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Mondschein-Kinder

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kurze Vorwarnung: Die Positionsbezeichnungen der Spieler sind auf Englisch, weil ich das Wort Zuspieler irgendwie doof finde.
Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Vor langer Zeit, hörte ein junger Kaiser von einer mächtigen Hexe, die in einer der Provinzen seines Reiches lebte und die die Fähigkeit besitzen sollte, den roten Faden des Schicksals zu sehen, und er befahl seinen Wachen, sie zu ihm zu bringen.

Als die Zauberin kam, verlangte der Kaiser von ihr, das andere Ende des Fadens zu suchen, der an seinen kleinen Finger gebunden war, und ihn zu derjenigen zu führen, die einst seine Frau werden sollte. Die Hexe ging darauf ein und begann, dem Faden zu folgen. Ihre Suche führte sie zu einem Markt, wo eine arme Bäuerin mit einem Baby im Arm ihre Produkte anbot. Als sie bei dieser Bäuerin ankamen, blieb die Zauberin vor ihr stehen und lud sie ein, sich zu erheben. Dann wandte sie sich zu dem jungen Kaiser, auf dass er sich ihr nähern sollte und sagte zu ihm: „Hier endet der Faden.“ Als er dieses aber hörte, wurde er wütend und glaubte, dass sie ihn verhöhnen wollte. Er schubste die Bäuerin, die noch das kleine Baby im Arm hielt, sodass sie hinfiel und das Baby eine große Wunde auf der Stirn bekam. So ließ er Mutter und Kind zurück und befahl seinen Wachen, die Hexe festzunehmen und ihr den Kopf abzuschlagen.

Viele Jahre später, als es Zeit wurde, dass der Kaiser heiraten sollte, fragte er seine Berater, wie er eine geeignete Braut finden könnte. Sein Hof aber empfahl ihm, dass es das Beste wäre, wenn er die Tochter eines mächtigen Generals heiraten würde. Er akzeptierte und schon bald kam der Hochzeitstag und damit das erste Treffen der beiden Eheleute. Zum ersten Mal sollte er an diesem Festtag das Gesicht seiner Braut erblicken, die den Tempel in feinste Seide gehüllt betrat und verborgen von einem weißen Schleier vor ihn trat.

Als er den Schleier hob, sah er zum ersten Mal, dass ihr schönes Gesicht eine eigentümliche Narbe auf der Stirn hatte; eine Narbe, die er ihr einst selbst zugefügt hatte.
 

„Hey, Tsukki? Kennst du die Geschichte von Yue Lao?“, brach der braunhaarige Junge plötzlich die Stille im Raum. Er lag auf dem Bett und las, den Kopf über die Bettkante hängen lassend, in einem Buch. „Die über den alten Mann, der unter dem Licht des Mondes rote Seidenfäden an die Hände von zwei Menschen knotet, die für einander bestimmt sind, meine ich.“

Es war nicht sein eigenes Bett, sondern das von dem blonden Jungen, den er eben angesprochen hatte und der neben seinen Füßen an die Wand gelehnt saß, selbst durch einen Comic blätternd, von dem er jetzt aufblickte. „Natürlich kenne ich sie“, meinte dieser und verdrehte die Augen auf Grund dieser scheinbar zu offensichtlichen Frage. Immerhin hatte gerade diese chinesische Legende in der japanischen Popkultur weite Kreise gezogen. Wie persönlich sie den Angesprochenen betraf, konnte sein Freund natürlich nicht wissen und trotzdem verzog Tsukishima angespannt das Gesicht.

„Glaubst du, sie stimmt?“ Der Braunhaarige legte sein Buch auf seinem Bauch ab und streckte eine Hand in die Höhe, um sie zu betrachten. Langsam drehte er sie hin und her, doch seine Finger blieben, wie zu erwarten war, einfach nur Finger. Kein roter Faden weit und breit. „Ich meine, es ist doch eine schöne Vorstellung, denkst du nicht? Dass es irgendwo eine Person gibt, die für dich bestimmt ist?“

Ein unbegeistertes Schnauben antwortete ihm auf seine Frage. Er hatte keine Lust darüber zu sprechen, denn im Gegensatz zu dem Kleineren konnte er ihn genau sehen: Den roten Faden, der um Yamaguchis kleinen Finger gebunden war und sich in endlosen Schleifen durch den Raum verteilte und sich dann irgendwo außerhalb dieses Zimmers verlor, noch viel zu weit von der zweiten Hand entfernt, die eines Tages seinen Weg kreuzen würde; der Person, die zumeist einfach Seelengefährte genannt wurde. Wie gern würde er glauben, dass das alles nur eine alte Legende war, doch so lange er sich erinnern konnte, waren sie immer dort gewesen und ließen sich – egal wie oft er es probiert hatte – nicht wegignorieren.
 

Als Kind waren sie immer selbstverständlich für ihn gewesen. Er war davon ausgegangen, dass alle Menschen sie sahen, und hatte um so nachdenklicher seine eigene Hand betrachtet, an der nur dieses kurze Stück weißer Faden hing, das lustlos hin und herbaumelte, wenn er seine Hand bewegte. Er hatte einmal versucht es abzuknoten, doch hatte feststellen müssen, dass das mit nur einer Hand absolut unmöglich war. Also hatte er seine Kindergärtnerin danach gefragt.

„Warum habe ich keinen roten Faden an der Hand so wie alle anderen?“, hatte er gefragt und hatte ihren Blick der kurzen Verwirrung nicht verstanden. Dann war sie aufgestanden und hatte die rote Wolle geholt und um sein rechtes Handgelenk gebunden. „Falls du einmal vergisst, wo rechts ist“, hatte sie lächelnd erklärt und war dann davongelaufen, weil ein anderes Kind zu weinen begonnen hatte, bevor Tsukishima ihr hätte sagen können, dass er nicht diese Bänder gemeint hatte, die die Vorschulkinder vor kurzem bekommen hatten, um rechts und links zu unterscheiden.

Als er nach Hause gekommen war, hatte seine Mutter das Armband bemerkt und danach gefragt. „Ist das ein Freundschaftsband?“, wollte sie glücklich wissen, während sie Essen machte und leise summte.

Er hatte das Band betrachtet und den Kopf geschüttelt. „Ich wollte so eins wie du und Papa haben“, hatte er dann enttäuscht gesagt. „Und Akiteru hat auch eins, auch wenn es viel länger ist als eures. Ich kann das andere Ende gar nicht sehen.“ Er hatte ein Schniefen unterdrücken müssen. „Alle haben eins, aber meins ist anders. Es ist wie… als wäre es tot. Ein lebloses, weißes Ende.“

Sie hatte ihn kurz überrascht angesehen, dann war Erkenntnis durch ihre Augen geflackert. „Oh“, hatte ein leiser Laut ihre zu einem Kreis geformten Lippen verlassen und dann hatte sie den Kochlöffel neben dem Topf abgelegt und nach dem Telefon gegriffen. „Ich denke, das sollte dir vielleicht lieber deine Großmutter erklären.“

Sie war eigentlich nicht seine Großmutter, sondern seine Großtante, aber da seine eigentliche Großmutter früh gestorben war, hatte sie den Platz ihrer Schwester übernommen und war noch am selben Abend herübergekommen, ganz außer sich über die frohe Botschaft. ‚Ich wusste es doch, sein Geburtstag musste ein Zeichen sein‘, hatte sie immer wieder begeistert wiederholt und den Jungen auf ihren Schoß genommen, wo er es zum ersten Mal bemerkte: Auch sie hatte keinen roten Faden, sondern nur dieses kurze Stück weißes Band an dem kleinsten Finger ihrer Hand.

„Wusstest du, dass du an einem Erntemond geboren wurdest, Kei?“, hatte sie gefragt. „In China feiert man an diesem Tag das Mondfest.“ Und dann hatte sie begonnen zu erzählen. Von der alten chinesischen Legende und von den roten Fäden des Schicksals und von der wundervollen Aufgabe, die Leute wie sie hatten, den Fäden zu folgen, Knoten zu lösen und die Menschen zusammenzubringen, die von ihnen verbunden waren. Erst ganz zum Schluss hatte sie auch von der Schere erzählt, die sie bei sich trug, falls die Knoten einmal so verworren waren, dass es ihrer bedurfte, um Dinge wieder gerade zu richten. Dann schnitt sie den Knoten heraus und band die losen Enden sofort wieder zusammen.

Nur ein einziges Mal hatte sie ein Band zerteilt und nicht sofort wieder verknotet: Als sie hatte mitansehen müssen, wie eine junge Frau von dem Mann, mit dem sie verbunden worden war, wieder und wieder grün und blau geschlagen wurde. Nur dieses eine einzige Mal hatte sie die Entscheidungen des Schicksals angezweifelt und mitangesehen, wie die junge Frau, die sie hatte befreien wollen, verzweifelt war, als ihre Liebe plötzlich zerbrach. Die Polizei hatte sie einige Wochen später mit aufgeschlitzten Pulsadern in einer heruntergekommenen Wohnung im Drogenviertel gefunden und so gab es nur eine Regel, die seine Großtante ihm mitgegeben hatte: „Niemals, absolut niemals darfst du sie durchschneiden oder es wird furchtbar enden.“

„Was passiert mit den Bändern, wenn man sie durchschneidet?“, hatte er dennoch wissen wollen.

„Dann sterben die Gefühle und mit ihnen das Band. Es wird weiß wie Schnee und endet im Nichts.“

Langsam hatte er seine Hand gehoben, den Tränen nahe das Stück weißen Faden betrachtet, das leblos an seinem Handgelenk herabhing. Als hätte sie seine Gedanken gelesen umschloss sie seine Hand mit ihren und drückte sie fest. „Wir mögen niemals einen eigenen Seelengefährten finden können, aber die Freude in ihren Augen, wenn sie sich wegen dir finden, ist das größte Glück, was ich je erfahren habe, Kei, und schon bald wirst du es auch spüren, doch bis dahin hast du noch so viele unbeschwerte Jahre vor dir, in denen du dir absolut keine Gedanken darüber machen musst, was wahre Liebe bedeutet.“
 

Er wollte das Thema wechseln, doch Yamaguchi schien noch nicht fertig mit seinen Gedanken sein. „Andererseits… woran soll man denn merken, dass man die richtige Person gefunden hat? Es steht ja nicht gerade auf ihrer Stirn ‚Hey, ich bin dein Seelengefährte, lass uns heiraten und auf ewig glücklich werden.‘“

„Keine Ahnung“, murrte Tsukishima und schloss sein Buch. „Es ist nur eine Geschichte. Zerbrich dir über so einen Unsinn doch nicht den Kopf.“ Dieses Gespräch drückte auf seine Laune.

Denn ja, Tsukishima Kei konnte die roten Fäden des Schicksals sehen, doch er hasste jede Sekunde davon und ganz egal, was seine Großtante sagte, er hatte nicht vor, das Glück von irgendwelchen Wildfremden zu erfüllen, nur weil er aus irgendeinem Grund dazu in der Lage war, etwas zu sehen, was es eigentlich gar nicht hätte geben sollen, wenn man ihn fragte.

Und was seinen eigenen abgestorbenen Faden anging: Selbst wenn er keinen Seelengefährten hatte, was machte das schon aus? Er brauchte niemanden in seinem Leben, um glücklich zu sein. Liebe und vor allem die eine große Liebe waren ein absolut bescheuertes und sinnloses Konzept. Zwei Menschen konnten sich einfach nicht immer verstehen, das lag in der Natur der Sache; sie waren unterschiedliche Personen und würden immer unterschiedliche Meinungen haben. Alles andere war ein schlechtes, sich selbst belügendes Schauspiel, das niemals glücklich enden würde. Außerdem gab es nichts Abstoßenderes als zwei Menschen, die die ganze Zeit aneinanderklebten. Er hatte andere Ziele in seinem Leben: Er würde seinen Schulabschluss machen und zur Uni gehen und einen guten Job haben und viel Geld verdienen, denn Geld regierte nun einmal die Welt und nicht kitschige Ideale wie der rote Faden der einen großen Liebe.

„Du hast recht“, meinte Yamaguchi nach kurzem Überlegen: „Ich sollte mir lieber Gedanken darüber machen, dass wir ab nächster Woche Highschool-Schüler sind, richtig?“ Er grinste über das ganze sonnensprossige Gesicht zu seinem Freund auf. „Welchem Club willst du beitreten, Tsukki?“
 

Als Tsukishima Kageyama das erste Mal traf, war es für einen Moment so als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Für einen winzigen Augenblick wurden seine Beine so weich, dass er fürchtete, dass er stürzen würde, dann begann die Welt, die für den Bruchteil einer Sekunde wie eingefroren gewesen war, sich wieder zu bewegen, und sein Herz schlug so heftig in seiner Brust, dass es beinahe schmerzhaft in seinen Ohren rauschte. Dann wanderte sein Blick beinahe automatisch hinab zu Kageyamas Hand, wo – eigentlich absolut nicht unerwartet – ein roter Faden begann, der sich in der Dunkelheit der Abendstunden im Nichts verlor und sich dennoch wie ein Messer in sein Herz bohrte. Für einen kurzen Moment war sein Hals so trocken, dass er sich sicher war, dass er nicht sprechen können würde. Dann berührte das Leder des Volleyballs, den er hatte abfangen wollen, seine Handfläche und er erinnerte sich daran, weshalb er eigentlich hergekommen war. „Wow, ihr trainiert ja wirklich draußen“, sagte er um seine Anwesenheit anzukündigen und biss sich auf die Zunge, kaum dass die Worte seinen Mund verlassen hatten. Das war viel weniger bissig gewesen als er geplant hatte! „Also ihr seid die beiden Erstklässer, die sich bereits am ersten Tag das Label ‚Problemkind‘ verdient haben?“, fügte er belustigt hinzu und verbat sich, seinen Blick zu dem dunkelhaarigen Setter wandern zu lassen.

„Yieks, T-Shirts? Ist euch nicht kalt?“, warf Yamaguchi von der Seite aus ein und als der Junge mit den orangenen Haaren wie ein Kind auf und ab zu hüpfen begann, war es deutlich leichter, diese neuen Gefühle in sich herunterzuschlucken und in sein altes und vorgeplantes Muster zurückzukehren. „Sollten Grundschulkinder nicht langsam nach Hause zu Mama?“, stichelte er. Ganz offensichtlich traf er damit einen Nerv, wenn der empörte Aufschrei des Winzlings irgendetwas zu bedeuten hatte, doch dann mischte sich der Setter in das Gespräch ein.

„Ihr seid die beiden anderen Erstklässler, die dem Club beitreten sollen, richtig?“, vermutete er ganz korrekt und für einen winzigen Moment beschlich Tsukishima die Hoffnung, dass sein Blick bewunderndes Interesse enthielt, als die dunklen Augen von seinen Füßen an aufwärts über seinen ganzen Körper glitten.

„Wie groß bist du?“, wollte er dann aber nur wissen und ignorierte die Einwände seines ‚Spielpartners‘ einfach. Er konnte die Enttäuschung nicht ganz unterdrücken, aber zumindest schien er ebenfalls nicht besonders angetan von Hinatas lauter Art.

„Tsukki ist 188cm! Ich wette, bald ist er 1.90!“, beantwortet Yamaguchi an Tsukishimas Stelle die Frage.

„Warum gibst du damit an, wie groß ich bin?“, fragte dieser mit einem skeptischen Zungenschnalzen, woraufhin der Kleinere sich lachend entschuldigte.

„Du bist Kitagawa Daiichis Kageyama, richtig?“, wollte Tsukishima dann wissen und vielleicht aus Selbstschutz vor Gefühlen, die er tief in sich brennen fühlte, zog er ihn wie geplant mit etwas auf, was ihn vermutlich wütend machen würde: „Was macht Elite wie du an einer Schule wie Karasuno?“

„Was?!“, kam die erwartet wütende Reaktion und Tsukishima verbat sich, dass ihm das wehtun durfte, denn immerhin hatte er es ja absichtlich provoziert.

„H-hey! Du!“, unterbrach der Knirps dann das Gespräch, was für Tsukishima viel zu kurz gewesen war und welches er gleichzeitig schon viel zu lange erlaubt hatte. „Morgen werden wir gewinnen!“

Einen Moment schwieg der Blonde einfach, dann spielte er den Überraschten. „Dieses Spiel mag für euch ja wichtig sein, aber für mich ist es einfach whatever. Gewinnen oder verlieren… ehrlich, es ist mir vollkommen egal, aber ihr beide bekommt Probleme, wenn ihr nicht gewinnt, richtig?“ Er setzte sein übertrieben freundliches Lächeln auf. „Also: Soll ich das Spiel morgen absichtlich verlieren?“

Hinatas Reaktion war viel zu laut, aber die Wut auf Kageyamas Gesicht wäre beinahe zu schön gewesen, wenn da nicht diese beschissenen flatternden Schmetterlinge in seinem Bauch gewesen wären. Er konnte nicht einmal die Macht genießen, die er über dieses Ausnahmetalent in diesem Moment hatte.

„Ganz egal, ob du mit Absicht verlierst oder alles gibst, es wird nichts an dem Ergebnis ändern, dass ich gewinnen werde.“ – „Wir!“ Doch niemand beachtete Hinata wirklich.

Tsukishima lachte und bevor er sich versah, hatten die nächsten Worte seinen Mund verlassen: „Was für ein Selbstvertrauen! Genau angemessen für einen König wie dich.“ Ja, er hatte ihn damit angreifen wollen, bevor er ihn hier draußen getroffen hatte, aber jetzt fühlte es sich plötzlich zu viel an, zu gemein und bissig.

Kageyama knurrte beinahe: „Nenn mich nie wieder-“

„Oh, also stimmt es tatsächlich!“ – Warum konnte er nicht einfach aufhören zu sprechen?!

„Was soll stimmen?“ Das dunkle Grollen, das Kageyamas Mund verließ floss als Gänsehaut über Tsukishimas Haut und für einen Moment fragte er sich, wie dieser Laut in anderen Situationen hätte klingen können und konnte dann selbst nicht glauben, wie stark der Teenager in diesem Moment in ihm zugeschlagen hatte. Es war beinahe peinlich.

„Das Gerücht, dass es dich wütend macht, wenn man dich den König des Spielfelds nennt.“ Er hatte diese Worte einst geplant, bevor er ihn wirklich getroffen hatte, und jetzt flossen sie von seinen Lippen wie ein auswendiggelernter Text. „Was ist so schlimm daran König genannt zu werden? Klingt doch cool.“ Die Ironie tropfte von jedem seiner Worte, als er die Hände in die Taschen gesteckt auf Kageyama zukam. „Ich denke, König ist der perfekte Spitzname für dich, Majestät.“ Beinahe hätte er sich zu einer übertriebenen Verbeugung hinreißen lassen. Stattdessen musste er für einen Moment daran denken, dass es ein Kompliment hätte werden könnte, wenn er es anders ausgesprochen hätte, denn vielleicht mochte der Setter mit seinen klaren Gesichtszügen und der hellen Haut unter dem rabenschwarzen Haar wirklich etwas Königliches an sich haben. Wenn er gewollt hätte, hätte er wohl auch ein Idol werden können, immerhin entsprach er jedem Ideal eines japanischen Highschool-Herzenbrechers: Groß, sportlich, talentiert und gutaussehend. Statt eines Kompliments wusste der Blonde aber deutlich, dass er mit jedem Wort einen größeren Keil zwischen sie trieb. Es gab jemanden auf dieser Welt, der für Kageyama bestimmt war, und auf keinen Fall würde er zulassen, dass er sich davon verletzen ließe, wenn sie sich trafen. Denn ganz egal wie sehr er sich gegen das Konzept der roten Fäden sträubte, konnte er nicht leugnen, dass bis jetzt alle Paare, die sich in seiner Gegenwart gefunden hatten, sich über kurz oder lang auch ineinander verliebt hatten.

„Was versuchst du zu erreichen?“, knurrte der Dunkelhaarige und Tsukishima kreuzte seinen Weg, den Volleyball noch immer in der Hand.

„Ich habe das Präfektur-Qualifier-Spiel letztes Jahr gesehen“, erklärte er und fragte sich für einen Moment, warum er sich erst jetzt so fühlte wie er es tat. Als er ihn hatte spielen sehen, war doch noch alles ganz normal gewesen. Er hatte darüber lachen können, wie sein ganzes Team ihn fallen gelassen hatte, jetzt hatte er für einen Moment beinahe Mitleid mit ihm. „Eigentlich bin ich überrascht, dass die anderen Spieler es überhaupt so lange mit deinem egoistischen Zuspiel ausgehalten haben. Ich würde es nicht tun.“ Wieder kamen die Worte wie ein Selbstschutz aus seinem Mund. „Oh, warte. Richtig, richtig. Das haben sie ja gar nicht. Deshalb ist es ja so ausgegangen, wie es ausgegangen ist.“

Und dann war Kageyamas Hand an seinem Hemdkragen und das Gefühl der Macht floss wie Erregung über seine Haut. Die dunklen Augen brannten wie Feuer und es war berauschend, dass er diese Flammen entfacht hatte. Sie waren wunderschön und zu gerne hätte er noch andere Gefühle in ihnen brennen sehen, doch dann war der Moment bereits wieder vorbei, Kageyama ging an ihm vorbei und floh aus der Situation wie ein Feigling.

„Wir sind für heute Nacht durch mit dem Training“, knirschte er bitter.

„Was?! Hey!“ Doch er reagierte nicht auf die Worte des Kleineren und Tsukishima musste sich einfach das Recht herausnehmen, das letzte Wort zu haben.

„Rennst du etwa weg? Nicht besonders königlich. Wer weiß? Vielleicht bin ich es ja morgen, der seine Majestät, den König, besiegen wird.“ Ganz nebenbei hatte er den Ball mit einer Hand auf und ab gespielt, doch dann plötzlich war er fort und Tsukishima war ehrlich überrascht, als Hinata sich aufzuregen begann. Er hatte ihn beinahe vergessen.

„Jetzt halt endlich den Mund über diesen ganzen König-Kram! Vergiss mich nicht! Ich bin auch noch da! Und morgen werde ich einen Ball direkt an deinem Ohr vorbeischlagen!“

Ein einziger wütender Blick genügte, um den Jungen in seine Schranken zu weisen, auch wenn er den Starken spielen wollte. Dann lächelte Tsukishima wieder sein falsches Lächeln: „Was regst du dich denn so auf? Lasst uns morgen einfach Spaß haben und uns nicht stressen. Es ist doch nur ein dummes Spiel.“

Tatsächlich war das gar keine beabsichtigte Provokation gewesen, doch offensichtlich traf es einen Nerv. „Was meinst du damit?! ‚Dummes Spiel‘?!“

Tsukishima verzog das Gesicht. Er hasste Leute, die sich wegen eines Schulclubs so aufregten. „Ich meine genau das, was ich gesagt habe“, ging er dennoch darauf ein und wandte sich um, um zu gehen. „Was auch immer. Wir sehen uns morgen.“

„Hey! Warte! Wer bist du überhaupt?!“

„Tsukishima Kei, Klasse 1-4. Ab heute sind wir Teamkameraden.“ Und dann korrigierte er sich noch: „Ach warte, morgen sind wir ja Gegner. Ich freue mich darauf, das königliche Zuspiel seiner Majestät live zu erleben.“

Und dann ging er einfach, auch wenn Hinata im Hintergrund noch viel zu laut mit Kageyama stritt.

Yamaguchi schloss mit eiligen Schritten zu ihm auf. „Hey, Tsukki, was ist los mit dir?“, wollte er wissen und für einen Moment verfluchte der Middleblocker, wie gut sein Freund ihn kannte. Er hatte ganz eindeutig bemerkt, dass das mehr war als das, was er normalerweise tat und es war frustrierend, weil er nicht zugeben wollte, wie viel Einfluss der dunkelhaarige Setter auf ihn gehabt hatte.

„Dumme, laute Menschen, die sich wegen eines dummen Spiels aufregen, pissen mich einfach an“, versuchte er es herunterzuspielen. „Der König, der Winzling, sie nur anzusehen, macht mich wütend.“ Wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen.

Wenn er zurückgeblickt hätte, hätte er den skeptischen Blick in Yamaguchis Augen sehen können, aber er war sehr froh, dass er es nicht tat. Seine Gefühle waren noch immer wie ein Wirbelsturm in seinem Innern und er war sich nicht sicher, ob er sie bis morgen würde in Ordnung bringen konnte.

An diesem Abend betrachtete er das erste Mal die Schere, die er nach ihrem Tod von seiner Großtante geerbt hatte und die er in die hinterste Ecke einer Schreibtischschublade verbannte hatte, um sie bloß nie wieder zu sehen. Es war eine große Schere, komplett aus Metall ohne einen plastikumschlossenen Griff und eiskalt in seiner Hand. Sie sah aus wie eine Nähschere, die man in einem alten Nähkorb auf dem Dachboden fand, und wog wohl bald ein halbes Kilo. Ein Sammlerstück, wenn man sie einem Museum überlassen hätte, selbst wenn niemand von ihrer besonderen Funktion wusste, und doch eben keine normale Schere. Eine normale Schwere konnte den roten Fäden nichts antun – natürlich hatte Kei es irgendwann einmal an seinem eigenen ausprobiert – und diese Schere, an Stoff oder Papier angesetzt, war absolut stumpf.

Ein einziger Schnitt würde Kageyamas Band von seinem Seelengefährten trennen. Würde das seine Gefühle für jenen fremden, perfekten Partner ebenfalls beenden? Brauchte es das Band wirklich, damit die beiden Menschen sich verlieben konnten? War es nicht vollkommen egal, ob es dort war? Ob das Band nun bestand oder nicht, änderte ja nichts daran, dass diese beiden Menschen zueinander passen würden. Es änderte nichts daran, dass sie sich eines Tages treffen würden, richtig? Warum brauchte es das Band überhaupt, wenn niemand davon wusste? Nur für Menschen wie ihn selbst, die selbst auf die große Liebe verzichten mussten, um andere zusammenzubringen? Was für ein bescheuertes Konzept!

In Gedanken ließ er den Finger über die Schnittseite fahren, kalt, aber eben nicht scharf, dann verdrehte er über seine eigenen Gedanken die Augen. Er hatte sich doch geschworen, dass er nichts damit zutun haben würde. Warum dachte er jetzt also doch darüber nach?

Außerdem gab es da ja auch noch eine weitere Sache: Selbst wenn er das Band jetzt durchtrennte, war das Ende mit Sicherheit an den Finger eines jungen Mädchens gebunden. Es mochte eine übertrieben große Anzahl von homosexuellen Paaren im Schulvolleyball geben – Tsukishima konnte sich die Anzahl der roten Bänder, die in seiner Umgebung zwei Männer miteinander verband, nicht erklären, aber sie waren nun einmal da –, aber Kageyama, der am ehesten noch volleyball-sexuell zu sein schien, gehörte sicherlich nicht in diese Kategorie.

Ihn selbst hatte das schöne Geschlecht nie wirklich interessiert und er konnte nicht verstehen, warum das ganze Team scheinbar ihre Gehirnzellen vergas, sobald Kiyoko sie anblickte, aber in seiner Familie war es wegen des Wissens um die roten Fäden auch nie wirklich ein Thema, geschweige denn ein Problem gewesen, wenn jemand sich zu demselben Geschlecht hingezogen fühlte. Im Allgemeinen war das in Japan allerdings wohl ein deutlich kontroverseres Thema und eine Minderheit war es wohl in jedem Land der Welt.

Er zog die Schublade wieder auf, in der verschiedene Büroartikel lagen, die er eigentlich kaum benutzte, und zog sie so weit heraus, dass der Platz ganz hinten wieder zu erreichen war.

Niemals hätte er jemandem das antun können, was seinen Bruder bis heute noch quälte.

Er schloss die Schublade wieder, ihren Inhalt verborgen von der Welt.

Er brauchte keine große Liebe. Er war sich selbst genug. Sollte der dumme König doch seinen blöden Seelengefährten finden. Was interessierte es ihn schon?!
 

Als Tsukishima Oikawa das erste Mal traf, war es für einen Moment so als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Wie ein Schlag in seinen Magen traf ihn der Anblick und für einen Augenblick schien er nicht atmen zu können.

Es hatte einfach nur ein Trainingsspiel gegen eine der stärksten Schulen der Präfektur werden sollen und so hatte es auch begonnen, auch wenn Hinata im ersten Set schon eher ein Witz gewesen war als ein ernstzunehmender Spieler. Den Aufschlag gegen Kageyamas Hinterkopf wollte Tsukishima dennoch lernen. In den letzten Tagen hatte Tsukishima sich sehr gut darauf festgefahren, Kageyama so weit von sich fernzuhalten wie nur irgendwie möglich. Er hatte nicht vor, sich das Herz brechen zu lassen, schon gar nicht von jemandem, der außer Volleyball überhaupt nichts im Kopf hatte. Das Ärgerlichste daran war aber, dass er mit seinem Talent sogar irgendwie das Recht dazu hatte. Sein Zuspiel war perfekt, ja, viel eher war es zu gut.

Es wäre leicht für Tsukishima gewesen, ihn für sein Talent zu bewundern, wenn er Volleyball nur ein wenig mehr hätte leiden können, aber so wie es nun einmal um seine Beziehung zu dem Sport stand, ärgerte es ihn nur noch mehr, wie gut der andere darin war. Wegen Spielern wie ihm mussten Spieler, die jeden Tag trainierten, um besser zu werden, auf der Ersatzbank sitzen oder von der Tribüne aus anfeuern, wenn es nicht einmal dafür reichte. Wenn er Volleyball nur ein wenig mehr gemocht hätte, wäre es vielleicht sogar möglich gewesen, sich mit ihm anzufreunden, denn offensichtlich hatte der Dunkelhaarige tatsächlich daraus gelernt, dass sein Team ihn in der Mittelschule hängen gelassen hatte, und bemühte sich jetzt darum, den Fehler nicht zu wiederholen. Ja, Kageyama hatte in diesen wenigen Tagen sogar in Ansätzen etwas wie eine Freundschaft zu Hinata entwickelt, auf die Tsukishima ganz sicher nicht eifersüchtig war, und kam auch mit den restlichen Spielern des Teams immer besser zurecht. Tsukishimas Beziehung mit dem Setter hingegen war noch immer wie vereist. Ein Umstand, an dem der blonde Middleblocker ehrlicher Weise selbst schuld war, und er sagte sich, dass es auch am besten so war, denn sich in ihn zu verlieben, würde keinem von ihnen helfen. Nur leider war es dafür wohl schon längst zu spät.

Er hatte selbst bereits bemerkt, dass Seihos Team zwar gut, aber nicht gut genug war, um den Titel der Top 4 zu tragen, und dass der gegnerische Setter wohl das schwächste Glied der Kette war, war ebenfalls zu erkennen gewesen, auch wenn er an jeder anderen Schule vielleicht ein Starspieler hätte sein können, und doch kam es in gewisser Weise immer noch überraschend, dass der fehlende Spieler – und Teamkapitän – pünktlich zum dritten Set auftauchte.

Tsukishima verzog das Gesicht bei seinem Anblick und bei dem Jubel, der ihm von der weiblichen Zuschauerschaft zuteilwurde, sobald er die Halle betrat. Er wirkte bereits jetzt viel zu laut für Tsukishimas Geschmack.

Ehrlicher Weise war es also nicht ganz bei ihrer ersten Begegnung, dass es Tsukishima auffiel – aber das war es auch bei Kageyama nicht gewesen –, sondern der Moment als der Schönling auf Kageyama zutrat und seinen ehemaligen Kohai auf diese vertraute und kindische Art begrüßte – gegen die sich Kageyama nicht einmal wehrte! –, denn in diesem Moment hob Oikawa die Hand und der rote Faden spannte sich durch die Luft, wie er es nur tat, wenn zwei Seelenverwandte sich im selben Raum befanden. Und bevor Tsukishima sich hatte stoppen können, war er dem Band mit dem Blick gefolgt, das unverkennbar um den kleinen Finger ihres eigenen Setters gebunden war, der seine Hand neben der enggeschnittenen Sporthose – Tsukishima hatte ganz sicher nicht bereits zuvor seinen Hintern darin betrachtet – geballt hatte, scheinbar mit eher gemischten Gefühlen gegenüber diesem Mann, der laut dem Schicksal für ihn als perfekter Partner bestimmt war.

Tsukishima fühlte sich als würde er sich übergeben müssen. Wenn sie nicht mitten in einem Set gewesen wären, hätte er die Halle einfach verlassen, doch so konnte er nicht aus der Situation fliehen, wie sein Körper eigentlich vorschlug.
 

Zugegebenermaßen war Tsukishima – nachdem die erste Enttäuschung über das weiße, tote Ende an seinem eigenen Finger überwunden war – super neugierig auf die Arbeit gewesen, die seine Großmutter vollzog und hatte gebeten und gebettelt, dass er mitkommen dürfte, wenn sie es tat. Dass es eigentlich Handlungen aus Gelegenheit waren und nicht etwas, was man einfach jeden Tag erledigte wie einen Bürojob, war dabei auf taube Ohren bei dem Grundschüler getroffen und so waren sie gemeinsam aufgebrochen in ein Café in der Innenstadt und hatten Menschen beobachtet, jede Woche erneut, solange bis sie jemanden fanden, dessen Band sich spannte, als ein junger Mann mit Aktentasche in seiner Mittagspause zielstrebig zur Theke ging, ohne sich auch nur umzuschauen oder der Studentin an dem kleinen Ecktisch einen Blick zuzuwerfen.

„Manchmal finden sie sich wie von allein“, hatte seine Großmutter ihm am Anfang erklärt. „Aber manchmal haben sie es viel zu eilig in ihrem Alltag, um sich zu bemerken, und dann versuche ich nachzuhelfen.“

„Und jetzt?!“, wollte der Junge mit seinem Dinosaurier in der Hand aufgeregt wissen, während der Mann einen Kaffee bestellte, den Blick ungeduldig auf sein Handgelenk gesenkt, wo eine silberne Uhr glänzte. Die lange Wartezeit hatte ernüchternd auf den Jungen gewirkt und als nun endlich etwas passierte, konnte er kaum stillsitzen.

Seine Großmutter wirkte nachdenklich, als sie das Paar betrachtete, getrennt nur von wenigen Metern und ein paar Tischen und Stühlen. „Ich denke nicht, dass das eine gute Gelegenheit ist. Er wirkt als wäre er in Eile...“

Kei sah sie verwirrt an. „Aber sie sind füreinander bestimmt!“ Und bevor sie ihn hätte aufhalten können, war der Junge aufgesprungen, durch das Café zu dem Mann gelaufen und hatte an seinem Ärmel gezogen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das leisen Rufen seiner Großmutter ignorierte er dabei gezielt.

Irritiert und ein wenig genervt senkte der fremde Mann den Blick auf das Kind an seiner Seite. „Was willst du, Junge?“

„Willst du deinen Kaffee nicht vielleicht da drüben trinken? Da ist noch ein Platz frei!“ Er fand, dass er das sehr gut machte, denn das Geheimnis der roten Bänder durfte er auf keinen Fall verraten und lächelte auf die herzliche Art, die man nur ein Kind glauben konnte.

„Ich hab‘ es eilig, Junge“, murrte der Mann jedoch und zog seinen Arm aus Tsukishimas Griff, ohne dass er auch nur in die richtige Richtung blickte, und stattdessen trug er seinen Pappbecher mit Kaffee zu der Milchstation hinüber. Dabei schob er Tsukishima forsch aus dem Weg.

Der Junge war kurz frustriert, dann beschloss er es anders anzugehen. Er lief zu dem Tisch der Frau hinüber, die über ihren Laptop hinweg ins Leere starrte, einen Stift an die Lippen gelehnt, aber ohne die Absicht mit ihm zu schreiben.

„Nee-san!“, rief er und griff ihren Ärmel. „Der Mann da drüben möchte Sie unbedingt treffen, aber er hat nicht viel Zeit, also schnell!“ Er zog vehement an ihrem Pullover, sobald sie ihn angeblickt hatte. Sie folgte seinem Finger und sah überrascht aus, ließ sich aber nicht zum Aufstehen bewegen. „Matsumoto-kum“, flüsterte sie leise.

Der Mann unterdessen verschloss seinen Becher bereits wieder und wandte sich zur Tür, also tat Tsukishima das, was man nur einem Kind je verzeihen würde, packte ihr Smartphone vom Tisch und rannte durch den Laden zur Tür.

„Hey!“, rief die Studentin laut, stolperte hinter dem Tisch hervor, um ihm zu folgen. „Gib mir mein Handy zurück!“

Der Mann drehte sich um, überrascht vom plötzlichen Tumult und der blonde Junge drückte ihm das Smartphone in die Hand. Dann duckte er sich unter einen Tisch und verschwand tiefer im Laden, um zu beobachten.

Verständlicher Weise vollkommen verwirrt von der Situation blickte der Mann auf das Telefon in seiner Hand als wüsste er nicht, wofür es gut wäre.

„Du bist immer noch genau so ein Tyrann wie früher, Matsumoto-kun!“, beschwerte die Frau sich und griff das Telefon aus seiner Hand. „Schickst einen Jungen vor, weil du nicht den Mut hast, mich anzusprechen! Wenn du meine Nummer willst, müsstest du nur fragen!“ Ihre Wangen glühten rot und seine Augen weiteten sich vor Überraschung und Erkenntnis.

Tsukishima erreichte unterdessen sehr zufrieden seine Großmutter an ihrem Fensterplatz und zog sich auf die Bank empor.

„Du kannst nicht einfach jemandes Telefon stehlen, Kei!“, versuchte sie empört zu sein, doch da glänzte Anerkennung in ihren Augen, als hinter ihnen eine Liebesgeschichte ihren Lauf nahm, die einem Fernsehdrama Konkurrenz hätte machen können.

Das Grinsen hatte jeder Tadel nicht aus Tsukishimas Gesicht wischen können und er hatte es voller Stolz seinem Bruder erzählt, der zwar noch immer mehr als skeptisch war, aber glücklich zuhörte.

„Eines Tages musst du mich zu meiner Seelengefährtin führen, ja, Kei?“, hatte er gelächelt und damit den ersten Schritt in die falsche Richtung gemacht, denn übermütig wie der Junge nach seinem Erfolg war, hatte er sofort zugestimmt und am nächsten Wochenende waren sie aufgebrochen, immer dem roten Band nach, ahnungslos, wie weit es vielleicht sein könnte, das andere Ende zu finden.

Das Band spannte sich, als sie einen Bahnhof erreichten und dann sah Kei sie, ein junges Mädchen mit dunklem Haar in ihrer Schuluniform und mit einem tieftraurigen Blick in den Augen auf dem gegenüberliegenden Gleis.

„Akiteru, da! Da! Das ist sie!“ Er deutete auf sie und zog seinen Bruder zu der Treppe zum anderen Gleis, als das laute Rauschen einen durchfahrenden Zug auf dem zweiten Glas anzeigte. Als sie den Bahnhof betreten hatten, hatten sie gerade noch die Ansage gehört, die die Leute am Bahnsteig bat, hinter den gelben Steinen zurückzubleiben.

Der jüngere Bruder blickte hinüber, fasziniert von der Geschwindigkeit, und dann sah er es wie in Zeitlupe, als die perfekte Partnerin seines Bruders, bereits auf eben jenen gelben Steinen stehend, die Blinden halfen, ihren Weg zu finden und zugleich als Sicherheitsabstand gedacht waren, einen Schritt über die Bahnsteigkante hinweg machte und dann von dem rasenden Zug erfasst wurde.

Die Schreie gingen wie in Zuckerwatte unter, als das Band sich vor Keis Augen spannte und riss.

Das Glück, das eben erst in Akiterus Augen aufgeflackert war, erstarb in stillem Schock und wich Entsetzen. Seine Gefühle mochten dem jüngeren Tsukishima verborgen sein, doch auch ohne von jenem Band zu wissen, wäre dieses Geschehen wohl an niemandem einfach vorbeigegangen. Mit dem Wissen, wer dieses Mädchen gewesen war oder hätte sein können, war es vermutlich beinahe unerträglich.

Neben ihnen verstummte das Schreien der Bremsen, doch der jüngere Bruder starrte statt auf den Zug nur auf das tote Ende des Schicksalsbandes, das noch vor wenigen Sekunden in einem glücklichen Rot geleuchtet hatte.

„Wenn ein Seelengefährte stirbt, gleicht es einem Schnitt der Schere. Das Band stirbt und wird nie wieder heilen. Ich kann mir den Schmerz kaum vorstellen, den das mit sich bringt. Vielleicht folgen genau deshalb so viele Menschen in meinem Alter ihren Partnern ins Grab.“

Jetzt war es weiß wie Schnee, wie das Band, das auch Kei an seinem Finger trug. Es wirkte zu friedlich, zu sanft nach dem, was gerade geschehen war.

Kei griff nach Akiterus Ärmel, auch wenn er nicht ganz sicher war, mit welcher Absicht er es tat, und suchte seinen Blick, ängstlich und auf der Suche nach etwas, was das Geschehen erklärte, doch der Schmerz in den Augen seines Bruders brach etwas in ihm entzwei, was vielleicht niemals wieder geheilt werden könnte.

Die Polizei kam wenige Minuten später, befragte die Anwesenden, ob jemand das Opfer gekannt hatte, ob jemand sie wohlmöglich gestoßen hatte. Akiterus Mund blieb wie zugeklebt und der herzliche Bruder, den Kei einst gekannt hatte, war dem jungen Mädchen, das er doch nie gekannt hatte, in den Tod gefolgt. Er spielte seine Rolle weiter, doch der Schatten, der sich an diesem Tag über seine Augen gelegt hatte, sprach von einer verlorenen Kindheit, die auch seine Leidenschaft für Volleyball nie wieder zurückbringen konnte.

Der Schmerz seines Bruders lehrte ihn, die Bänder zu hassen – wie ihn der Anblick auf der Tribüne lehren würde, Volleyball zu verachten –, denn, wenn jemand, ein Gott, eine höhere Macht oder das Schicksal selbst, es wagte, Menschen auf diese einzigartige und unersetzbare Art zu verbinden, dann war es unverzeihlich, dass sein Bruder niemals eine Chance bekommen hatte und für immer allein bleiben musste. Jene Macht – manchmal schien es am leichtesten sie Yue Lao zu nennen in Ermangelung eines tiefergehenden Wissens über die Ursprünge der roten Fäden – musste die bösartigsten, sadistischsten und willkürlichsten Hintergründe haben, die sich der Junge vorstellen konnte, und auf gar keinen Fall wollte er so einer Macht in irgendeiner Weise dienen.
 

Dass Oikawa dann seine Aufschläge auf Tsukishima zielte, machte seine Abneigung gegenüber Kageyamas Seelengefährten nur noch brennender – auch wenn der ältere Setter natürlich nichts von dem Band wissen konnte und viel eher seine mangelnde Leidenschaft für Annahme-Training ausnutzte.

Selbst in jenen Momenten, in denen er mit Kageyama stritt – Drohungen, den Ball auf seine Brille zu zielen mitinbegriffen – war es sein Unterbewusstsein, dass diese Nähe suchte bis Sawamura sie auseinanderzog. Er wollte Kageyama hassen genauso hassen, wie er Oikawa hasste, doch stattdessen zog es ihn immer wieder nahe zu ihm und er wusste nicht, wie er die nächsten drei Jahre im selben Volleyballteam aushalten sollte. Vielleicht war es an der Zeit die Knieschoner an den Nagel zu hängen. Er konnte diesen Sport ohnehin nicht leiden…

Hinatas letzter Punkt war dennoch beinahe befriedigend, als er so an Oikawas erschrockenem Gesicht vorbeizog, aber das hätte der blonde Middleblocker niemals laut zugegeben. Er war nur froh, als das Spiel vorbei war. Der Sieg fühlte sich wie eine Niederlage an, und wenn er gekonnt hätte, wäre er wohl heimgelaufen, einfach um Kageyama nicht sehen zu müssen, der Oikawa zwar nicht als einen Freund ansah, aber ihn als sein Vorbild in der Mittelschule doch eindeutig bewunderte. Immerhin war er es gewesen, von dem er all seine Fähigkeiten abgeschaut hatte.

Und auch andersherum war da eindeutig etwas wie Bewunderung zu sehen, auch wenn es vielleicht eher Neid sein mochte. Tsukishima hatte mitbekommen, dass es ursprünglich Oikawa gewesen war, der gegen Kageyama hatte spielen wollen und selbst das schaffte es in diesem Moment, Eifersucht in ihm aufwallen zu lassen. Er hasste es, dass die beiden sich schon aus der Mittelschule kannten, egal, wie viel oder wenig sie miteinander gesprochen hatten in dieser Zeit. Diese gemeinsame Zeit war ein Vorteil, den Tsukishima niemals überwinden könnte und es schmeckte bitter, selbst wenn sein Verstand noch immer versuchte all diese Gefühle niederzuringen. Sein Herz schien einen eigenen Willen zu haben.

Dass Oikawa am Tor auf sie wartete, machte es nur noch schlimmer. Für einen Moment wirkte der ältere Spieler beinahe freundlich, doch die Art, wie er das Team dann auf seine Fehler hinwies, machte diesen Eindruck schnell zunichte. Natürlich stimmte alles, was er sagt, aber dennoch hatte es diesen unangenehmen Beigeschmack, der sich durch alle seine Worte zog. Das schlimmste war für Tsukishima jedoch die Art, wie Kageyama auf diese viel zu persönliche Drohung reagierte. ‚Lasst euch nicht von ihm einschüchtern. Er mag es, Leute auf diese Art aufzukratzen.‘ Es war zu persönlich, zu wissend, zu eng. Seine Gefühle mochten ihm in diesem Moment einen Streich spielen, doch Tsukishima konnte es kaum ertragen, wenn Kageyama so… besorgt wirkte. Selten hatte der Middleblocker so sehr den Wunsch verspürt, jemandem in einem offiziellen Spiel zu schlagen wie in diesem Moment, einfach um einen Keil zwischen die beiden Setter zu treiben.
 

Tsukishima versuchte Kageyama zu hassen, er versuchte es wirklich. Er versuchte, ihn nicht zu lieben, aber als er jetzt durch seine Sporttasche tastete auf der Suche nach seinen Knieschützern, und seine Finger auf das kalte Metall der Schere trafen, konnte er die Überraschung für einen Moment nicht verbergen. Wann hatte er sie eingepackt? Für einen Moment schloss er die Finger um sie, dann schob er sie wieder nach ganz unten in seiner Tasche. Er brauchte niemanden, mit dem er sein Leben teilen konnte. Wenn Kageyama jemanden brauchte, dann war das sein Problem. Selbst wenn es Oikawa nicht gegeben hätte, hätte es zwischen ihnen nie funktioniert, dafür hatte Tsukishima in den letzten Tagen und Wochen gesorgt; Kageyama hasste ihn und sobald sich ihre Blicke trafen, flogen die Funken. Sie waren verfeindet und das war das nächste an Liebe, was Tsukishima für ihre Beziehung jemals erlaubt hätte.

„Tsukishima“, sprach ihn plötzlich jemand an und so zerknirscht wie es klang, brauchte es kein Genie, um Kageyama als den Sprecher zu erkennen. Angespannt richtete er sich auf, die Knieschoner in der Hand beinahe zerquetschend.

„Ich brauche keinen Babysitter, Kageyama, ich finde den Weg zum Feld schon allein“, begrüßte er den Setter zynisch und ließ seine Tasche so cool wie möglich in einer Ecke zurück. Das Aufkommen klang schwer und metallern, als die Schere gegen einen Spind schlug. Kageyama schien es nicht zu bemerken.

Stattdessen verdrehte er genervt die Augen. Es hatte so gewirkt als hätte er vorgehabt, etwas zu sagen, doch stattdessen schnalzte er mit der Zunge. „Beeil dich einfach. Wir warten mit dem Aufwärmen nicht auf dich“, sagte er also stattdessen und machte auf dem Absatz kehrt.

„Freust du dich so sehr darauf, deinen alten Senpai zu treffen?“ Bitter bohrten sich die Worte in seine eigene Seele, als er sie hämisch aussprach und Kageyama so davon abhielt, die Umkleide zu verlassen. Weswegen auch immer er ursprünglich gekommen sein mochte.

„Oikawa-san?“ Überraschung spiegelte sich in Kageyamas schwarzen Augen, als er sich wieder umdrehte. „Ich habe nicht vor gegen ihn zu verlieren!“

Wenn verlieren das Problem gewesen wäre, hätte das sicherlich beruhigend sein können, aber darum ging es eben für Tsukishima nicht und es war einfach ätzend, dass Kageyama sich darüber nicht einmal bewusst war. „Bist du dir da sicher?“, murrte er angegriffener als er sich seiner Gegenwart erlauben wollte.

Kageyama sprang natürlich auf das an, was er als Provokation empfand, auch wenn Tsukishima es ausnahmsweise nicht als solche gemeint hatte. „Was soll das denn heißen?! Natürlich werden wir gewinnen!“ Er war ehrlich aufgebracht. „Wir sind ein Team, Tsukishima! Wenn du nicht an den Sieg deines Teams glaubst, könntest du auch gleich für den Gegner spielen! Alle sechs Spieler auf unserer Feldhälfte sind auf deiner Seite.“ Jetzt stahl er auch schon Tanakas Sätze. Tsukishima schnaubte genervt. Als ob er das nicht wüsste. Er konnte nur einfach nicht so übertrieben leidenschaftlich über einen Sport sprechen, den sie ohnehin nur noch in der Highschool spielen würden. Wenn man nicht gerade ein Spieler wie Kageyama war, der genug Talent besaß, um professionell zu spielen, war es einfach nur ein Club. Klar, verlieren war ärgerlich, aber es wäre nicht die Welt, richtig?

Er wollte Kageyama schon seine Meinung sagen, als dieser plötzlich noch weitersprach und dabei ein ganzes Stück näherkam. Er schien mit den Worten zu ringen, doch dann sprach er sie dennoch aus. „Ich will nicht, dass unsere Meinungsverschiedenheiten, unserem Teamwork in den Weg kommen.“ Es war kaum hörbar, aber so versöhnlich, dass Tsukishima für einen Moment nichts zu sagen wusste. Es war beinahe ein Friedensangebot und er wollte es fast schon annehmen, ihre Beziehung zurücksetzen an einen Punkt, an dem sie noch einmal neu anfangen könnten, sich kennenzulernen, aber…

„Werden sie nicht. Ich kann deine Bälle schlagen und beim Blocken sind wir uns auch noch nie in den Weg gekommen, oder nicht?“ Es war nicht wütend oder unversöhnlich, aber es waren auch nicht die Worte, die es für einen Neuanfang gebraucht hätte. Wieder einmal stellte er ihrer Beziehung ein Bein, ließ sie gegen eine Wand knallen und wusste nicht einmal, warum er das tat. Selbstschutz war eine Sache, aber das grenzte doch langsam eher an Masochismus… Oder war es Sadismus? Er wusste nicht einmal, wen er leiden sehen wollte.

Mit gesenktem Blick schritt Tsukishima an Kageyama vorbei, der allein in der Umkleide zurückblieb.

Tsukishima ballte die Faust auf seinem Weg zur Halle. Wieso musste er diese blöden Bänder sehen können? Wenn er sie nicht gesehen hätte, hätte er sich einfach auf eine Beziehung mit Kageyama einlassen können, selbst wenn sie unglücklich geendet hätte, wäre das doch leichter gewesen als von vorneherein zu wissen, dass seine Gefühle nur mit Schmerz enden würden. Er hätte zumindest ein wenig von dem Glück spüren können, nach dem sein Körper sich sehnte, besonders jetzt, wo Kageyamas Sexualität offensichtlich kein Thema mehr war, auch wenn Tsukishima natürlich nicht ganz sicher sein konnte, dass der Setter sich über seine homosexuellen Neigungen auch bewusst war.

Dann betrat er die Halle, wo sie gleich ihrem nächsten Gegner gegenübertreten würden. Tsukishima wusste nicht, ob er Oikawa überhaupt ansehen konnte, wenn es so weit war. Und obwohl es so persönlich war, fühlte er sich für dieses Spiel nicht mehr oder weniger motiviert als für jedes andere auch. Er hatte ja ohnehin bereits gegen ihn verloren, wenn es um Kageyama ging…

Noch bevor das Spiel überhaupt begonnen hatte, konnte Tsukishima beobachten, wie Oikawa Kageyama ansprach, leise, aber dennoch verständlich mit der Absicht ihn herauszufordern.

„Wir werden gewinnen!“, wollte Kageyama ihn gerade herausfordern, als sich Hinata einmischte und wenn er ehrlich war, war er froh darüber, dass das Gespräch damit beendet wurde und nicht weitergehen konnte, denn Tsukishima hasste es, wenn er beobachten musste, wie die beiden sich allein und irgendwie intim unterhielten.

Tsukishima hatte den ersten Aufschlag, doch es war Seijoh, die den ersten Punkt machten und so wechselte er allzu bald mit Nishinoya und kehrte in den Wartebereich zurück, um von dort aus das Spiel zu beobachten. Es war nicht das erste Mal, dass Tsukishima auffiel, wie viele gleichgeschlechtliche Paare es auf den Schul-Volleyball-Feldern Japans gab, aber als er an diesem Tag das Feld betreten hatte, hatte er das Gefühl gehabt in ein Spinnennetz roter Fäden hineinzutreten, die auch jetzt seine Blicke auf sich zogen und ihn von seiner Konzentration auf strategisches Denken ablenkte. Dass Asahi und Nishinoya ein Band verband, war kaum zu übersehen, wenn man den Kleineren um den Drittklässler herumschwänzeln sah, gerade weil ihr Ace mit seinem wilden Auftreten absolut nicht mit Frauen umzugehen wusste, doch heute waren da noch drei weitere Fäden, die sich auf Augenhöhe gut sichtbar für Tsukishima gespannt hatten: Oikawas und Kageyamas und zwei, die ihm beim letzten Mal nicht aufgefallen waren und je zwei der Spieler aus Aoba Johsei verbanden; Kageyamas alte Teamkameraden und zwei der Drittklässler, deren Namen sich Tsukishima nicht gemerkt hatte. Auch Yamaguchis Band schien immer kürzer zu werden und neulich meinte Kageyama, dass er auch Sawamuras Band sich hatte spannen sehen. Warum waren rund um ihn herum nur glückliche Pärchen? Er hätte kotzen können. Hätten sie ihre Seelengefährten nicht irgendwann später in ihrem Leben treffen können wie jeder andere normale Mensch auch? Wie viele Highschool-Beziehungen sollten denn bitte ein Leben lang halten?

Das ganze Spiel über war die Anspannung deutlich spürbar, ab dem ersten Dump von Oikawa, den Kageyama mit seinem eigenen beantwortete, doch es fiel Tsukishima schwer, sich darauf zu konzentrieren. Oikawa war schlau und machte daraus auch keinen Hehl, als er es war, der das erste Timeout bei seinem Lehrer einforderte. Es war mehr als frustrierend, dass jemand so manipulatives der richtige Partner für Kageyama sein sollte. Gerade weil er es schaffte, ihn so aufzubringen, dass er an einem zweiten Dump scheiterte, als der Druck durch die Punktedifferenz stieg. Er zwang ihn zum Annehmen des Balls, damit sein Zuspiel ausgehebelt wurde und zuletzt sorgte er dafür, dass Kageyama vom Feld geschickt wurde. Oikawa hatte viel zu viel Einfluss auf Karasunos Setter, selbst wenn dieser sich diesem vielleicht gar nicht bewusst war, während er langsam in alte Muster zurückgefallen war, bis seine Bälle unspielbar wurden, sogar oder gerade für Hinata.

Irgendwie war es leichter mit Suga zu spielen und doch war es… irritierend, dass Kageyama nicht auf dem Feld stand. Natürlich vermisste Tsukishima ihn nicht oder so etwas, aber es war dennoch… befremdlich, zu wenig spannungsgeladen und… freundlich. So als wären sie alle Freunde und nicht nur gemeinsam auf dem Feld, weil sie einigermaßen gut Volleyball spielen konnten.

Und dann endlich kam Kageyama zurück aufs Feld und das Erste, was er tat – nachdem er ein Service Ace und einen der Wahnsinns-Quicks geschlagen hatte –, war Tsukishima mit seinem Zuspiel verdammt noch einmal vorzuschrieben, wohin ich den Ball schlagen sollte. Warum war er so ein verdammter Arsch?! Für wie überlegen hielt er sich eigentlich?!

Das Timeout kam nicht wirklich überraschend. Dass Kageyama bei dieser Gelegenheit auf Tsukishima zukam hingegen schon.

„Hey! Das verdammte Zuspiel gerade… wie war es?“ Das Fluchen klang falsch von Kageyamas Lippen, ein wenig so als hätte er seine Worte von Tanaka gestohlen, doch es war der Inhalt, der eigentlich überraschend war. Fragte Kageyama gerade wirklich nach Tsukishimas Meinung zu seinem Zuspiel? Für einen kurzen Moment fragte der Blonde sich, ob diese Frage schon zuvor in der Umkleide auf seinen Lippen gelegen hatte, doch verbot sich den Gedanken. Stattdessen entschloss er sich zu einer ehrlichen Antwort, ungeschönt, aber zu seiner eigenen Überraschung nicht auf Streit aus.

„Es ist als würdest du mit jedem Zuspiel sagen: Halt die Klappe und schlag diesen Ball, Bürgerlicher.“ Na gut, vielleicht war es ein wenig auf Streit aus, wenn er so bewusst die Königsmetapher aufnahm. „Es pisst mich an.“

„Was?!“, kam Kageyamas prompte Reaktion und aus dem Augenwinkel bemerkte Tsukishima natürlich, dass Sugawara sich näherte, um den anstehenden Streit zu schlichten. Es kam nicht dazu.

„Was meinst du damit?“, hakte Kageyama erstaunlich sachlich nach.

„Ich mache Dinge auf meine Art, also wäre es mir lieber, wenn du dein Zuspiel nicht immer wieder veränderst, abhängig davon, was du für am besten hältst.“ Er runzelte ein wenig die Stirn, dann beschloss er alles offen zu legen, was ihn an Kageyamas Zuspiel so ärgerte. Seine Gefühle behielt er natürlich für sich. „Du bist nicht der Einzige, der darüber nachdenkt, wie die Gegner verteidigen und welche Attacken heute besonders gut funktioniert haben. Wir denken alle darüber nach.“ Außer vielleicht Hinata. „Selbst Hinata denkt inzwischen genug nach, um normale Quicks zu spielen.“ Das konnte er nun einmal nicht leugnen. „Wenn auch gerade eben genug.“ – „Was soll das heißen ‚Gerade eben genug‘?!“

„Verstanden.“

Tsukishima konnte die Überraschung nicht aus seinem Gesicht heraushalten. Es war seltsam, wenn Kageyama so… nett war. Es machte es so viel schwerer, ihn nicht zu mögen. „Du bist heute aber ziemlich bereit, dich anzupassen… Geht es dir wirklich gut?“ Hatte er nicht vorhin auch schon für einen Moment so… freundlich gewirkt?

Das Ende des Timeouts unterbrach sie, doch Tsukishima blickte dem Dunkelhaarigen noch für einen langen Moment nach, während sein Herz in seiner Brust sich wieder einmal anfühlte, als würden ihm kleine Flügelchen wachsen. Er mochte diesen netten Kageyama nicht. Er mochte ihn viel zu sehr. Und wenn er sich so benahm, würde wahrscheinlich auch Oikawa ihn mögen können. Ein Gedanke, bei dem dem Middleblocker beinahe übel wurde. Er mochte den unfreundlichen Kageyama lieber, weil ihn dann wenigsten auch sonst niemand mochte.

„Wir werden es einfach ausprobieren müssen.“

Und der nächste Ball, den Kageyama ihm zuspielte, war tatsächlich konsistent, ohne eine Richtungsvorgabe und mit einer gezielten, wenn auch positiv überraschten Bewegung, stuppste Tsukishima den Ball über die gegnerischen Blocker hinweg ganz sacht zu Boden, wo kein Verteidiger war, um den Ball anzunehmen.

Das Gefühl war… unglaublich gut. Wenn sie von Anfang an miteinander gesprochen hätten, hätte er dann früher solche Bälle spielen können? Hätte ihre Beziehung ebenfalls so sein können? Die Freude kribbelte auf Tsukishimas Haut, auch wenn wohl nur Yamaguchi sie als solche erkennen konnte. Er wollte Kageyamas Bälle noch einmal schlagen, sich noch einmal so fühlen und – Nein, das war nur ein einziger Ball gewesen. Sie waren nicht plötzlich Freunde, nur weil ein Zuspiel funktioniert hatte.

Die nächste Finte schaffte der gegnerische Libero bereits anzunehmen, auch wenn sie zu einer Chance für Karasuno umgewandelt wurde, als der Ball direkt zurückkam, und Asahi daraus einen Punkt machte. Es änderte nichts an dem roten Faden, der die beiden Setter verband. Es änderte nichts daran, dass Tsukishima niemals einen Seelengefährten haben würde und vor allem änderte es nichts daran, dass selbst wenn Kageyama ihn an sich heranlassen würde, Oikawa irgendwann Tsukishimas Platz einnehmen würde.

Die dritte Finte, nahm der Libero dann schon sehr geschickt an und wandelte sie in einen Angriff um, doch Kageyama passte sich an Tsukishimas Block an und sie verengten den Weg genau so, dass Tanaka den Ball problemlos annehmen konnte. Zu Tsukishimas ehrlicher Überraschung spiele Kageyama nicht zu Asahi, sondern noch einmal zu ihm, ein gleichmäßiger Abstand vom Netz, genau die richtige Höhe, einfach zu schlagen und – Mit einem kräftigen Schlag überraschte er den gegnerischen Libero und der Ball traf ihn, als er gerade vor lief, um eine erneute Finte abzufangen, sodass er statt ihn anzunehmen, den Ball nur noch ins Aus ablenken konnte. Es fühlte sich gut an, den Gegner getäuscht zu haben und noch besser, dass Kageyama ihn tatsächlich selbst hatte sein Spiel entscheiden lassen.

Dann musste Tsukishima jedoch erst einmal den beiden Spielern des zweiten Jahres ausweichen, die ihrer Freude über diesen Punkt überaus laut und zu energiegeladen Ausdruck verleihen wollten. Oder auch ihrer Abneigung über Tsukishimas Art, das war in diesem Moment schwer zu sagen.

„N… Nu… Nice…“, schaffte Kageyama es mit drei Anläufen auch, ihm ein Lob auszusprechen, und auch wenn Tanaka ihn dafür schlug, dass er für ein Wort so lange gebraucht hatte, war Tsukishima nur froh, dass das die beiden von dem Rotschimmer ablenkte, der sich plötzlich auf seine Wangen legte bei diesem einen Wort. Der kleine Vogel in seiner Brust flatterte wieder wie wild hinter den Eisenstäben, in denen er ihn eingesperrt hatte, und dass auch Kageyama vor Verlegenheit rot wurde, machte es nicht besser. Wenn sie das auf dem Feld erreichen könnten… gab es dann nicht auch Hoffnung für eine Beziehung außerhalb des Sportes…?

Der eine Punkt bedeutete Set-Point für sie, doch der gegnerische Wingspiker – Wie war sein Name noch einmal? Trotz seiner beeindruckenden Angriffskraft hatte sich Tsukishima seinen Namen nicht gemerkt – machte einen Angriff direkt an der Seitenlinie entlang und dann war es wieder an Oikawa, einen Aufschlag zu machen und der Vorteil ihrer Punktedifferenz sank bereits wieder. Ein Punkt für Aoba Johsei würde einen Gleichstand bedeuten und Oikawa hatte schon zu viele Aufschlag-Punkte gemacht.

Zum Glück brachte Nishinoya den Ball hoch, doch auch direkt wieder auf die gegnerische Feldseite, wo er perfekt zum Setter zurückgespielt wurde. Eine perfekte Vorlage für einen Angriff in der Mitte–

Kageyamas Hand an seinem Oberteil hielt Tsukishima davon ab zu springen und statt wütend zu werden, vertraute der Blonde Kageyamas Gespür, nachdem ihr Zusammenspiel im Angriff so gut funktioniert hatte, und folgte ihm, um den Angriff des Wingspikers mit der Nummer vier zu blocken. Der Ball prallte an ihren Armen ab und schlug auf Seijohs Seite des Netzes wieder auf. Ein einziger Moment des Vertrauens hatte genügt, um das zweite Set zu gewinnen.

Nishinoya schien dafür alle Gehirnzellen seiner Teammitglieder wegreiben zu wollen und als Tsukishima gerade dem Angriff auf seine Haare entkommen war und er nach Kageyamas Arm greifen wollte, um etwas zu sagen, drehte sich Oikawa auf der anderen Seite des Netzes mit einem Lachen um.

„Lass uns das zu Ende bringen. Das finale Set.“ Seine Stimme brannte in Aufregung und das Band schien beinahe aufzuleuchten, als sich die Blicke der Setter trafen noch bevor Oikawa den Mund aufgemacht hatte, um seinen Kohai herauszufordern.

Dieser eine Augenblick schien zu genügen, um Tsukishima zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen.

Das Hoch, das ihn eben noch hatte beflügeln wollen, schien ihn jetzt wieder an den Boden zu fesseln und das letzte Set machte es nur noch deutlicher, warum Aoba Johsei eine der besten Schulen der Präfektur war. Ihr Libero als ehemaliger Setter, der dennoch im Annehmen noch besser war als Nishinoya, ihre Angreifer, nicht nur der Ass-Spieler mit der Nummer vier, der scheinbar nur aus Muskeln bestand, und Verteidiger, die ihre Angriffsmuster problemlos zu lesen schienen, und Oikawa selbst, der selbst einen Ball oberhalb des Netzes noch zu einem gezielten Zuspiel umwandeln konnte. Viel zu deutlich konnte man den Unterschied spüren zwischen den persönlichen Stärken der Spieler, auch wenn immer wieder einzelne Attacken erfolgreich waren.

Hinata war möglicherweis die einzige Chance, auch wenn Tsukishima das niemals laut zugegeben hätte. Er machte den Punkt und schaffte es, das Momentum auf Karasunos Seite zu ziehen, doch der Ball blieb immer länger in der Luft, brachte alle Spieler an ihre mentalen und körperlichen Grenzen. Sie öffneten das Blocken vor Hinata, damit ihr Libero den Ball annehmen konnte und während sie Hinatas Angriffe ausschalteten, behielt Oikawa weiterhin einen klaren Kopf, wechselte von einem Zuspiel zu einem direkt hinter dem Netz fallenden Ball und machte dann mit seinen Angaben einen Punkt nach dem anderen.

Selbst physisch das Momentum zu brechen, indem sie ihr letztes Timeout nahmen, schien nicht zu helfen, und dann schickte Ukai Yamaguchi als Pinch-Server ins Feld. Tsukishima vertraute seinem Freund, doch er wusste, wie gering seine Erfolgsrate war, und er wollte sich den Druck nicht vorstellen, unter dem er gerade stand.

Der Ball traf das Feld, aber zumindest blieb er nicht im Netz hängen. Dennoch erreichte Aoba Johsei die 20 Punkte zuerst. Trotzdem schien der Druck mit diesem Fehler abzunehmen. Beinahe schafften sie es zu einem Gleichstand und doch erreichte ihr Gegner zuerst den Punkt, der das Spiel entscheiden würde. Ein Punkt, bei dem sich Kageyama und Oikawa in der Luft beinahe trafen, als Kageyama wieder einmal über sich selbst hinauswuchs und den Ball mit einer Hand zuspielte. Es war beeindruckend zu sehen, wie er innerhalb des Spiels über sich selbst hinauswuchs und gleichzeitig war Tsukishima zu deutlich bewusst, wer es war, der Kageyama über seine eigenen Grenzen hinaustrieb. Er und Oikawa hatten eine Verbindung, die vollkommen unabhängig von dem roten Faden an ihren Fingern, dazu bestimmt war, beide Spieler immer weiter voranzutreiben. Und in diesem Spiel trieb es sie zu einem Deuce, einem Gleichstand, der durch zwei aufeinanderfolgende Punkte, das Spiel entscheiden würde.

Für einen Moment wirkte es sogar so, als ob Hinatas wahnsinniges Rumspringen tatsächlich zum Sieg führen, doch dann schloss Seijoh bereits wieder auf und Oikawa bekam die Chance beim Gleichstand von 25 zu 25 den Aufschlag zu machen. Einen Aufschlag, den er tatsächlich zu weit schlug. Wieder ein Beweis dafür, wie sehr die beiden Setter einander beeinflussen konnten. Noch einmal holte Seijohs Wingspiker den Gleichstand zurück und wieder und wieder glichen die Punkte sich aus, während niemand es schaffte, die entscheidenden zwei Punkte zu überwinden.

31 zu 31. Alle waren so erschöpft, dass Fehler unvermeidlich werden würden und dann kehrte der Aufschlag zu Oikawa zurück, eine ganze Rotation später. Nur zu gern hätte Tsukishima geglaubt, dass sein Fehler zuvor, ihn aus der Rue bringen würde, doch er wusste es besser. Er konnte es in den schokoladenbraunen Augen sehen, die nicht vorhatten, kleinbeizugeben. Vielleicht waren es die Worte jenes Angreifers mit der Nummer vier, die Tsukishima aus dem Aufwärmbereich nicht hören konnte, vielleicht war es Kageyamas Anwesenheit, aber Oikawa machte den Aufschlag mit allem Ernst, den er besaß und einer von Kageyamas alten Teamkameraden verwandelte den zweifachen Chance Ball zuletzt in einen Punkt. Etwas, was Kageyama offensichtlich in Unruhe versetzte, während Tsukishima nur auffiel, was er die ganze Zeit schon hätte merken können: Dass dieser Spieler sich bewusst Energie gespart hatte bis zu diesem Punkt.

Dieser eine Punkt schien Kageyama in ein Loch hinab zu reißen, basierend auf Hintergründen, die Tsukishima nicht kannte. „Denkst du, der König hat Angst vor dem Großkönig?“, fragte er leise, vielleicht an Yamaguchi gewandt, vielleicht eher zu sich selbst.

In jedem Fall war es Suga, der antwortete: „Es ist okay. Kageyama ist kein einsamer König mehr.“

Oikawas nächster Aufschlag sollte das Spiel entscheiden. Ein kurzer Aufschlag, ein schneller Angriff, ein zurückfliegender Ball und dann noch ein Angriff über Hinata. Und dann ein drei Mann starker Block und alles war vorbei. Kageyama, Daichi und Nishinoya fielen zu Boden, in dem Versuch, den Ball noch zu retten, und Oikawa war derjenige, der stolz erhobenen Hauptes stehen blieb, während sie auf dem Linoleumboden aufschlugen, erfolglos.

Es war so plötzlich vorbei, dass sich alle beinahe wortlos aufstellten und das Feld räumten.

Oikawa hatte Kageyamas letzten Angriff durchschaut und seinem Team genaue Anweisungen gegeben, wie sie gewinnen konnten, und plötzlich war es einfach vorbei. Sie mussten die Halle verlassen, während Seijoh zum Viertelfinale bleiben würde. Es war niederschmetternd und das schlimmste war vielleicht sogar, dass Oikawa nicht ein einziges Wort an Kageyama richtete, bevor sie die Halle verlassen mussten.

Alle trennten sich, bevor das Treffen stattfand und plötzlich war Tsukishima allein in der Umkleide. Wo war Yamaguchi geblieben? Wann hatte er die anderen abgehängt? Wann hatte er die schwere Metallschere aus seiner Sporttasche genommen? Und vor allem: Wann hatte er all die roten Fäden, die sich auf dem Feld gekreuzt hatten, gegriffen und bis hierhergezogen?

Tsukishima konnte sich nicht erinnern und doch waren sie hier in seiner Hand. Ein ganzes Bündel roter Fäden und einer davon gehörte zu Kageyama und Oikawa, einem Paar, das laut Yue Lao perfekt sein sollte, doch wie konnte jemand, der Kageyama solchen Schmerz bereitete, ihm jemals guttun? Wie konnte Oikawa jemals der Richtige für den dunkelhaarigen Setter sein?

Er wusste nicht, welcher Faden, zu wem gehörte. Sie alle führten links und rechts an ihm vorbei zur Tür hinaus. Jeder einzelne gehörte zu einem Spieler von Karasuno oder Aoba Johsei, da war er sich sicher, aber welcher von ihnen Kageyama und Oikawa verband, konnte er nicht einmal erahnen. Sie alle verbanden ein zum glücklich sein bestimmtes Pärchen.

Und eine einzige Sekunde später, waren sie alle zerteilt.

Noch während sie Aoba Johsei im Viertelfinale gewinnen sahen, konnte Tsukishima beobachten, wie die abgeschnittenen Fäden ganz langsam ihre Farbe verloren und starben, bis nur noch weiße, tote Enden zurückblieben.
 

„Ich habe etwas Dummes getan“, flüsterte Tsukishima kaum hörbar, als er sich über Yamaguchis Anwesenheit in der Dunkelheit des Abends bewusst wurde. Sein Herz fühlte sich unendlich schwer in seiner Brust an und dieses Mal hatte es nichts mit Kageyama zu tun, zumindest nicht direkt. Es war der Blick gewesen, den sein bester Freund dem jungen Mädchen zugeworfen hatte, das Kiyoko heute mitgebracht hatte. Sie war eine Erstklässlerin wie Yamaguchi und er selbst auch, doch sie hatten sich zuvor nie getroffen, da sie in unterschiedlichen Klassen waren. Man hätte blind sein müssen, um nicht zu erkennen, dass sie Yamaguchi gefiel und Tsukishimas Herz hatte sich noch schwerer angefühlt als zu der Zeit, in der er gesehen hatte, wie Kageyama nach dem Spiel mit Oikawa am Boden zerstört gewesen war. An jenem Tag hatte er nicht nur für den Dunkelhaarigen alles ruiniert, sondern auch für alle anderen Spieler auf dem und neben dem Feld; alle Spieler inklusive seines besten Freundes, an dessen Hand seit jenem Tag nur noch das tote Ende des einst roten Fadens hing, dem nie vergönnt gewesen war, sich zu spannen.

Wenn Tsukishima an diesem Tag nicht die Nerven verloren hätte, so war er sich sicher, hätte der Faden sich heute gespannt, als das blonde Mädchen das erste Mal die Halle betrat. Ein Blick auf ihre Hand hatte genügt, um seine Vermutung zu bestätigen, denn auch ihr Faden war leblos geblieben, als sie sich das erste Mal trafen. Und auch wenn Yamaguchis Interesse blieb, so hatte Tsukishima in den letzten Wochen eines gelernt: Ohne dass Band funktionierten die Beziehungen nicht. Wieder und wieder waren Noya und Asahi aneinandergeraten und konnten sich nun kaum mehr in die Augen sehen. Ob sie zusammen gewesen waren und sich getrennt hatten oder ob es durch Tsukishimas Eingreifen nie soweit gekommen war, konnte er dabei nicht ganz einschätzen, weil er nie den Wunsch verspürt hatte, sich in die Beziehung der Beiden einzumischen. Jetzt wünschte er sich, er hätte es wirklich nie getan, denn selbst wenn er Nishinoyas Art als zu laut empfand und Asahi einfach lächerlich unselbstbewusst für seine Größe und seine Fähigkeiten war, so respektierte er sie doch zu sehr, um zu akzeptieren, dass sie wegen ihm unglücklich waren. Einmal davon abgesehen, dass das gesamte Volleyballteam im Moment kurz davor stand auseinanderzubrechen wegen dem, was Tsukishima an jenem Tag getan hatte.

„Tsukki?“, fragte Yamaguchi jetzt überrascht, als er sich neben ihn auf das feuchte Gras hockte. Es war selten, dass Tsukishima etwas so Persönliches einfach aussprach, ohne dass der Braunhaarige hätte fragen müssen. Es konnte nichts Gutes bedeuten, da war er sich sicher. „Was ist los?“

„Ich habe deine Zukunft ruiniert.“

„Ehh?“ Yamaguchi blinzelte irritiert, verstand nicht im Geringsten, was sein bester Freund meinte. „Wovon redest du denn bitte?“ Es wollte nicht zu dem Blonden passen, was er da gerade sagte, also lachte er stattdessen, versuchte es als Witz auszulegen, auch wenn es sich nicht so angefühlt hatte. Tsukishima stieg nicht auf das Lachen ein und so erstarb es schnell wieder. Yamaguchi kniete sich hin, suchte Tsukishimas Blick, auch wenn der Boden feucht an seinen nackten Knien war. „Ganz egal, was passiert ist, Tsukki, wir kriegen das schon wieder hin.“ Er griff nach dem Gesicht des Blonden, der unterdessen den Blick zum Himmel wandte, wo die Regenwolken aufbrachen und der Mond zum Vorschein kam.

Tsukishima hob die Hand in ihr gemeinsames Blickfeld, das weiße Mondlicht glänzte auf der blassen Haut. „Erinnerst du dich, wie du mich gefragt hast, ob ich daran glaube, dass es die roten Fäden des Schicksals gäbe? Die aus der Geschichte mit Yue Lao, meine ich.“

Yamaguchi, ehrlich verwirrt von dem plötzlichen Themenwechsel, nickte mit einem kurzen Zögern und blickte von der erhobenen Hand zu Tsukishimas Gesicht und wieder zurück, wo er im Gegensatz zu seinem besten Freund nicht sah, wie ein leichter Windstoß das tote Stück Faden in Bewegung versetzte. Ob er sich wirklich an jenes Gespräch erinnerte oder nicht, war dabei wohl vollkommen egal, solange beide wussten, wovon sie jetzt sprachen.

„Ich kann sie sehen.“ Tsukishima ballte die Faust und begegnete direkt dem blinzelnden Blick seines Freundes, ernst, zu ernst, um eine Lüge zu erzählen. „Ich kann die roten Fäden sehen, die zwei Seelengefährten verbinden.“ Es war leicht zu sprechen, nachdem er einmal begonnen hatte. „Ich kann sie berühren und ihnen folgen. Ich kann Knoten aus ihnen lösen und die Menschen zueinander führen, die füreinander bestimmt sind.“ Dann ließ er die Luft ausströmen, die er zuvor tief eingeatmet hatte. „Und ich kann die Fäden durchtrennen und ein Seelenband für immer zerstören.“

Eine angemessene Reaktion auf diese Offenbarung wäre es sicherlich gewesen, Tsukishimas Stirn nach Fieber abzutasten, über einen blöden Witz zu lachen oder ihn in eine Anstalt einzuweisen, doch Tadashi tat nichts davon. Stattdessen nickte er leicht. „Okay.“

„Du… glaubst mir? Einfach so?“ Es einfach zu akzeptieren, war keine normale Reaktion, da war Tsukishima sich sicher, aber sein Freund nahm die Worte nicht zurück, nickte nur noch einmal zur Bestätigung. Yamaguchis Gutherzigkeit traf den Middleblocker unvorbereitet und so verstummt er.

„Okay, du kannst die roten Fäden sehen. Warum hast du es mir nicht damals schon gesagt?“

„Weil es absolut verrückt klingt!“

„Nicht verrückter als das Wissen, dass gerade du dich in Kageyama verliebt hast.“

Tsukishimas Augen weiteten sich. „Was? Wovon redest du–“

„Versuch nicht, es zu leugnen, Tsukki. Ich kenne dich schon ewig und du hast dich noch niemandem gegenüber so benommen wie bei ihm. Entweder du kannst Menschen nicht leiden und gehst ihnen aus dem Weg oder du tolerierst sie und ziehst sie ab und an mit ihren Schwächen auf. Das, was du mit Kageyama tust? Das ist eindeutig dein Versuch, ihn von dir fernzuhalten, weil du Angst davor hast, ihn zu nah an dich heranzulassen. Ich weiß, wovon ich rede, du hast mich auch einmal so behandelt, wenn auch nur für ein paar Tage.“

Tsukishima konnte sich nicht erinnern, jemals so durchschaut worden zu sein. Wie lange wusste sein Freund das bereits? Warum hatte er es nie erwähnt?

„Also, ich nehme an, dass du mir nicht plötzlich von den roten Fäden erzählt hast, weil du endlich bereit bist, dich deinen Gefühlen zu stellen. Was ist passiert?“

„Meine Großmutter… Großtante… sie konnte sie ebenfalls sehen. Vielleicht ist es so ein Familiending. Sie hat geschworen, dass es daran liegt, dass ich an einem Erntemond geboren wurde… Sie hat nie geheiratet und hat keine Kinder, also ist es nicht erblich oder so… Sie konnte sie jedenfalls auch sehen und scheinbar hat diese Fähigkeit einen Preis: Diejenigen, die die roten Fäden sehen können, haben keinen eigenen.“ Er betrachtete seine Hand im Mondlicht. „Naja, sie haben schon einen, aber er ist tot.“ Seine Gedanken waren nicht wirklich geordnet, also warf er Yamaguchi Stück für Stück die nötigen Informationen zu. „Wenn ein Seelengefährte stirbt, dann reißt das Band und das Gegenstück verkümmert, sodass nur noch ein totes, weißes Ende zurückbleibt.“ Jetzt blickte er zu seinem Freund hinüber. „Seit ich denken kann, ist mein Band weiß.“

Yamaguchi verstand sofort, worum es hier ging. „Und Kageyama…?“, fragte er also nach.

„Sein roter Faden… er führte zu Oikawa.“

Für einen Moment herrschte nur Stille.

„‚Führte‘…“, wiederholte Yamaguchi dann leise.

„Ich habe ihn durchgeschnitten, nach unserem Spiel.“ Für einen Moment dachte er daran zurück, wie leicht es gewesen war, den Bund der roten Fäden einfach zu zerteilen. Die Schere war durch die Fasern geglitten, wie ein Messer durch weiche Butter. „Ihr Band und die Bänder aller, die an diesem Tag mit uns auf dem Feld standen.“ Es nahm keinerlei Anspannung von ihm, es jetzt zuzugeben. Es brachte nur die Erinnerungen noch einmal hoch, die ihn seit jenem Tag verfolgten: Die Tränen, die seine Teamkameraden an diesem Tag geweint hatten, waren nicht wegen des Spiels gewesen, so viel wusste Tsukishima inzwischen. Sie alle hatten gespürt, dass ihnen plötzlich etwas fehlte. Und es war ganz allein seine Schuld.

Selbst Yamaguchi schien keine Worte zu finden, um darauf zu antworten. In seinen Augen konnte Tsukishima die Frage nach dem ‚Warum?‘ lesen, doch der Kleinere schluckte sie herunter und schwieg. Eine Antwort hätte er wohl auch nicht bekommen, denn so selbstsüchtig wie seine Gründe gewesen waren, schienen sie nichts von dem, was er getan hatte, zu rechtfertigen.

Hinter ihnen löschte jemand das Licht in der Sporthalle und im Clubraum. Die beiden Erstklässler würden heute wohl in ihren Sportklamotten nach Hause gehen müssen. Wenigstens hatte Yamaguchi ihre Taschen mit nach draußen genommen…

Tsukishima erwartete keine Antwort mehr. Er wusste ja selbst, dass es keine geben konnte, dass er sein Handeln nie wieder gut machen könnte. Er erhob sich vom feuchten Rasen und griff sich seine Sporttasche, wandte sich bereits halb zum Ausgang des Schulgeländes.

Und dann machte sein Freund doch den Mund auf. „Dann musst du sie eben wieder zusammenbinden.“ Es klang so leicht, so selbstverständlich, dass dem blonden Middleblocker die Worte fehlten, als er sich überrascht umwandte. Sie einfach wieder zusammenbinden? „Ich meine… wenn du weißt, wer zu wem gehört, dann musst du die Fäden einfach wieder verknoten, richtig?“ Yamaguchi hob verlegen die Hand. „Die Gefühle sind doch immer noch da… Sie müssen einfach wieder zusammenfinden.“ Er lachte unsicher. „Oder?“
 

Das Paar, das Tsukishima am allermeisten zusammenbringen wollte, waren ganz sicher, sein bester Freund und das blonde Mädchen, das auf dem besten Weg war, die neue Managerin des Volleyball-Teams zu werden, doch wenn er ehrlich war, hatte er Angst, dass es scheitern würde, wenn er es versuchte, also fiel seine Wahl auf jemand anderen und am Ende des nächsten Trainings packte er deshalb seine nicht unbedingt auszeichnungswürdigen Schauspiel-Fähigkeiten aus.

Er seufzte hörbar, streckte seine Arme in die Luft und ließ seine Schultern kreisen. „Hey, Yamaguchi, hilfst du mir beim Dehnen?“ Es war in gewisser Weise ein Glücksspiel, aber es funktionierte, denn Sawamura sprang auf den indirekten Vorschlag an.

„Das ist eine gute Idee! Tut euch zu zweit zusammen und dann dehnt euch gemeinsam. Wir können keine verletzen Muskeln gebrauchen!“ Schnell fanden sich Zweierpaare zusammen und noch einmal war das Glück auf Tsukishimas Seite, als Asahi und Nishinoya übrigblieben und sich ein wenig angespannt zusammentaten. Sie waren von den Größenverhältnissen sicherlich nicht ideal dafür, aber niemand sagte etwas dazu. Sie hatten es sonst auch schon oft genug in dieser Kombination hingekriegt.

Jetzt musste Tsukishima nur noch… Er winkte Yamaguchis Hilfe ab und nutzte den Moment, als alle abgelenkt waren, um sich Libero und Wingspiker zu nähern, während diese sich noch anschwiegen und direkte Blicke vermieden. Langsam griff er die beiden toten Ende, nicht länger dehnbar wie der rote Faden zuvor, weshalb er so nah an sie heranmusste. „Bist du dir sicher, dass dein Gewicht ausreicht, um bei Asahi-san irgendetwas zu dehnen?“, neckte er den Libero, um von dem Abzulenken, was er eigentlich tat und brachte zugleich die beiden Fäden zusammen, um einen festen Knoten hineinzubinden, der hoffentlich nicht einfach wieder aufreißen würde. Angespannt machte er einen Schritt zurück, während Nishinoya sich vielleicht ein wenig provoziert von Tsukishimas Worten mit seinem gesamten Körpergewicht auf Asahis Rücken warf. Würde es funktionieren?

„Au! Au! Noya, stopp!“, rief Asahi immer lauter, als er von dem jüngeren Schüler nach vorne gedrückt wurde. „Es tut mir leid! Es tut mir leid!“ Überrascht hörte Tsukishima von der Entschuldigung, deren Grund er nicht kannte. „Ich hätte mit dir sprechen sollen, als es um den Club und meine Pläne nach der Schule geht, es tut mir leid! Bitte brich mir nicht mein Rückrad, denn dann können wir ganz sicher nicht mehr zusammen spielen und das ist das letzte, was ich möchte!“

Nishinoyas Blick wurde überrascht weicher und langsam zog er sich zurück. „Das letzte, was du möchtest?“, wiederholte er langsam und obwohl Tsukishima nicht alle Hintergründe hinter dem Streit kannte, den sie offenbar gehabt hatten, konnte er doch eindeutig sehen, dass sich hier Wogen glätteten, die zuvor Streit ausgelöst hatten.

Als er den Blick auf das neuverknotete Band senkte, konnte er einen winzigen Faden innerhalb des weißen Bandes sehen, der rot war und sich durch den Knoten der toten Enden hindurch von einer Hand zur anderen zog. Nur ein Hauch von Rot und doch ein Hoffnungsschimmer, an den Tsukishima, wenn er ehrlich war, nicht geglaubt hatte.

Natürlich konnte er nicht sicher sein, dass es wirklich wieder zu einem roten Faden zusammenwachsen würde, doch er zog sich zurück, gab den beiden Jungen Raum und ließ sich wirklich von Yamaguchi dehnen, der offenbar bemerkt hatte, was Tsukishima getan hatte, oder zumindest, dass er etwas getan hatte. Er fragte nicht nach Details.

„Und?“, wollte er jedoch flüsternd wissen, während er den größeren Spieler vorsichtig abwärts drückte.

„Und jetzt warte ich und beobachte, was passiert.“ Mehr konnte er zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht sagen.

Nishinoya und Asahi gingen an diesem Tag gemeinsam vom Club nach Hause und am nächsten Morgen war der Knoten noch immer dort, wo Tsukishima ihn hinterlassen hatte. Der einzelne rote Faden, der kaum mehr als eine Faser gewesen sein konnte, war noch immer da und scheinbar hatte er sich ausgebreitet, denn nun war ein ganzes Kardeel rot gefärbt und konstant durch den Knoten hindurch mit beiden Händen verbunden.

Das Band schien sich noch gefährlich zu spannen, wenn die beiden Jungen sich trennten, um zum Unterricht zu gehen, doch der Knoten riss nicht auseinander und am nächsten Tag waren es bereits zwei Kardeelen. Nach dem Wochenende, das die beiden wohl zusammen verbracht hatte, war nur noch ein einziger Faden in dem Flechtwerk des Seidenbandes weiß und die abgeschnittenen Enden oberhalb des Knotens, noch immer weiß, wirkten eher wie ein Fremdkörper in dem roten Band.

Am Dienstag brachte Tsukishima die Schere mit und trennte die toten Enden über dem Knoten ab, als niemand hinsah und wie von Zauberhand verschwand auch der letzte Rest weiß mit diesem Schnitt, als das Band wieder eins wurde. Die Narbe des Knotens war noch immer dort, sichtbar, wenn man von ihr wusste, doch die Verbindung war zurück und die beiden Spieler verstanden sich wieder als wäre nie etwas gewesen.

Tsukishima hatte seiner Großmutter nicht geglaubt, dass es sich gut anfühlen sollte, andere Menschen zusammenzubringen. In diesem Moment war sein Herz leichter als seit Wochen und in dieser Nacht schwiegen seine Schuldgefühle zumindest für einen Moment still, als er sich schlafen legte.
 

„Ich habe Karten für die Inlinerbahn“, meinte Tsukishima über seiner Bentobox hinweg zu Yamaguchi, als sie gerade einen freien Moment ohne Lernen und Training teilten.

„Du fährst doch gar nicht gerne Inliner.“ Yamaguchi hatte die Stäbchen noch an den Lippen, sprach aber erst, nachdem er das kleine zu einem Oktopus aufgeschnittene Würstchen gekaut und geschluckt hatte. Er wirkte überrascht, denn im Gegensatz zu seinem Freund hatte er seine Freude an diesem Sport, auch wenn er allein nicht gehen mochte und es so sehr selten tat.

„Tue ich auch nicht, deshalb habe ich sie dir mitgebracht.“ Natürlich hatte er sie nicht genau deshalb gekauft. „Du solltest Yachi-san fragen, ob sie mit dir geht. Ich bin mir sicher, dass es ihr Spaß machen würde.“

Yamaguchis Augen weiteten sich und dann lief er rot an. „Aber vielleicht kann sie es gar nicht…!“

„Dann bringst du es ihr bei.“ Das war doch genau der Punkt! Tsukishima verdrehte die Augen und schob ihm die zwei Eintrittskarten über den Tisch entgegen. „Lass sie nicht verfallen.“ Dann stand er auf, um ins Badezimmer zu gehen.
 

Yamaguchi brachte allein den Mut nicht auf, Yachi zu fragen, also nutze Tsukishima eine Gelegenheit nach dem Training und zog seinen Freund in einer Trainingspause in ihre Nähe. Er musste die beiden Fäden ohnehin noch verknoten. Er hustete kurz, dann räusperte er sich, wollte ganz sichergehen, dass Yachi zuhörte und fragte lauter als nötig. „Hast du schon jemanden gefunden, der dich zum Inlinerlaufen begleitet?“

„Inliner?“, fragte Yachi pflichtbewusst – oder eher unbewusst – nach, als sie ihnen gerade Handtücher und Flaschen reichen wollte, während Yamaguchis Ohren Hinatas Haaren Konkurrenz zu machen suchten.

„Ja, also… naja, ich… also, da ist diese neue Inlinerbahn in der Nähe und… Tsukishima fährt nicht gerne, also habe ich eine Karte zu viel und…“

Es war kaum mitanzusehen, aber Tsukishima hielt sich zurück, um sich nicht einzumischen, griff lieber die beiden Fäden und verknotete sie fest miteinander.

„Ich habe es noch nie ausprobiert“, stammelte Yachi ebenso ungeschickt wie Yamaguchi. „Ist es nicht gefährlich? Es tut bestimmt weh, wenn man hinfällt, oder?“

„Nein, nein! Es ist nicht gefährlich! Man hat Schützer an und man kann ganz langsam fahren und… würdest du es gerne ausprobieren?“

Zufrieden griff sich Tsukishima eine der gelben Flaschen und zog sich zurück. Was sollte er mit den anderen Fäden tun? Er wusste nicht sicher, zu wem die anderen Enden gehörten und er konnte sie ja schlecht einfach auf gut Glück verknoten….

„Hast du in letzter Zeit mit Michimiya gesprochen?“, hörte er Sugawara Sawamura leise fragen, als er Yamaguchi und Yachi ihren Platz ließ, um sich in ihrer Schüchternheit zu übertrumpfen. Er hörte nicht einmal bewusst hin, doch wenn die plötzliche Unruhe ihres Kapitäns irgendetwas zu sagen hatte, dann würde es sicher sicherlich lohnen, herauszufinden, ob Michimiya – wer auch immer das war – ein weißes Band an ihrem oder seinem Finger trug.

Tsukishima konnte selbst nicht glauben, wie sehr er sich darauf einließ, aber er hatte einfach das Gefühl, dass er etwas wiedergutmachen musste… Und ja, irgendwie war es vielleicht auch gar nicht schlecht zu sehen, wie auch Yamaguchis Band langsam wieder zusammenwuchs. Warum sollte er nicht auch den anderen eine neue Chance ermöglichen? Und wenn es mit dieser Art von Paaren funktionierte, gab es dann nicht auch für jene noch Hoffnung, die ihren Partner verloren hatten? Akiteru war sicher nicht der einzige, dem es so ging, und selbst wenn es nicht ursprünglich so gedacht war, wenn ein Knoten solche Verluste heilen konnte, dann gab es vielleicht auch für seinen Bruder noch eine Chance auf die große Liebe, richtig?

Plötzlich ging Tsukishima mit viel offeneren Augen durch die Welt. Er bemerkte, wie gut sich Tanakas lautes Wesen mit dem ruhigen Charakter von Ennoshita ausgleichen würde, und sah keinen Grund, sich daran zu halten, dass es vielleicht nicht ursprünglich so gewesen war. Nach und nach flickte er die Wunden, die er selbst geschlagen hatte; entdeckte, dass auch Tanakas Schwester, ihren Partner früh verloren haben musste, und beschloss, dass es einen Versuch wert sein mochte, wenn es auch nur eine winzige Chance gab, wieder ein Lächeln in Akiterus Augen bringen würde.

Ja, er war sogar bereit, die Schäden bei den zwei Pärchen aus Aoba Johsei zu flicken, die er vermutlich ebenfalls getrennt hatte, doch die Gelegenheit dazu, würde wohl erst noch kommen müssen und vorher gab es noch eine Aufgabe, der er sich annehmen musste…
 

„Hey, Hinata, hast du von dem Festival in Sendai zum Perseidenschauer nächste Woche gehört?“ Es war nicht unbedingt Tsukishimas Art, solche Themen aufzubringen, also hatte er Yamaguchi darum gebeten, die Festlichkeit anzusprechen. Er wollte ohnehin mit Yachi gehen und Hinata wäre derjenige, der am Besten dafür geeignet war, auch Kageyama dazu zu bringen, dorthin zu fahren. „Tsukki hat eine Verwandte, die dort lebt und die angeboten hat, dass wir bei ihr übernachten können.“

„Perse-was?“

Tsukishima war froh, dass er dieses Gespräch nicht führen musste, denn bereits jetzt hätte er Hinata gerne für seine Dummheit geschlagen.

„Perseiden: aus dem Griechischen, die Tränen des Laurentius, sind die jährlich wiederkehrenden Meteore, die Anfang August in Form von Sternschnuppen am Himmel zu sehen sind. Der Name stammt vom Sternenbild Perseus.“ Zur Überraschung aller Anwesenden war es Kageyama, der diese Definition herunterbetete, die er vielleicht für seine Prüfungen auswendig gelernt hatte. Sie stimmte jedenfalls.

„Ein Sternschnuppenschauer?“ Hinatas Augen glühten aufgeregt. „Ich war noch nie bei einem Sternschnuppen-Festival!“ Und damit kam der Stein ins Rollen. Natürlich war sich Tsukishima nicht einmal sicher, ob Oikawa überhaupt dort sein würde, aber in diesem wirklich nutzlosen Artikel über Oikawa im monatlichen Volleyballmagazin hatte dringestanden, dass er sich für den Weltraum interessierte, also standen die Chancen gut, richtig? Immerhin lebte der ältere Setter ja in Sendai oder ging dort zumindest zur Schule und so groß war das Schreingelände nicht, auf dem die Festivitäten stattfanden, also würden sie sich schon dort treffen. Das war zumindest der Plan.
 

Am Tag des Sternschnuppen-Festivals fuhren die vier Erstklässler des Volleyballteams in Begleitung von Yachi mit dem Zug zur Hauptstadt der Miyagi-Präfektur, legten ihr Gepäck bei Tsukishimas entfernten Verwandten in der Wohnung ab und zogen sogar Yukatas über, bevor sie zu dem Schreingelände aufbrachen. Es war ein warmer Abend, aber zum Glück war die Luftfeuchtigkeit nicht ganz so hoch wie an anderen Sommertagen.

Yamaguchi würde mit Yachi zusammen losziehen und Hinata würde Kageyama beschäftigen, bis Tsukishima Oikawa fand und das Treffen einleiten konnte und dann-

„Tobio-chan!“

Sie hatten gerade den von Laternen beleuchteten Weg betreten, als sie beinahe direkt in Oikawa hineinstolperten. Er war begleitet von dem Wingspiker – Tsukishima hatte sich immer noch nicht an seinen Namen erinnert – und trug einen hellblau gestreiften Yukata, der ihm deutlich besser stand als Tsukishima ihm zugestehen wollte. Er musste sich vorstellen, wie Kageyama an seiner Seite aussehen würde, braune Locken und schokoladenfarbene Augen neben pechschwarzem Haar und blauschwarzer Tiefe. Sie hätten gemeinsam von Hochglanzseiten lächeln können oder in Kageyamas Fall vielleicht eher Menschen mit einem mysteriösen Blick für sich gefangen nehmen können. Tsukishima war sicherlich nicht unsicher über sein Aussehen, aber es war schon niederschmetternd, wenn in einem Conbini die Verkäufer ihr maßlos schlechtes Englisch auspackten, weil sie ihn für einen Ausländer hielten. Exotisches Aussehen hin oder her, blonde Haare waren manchmal echt eine Qual in einem Land wie Japan.

„Oikawa-san.“ Anspannung und Überraschung reichten sich in Kageyamas Stimme die Hand, während Hinata sofort auf Verteidigungsmodus umschwang. „Der Großkönig! Was macht der denn hier?“

„Wir leben in Sendai, Idiot.“ Oikawas Begleiter verdrehte genervt die Augen, offenbar nicht begeistert von der überraschenden Begegnung. Dann blickte er zu Tsukishima und sein Blick hatte etwas Abschätziges, vielleicht sogar Wachsames. Der Blonde ignorierte es, musste seine Pläne jetzt spontan an die veränderte Situation anpassen. Wie würde er Hinata loswerden, damit er nicht störte? Wie konnte er den zweiten Aoba Johsei-Spieler vom Spielfeld entfernen? Und vor allem musste er irgendwie diesen Schmerz in seiner Brust unter Kontrolle bringen. Bei jedem anderen war sein Unwille in heimliche Freude oder zumindest Zufriedenheit umgeschlagen und er wusste, dass er es tun musste, denn Kageyama hatte jedes Recht auf diese Beziehung, die er so selbstsüchtig zerstört hatte, aber sein Herz wollte dieses Wissen nicht einfach so akzeptieren.

„Hinata, wolltest du nicht unbedingt einen kandierten Apfel? Da vorne gibt es einen Stand.“ Bevor Tsukishima auch nur blinzeln konnte, war der winzige Middleblocker in der Menge verschwunden. Er selbst hatte die Hände in den hinteren Hosentaschen vergraben und streckte seinen Rücken durch.

„Iwaizumi-san“, meinte Yamaguchi dann höflich von seiner Seite aus und der fremde Wingspiker sah ihn an, offensichtlich im Gegensatz zu dem Karasuno-Spieler nicht so ganz sicher, wie der jüngere hieß. „Du kennst dich hier bestimmt besser aus als wir. Tut mir leid, aber kannst du uns einen guten Ort zeigen, an dem wir die Sternschnuppen sehen können?“ Er deutete ein wenig grob auf sich und Yachi und war so entwaffnend freundlich, dass der Seijoh-Spieler wohl gar nicht ablehnen konnte.

Das war beinahe zu leicht.

„Toilette“, meinte Tsukishima kurzangebunden und ließ die beiden Setter zurück, die wohl nicht minder überrascht waren, dass sie plötzlich allein waren, als Tsukishima sich zurückzog. Er hatte natürlich nicht vor, wirklich eine Toilette aufzusuchen. Er brauchte nur ein wenig Geheimhaltung für seine Aufgabe.

„Wie geht es dir, Oikawa-san?“, versuchte Kageyama ein mühevolles Gespräch in Gang zu bringen. Es genügte, um eine übertriebene Reaktion bei dem älteren Spieler auszulösen. „Wie soll es mir gehen? Iwa-chan hat mich hängen gelassen und jetzt muss ich meinen Abend mit dir verbringen!“

Ich würde deinen Platz nur zu gerne übernehmen, dachte Tsukishima dunkel, während er sich einen Weg aus einem toten Winkel zu den beiden Spielern suchte. Etwas, was in der Mitte einer Menschenmenge nicht unbedingt einfach war, wenn man 1,90m groß und blond war. Er wollte ja auch nicht wie ein verrückter Stalker wirken.

„Und Iwa-chan hatte mir versprochen, dass er mir Taiyaki ausgibt!“ Theatralisch fasste er sich an die Stirn.

„Da drüben ist ein Stand, ich kaufe dir welche.“ Das war das nächste an Flirten, was Tsukishima jemals aus Kageyamas Mund gehört hatte und es war tatsächlich sogar hilfreich, denn die Schlange zu besagtem Stand war lang und langsam und am Rand des Geländes. Tsukishima würde durch die Stände hindurch an die Bänder herankommen und sie verknoten, bevor irgendjemand etwas bemerkte.

Er zog sich hinter die kleinen Buden zurück, die den Aufgang zum höhergelegenen Schrein säumten und griff dort in seinen Rucksack, tastete nach dem schweren Material der Schere, das kalt auf seine Handfläche traf und zog sie hervor. Er war dazu übergegangen, die Enden an den Knoten direkt zu kürzen. Es hatte ja keinen Grund darauf zu warten und die Enden waren unnötig, wenn es um das Zusammenwachsen ging. Er suchte sich seinen Weg an Mülltonnen und Kabeln vorbei und fand gerade eine geeignete Öffnung, um sich von hinten zu nähern, als eine Hand schmerzhaft eng seinen Oberarm umschloss und ihn zurückhielt. Kurz glaubte Tsukishima, dass es ein Ladenbesitzer war, der ihn von hier verjagen wollte, doch stattdessen war es eine bekannte Stimme.

„Lass deine Finger von ihm, du hast schon genug Unheil angerichtet.“ Iwaizumis Griff wurde so eng, dass er sicherlich blaue Flecken auf Tsukishimas heller Haut hinterlassen würde, aber die Überraschung war groß genug, um das für einen Moment zu ignorieren. Es war nicht zu übersehen, dass der andere ein Sportler war, als sein Griff vielleicht sogar noch ein wenig fester wurde. Tsukishima war sich sicher, dass er im Fitnessstudio trainierte, aber es hätte ihm nicht egaler sein können, als die zweite Hand nach seinem Handgelenk griff, um ihm die Schere zu entwinden. „Ich weiß nicht, wo du sie herhast, aber diese Scheren sollten gar nicht existieren! Die einzige Macht, die die Fäden zerstören sollte, ist der Tod!“

‚Du tust mir weh‘, erstarb auf Tsukishima Lippen, als ihm klar wurde, was der Wingspiker da sagte. Sein Blick zuckte zu Iwaizumis Hand, doch nachdem er bei ihrem gemeinsamen Spiel eine unbestimmte Anzahl von Fäden zerstört hatte, war es wohl nicht mehr länger aussagekräftig, dass er dort ein weißes, totes Ende erblickte.

„Hast du irgendeine Ahnung, wie lange ich an Oikawas Band gewebt habe?!“ Er hatte die beiden Spieler inzwischen wieder auf die Freifläche hinter den Buden navigiert und sah Tsukishima wütend an, offensichtlich ehrlich ungehalten über das Geschehen, auch wenn genau genommen eigentlich ja noch überhaupt nichts passiert war. „Gib mir diese Schere, damit ich sie einschmelzen kann und sie keinen Schaden mehr anrichten wird! Und dann fängst du entweder an, deinen Job zu machen oder lässt es verdammt noch einmal sein, aber wehe du wagst es noch einmal, dich in Oikawas Leben einzumischen.“

Jegliche Schlagfertigkeit war aus Tsukishimas Gedanken gerissen worden. „Du hast es gewebt?“

Langsam lockerte Iwaizumi seinen Griff an Tsukishimas Oberarm, aber er ließ ihn nicht los. Skeptische Verwunderung hatte sich auf seine Züge gelegt. „Ja, der Idiot ist als Kind einmal fast von einem Lastwagen überfahren worden und die Verbindung hing am seidenen Faden, als ich ihn im Krankenhaus besucht habe.“ Während diese Antwort für den Seijoh-Spieler offenbar Erklärung genug war, beantwortete sie nicht im Geringsten Tsukishimas Frage. Er hasste es, wenn er ganz offensichtlich irgendetwas nicht wusste, aber das war etwas, von dem er noch nie gehört hatte. „Und jetzt habe ich nicht nur sein Band, auf das ich aufpassen muss, sondern auch noch die von Hanamaki und Matsukawa und Kunimi und Kindaichi zu flicken! Ich bin im dritten Jahr der Highschool, ich habe besseres zu tun als mir damit die Nächte um die Ohren zu schlagen. Besonders weil Oikawa seine dumme Rivalität mit Ushijima nicht begraben will und unbedingt beim Frühlingsturnier antreten muss.“

„Aber du musst sie doch nur wieder verknoten.“

Für einen kurzen Moment herrschte einfach nur Stille zwischen den beiden Jungen. „Wieder zusammenknoten?“ Iwaizumis Augenbraue wanderte bis unter seine Haarlinie empor. Tsukishima wollte gerade nicken, als sein Gegenüber bereits weitersprach, aufgebracht, lauter als vielleicht nötig. „Sag mal, welcher Idiot hat dir eigentlich die Regeln erklärt?!“ Wahrscheinlich war es eine rhetorische Frage, also versuchte Tsukishima nicht angegriffen von diesen Worten zu sein. „Diese Bänder sind Gefühle und Emotionen! Sie sind fragil und zerbrechlich und wenn sie absterben, dann kannst du sie nicht einfach wieder zusammenknoten. Solche Verletzungen hinterlassen Narben, Verlustängste, Zweifel.“ So wie Iwaizumi sprach, schien es als wären seine Worte offensichtlich, doch für Tsukishima waren sie neu. Die Bänder waren Gefühle? Und die Knoten, die er gemacht hatte? Waren die Schnittstellen, die Tsukishimas Schere zurückgelassen hatte, die Narben, von denen der andere sprach?

Vielleicht wurde auch Iwaizumi langsam klar, dass Tsukishima nicht bescheid wusste, denn die Falte auf seiner Stirn wurde noch etwas tiefer. „Ein Band neu zu weben, das zerrissen ist oder beinahe gerissen, ist eine delikate Arbeit, nicht nur beim wortwörtlichen Weben mit den winzigen Fäden, sondern auch beim Umgang mit der entsprechenden Person.“ Er beobachtete Tsukishimas Gesicht ganz genau, während er sprach, doch keines seiner Worte schien dem Jüngeren bekannt zu sein. „Wenn sich zwei Menschen mit einer natürlichen Verbindung treffen, dann entdecken sie die Gefühle, die tief in ihnen ruhen, selbst, aber wenn diese einmal verstummen, dann ist es nicht mehr selbstverständlich, dass es am Ende zusammenpasst.“ Er hatte Tsukishima inzwischen losgelassen. „Hat dir das nie jemand erklärt?“ Er hatte sich beruhigt, auch wenn er die Schere, die er dem Blonden zuvor entwunden hatte, noch immer in einem eisernen Griff festhielt.

„Meine Großtante hat so etwas nie erwähnt.“ Wahrscheinlich hatte sie es auch nicht gewusst, denn immerhin war sie immer sehr vorsichtig bei dem gewesen, was sie mit den Bändern getan hatte; vorsichtig, aber Kei gegenüber sehr offen. Von Weben hatte sie nie gesprochen.

„Deine Großtante? Was ist mit deinen Eltern?“ Iwaizumi schien vorsichtig zu sein, vielleicht in dem Bewusstsein, wie leicht so ein Gespräch ins Unangenehme kippen konnte.

„Meine Eltern können die Bänder nicht sehen.“ Wie auch? Jemand, der die Bänder sehen konnte, hatte kein eigenes Band, also hatte er auch keinen Partner und keine Familie, richtig?

„Du… stammst nicht aus einer der alten Familien?“ Es brauchte wohl keine Antwort, denn Iwaizumi sprach bereits weiter. „Wie kommst du dann an so eine Schere heran?“ Eine Frage, die er sich eher selbst zu stellen schien, denn wieder wartete er keine Antwort ab. „Dann solltest du erst recht nicht einfach rumspielen!“

„Jetzt warte mal! Willst du mir sagen, dass deine Eltern die Bänder auch sehen können und du das von ihnen geerbt hast?“

Unwillig ließ der andere sich darauf ein, die Frage zu beantworten und nickte. „Meine Mutter, ja.“

„Aber diejenigen, die die Fäden sehen können, haben keine eigenen Bänder.“ Außer natürlich es war bei einer erblichen Weitergabe anders? Tsukishima versuchte sich angestrengt an die früheren Spiele mit Aoba Johsei zu erinnern, versuchte herauszufinden, ob Iwaizumi da ein Band gehabt hatte, aber er war zu abgelenkt von Oikawa und Kageyama gewesen, um sich zu erinnern. Es war ihm damals nicht als wichtig erschienen.

„Kein natürliches, das stimmt, aber jemand anderes kann eines für uns knüpfen.“

Tsukishima konnte nicht glauben, was er da hörte. Der Boden fühlte sich unter seinen Füßen weggezogen an, aber wie sollte es auch anders sein, wenn etwas in Frage gestellt wurde, was er als grundsätzlich und unveränderlich angenommen hatte. So mussten sich die Menschen gefühlt haben, als Kopernikus auf die Idee kam, dass sich die Erde sich um die Sonne drehte und nicht andersherum, da war der blonde Middleblocker sich sicher.

„Du weißt wirklich gar nichts, oder?“ Iwaizumi betrachtete ihn nachdenklich, etwas weniger wütend als zuvor.

Wahrscheinlich brauchte es keiner Zustimmung, aber selbst wenn wäre Tsukishima zu stolz gewesen, um sie ihm zu geben. Es war ohnehin noch nicht ganz darüber hinweg, dass es noch andere Menschen gab, die die Fäden sehen konnten, ganze Familien um es genau zu nehmen. Und auch wenn er es nicht wollte, konnte er diese kleine Hoffnung nicht unterdrücken, dass er nicht allein sein musste in seinem Leben.

„Wie… webt man ein Band?“, wollte er dann trotz allem Stolz wissen.

Einen Moment schien der andere zu überlegen, ob er ihm davon erzählen sollte, doch dann begann er zu erklären. „Die einzelnen Fäden… die einzelnen Gefühle… Wenn sie absterben, bleibt eine leere Hülle zurück, doch wenn man sie vorsichtig mit demselben Gefühl des Partners verbindet, können sie mit gemeinsamer Zeit und einer gewissen Offenheit wieder anwachsen. Es ist ein bisschen wie gebrochene Knochen heilen, ein langsamer Prozess und eine ziemliche Fummlerei.“ Er hob Tsukishimas Band an, um etwas zu zeigen. „Ehrlich gesagt kann man es ohne eine Lupe kaum erkennen, aber es sind mehrere hundert Fäden, die zu einem der Bänder geflochten werden.“ Er drehte das Ende zwischen seinen Fingern, rieb sie mit einer kontrollierten Bewegung auf, bis die Kardeelen sichtbar wurden. „In diesem Zustand lassen sie sich kaum dehnen, also müssen die Partner nahe zusammen sein, zumindest bei den ersten paar Fäden. Danach wird es leichter.“ Er ließ Tsukishimas Band wieder los und Tsukishima wurde klar, dass er bei seinen bisherigen Erfolgen vielleicht einfach nur Glück gehabt hatte. Vielleicht waren die Gefühle noch frisch gewesen, noch hoffnungsvoll und nicht vollkommen verschwunden. Vielleicht hatte er ganz zufällig einzelne Fäden zusammengebracht.

„Was treibt ihr Jungen hier?! Verschwindet!“, beschwerte sich plötzlich die Besitzerin des Standes, hinter dem sie gestanden hatten, und besagte Jungen ergriffen eilig die Flucht zurück auf das eigentliche Gelände.

Auf dem Weg zum Schrein drängten sich die Menschen inzwischen, doch Tsukishima blieb gut zu sehen und auch Iwaizumi war nicht unbedingt klein. „Warum hast du es getan?“, wollte dieser dann wissen, anstatt weiter auf das Weben einzugehen. „Die Bänder durchgeschnitten, meine ich.“ Der Wingspiker musterte ihn, während sie sich ohne wirkliches Ziel durch die Menge der Menschen schoben. „War es Rache? Weil wir gewonnen haben?“

Tsukishima runzelte die Stirn. Für wie niedrig hielt er seine Motive? Ja, er war aufgebracht gewesen, doch deshalb hätte er so etwas nie getan. Nein, so ein Arschloch war er dann doch nicht. Seine wahren Gründe wollte er aber auch nicht zugeben und so ließ er den Blick über die Menge gleiten, während sie die Treppenstufen emporstiegen. Unbewusst mochte er nach ihnen gesucht haben, doch als er sie entdeckte, konnte er nur das Gesicht verziehen. Das Eis schien gebrochen zu sein, das zwischen Senpai und Kohai einst geherrscht hatte, vielleicht weil sie nicht gemeinsam auf dem Feld standen, und Oikawa schien Kageyama mit einer Geschichte ein Ohr abzukauen, während er zufrieden auf seinem fischförmigen Gepäck herumkaute. Kageyama hörte zu ohne viele Reaktionen zu zeigen. Hinata schien nicht zu ihnen zurückgekehrt zu sein. Einige junge Mädchen beobachteten das Sportlerpaar, tuschelten bewundernd und Tsukishima konnte den Stich der Eifersucht nicht unterdrücken. Es war sein Ziel gewesen, dass die beiden sich hier trafen und sich näherkamen und doch brodelte bittere Säure in seinem Magen, wenn er sie nur ansah.

Iwaizumi las die Antwort auf seine unbeantwortete Frage in Tsukishimas Blick und seine Augen weiteten sich ein wenig. „Du warst eifersüchtig.“ Er war überrascht, aber nicht wütend, viel mehr schien einen Moment etwas wie Mitleid über sein Gesicht zu huschen.

Für einen Moment schwiegen sie einfach. Welchen Sinn hätte es auch gehabt, es zu leugnen? Was hätte es auch geändert? Iwaizumi war offenbar bereits dabei das Band zwischen den beiden Settern wieder zu verknüpfen.

„Hey, Shittykawa“, kündigte er ihre Ankunft an, nachdem sie den restlichen Weg schweigend zurückgelegt hatten.

„Iwa-chaaan“, quengelte der… Angesprochene? und für einen Moment erinnerte sich Tsukishima an etwas, was Kageyama einst gesagt hatte. ‚Scheinbar sind die beiden schon seit der Grundschule im selben Team.‘ Kindheitsfreunde. „Du hast mir einen schönen Abend versprochen und stattdessen muss ich mich mit Tobio herumschlagen.“

Er war lächerlich dramatisch, als er sich auch noch an gegen Iwaizumis Brust fallen ließ. Wie genau konnte man diesen Menschen nicht hassen? Jegliche Eifersucht einmal außen vorgelassen. Iwaizumi klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast doch trotzdem Taiyaki bekommen. Außerdem wirktest du bis gerade eben noch sehr zufrieden mit seiner Gesellschaft.“ Etwas in seiner Stimme hatte sich verändert, als er den Setter von sich schob, die Stirn gerunzelt.

Und dann fiel es Tsukishima wie Schuppen von den Augen: Iwaizumi hatte seine Gefühle nicht erkannt, weil er Menschen so gut lesen konnte. Er hatte sie erkannt, weil er sie genau kannte. Er war ebenfalls nicht glücklich damit, wer Oikawas perfekter Partner war.

Ein Blick zu Kageyama, der schweigend an einem der gefüllten Fische kaute und das Geschehen beobachtete, dann ließ Tsukishima noch einmal eine Kurzschlussreaktion zu. Er packte die beiden Enden an den Händen der Seijoh-Spieler und verknotete sie in einer einzigen Bewegung. Es war nicht das Weben, was Iwaizumi eben beschrieben hatte, aber Tsukishima hatte schon zwei Mal Glück gehabt, also legte er es auf ein drittes Mal an. Bevor Iwaizumi es bemerkte, hatte Tsukishima einen festen Knoten in die beiden Bänder gemacht.

Vielleicht spürte der Wingspiker ein Ziehen an seiner Hand – Tsukishima hatte es nie wirklich ausprobiert – oder er bemerkte auf andere Art, dass sich etwas verändert hatte, in jedem Fall zuckte sein Blick von Oikawas Gesicht weg, das er zuvor mit einer Mischung von oberflächlicher Genervtheit und einer tiefen Zuneigung, wie sie nur Jahre der Bekanntschaft und gemeinsamen Zeit schaffen konnte, angesehen hatte. Nur eine Sekunde traf er den Blick des Middleblockers, der die Selbstzufriedenheit nicht ganz unterdrücken konnte, dann sah er bereits auf die weißen Bänder hinab, die jetzt verknotet zwischen ihm und Oikawa hingen. Seine Augen weiteten sich und Tsukishima konnte sehen, wie sein Griff um den Setter neben sich ein wenig enger wurde. Seine Mundwinkel zuckten zufrieden, auch wenn er ahnen konnte, dass Iwaizumi gleich ziemlich sauer sein würde.

„Was hast du getan?!“, fragte er erwartet aufgebracht.

Tsukishima zuckte die Schultern. „Nichts, was nicht allen Anwesenden zugutekommen würde.“ Und sie wussten beide, dass sie nicht vor den beiden anderen Spielern darüber streiten würden. Stattdessen bohrten sich für einen Moment in einem stummen Kampf ihre Blicke ineinander.

„Iwa-chan?“, fragte Oikawa von der Seite verwirrt, hängte sich in einer Umarmung an dessen Arm, und auch Kageyama beobachtete das Verhalten der beiden genau. Tsukishima hatte keine Beziehung zu Iwaizumi außerhalb von Volleyball und entsprechend ominös war ihr Verhalten wohl für Außenstehende.

„Ich muss mich kurz mit Tsukishima-kun unterhalten“, zischte letzterer beinahe, als er seinen Freund – bald hoffentlich Seelengefährten – losließ. Dass er ihn die ganze Zeit festgehalten hatte, trug im Übrigen nicht unbedingt zur Überzeugungskraft seiner abweisenden Haltung bei. Die Art, wie er das Suffix betonte hingegen hatte beinahe etwas Bedrohliches. Als würde er sich an etwas erinnern, wandte er sich dann noch einmal zurück zu seinem Setter und seine Haltung veränderte sich in der kurzen Bewegung deutlich, wenn man darauf achtete. Sie wurde weicher, was bei der Menge an Muskelmasse doch irgendwie eine beeindruckende Entwicklung war. „Kann ich dir noch etwas zu Essen mitbringen?“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu; „Ich bezweifle, dass ich hier irgendwo Milchbrot finde, aber wie wäre es stattdessen mit Melonpan? Oder Mitrashi Dango?“

Kurz erinnerte sich Tsukishima an dieses seltsame Interview in Volleyball Monthly und daran, dass Iwaizumi offenbar wusste, was Oikawas Lieblingsessen war, und fragte sich, was wohl Kageyama am liebsten aß, dann traf er den Blick seines Teamkameraden, der ihn aufmerksam zu beobachten schien. Es war nicht die gewohnte Abneigung in seinem Blick, mit der sie sich für gewöhnlich begegneten, und irgendwie versetzte ihn das in Unruhe.

„Du willst mich schon wieder mit Tobio allein lassen?“, beschwerte sich Oikawa zu laut. „Du bist so eine schlechte Begleitung. Kein Wunder, dass du kein Date für so ein Festival findest und ich dich aus Mitleid begleiten muss, damit du nicht allein gehen musst!“

Selbst ohne sich zu ihm umzudrehen, konnte Tsukishima die Ader an Iwaizumis Schläfe pochen sehen. Das kurze Zusammenzucken bei seinen Worten hingegen, konnte der blonde Middleblocker allerdings nur vermuten. „Du wolltest doch unbedingt herkommen, Mr. Vielleicht-ist-eine-der-Sternschnuppen-ja-ein-UFO-aus-einer-anderen-Galaxy-und-die-Aliens-an-Bord-wollen-heute-Nacht-zu-uns-Kontakt-aufnehmen!“

„Das ist durchaus eine Möglichkeit!“ Irgendwo in seinem Unterbewusstsein speicherte Tsukishima die Information ab, dass Oikawa offenbar an Alien-Kram glaubte, aber es schien im Moment nicht wichtig. Er hatte keinen Grund ihn aufzuziehen, wenn das alles so klappte, wie er es sich vorstellte.

„Willst du etwas Süßes oder nicht?!“ Iwaizumi war patzig und schien bereit auch ohne eine Antwort zu gehen, wenn es nötig war.

„Eine Schokobanane“, forderte Oikawa dann und für einen Moment musste Tsukishima ein prustendes Lachen niederringen. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er gesagt, dass der braunhaarige Setter gerade flirtete, auf diese verdrehte Art, auf die manche Menschen eben flirteten. Iwaizumi schien es auch zu bemerken, denn seine Augenbraue hob sich deutlich, bevor er den Kopf schüttelte und zustimmte.

„Was auch immer.“

Tsukishima folgte dem älteren Schüler ohne zu murren in Richtung der Stände zurück, doch er beobachtete dabei nachdenklich seinen Knoten in den weißen Bändern, der sich wütend spannte, aber nicht nachgab. Sie schwiegen ein ganzes Stück einfach, bis sie einen Süßigkeitenstand ein Stück entfernt entdeckten und ihren Weg dorthin wandten. Ihr Gespräch ging in der Masse von Menschen unter, die sich immer noch hier aufhielten, auch wenn viele schon einen Platz für das Betrachten der Sternschnuppen gefunden hatten. Es sollte bald losgehen, also waren die vier Volleyballspieler ziemlich spät dran.

„Ich kann es mit etwas mehr Zeit gerne auch ordentlich verbinden… weben, meine ich. Ich weiß ja jetzt wie.“ Es war keine Frage um Erlaubnis, es war eine Feststellung, ein Mitteilen seiner Absichten.

„Ich werde den Knoten rausschneiden und alles wieder in Ordnung bringen, so wie es sich gehört.“ Die Worte waren steif, aber entschlossen. Das Gefühl dahinter war aber eindeutig Pflichtbewusstsein und keine wirkliche Leidenschaft. Tsukishima war versucht mit den Zähnen zu knirschen.

„Also hast du vor zu leugnen, wie du ihn anschaust?“ Es war kein wirkliches Mitleid, das ihn dazu bewegte, das zu sagen. Es war einfach eine Feststellung. Er hatte es probiert und sie hatten beide gesehen, wie das geendet hatte. Und dann besann er sich auf eine logische Argumentierung. „Du hast gesagt, wenn sie einmal durchtrennt sind, dann sind die Gefühle tot. Das heißt, im Moment ist weder Kageyama Oikawas perfekter Partner, noch Oikawa Kageyamas.“ Wie genau das jemals hätte passen sollen, konnte er ohnehin nicht sehen. „Welchen Schaden hat es jetzt noch?“

„Die Bänder sind kein Spielzeug! Wir können sie nicht einfach durchschneiden und nach Belieben wieder verknoten!“ Es war eine zu generelle Aussage, um ein wirkliches Argument zu sein und das wussten sie wohl beide.

„Ob du es glaubst oder nicht, das habe ich auch verstanden, aber darum geht es jetzt nicht mehr. Habe ich recht oder habe ich Unrecht, wenn es um ihre Gefühle geht?“

Iwaizumi ließ den Blick über das Angebot der in Schokolade getauchten Bananen gleiten, die mit bunten Zuckersteinen in allen möglichen Formen und Farben dekoriert waren und deutete auf eine von ihnen, die mit hellblauem Zuckerguss und passend zum heutigen Tag mit kleinen Sternen verziert war.

„Es ist keine Wissenschaft“, sagte er dann langsam. „Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Gefühle damit verschwinden.“

„Und es gibt keinen Beweis dafür, dass sie es nicht tun.“ Tsukishima schnalzte trocken mit der Zunge. Wann sollten Gefühle denn jemals logisch zu erfassen gewesen sein? Es waren Gefühle. Klar, jedes von ihnen wurde durch bestimmte Hormone ausgelöst, aber das hieß noch lange nicht, dass man sie verstehen oder gar kontrollieren konnte.

„Im Gegenzug willst du, dass ich dein Band mit Kageyamas verknote?“, vermutete Iwaizumi und wechselte das Thema. Natürlich war das in gewisser Weise Tsukishimas Hoffnung, aber er hatte seine Lektion über selbstsüchtiges Verhalten tatsächlich gelernt.

„Wenn es zwischen euch nicht funktioniert, selbst wenn ich das Band neugewebt habe, dann können wir sie immer noch wieder zusammenbringen.“ Es war nicht leicht, das zu sagen, aber er meinte die Worte so wie er sie sagte. Er war bereit, Kageyamas Band offen zu lassen, selbst wenn er nicht genau wusste, wie lange es dauern würde.

Iwaizumi musterte ihn skeptisch. Vielleicht suchte er nach einer Spur Unehrlichkeit, aber letztlich kannte Tsukishima keinen anderen Weber als ihn, also konnte er auch nicht einfach jemand anderen das Band knüpfen lassen.

„Und wenn du es wirklich nicht willst, hast du die Schere.“ Immerhin hatte er diese ja Tsukishima abgenommen und selbst eingesteckt. „Du kannst sie behalten, aber… ich habe einige Bänder einfach so verknotet.“ Er deutete grob in Richtung von dem Knoten, der sich gefährlich zwischen den beiden Seijoh-Spielern spannte. „Es wäre gut, wenn ich sie benutzen könnte, um es richtig zu machen. Die einzelnen Fäden zu verbinden, ohne eine Narbe.“ Tsukishima fühlte sich seltsam erwachsen, als er das so sagte, und auch Iwaizumi schien seine Absichten anzuerkennen, denn er nickte.

„Verbring heute Zeit mit Kageyama“, meinte er dann. „Nur weil es die Bänder gibt, heißt das nicht, dass du ihn nicht auch ohne eines, für dich gewinnen kannst.“ Es war ein wohlwollender Vorschlag, auch wenn Tsukishima das Gesicht verzog. Er war nicht unbedingt dafür bekannt, dass er so liebenswert war.
 

Sie erreichten Oikawa und Kageyama in einer ähnlichen Position wie sie sie zurückgelassen hatten, schweigend dieses Mal, aber zumindest nicht im Streit.

Iwaizumi gab wortlos die Banane an Oikawa weiter, der sehr zufrieden strahlte und sich bei seinem Starspieler unterhakte, bevor er verkündete: „Auf zu den Sternen!“ und ihn davonzog. Tsukishima war sehr froh, dass er nicht sehen musste, wie der Setter versuchte, erotisch eine schokolierte Banane zu essen. Allerdings war er im Gegenzug dazu jetzt allein mit Kageyama…

„Ich wusste nicht, dass du Iwaizumi-san kennst“, stellte dieser skeptisch fest, nachdem er zuvor fast ausschließlich geschwiegen hatte.

‚Ich wusste nicht, dass es dich etwas angeht, mit wem ich Zeit verbringe.‘ Die Antwort lag bereits auf Tsukishimas Lippen als eingeübte Abwehrhaltung gegenüber ungewollten Gefühlen, doch er schluckte sie herunter. „Nicht besonders gut.“ Er überlegte, ob er eine Erklärung hinzufügen musste, ließ es dann aber sein. „Möchtest du noch etwas essen oder sollen wir uns einen Ort suchen, von dem aus wir etwas sehen können?“

Kageyama schien einen Moment nicht mit der Antwort umzugehen zu wissen, dann blickte er zum Himmel, wo keine einzige Wolke das Funkeln der Sterne verhinderte. „Die guten Plätze sind wahrscheinlich schon lange besetzt.“

„Mir macht es nichts aus, wenn wir ein Stück weiter laufen müssen.“ Da wären wenigstens weniger Leute. Wenn er nicht hier gewesen wäre, um die Bänder zurück ins Gleichgewicht zu bringen, hätte er sich den Meteoritenschauer deutlich lieber allein von seinem eigenen Fenster aus angesehen.

„Was ist mit den anderen?“

„Ich denke, Yamaguchi und Yachi sind gerne ungestört. Er hat einen Schlüssel für die Wohnung. Und Hinata… Unkraut vergeht nicht.“ Da er nicht wiederaufgetaucht war, hatte er sich entweder an das Pärchen gehängt, mit dem sie hier waren – was Tsukishima ehrlich leidtäte – oder aber er hatte wieder auf irgendeine bescheuerte Art und Weise Menschen kennengelernt. Er schien dafür ein Talent zu besitzen.

Kageyama nickte leicht und so wandten sie sich schweigend in Richtung Anhöhe, wandten sich dort jedoch nach links, von dem Schreingelände weg. Es herrschte eine irgendwie peinliche Stille, die beide nicht richtig zu füllen wussten. Was hatten sie auch gemeinsam außer ihren Sportclub in der Schule? Und über Volleyball konnten sie jetzt wohl kaum sprechen, mal von ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven auf diesen Sport abgesehen. Also schwieg Tsukishima und Kageyama tat dasselbe.

Sie liefen durch einige Bäume, bis von dem Lärm des Festes kaum mehr etwas zu hören war.

„Danke für die Einladung“, brach Kageyama dann plötzlich die Stille, ungeschickt, aber ganz sicher nicht unerwünscht.

Tsukishima gab sich große Mühe, das Gespräch nicht sofort wieder im Keim zu ersticken wie er es sonst so oft tat. „Es erschien mir eine gute Gelegenheit.“ Er musste ja nicht unbedingt sagen, wofür. „Es sollen dieses Jahr besonders viele zu sehen sein.“

„Wir haben Glück mit dem Wetter. Der Himmel ist ganz klar.“

Natürlich hatte das Gespräch absolut keine Tiefe, aber es war überraschend angenehm mit Kageyama sprechen zu können ohne zu streiten.

Wie aufs Stichwort brach die Blätterdecke über ihnen auf und sie traten auf eine Lichtung auf dem höchsten Punkt einer Anhöhe, wohin tatsächlich niemand außer ihnen den Weg gefunden hatte. Vor ihnen erhob sich ein hüfthoher Zaun und die beiden Jungen warfen sich einen kurzen Blick zu. Wahrscheinlich war dahinter Privatgelände, vielleicht von dem nahegelegenen Tempel, doch der Anblick, der sich ihnen bereits von hier aus bot, war zu gut und ohne ein Wort miteinanderzusprechen, kletterten sie über ihn hinüber.

Ein leises Lachen entkam Tsukishimas Mund und Kageyama blickte ihn überrascht an.

„Wir sollten uns schämen, auf Privatgelände einzudringen“, erklärte er sichtlich amüsiert, während sie den Weg zur Klippe hinübergingen.

„Vielleicht soll er auch einfach Menschen davon abhalten in die Tiefe zu stürzen“, schlug Kageyama vor, als sie an den Abhang herantraten. Tatsächlich gab es hier keinen weiteren Zaun, aber um hier abzustürzen musste man sich auch schon ziemliche Mühe geben. Der Anblick, der sich jetzt vor ihnen auftat, war die Gefahr in jedem Fall wert. Direkt vor ihnen ein Meer aus Lichtern wie Metropolstädte es so an sich hatten, doch dahinter Berge, in Dunkelheit gehüllt und doch deutlich sichtbar reichten sie bis zum Horizont, wo der Himmel der sternenklaren Nacht in seinem dunklen Blau begann.

Die beiden Jungen standen für einen Moment einfach nebeneinander und blickten ehrfürchtig auf die Silhouette der Stadt hinab.

Dann fuhr die erste Sternschnuppe über das Himmelszelt und einer folgten zwei weitere und diesen zweien folgten Dutzend um Dutzend.

Tsukishima blieb die Stimme im Hals stecken und dann spürte er eine warme Hand an seiner wie immer viel zu kalten, nur ein kurzes Streifen, bis es plötzlich mehr war und er seine Finger zwischen Kageyamas gleiten spürte. Seltsamerweise blieb sein Herz ganz ruhig, obwohl es doch sonst immer wie wahnsinnig schlug, sobald der Dunkelhaarige anwesend war.

Langsam wandte er den Blick von den Sternen ab, die von Himmel stürzten als gäbe es kein Morgen mehr, und ließ die Augen über Kageyamas Gesicht streifen. Die helle Haut schien im Sternenlicht zu glänzen wie Porzellan, das dunkle Haar spiegelte das Mondlicht schöner als ein Spiegel es je tun könnte und die Dunkelheit warf Schatten auf weiche Züge, wo sie sonst nicht waren. Das, was Tsukishimas Blick jedoch an sich fesselte, waren Kageyamas Augen, dunkel und tief und so blau wie der Nachthimmel spiegelten sie, was sie vor sich sahen, und jeder fallende Meteorit war ein Funkeln in ihrem bodenlosen Glanz.

Mit der Zunge versuchte der blonde Middleblocker seine Lippen zu befeuchten, doch es blieb vergeblich und er war sich durchaus bewusst, dass seine kalte Hand ihren Griff ein wenig fester um Kageyamas geschickte Finger schloss, als dieser langsam den Kopf drehte und seinen Blick erwiderte.

Ein Blick sagt mehr als tausend Worte, sagt man, und in einem ehrlichen Blick verblassen all die falschen Worte, die der Stolz hervorgebracht hat.

Liebe folgt keinen Regeln. Sie macht keinen Sinn und sie lässt sich weder erzwingen noch unterdrücken und vielleicht hatte es einen Grund, dass Yue Lao gerade im Mondlicht seine Bänder flocht, denn unter der Sonne war es allzu leicht sich von Lügen und Schauspiel täuschen zu lassen.

Tsukishimas Augen senkten sich auf weiche Lippen und dann schlossen sie sich flatternd, als beide Jungen wortlos den Abstand überwanden zu einem kurzen unschuldigen Kuss. Nur einen kurzen Moment berührten sich ihre Lippen, dann trennten sie sich wieder, standen da, dicht beieinander und sahen den Sternen beim Fallen zu, jeder von ihnen ein Wunsch nach etwas, was sie selbst vielleicht nicht einmal wussten.

Sie würden darüber sprechen müssen.

Sie würden darüber sprechen müssen, was zwischen ihnen war und was zuvor zwischen ihnen geschehen war. Sie würden über Gefühle sprechen müssen und über Streitereien. Sie würden nicht über Nacht andere Menschen werden, denn alte Gewohnheiten starben langsam, aber jetzt in diesem Moment, in den letzten Minuten, in denen die Kometenbruchstücke in der Atmosphäre verglühten und der Mond sein ewiges Licht zur Ende sandte, war es genug, dass sie dort standen, gemeinsam. Auch ohne ein rotes Band des Schicksals ewig verbunden in diesem einen Moment.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Jeon_Jungkook
2019-03-04T17:35:14+00:00 04.03.2019 18:35
Sooooo
Endlich komme ich dazu dir den wohlverdienten Kommentar zu hinterlassen!

Ich habe mich sehr über die ff gefreut und musste mehr als nur einmal beim Lesen der Geschichte schmunzeln! Tsukishima ist einfach herrlich und es hat richtig Spaß gemacht die Dinge alle aus seiner Sicht lesen zu können. Allein das hat der Geschichte schon einen gewissen Charme verliehen! 
Die Charaktere waren meines Erachtens auch alle schön IC und ich hatte am Anfang schon irgendwie die herrliche Kagetsukki Vibe gespürt und wurde dann ja nicht enttäuscht! Auch wenn ich zwischenzeitlich ab und an für Oikage angefeuert habe ='D
Meistens habe ich sehr mit Tsukki gelitten bis er dann diese Dummheit angestellt hat! Da wollte ich ihn nur noch in die Ecke pfeffern! ûu Aber zum Glück hatte es ja noch ein gutes Ende! War ja schon echt übel, dass dieser kleine Egoist so das Leben von so vielen Menschen ruiniert hat! 
Yachi und Yamaguchi waren übrigens mega goldig! Richtig zuckersüß un niedlich!
Dass Iwaizumi dann eine ähnliche Gabe wie Tsukishima hatte, war etwas überraschend. Aber es war eine sehr nette Wendung! =3 Immerhin konnte so Oikawa mit Iwaizumi verbunden werden und das hat ja auch gut funktioniert ;3 
Das Ende kam dam beim Lesen irgendwie fast etwas überraschend und ein wenig abrupt. Vielleicht weil ich es nicht enden lassen wollte? QwQ Zu tolle ff eben. Auch wenn ich mich etwas gewundert habe, dass die Beiden dann so schnell sich näher gekommen sind XD Aber Teenager eben... 
Ich mochte die ff wirklich sehr gerne und hatte viel Spaß beim Lesen!  ♥
 
Vielen Dank =D
 
Sanada


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