deinen Kindern gelassen, wärst du heute vielleicht noch hier. Vielleicht wären wir noch eine Familie. Du bist schuld daran.
 

Erinnerst du dich an den Tag, an dem ihr beschlossen hattet, dass Nev und ich einen Therapeuten sehen sollten? Es war der Tag, an dem Nev von den örtlichen Schulaufsehern nach Hause gefahren wurde, weil er auf dem Schulgelände in Besitz einer Waffe gewesen sei. Es handelte sich dabei um ein Messer, was natürlich sofort eingezogen wurde. Während es euch schockierte, wundert es mich heute im Nachhinein kein Stück. Und selbst damals überraschte es mich nicht, denn ich wusste, dass er es dabei hatte. Ich habe nur niemandem davon erzählt. Ob er wirklich vorhatte, es zu benutzen? Wir werden es wohl nie herausfinden. Ich habe ihn nie danach gefragt. Ich bin mir nur mit meinem heutigen Wissen sicher, dass er definitiv dazu in der Lage gewesen wäre. Damals hätte ich ihm das nie zugetraut. Die schönen Jahre zuvor, in denen ich meinen Bruder liebte und respektierte, gehörten nun der Geschichte an. Der Schulalltag hielt Einzug und wir veränderten uns. Ich kann mich noch lebhaft an meine erste Sitzung mit der Therapeutin erinnern. Misses Hershel. Eine angenehme, schon etwas ältere Frau mit einer beruhigenden Stimme. Bei Nev hatte sie nicht sonderlich viel Erfolg, aber ich lauschte ihr nur zu gerne. Natürlich sollte eigentlich ich die meiste Zeit erzählen, doch ich genoss es, wenn sie zwischendurch von ihren Metaphern sprach. Nev hatte, was die Psychologensache anging, leider nicht so viel Glück wie ich. Nach wirklich etlichen von möglichen Kandidaten gabt ihr es auf, einen geeigneten Platz für ihn zu finden. Er nahm keine Therapie wirklich an und verhielt sich respektlos wie viele Jungen in seinem Alter. Ihr wart dumm, dass ihr nicht weiter bis zum Umfallen gesucht habt. Doch das ist nun nicht mehr euer Problem.
 

Leider habe ich mich damals nicht einmal Misses Hershel anvertrauen können. Sie brachte mir Vertrauenswürdigkeit entgegen, doch ich log. Ich log aus Angst. Angst davor, unsere Familie vollends auseinander zu reißen. Nev und mein Band würde völlig zerstört werden und nichts wäre mehr so, wie es einst war. Das konnte ich nicht zulassen. Letztlich schwärzte ich einen von Nevs Schulkameraden an, von dem ich wusste, dass er ihn nicht leiden konnte. Ich behauptete, dass er mich die Treppe hinunter gestoßen hatte und mich hin und wieder hinter der Schule geschlagen hätte. Misses Hershel handelte fast sofort, nachdem sie mein vermeintliches Vertrauen gewonnen hatte und informierte meine Eltern und die Schule. Tja, Derek, so hieß der gute Schläger, war ab diesem Zeitpunkt vorbestraft, erhielt eine saftige Arbeitsauflage und musste uns Schmerzensgeld bezahlen. Daran erinnerst du dich bestimmt noch, oder? Schließlich konnte ich in deinem Blick sehen, dass du dachtest, nun endlich die Wahrheit zu kennen. Nein Mom, nicht Derek hat uns das angetan. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich damals Schuldgefühle hatte. Wenn dann wurden sie von meiner Angst übermannt. Ich wollte einfach nur, dass die Fragen endlich aufhörten.
 

Ich vermute, dass Nev wusste, dass meine Geschichte mit Derek frei erfunden war. Ich habe es ihm nie erzählt, doch so wie er mich an diesem Tag angesehen hat, war es ihm klar. Er durchschaute mich. Jede einzelne meiner Fasern. Ich war ein offenes Buch für ihn, in dem er einfach nur blättern musste, um die Antwort zu finden. Und dafür waren meist keine Worte nötig. Erst jetzt weiß ich, wie man das Buch mit einem Schloss versieht.
 

Letztlich war nur eines sicher: Derek war weg, doch die blauen Flecken blieben. Nichts veränderte sich außer Nev und mir. Wir waren inkompatibel für das Leben, das wir führten. Fast so wie eine Diskette, die man versuchte in ein CD-ROM-Laufwerk zu packen. Wir fühlten immer weniger und zumindest ich konnte damit nicht umgehen. Es folgten meine ersten Erfahrungen mit Schmerz, den nicht Dad mir zufügte. Es waren deine Rasierklingen, Mom, die ich zweckentfremdete, um etwas außer völliger Taubheit fühlen zu können. Ich verstand, dass ich irgendetwas getan haben musste, um dieses ganze Elend zu verdienen. Und aus irgendeinem Grund sorgten die blutigen Schnitte auf meiner Haut dafür, dass ich mich besser fühlte. Als würde ein Stück weit der ganze Stress der letzten Jahre von mir abfallen. Es war wie ein kurzer Moment der Ekstase, was ich natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand. Wer würde die Schnitte schon bemerken? Die blauen Flecken und Blutergüsse waren auch allen egal. Ich nutzte meistens Stellen, an denen es niemandem auffallen würde. Meine Oberschenkel waren mein liebstes Ziel. Nev war der einzige, dem es auffiel. Er konnte spüren, was ich tat. Er wusste, was ich mir zufügte, um loslassen zu können. Ich weiß, dass du es nicht mitbekommen hast, Mom. Du warst zu diesem Zeitpunkt draußen und hast die Wäsche aufgehangen. An diesem Nachmittag kam Nev zu mir ins Bad und erwischte mich bei meinen Machenschaften. Ich war nicht wütend, sondern nervös. Ich wusste nicht, ob er es euch erzählen würde, aber da niemals ein Wort zu diesem Thema folgte, gehe ich davon aus, dass ihr es nie erfahren habt. Entgegen meiner Erwartungen war sein Blick ruhig. Er regte sich weder auf, noch war er sonderlich überrascht oder geschockt. Er starrte bloß auf meine blutigen Beine und auf die Klinge zwischen meinen Fingern, während ich still hielt und mich nicht einmal traute, zu atmen.
 

Es fühlte sich an, als würde sich dieser Moment in Zeitlupe in meiner Erinnerung abspielen. Er kam auf mich zu, ging vor mir in die Hocke, nahm mir die Klinge aus der Hand und blickte auf meine Schnittwunden herab. Ich wüsste zu gerne, was in diesem Moment in seinem Kopf vor sich ging. Was hat er gedacht? Verurteilte er mich dafür? Warum war es ihm nicht unangenehm mir in solch einer Situation nah zu sein? Das Gefühl, als er seinen Finger über meine Verletzung fahren ließ, werde ich niemals vergessen. Es hat sich in meine Gedanken gebrannt, weshalb ich es jedes Mal aufs Neue spüre, wenn ich bloß daran denke. Es war kein wirklicher Schmerz. Ich kann es bis heute nicht wirklich einordnen. Aber es ängstigt mich, wenn ich es mit den Gefühlen vergleiche, die ich kenne. Es ähnelt nur einem von ihnen. Und über dieses möchte ich weiß Gott nicht reden.

Ich weiß noch, dass er mich nach dem 'Warum' fragte. Ich konnte ihm keine klare Antwort geben, aber ich wusste, dass er es verstand. Wir waren zwar keine Zwillinge, aber unsere Verbindung war stärker. Wie konnte ich mich nur so in etwas verrennen? Das Bild von meinem Blut an seiner Hand brannte sich in meine Synapsen.
 

Manche Menschen bringen das Beste in dir zum Vorschein... und andere das Schlimmste, nicht wahr?
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2019-02-25T20:19:02+00:00 25.02.2019 21:19
Sooo, liebe Yuki. Ich liebe dieses Kapitel wirklich sehr, sehr, sehr. Es ist so voller Schmerz. Wirklich, wirklich schön! ;_; Ganz besonders gefällt mir die Stelle:

Ich habe es ihm nie erzählt, doch so wie er mich an diesem Tag angesehen hat, war es ihm klar. Er durchschaute mich. Jede einzelne meiner Fasern. Ich war ein offenes Buch für ihn, in dem er einfach nur blättern musste, um die Antwort zu finden. Und dafür waren meist keine Worte nötig. Erst jetzt weiß ich, wie man das Buch mit einem Schloss versieht.

Letztlich war nur eines sicher: Derek war weg, doch die blauen Flecken blieben. Nichts veränderte sich außer Nev und mir. Wir waren inkompatibel für das Leben, das wir führten. Fast so wie eine Diskette, die man versuchte in ein CD-ROM-Laufwerk zu packen. Wir fühlten immer weniger und zumindest ich konnte damit nicht umgehen.


Mein Herz ist fast zersprungen, ich schwöre. c___c Ich freue mich auf die weiteren Kapitel. Danke, dass du das möglich machst! ♥


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