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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Gottes Plan

Es ist 13:45 Uhr. Es ist 14:00 Uhr. Es ist 14:05 Uhr. Tobi wartet mit mir auf meinen Tod. Beziehungsweise auf seinen, worauf ich weniger hoffe. Der Tod hat zwanzig Minuten Verspätung bisher. Das ist fast schlimmer als bei der deutschen Bahn.

Tobi hält meine Hand.

»Das solltest du lassen, deiner Freundin wird das nicht gefallen«, schüttele ich sie ab.

»Manu, es ist okay«, erklärt er. »Wir sind kein Paar. Ich habe dir doch gerade eben gesagt, was ich für dich empfinde.«

»Ach, das war kein Witz?«

»Manu, du bist echt klasse.« Tobi lacht und legt den ganzen Arm um mich.

Weil einer von uns gleich unter die Erde geraten wird, erlaube ich mir, mich anzulehnen. An seiner starken Jungenschulter. Die hoffentlich in den nächsten Jahren noch weiter in die Breite wächst. Zum x-ten Mal fange ich an zu flennen. Janiel wird bestimmt dafür sorgen, dass Tobi stirbt.

Ich werde damit leben müssen, Tobi umgebracht zu haben. Der Idiot an meiner Seite hingegen lacht nur. Wir sind wie manisch und depressiv. Wie war das nochmal mit Gegensätze ziehen sich an?

So warten und warten und warten wir.

Bald ist es 15 Uhr.

»Manu, würdest du mit mir ausgehen?«

Der Junge hat die Situation immer noch nicht kapiert.

Ich schweige ihn an. Bis 15:15 Uhr.

»Okay. Auf ein letztes Date.«
 

Hoch oben über den Wolken im sechsten Himmel ging eine Beschwerde von einem Angeloi ein. Eine stürmische Beschwerde, denn der Angeloi platzte ohne Vorwarnung oder Anklopfen schamlos in Camaels Arbeitszimmer herein. Zugegeben, er war nicht oft hier. Doch die letzten vierundzwanzig Stunden erforderten besondere Maßnahmen. Nachdem Azrael den Strahlenden Janiel wieder angeschleppt hatte, mussten sie sich bemühen, diesen auf irgendeine Art und Weise gewaltsam festzuhalten, damit er nicht nochmals ausbüchsen konnte. Darum hatte Camael neben Eiael noch drei weitere magische Engel anheuern müssen, was gar nicht so einfach gewesen war, bei diesem ständigen Personalmangel.

Die Personalabteilung könnte ruhig einmal ihre Vorschriften lockern, fand Camael. Der Angeloi, der ihn nun störte, war jener, der Azrael geholfen hatte, den werten Janiel einzufangen. Sofort wusste Camael, dass es mal wieder Ärger gab.

»Meister Camael, ich bitte Sie, die Akasha-Chronik im Fall von Manuela Liedtke umzuschreiben«, stellte der Angeloi seine Forderung.

Camael schüttelte den Kopf: »Es tut mir leid, aber dieser Fall ist abgeschlossen. Sie dürfte bereits gestorben sein.«

Gleichzeitig sahen sie auf die Uhr. »Seit einer viertel Stunde, um genau zu sein«, präzisierte Camael.

Enttäuscht ließ der Angeloi seine Schultern sinken. »Oh … «

Manuela Liedtke war tot. Offiziell.

Im nächsten Augenblick schneite ein wütender Todesengel in Camaels Büro hinein. »Eine Frechheit ist das! Wie konnten Sie Janiel entkommen lassen, haben Sie das mit Absicht getan, Camael?!«, brüllte Azrael durch den Raum. Kurz gafften sie beide den erzürnten Oberbefehlshaber der Todesabteilung an. Kurz. Dann wandte sich Camael seinem kugelförmigen Tablet zu, dass ihm letztens ein schwarzmagischer Engel installiert hatte. Durch diese Bildschirmkugel konnte er Janiels Gefangennahme überwachen. Wie bereits fünf Minuten zuvor saß Janiel gefesselt und umzingelt von Wachen in einer temporären Gefängniszelle im fünften Himmel. »Mein werter Azrael, Ihre Beschwerde ist unbegründet. Seht selbst«, bot der Karma-Engel ihm an.

Azrael rückte näher, zusammen mit dem Angeloi, der sich unhöflicherweise dazu quetschte. »Aber … dann … das kann nicht sein … «, stammelte der Engel im Sakko.

»Was, werter Azrael?«, fragte Camael.

Statt zu antworten, hob dieser sich entsetzt eine Hand vor den Mund und stiefelte hinaus, zum Wolkenrand. Dem Aussichtsplatz auf die Erde. Von Neugier getrieben, marschierten Camael und der Angeloi hinterher. Als sie hinabsahen, wurde ihnen klar, was den Todesengel so sehr schockierte, dass es ihm die Sprache verschlug.

Froh und munter lief das Menschenmädchen, das vor einer viertel Stunde gestorben war, in einer Innenstadt in Deutschland herum, als wäre nichts gewesen. Plötzlich flatterte ein kleines Vögelchen herein, setzte sich auf die Schulter des Todesengels und flüsterte ihm etwas zu.

»Ja … ja … In Ordnung … «, murmelte er, bevor er verkündete: »Das war die Rechnungsabteilung. Die Statistik ist wieder im Lot.«

Keiner der anwesenden Engel konnte sich dieses Phänomen erklären. »Camael … habt Ihr den Fall von Manuela Liedtke in der Akasha-Chronik nachgeschlagen?«
 

Wir gehen Eis essen. Ich mag Eis. Aber wer tut das nicht. Die Zeit verfliegt, wir leben immer noch. Dass Engel unzuverlässig sind, muss man mir nicht zweimal sagen. Nicht einmal. Wenn lauter Vollpfosten wie Janiel den Himmel an Gottes Seite regieren, dann wundern mich die Zustände auf der Erde überhaupt nicht mehr.

Tobi und ich haben uns viel zu erzählen. In der Eisdiele in der Innenstadt verrät er mir, dass er tatsächlich mal was mit Nadine hatte. Ich habe mir also immer begründet Gedanken gemacht. Er erzählt mir auch, dass ich nicht die volle Wahrheit über seine Therapie kenne. Bisher hatte er mir das einfach nicht erzählen können, es sei zu peinlich gewesen. Seine Eltern dachten, er wäre suizidgefährdet. Aus Versehen. Aha. Und ich dachte immer, er hätte nur eine Konzentrationsstörung.

Tobi kann es nicht fassen, dass mein Zimmer komplett knallrosa sein soll. Ich würde ihn ja einladen und eine Wette darauf abschließen, aber naja – dazu wird es einfach nicht mehr kommen. Genauso wenig kann er glauben, dass eines der Gerüchte um Nadine wahr sein soll. Ja, wir tratschen zu viel. Aber eigentlich – war das schon immer so. Und eigentlich – könnte das auch so bleiben.

Ich will wissen, wie lange Tobi schon von seinem Schutzengel weiß. Nicht lange. Er will dasselbe wissen.

»Circa sechs Wochen«, beichte ich. »Nadine wusste es auch kurz, dann wurde aber ihr … Gedächtnis gelöscht.« Mit keinem Wort erwähne ich, dass Jan mein Schutzengel ist. Ich meine zu wissen, dass das so eine Geheim-Sache war. Und ich will nicht, dass Janiel wegen mir Ärger bekommt. Insgeheim habe ich immer noch Angst.

Dass Janiel mir nicht verzeiht. Das Gesicht, das er bei unserem Abschied machte, werde ich niemals vergessen. Dabei wollte ich ihn nur beschützen. So, wie er es für mich getan hat. Wo ich gerade an Janiel denke, fange ich an, ihn auch noch zu sehen. Seltsam, wie das Gehirn einem Bilder vortäuschen kann. Das erste Mal in meinem Leben erlebe ich eine echte Fata Morgana!

Das Janiel-Abbild klopft von außen an die Fensterscheibe der Eisdiele, in dessen Innerem Tobi und ich sitzen. Seltsam ist nur, dass Tobi darauf reagiert. »Ist das Jan? Ich dachte, er wollte die Stadt verlassen!« Tobi hat das Gerücht also auch schon gehört. Mann, das geht an unserer Schule echt immer viel zu schnell! Da muss man wirklich aufpassen, was man so erzählt.

M.O.M.E.N.T.
 

Zurück am Schreibtisch der Bibliothek im sechsten Himmel lugten fünf Engel über Camaels Schultern, als dieser dort in einem Exemplar der Akasha-Chronik nach Hinweisen für das übernatürliche Überleben von Manuela suchte. Eine merkwürdige Sache fiel Camael bereits beim Aufschlagen des Buches auf: Es war handgeschrieben. Zugegeben, Camael hatte nicht sonderlich oft in der Akasha-Chronik nachschlagen müssen, dennoch wusste er, dass in der Regel alle Werke gedruckt worden waren. An manchen Stellen von Manuelas Buch des Lebens war sogar hineingekritzelt worden, wie auf einen karierten Notizblock. Der Meister des Karmas fragte sich, ob das einer seiner Kollegen oder gar Vorgänger vollbracht haben musste. Nach einigem Umschlagen der Seiten stieß Camael am Ende des ersten Fünftels auf das, wonach sie gesucht hatten.

»Todeszeitpunkt des Menschen, 1. Dezember 13:45 Uhr. Geburt des Engels, 1. Dezember 13:45 Uhr«, las er laut vor. Vor diesem Absatz standen durchgestrichen noch weitere Daten: »Todeszeitpunkt des Menschen: 10. Oktober 13:45 Uhr. Geburt des Engels: 10. Oktober 13:45 Uhr.«

Azrael fasste sich aus dem Staunen aller als Erster: »Sie ist ein Nephilim.«

»Ich wusste, sie ist etwas Besonderes, schon nachdem sie diesen Test gelöst hat!«, behauptete Asinel, der durch die Gerüchteküche angelockt worden war. »Ich hatte es im Gefühl!«

»Das mit dem Test ist eher auf einem anderen Mist gewachsen, nicht wahr, Janiel?«, feixte der Angeloi, Janiel süffisant angrinsend.

»Etwas Besonderes ist sie trotzdem«, gab auch Eiael seinen Senf dazu. »Unsere Möchtegern-Madeleine.«

»So, damit wäre der Fall für mich erledigt«, erklärte Azrael, rückte sich die Brille zurecht und zückte sein schwarzes Notizbuch, um den Fall »Manuela Liedtke« ein für alle Mal abzuhaken. Dann stapfte er hinaus.

»Was bedeutet das, Camael«, fasste nun auch Janiel sein Wundern in Worte.

»Nun ja … eigentlich keine gute Sache. Einer unserer Engel hat die Regeln gebrochen«, erläuterte der Meister des Karmas zögerlich. Er trug nämlich die Verantwortung dafür. »Unser Menschenmädchen ist nämlich ein halber Engel.«

»Fjchiuuu!«, pfiff Asinel. »Wer wohl der Vater sein mag?«

»Er lebt nicht mehr. Auch nicht als Engel«, informierte Eiael sie, der nebenbei an Camaels Kristallkugel herumspielte.

»Er muss seinen Schutzengelpass abgegeben haben und danach auf die Erde zurückgekehrt sein«, vermutete Camael. »Ein Skandal ist das! Eines der größten Verbrechen ist genau vor meiner Nase geschehen!«

»Aber, aber! Regt Euch nicht auf, werter Meister! So schlimm ist das nun auch wieder nicht«, versuchte Asinel diesen zu beruhigen.

»Genau. Fräulein Manuela eignet sich bestimmt ausgezeichnet für ein Engelsamt, findet Ihr nicht?«, zog Eiael in Erwägung, nicht ganz ohne Hintergedanken.

»Engel und Menschen sollen sich nicht paaren, wo kämen wir denn dahin!«, schweifte Camael weiter aus. »Gottes Plan wurde mit Füßen getreten!«

Diese Aussage erzürnte Janiel. Er stemmte die Hände gegen die hölzerne Tischplatte. »Meister Camael, habt Ihr je daran gedacht, wie unmoralisch Ihr Karma-Engel im Namen des Herrn handelt? Blind befolgt ihr die Regeln der Bücher und überhört die Stimmen der Menschen. Weil es in der Chronik niedergeschrieben ist, handelt Ihr wortgetreu. Seht euch Manuelas Chronik an! Wer auch immer hineingekritzelt hat – besaß mehr Liebe und Güte als Ihr je hattet!«, hielt er seinen Vortrag. Beeindruckt klatschten alle übrigen Engel Beifall, bis auf den Meister des Karmas, der sich momentan für seinen Meistertitel schämte.

»Der freie Wille des Menschen ist der Ursprung aller Geschehnisse«, fügte Eiael hinzu. »Vergiss das nicht, Johann. Und Ihr auch nicht, werter Meister« Dann verbeugte er sich und stapfte hinaus.

»Da bekommt man richtig Lust, zur Abwechslung mal echtes Glück zu verteilen, anstatt nur Origamikraniche. Eigentlich eine gute Idee!«, verabschiedete sich auch Asinel, ließ die zwei Übrigen alleine.

Reuevoll fasste sich der Karma-Engel an die Stirn. »Ich bin Camael, der Meister des Karmas. Natürlich.«

Janiel legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Die Akasha-Chronik schreibt sich von selbst, sie bündelt den Willen der Menschen. Gottes Plan zu ergänzen, das ist meine Aufgabe«, brabbelte Camael. Er hatte sich schon gewundert, warum er sich als scheinbar Einziger ständig gelangweilt hatte.
 

»Jan?!«, rufe ich extrem-extrem-extrem entgeistert aus, stehe mit einem Satz auf, so dass mein Stuhl halb umfällt. »Was machst du hier?!«

Oh mein Gott. Gleich wird Tobi … Er wird … »Hau sofort wieder ab!«, pflaume ich meinen Schutzengel an, der mittlerweile die Eisdiele betreten hat.

»Genau, wir haben ein Date«, stimmt Tobi mit ein.

Nicht mehr lange, wenn Janiel jetzt nicht sofort … Da geht er auf mich zu, packt mich am Handgelenk und küsst mich auf den Mund.

Schockstarre. Bei mir zumindest. Tobi erhebt sich genauso ruckartig wie ich zuvor (nur, dass sein Stuhl umfliegt), beschimpft Janiel mit einem nicht-jugendfreiem Wort und schubst ihn beiseite.

Obwohl Janiel durch Tobis Stoß nach hinten taumelt, wischt er sich mit einem Lächeln – einem echten Engelslächeln – sanft über den Mund. »Das war es wert.«

Immer noch total verblüfft stehe ich wie versteinert da und gucke mir an, wie Tobi auf Janiel eindrischt. So viel Gewaltpotenzial habe ich ihm gar nicht zugetraut. Und Janiel hätte ich nicht zugetraut, – falls er jetzt aus irgendeinem Grund auf mich stehen sollte – dass er inzestuöse Vorlieben hegt!

Nachdem Tobi sich wieder (etwas) beruhigt hat (und die nette Kellnerin uns gebeten hat, sich sittlicher zu verhalten), setzen wir uns alle drei an den Tisch zurück und bestellen Janiel einen Schoko-Eisbecher. »Du wirst nicht sterben, Manu«, kommt Janiel auf den Punkt.

»Ach nee. Solange du hier bist, sowieso nicht. Also kusch wieder!«, versuche ich mein Glück nochmal. Janiel schüttelt den Kopf: »Nein, Manu. Ich bin kein Schutzengel mehr.«

Tobi gafft ihn dumm an: »Du bist ihr Schutzengel?!«

»Nicht mehr«, korrigiert er ihn. »Manu, du bist ein Nephilim«

Ein Nephilim?

»Also so was wie eine Amphibie … ? Janiel, das mit dem Komplimente machen musst du noch üben. Und das mit dem Küssen auch!«, halte ich ihm seine Überrumpel-Aktion vor.

»Ein Nephilim ist ein Halb-Engel, Manu«, mischt sich Tobi ein.

»So ungern ich das zugebe: Er hat Recht«, bestätigt Janiel Tobis Aussage und nickt mir zu.

Ich bin ein … halber Engel?

»Ihr verwechselt da was, ich bin ein Pechvogel.« Oder war zumindest einer.

»Nein, Manu. Dass ich dir geschickt worden bin, war ein Irrtum. Du hast mich die ganze Zeit nicht gebraucht, um zu überleben. Ich war von Anfang an überflüssig. Kein Wunder, dass ich so schlecht darin war, dich zu beschützen«, belächelt Janiel die Sache. »Du warst schon immer autonom.«

»Und was ist mit Dr. Sommer … ?«, fällt mir nichts Besseres dazu ein, anstatt auf die Engelsgeschichte einzugehen.

»Mach dir keine Sorgen um ihn, er ist vor mir auf die Erde zurückgekehrt.« Puh. Tobi und ich sehen uns erleichtert an.

Wir werden nicht sterben. Wir werden nicht sterben! Sobald wir das verinnerlichen, fallen wir uns gegenseitig um den Hals. Wir werden leben!

»Eine Sache wäre da noch, Manu … ich werde nicht allzu lange bleiben können. Es kann sein, dass wir uns nie wieder sehen«, schneidet Janiel ein neues Thema an, als die Kellnerin ihm seinen Eisbecher hinstellt. »Ohne Schutzengelpass bin ich nicht dazu befugt, auf der Erde zu verweilen.« Er klingt ernst, darum lauschen wir ihm gespannt. »Manu, als Nephilim bist du in der Lage, zwischen den Sphären zu wandern. Möchtest du mit mir in den Himmel kommen?«



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