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und dann war alles anders

von

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Dienstag, 4. September 2018 – Vormittags

„Ich kann es ganz ehrlich nicht fassen, dass du heute wieder in der Schule bist.“, raunte mir Grace zu, als Mr Byrd mehrere Stapel Blätter mit Aufgaben durch die Reihen gab. „Dein Vater ist vorgestern gestorben.“

Ich seufzte und schwenkte meinen Cappuccinobecher.

„Na ja, was sollen wir machen?“, fragte ich schließlich und nahm einen Schluck.

„Und wie geht es weiter? Bleibt ihr in der Villa? Müsst ihr ins Wohnheim?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ach, Quatsch, dafür ist Vater zu vermögend. Also gewesen…“

Grace seufzte missmutig und nahm den ersten Stapel Blätter entgegen. Sie nahm sich eines und gab ihn an mich weiter, ehe der nächste Schwung kam. Ich gab ihn dann an Marco.

Irgendwann hatte jeder von uns sechs Blätter und ich verzweifelte beim Anblick der ersten Aufgabe.

Rauch stieg mir aus den Ohren und ich kratze mich am Hinterkopf.

„Man, wie soll ich nur diese Prüfungen schaffen?“

Grace warf mir einen entschuldigenden Blick zu und machte sich über ihre Aufgaben.

Ich stieß die Luft aus und sah mich um. Jeder war bereits vollauf vertieft.

Auch Marco auf meiner anderen Seite stellte ein Integral nach dem anderen auf und zeichnete irgendwelche Dinge in ein dreidimensionales Koordinaten-System…

Was zum Geier taten die da?

Hilflos sah ich wieder zu Grace.

„Du Verräterin nimmst Nachhilfe!“, warf ich ihr an den Kopf und sie lächelte ertappt.

„Wollte er nicht uns beiden Nachhilfe geben?“

Grace zuckte die Schultern.

„Bei dir kam immer was dazwischen… Du hast geschwänzt, dann hattest du den Unfall und warst krank…“, begann sie aufzuzählen und grinste. „Und außerdem willst du doch gar keine Nachhilfe nehmen, oder?“

Ich seufzte ergeben.

„Erwischt“, kicherte sie.

„Das heißt, dass Mr Byrd mich aufgegeben hat, ja?“, fragte ich. Normal wäre mir das wohl egal gewesen, aber so cool ich mich auch vor Grace gab, stellte ich mir doch die Frage: Was sollte nun mit uns werden?

Wir hatten immer von Vaters Geld gelebt. Sicher würden seine Millionen auch noch eine Zeit lang reichen, aber konnte ich mich ein Leben lang auf meinem Erbe ausruhen?

Erneut sah ich auf mein Blatt.

Was dort stand war doch alles nur Kauderwelsch…

Was sollte ich tun?

„Weiß einer von euch, was mit Dean ist?“, fragte da Mr Byrd in die Runde und ich sah auf. Wie die meisten in der Klasse sah ich automatisch zu seinem Platz am Fenster – vorbei an Marco, der ungerührt weiter die Aufgaben löste.

„Keiner? Hm…“, unser Lehrer ging weiter seine Liste durch und ich beobachtete kurz meinen Bruder, doch der verzog keine Miene, überflog noch einmal Vorder- und Rückseite des ersten Blattes und machte sich dann über das Zweite her.

Warum waren hier alle so klug und ich so dumm?

Ich seufzte und sah wieder zu Grace. Ich wusste nicht, ob sie es richtig machte, aber ich beugte mich zu ihr rüber und sah ihr über die Schulter.

„Hey, kannst du mir das erklären?“, fragte ich, aber sie lächelte nur entschuldigend: „Sorry… Wirklich verstanden habe ich es ehrlich gesagt auch nicht. Ich mach einfach irgendwie und nachher rechnet Mr Byrd das eh noch einmal mit mir durch.“

Ich seufzte.

Es störte mich wirklich, dass unser Lehrer ihr half und mich dabei vergessen hatte.

Warum?

Nur weil ich reich war und er vielleicht der Meinung war, dass ich deshalb diese Bildung nicht brauchte?

Es war zum verrückt werden.

Ich stieß die Luft aus und sah auf mein Blatt hinab.

Was bedeutete bitte dieses Zeichen?

Und wofür standen diese ganzen Variablen?

Ich stellte beide Ellenbogen auf den Tisch und strich mir die Haare zurück.

Hilfe…

Hilfe!

HILFE!

Etwas stupste mich unter dem Tisch an und ich sah verwirrt zwischen meine Knie.

Nichts.

Komisch.

Ein weiteres Stupsen, als ich wieder auf mein Blatt sehen wollte und ich erkannte, dass es das Knie meines Bruders war. Er stieß seitlich gegen meines.

Verwirrt sah ich auf.

Da hing er – amüsiert grinsend über seine Hälfte vom Tisch gelehnt, den Kopf lässig auf einer Hand aufgestützt und spielte mit seinem Stift.

„Alles klar, Sera? Läuft ‘s gut?“, seine Lippen kräuselten sich spöttisch und ich rollte mit den Augen.

„Du änderst dich wohl doch nie, oder?“, knurrte ich ihn an und pustete mir beleidigt eine Strähne aus dem Gesicht, was ihn zum Lachen brachte.

Er richtete sich auf und zog meinen Stuhl – mit mir darauf – zu sich heran, was ihn nicht nur von mir einen überraschten Blick einbrachte.

„Lass uns das zusammen lösen.“, schlug er vor und legte einen Arm hinter mir auf meine Lehne.

„Ok?“, bestätigte ich und zog mein noch leeres Blatt näher.

Als ich ein Kichern hörte schielte ich rüber zu meiner Freundin, doch die sperrte gerade ihre Telefon versteckt hinter der Federtasche.

„Alles klar?“, fragte mein Bruder leise dicht an mein Ohr und ich nickte.

„Müde, obwohl ich eigentlich ganz gut schlafen konnte… dank dir.“, gestand ich und er lächelte.

„Geht mir genauso.“, versicherte er mir und nahm seine Wasserflasche, schraubte sie mit einer Hand auf und nahm einen Schluck.

Dann versuchte er mir die hohe Kunst des Integrals nahe zu bringen…

Wie ich Mathematik doch hasste…

Das produktivste in dieser Stunde war wohl, dass ich den dicken Bleistiftstrich zwischen Marco und mir wegradierte – dass das noch kein anderer Schüler gemacht hatte, der hier saß, wunderte mich allerdings.

Als Grace zum gefühlt einhundertsten Mal kicherte und eindeutig rote Ohren bekam, während sie eine Nachricht in ihr Telefon tippte, sahen mein Bruder und ich uns an.

„Was hat die für ein Problem?“, raunte er mir zu und ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, aber ich glaube sie hat einen neuen Freund. Zumindest hat sie mir und Nahele am Wochenende abgesagt, weil sie eine Verabredung hatte.“

Marco nickte verstehend und beobachtete Grace noch einen Moment, dann sah er zu Mr Byrd.

„Die sollte aufpassen, das entgeht ihm sicher nicht, dass sie hier am Handy sitzt anstatt die Aufgaben zu lösen.“

Ich nickte nur und mein Blick fiel an ihm vorbei auf den leeren Platz von Dean.

Nach allem was mit ihm war, sollte er mir nun eigentlich egal sein – doch, verdammt, ich hatte ihn einmal geliebt…

Glaubte ich zumindest.

Auf jeden Fall hatte ich mal sehr viel für ihn empfunden.

Ein Daumen strich mir über den Oberarm.

„Hey, hörst du mir zu?“

Verwirrt sah ich auf meinen Bruder hinab, der sich halb um mich geschlungen über unseren Tisch gelehnt hatte und herzhaft gähnte. Ich lächelte.

„Soll ich dir ein Kissen organisieren?“

„Bitte“, er grinste frech. „Also, weiter…“

Er sah wieder auf unsere Aufgaben hinab, und mühte sich damit ab mich durch die Aufgaben zu lotsen.

Doch schon bald klingelte es zum Stundenende.

Mr Byrd sah von seinem Schreibtisch auf und in die Runde: „Wer seine Arbeitsblätter heute noch nicht fertig hat, der beendet sie zuhause. In der kommenden Stunde werde ich einzelne Schüler nach vorn bitten, damit sie sie an der Tafel für alle auf Note erklären.“

„Na wunderbar.“, jammerte ich und ließ die Unterlagen innerlich weinend in meiner Tasche verschwinden.

„Na komm, das machen wir einfach nachher zusammen Zuhause und dann kannst du das bis Morgen.“, versprach Marco, stand aber ebenso lustlos auf wie ich. „Auf zur nächsten Stunde.“, grummelnd griff er sich unsere Bücher – ehe ich mein eigenes vom Tisch auflesen konnte.

Komisch.

Was hatte das zu bedeuten?

Ich konnte meine Sachen doch sonst auch immer alleine tragen – auch wenn unsere Spinde beinahe nebeneinander lagen…

Hatte er vor mich jetzt den Rest des Tages zu begleiten?

Oder… Vielleicht wollte er auch nur den neuen Frieden nutzen, um mehr Zeit mit Lavinia zu verbringen und damit es nicht gleich wieder eskalierte schleimte er sich bei mir ein?

Was auch immer die Lösung des Rätsels war: Innerlich musste ich grinsen.

So brav hatte ich ihn tatsächlich noch nie erlebt.

Ich hing mir meine Tasche über die Schulter und wollte mich eben nach Grace umsehen, als noch einmal Mr Byrd die Stimme erhob.

„Grace, könnte ich dich noch einen Moment sprechen?“

„Oh, oh“, machte ich alarmiert und sah zu meiner Freundin, die mich entsetzt ansah. „Der hat bestimmt mitbekommen, dass du die ganze Zeit an deinem Handy warst!“, raunte ich ihr zu.

Sie nickte ertappt und sah mir nach, wie Marco mich hinaus schob.

Regelrecht unheilvoll schloss Mr Byrd die Tür hinter uns…

„Oh weia… bloß schnell weg hier!“, raunte ich Marco zu und wir folgten – ohnehin notgedrungen – dem Strom der vorbeirauschenden Schüler.

Es war irgendwie irritierend…

Marco an meiner Seite…

Wir erreichten unsere Schließfächer, wo bereits die anderen drei warteten. Unsere Bücher waren schnell getauscht mit denen für das nächste Fach und selbst danach war mein Bruder noch an unserer Seite – sehr zu Naheles Leidwesen.

Heimlich beobachtete ich meinen Freund, als Marco ihn und Elli kurz mit einem Nicken grüßte und dann Wangenküsschen mit einer positiv erstaunten Lavinia tauschte.

„Ihr beide zusammen und kein Streit? Wow!“, rief sie aus und lächelte zu Marco hinauf, der ihr einen Arm um die Schultern legte.

Was für ein Anblick.

Augenblicklich kam mir die Galle hoch.

Nicht weil ich es ihr nicht gönnte oder weil er ein Arschloch war, vor dem es sie zu beschützen galt.

Nein ich… war eifersüchtig!

„Wir dachten, dass wir mal was Neues ausprobieren. Wir beleidigen uns jetzt nur noch telepathisch.“, meinte Marco amüsiert und auch Elli stimmte in Vinis Lachen ein.

Und wie ich eifersüchtig war!

Endlich hatten wir uns versöhnt. Wir konnten uns unterhalten ohne ununterbrochen miteinander zu streiten. Mehr noch: Er hatte die gesamte Nacht neben mir geschlafen – oder eher mit mir im Arm.

Es war so schön gewesen. So echt und so richtig.

Und nun hielten sie mir vor Augen, dass er nicht mir gehörte.

Nicht mir gehören konnte, weil er mein Bruder war.

Ich musste ihn mit einer anderen teilen, die ihm viel mehr bieten konnte als ich.

Was für Gedanken! Es war absolut falsch auch nur ansatzweise in diese Richtung zu denken, doch in diesem Moment war unsere Situation furchtbar unbefriedigend für mich.

Ich wollte von ihm in den Arm genommen werden. Ich wollte, dass er sich nur mit mir unterhielt und wir noch mehr Zeit miteinander verbrachten.

Allein.

Unter einer Decke.

Eng aneinander gekuschelt und uns gegenseitig Trost und Wärme und Liebe spendend.

Endlich hatte ich jemanden gefunden mit dem ich eine Familie sein konnte und dann musste ich diesen jemand auch noch teilen.

Mein Blick wanderte zu Nahele, der sich gerade mehr als angewidert von den beiden abwandte und die Treppen zur nächsten Stunde einschlug.

„Wo ist eigentlich Grace?“, fragte er mich, als ich mich an seine Seite gesellte, um das Pärchen in unserem Rücken nicht mehr ertragen zu müssen.

Mein Marco…

„Wurde von Mr Byrd zurückgehalten. Hat im Unterricht die ganze Zeit mit ihrem Telefon gespielt.“, erklärte ich ihm und er schlug sich eine Hand an die Stirn.

„Die schafft es echt immer wieder sich in die Scheiße zu reiten.“

Ich nickte dazu und wir betraten das Klassenzimmer…

Grace kam etwas später dazu.

Mir fiel sofort auf, dass ihre Frisur etwas durcheinandergeraten war, aber ansonsten schien alles normal…



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