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Warum Pechvögel fliegen können.

Die Schutzengel-Trilogie 1
von

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Pechmanu und Glücksnadine

Wenn sich der Schmerz einmal eingenistet hat, dann bleibt er. Und dann macht er dich irgendwann kaputt. Die Frage ist nicht, ob du durchhältst. Die Frage ist, wie lange du durchhältst. So gesehen bin ich gerade dabei, mich vollkommen dem Schmerz zu überlassen und in den Abgrund zu stürzen. Ich heiße Manu. Manuela. M-A-N-U-E-L-A. Bin fünfzehn Jahre alt, wohne in einer einfachen Gegend, nicht weit entfernt von der Stadt, aber auch nicht in der Pampa. Es gibt eigentlich nicht so viel über mich zu erzählen. Außerdem interessiert es sowieso niemanden. Ich bin ein einfaches Mädchen mit einfachen Bedürfnissen. Hunger, Durst, Liebe. Punkt.

Schade, dass die Welt kein einfacher Ort ist. Für mich zumindest nicht. Ach ja, das Wichtigste habe ich glatt übersehen: Ich bin ein Pechvogel. Und wenn ich das sage, dann meine ich das auch so. Ich habe keine Pechsträhne, kein Scherbenglück, nein, ich bin ein Pechvogel. Bestes Beispiel ist: der jetzige Moment.

Mein Bus ist nämlich gerade an meinem Zimmerfenster vorbeigefahren, den kriege ich nicht mehr. Scheiße. Das ist der letzte, zumindest der letzte, der pünktlich zu Unterrichtsbeginn ankommt. Als mir das bewusst wird, beeile ich mich umso mehr, werfe mir x-beliebige Klamotten über, stopfe alle Bücher, die herumliegen, in meinen Rucksack und stürme zum Schuppen – um mein knallgrünes, gebrauchtes Mountainbike nach langer Zeit mal wieder zum Einsatz zu bringen. Mit diesem originellen Drahtesel, ausgestattet mit oberpeinlich grinsender Froschmaulklingel (weil ich es nie geschafft habe, das Ding abzuschrauben), kann ich mehr oder weniger rechtzeitig ankommen. Die Schule ist circa eine halbe Stunde zügige Radlerei von unserem Mehrfamilienhaus entfernt. Zur ersten Stunde schaffe ich es damit nicht mehr, aber zur zweiten. Das ist wichtiger.

Denn: Heute schreiben wir einen total wichtigen Mathetest, der ein Drittel der Zeugnisnote ausmacht, und nach der elendigen Büffelei habe ich echt keine Lust mehr, ihn nachzuschreiben. Also gucke ich, dass ich vom Fleck komme und trete in die Pedale, was das Zeug hält. Fahre durch den Wald als Abkürzung. Unter normalen Umständen radele ich recht gerne hier entlang, aber es ist ziemlich dunkel (scheiß Herbst), was mich, ehrlich gesagt, mehr als beunruhigt. Dem ist hinzuzufügen, dass ich über keinerlei Licht verfüge, da meine Fahrradlampe vor zwei Monaten kaputt gegangen ist und ich vergessen habe, sie reparieren zu lassen. Deswegen weiß ich auch nicht, ob ich überhaupt den richtigen Weg nehme (irgendwann kommt eine Gabelung). Aber das ist auch völlig egal, weil ich plötzlich mit dem Vorderreifen an einem fetten Stein abrutsche und es mich hochkant in die Atmosphäre schleudert. Einen Moment lang komme ich mir schwerelos vor, dann holt mich die Realität ein und ich pralle prompt auf dem harten Feldweg auf.

Von wegen schwerelos, ich fette Kuh sollte wohl lieber mal eine Diät machen! Die spitzen, weißen Steinchen bohren sich in meine Haut, wo sie nur können. Meine Hände brennen fürchterlich, sind ganz heiß und nass. Ach du heilige Scheiße, jetzt auch noch das. Dabei muss ich doch zur Schule! Ich bin auch so schon die vollkommene Mathe-Niete, ich kann es mir nicht leisten, zu spät zu kommen!

Vorsichtig rappele ich mich auf und inspiziere meine Wunden. Die fiesen, scharfen Dinger haben es nicht durch meine Kleidung geschafft, allerdings durch die Innenhaut meiner linken Handfläche. Manche finden es dort ganz gemütlich, so dass sich das vertriebene Blut über meinen ganzen Ärmel ergießt. Man könnte meinen, ich hätte gerade ein Reh erwürgt. Ich versuche, die Hand zu bewegen. Aua. Hätte ich nicht tun sollen. Aber Schreiben mit rechts müsste noch gehen. Vorsichtig tupfe ich das Blut mit Taschentüchern ab. Die kleinen Steinchen kriege ich so nicht raus. Aua, auu!

Nach der dürftigen, unärztlichen Behandlung schaue ich mich nach meiner sattgrünen Alu-Gurke um. Ist in der Wiese gelandet. Lenker sieht etwas schief aus. Die Froschmaulklingel lacht mich immer noch an.

Na prima. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Der Sattel ist nass. Würde gerne weiterfahren, kann aber nicht. Kann nicht freihändig fahren. Wie erbärmlich. Also schiebe ich mein Froschmaul-Bike bis zur Schule.
 

Bin pitschnass. Bin zu spät. Bekomme einen herzlichen Empfang. »Also Manuela, du siehst ja aus wie ein begossener Pudel!«, sagt mein Deutschlehrer Herr Trotz, der immer irgendeinen Spruch drauf hat, den dann alle toll finden.

»Sie sieht nicht so aus, sie ist einer«, sagt irgendeine Jungenstimme aus dem Schülerpulk. Gelächter. Ich zeige mein schönstes Grinsen, lasse es wieder verschwinden und begebe mich auf meinen Platz. Dass ich geblutet habe, bemerkt keiner.

Zum Glück ist der Mathetest erst in der zweiten Stunde. Die jetzt anfängt, es hat geklingelt. Tische auseinander, nicht schummeln, blablabla. Aber das ist ja gar nicht Herr Quarks, der uns da die Blätter austeilt! Eine fremde Person hat ihre Tasche auf dem Pult abgelegt und legt nun eifrig unsere unbeschriebenen Schulaufgaben aus. Die fremde Person ist groß, größer als ich, hat milchkaffeefarbene Haut, kurze schwarze Haare. Er schaut mich an, lässt dann seinen Blick über die Klasse schweifen. Ein schönes Profil.

»Guten Tag, mein Name ist Herr Sommer. Ich vertrete ab heute Herrn Quarks, der in den Mutterschaftsurlaub gegangen ist.«

Stimmt, na klar. Habe ich völlig verpennt. Quackie (Schülerspitzname) ist heute im Krankenhaus bei seiner Frau, die einen Mini-Quackie in sich trägt, der ab heute wohl planmäßig die Nase voll davon hat, in Frau Quackies Bauch zu wohnen (Kaiserschnitt und so). Jedenfalls strahlt mich Herr Sommer einen Moment lang an, bevor er was von Kopf faselt und sich der gesamten Klasse zuwendet. Dann drehen alle auf Kommando die Blätter um, und ich nehme das Geklacker von Taschenrechnern wahr. Klacker Klacker Klacker. Da macht es Klick! Waah, ich muss doch auch anfangen.

Okay, keine Panik Manu, du schaffst das.

Ich schaue mir die erste Seite an.

Ich glaube, die überspringe ich erst einmal.

Zweite Seite.

Wieder blättere ich um.

Lese die dritte Seite, will zur Vierten.

Es gibt keine Vierte. Drehe den Test nochmal um. Habe alles vergessen. Brühte mit Schweißperlen auf der Stirn über den Aufgaben. Vergebens.

»Noch eine viertel Stunde!«, ruft Herr Sommer.

Oh nein, ich habe ja nicht einmal meinen Namen drauf geschrieben! Und den Schulaufgabenkopf auch nicht. Schnell erledige ich das.

»Noch fünf Minuten! Langsam solltet ihr zum Ende kommen!«, sagt Herr Sommer munter. Noch einmal lese ich mir die erste Aufgabe durch. Da ist es wieder! Ich weiß die Lösung! Ich greife nach dem Stift …

»Bitte legt jetzt die Stifte weg.«

Oh Mann.
 

»Und wie lief es bei dir?«, hört man das Geschnatter auf dem Pausenhof, überall wo Leute aus meiner Klasse stehen.

»Ganz okay, viel leichter im Vergleich zur letzten.«

»Super! Ich habe schon vier Aufgaben richtig!«

»Ich denke gut, diesmal war es echt leicht.«

Sind die Antworten, mich fragt natürlich keiner. Okay, das ist übertrieben, mich haben zwei Menschen gefragt, aber das ist ein Nichts im Vergleich zu dem ganzen Gebrabbel hier. Überall wird über die Aufgaben diskutiert. Da tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um, keiner da. Spüre den Atem auf der anderen Seite.

»Oh, Hi!«, sage ich zu dem Schultertipper namens Tobi, der mich belustigt angrinst. Jaa, ich falle immer wieder drauf rein, na und? Jetzt muss ich zurückgrinsen, das ist bei ihm einfach ansteckend.

»Wie lief es bei dir? Ihr habt doch heute Matheschulaufgabe geschrieben, hat Nadine erzählt.«

Numero drei und die Stimmung ist abrupt im Keller. Okay, jetzt habe ich gleich drei Gründe, um schlecht drauf zu sein. Numero eins, ich habe es verhauen. Numero zwei, Tobi ist ein Mathe-Ass. Numero drei, er hat zuerst mit Nadine geredet.

»Och, ganz gut«, schwindle ich.

»Dann ist’s ja prima!«, strahlt Tobi mich an mit seinem einzigartigen Ich-strahle-heller-als-die-Sonne-Grinsen. »Immerhin hast du den letzten verhauen … «

Okay, Stimmung in der Kanalisation. Woher zum Teufel weiß er das?!

»Hey Manu!«

Nadine! War ja klar. Tobi wendet sich ihr zu, die beiden halten ein kleines Pläuschchen, Nadine lacht sich halb tot und er grinst sie noch breiter an als mich. Ich wäge ab, ob ich einfach verschwinden soll – um die beiden ungestört miteinander flirten zu lassen – oder im Auge behalten soll, um im Extremfall einzugreifen.

Zu spät, Extremfall eingetreten. Er hat den Arm um sie gelegt. Nadine schaut mich an, unsere Blicke treffen sich. Sie grinst. Aber es ist kein Ich-will-heller-strahlen-als-die-Sonne-Grinsen. Es ist eher eine Art Zähnefletschen. Eine unglaubliche Leere macht sich in mir breit. Ich haue ab, gehe mit raschen Schritten in die Aula, hole mein Zeug. Es klingelt. Gutes Timing, wenigstens etwas Gutes heute. Jetzt ist Französisch angesagt. Niemand mag es (um genauer zu sein, alle hassen es), aber ich mag es doch irgendwie. Es ist das einzige Fach, das mir direkt zugeflogen ist. Mal so im Vergleich:

Mathe – Niete

Englisch – Niete

Deutsch – So lala

Sport – Niete

Chemie – Niete

Und so weiter. Man sieht also: Mein Zeugnis sieht nicht gerade sehr gut aus. Gar nicht gut, um genau zu sein. Aber in Französisch, da habe ich immer meine gute Zwei. Und wenn ich mich anstrenge, dann kann ich sogar eine Eins schaffen, hat Frau Wolke mal erwähnt.

Nadine kommt zu spät, sie kann sich nicht von ihren Fans losreißen. Okay, das ist übertrieben, aber ich bin einfach nicht gut auf das Thema Nadine anzusprechen. Heute nicht und sonst nicht. Sie ist beliebt. Sehr beliebt. Bei Jungs und Mädels. Bei Tobi … Sie ist selbstbewusst und hat eine scharfe Zunge. Und Modegeschmack. Und Geld kackt sie anscheinend auch, so teuer sieht ihr neues Halstuch aus. Ich bemerke: Es ist leicht verrutscht. Nanu?

Da trifft mich der Schlag: Ein Knutschfleck. Ich versuche, meine Gedanken zu blockieren und an etwas anderes zu denken. Pense positive! Pense positive! Pense positive! [Übersetzung: Denk positiv!]

Knuhuhutschfleck!

Funktioniert nicht, meine Gedanken schreien mich selbst an. Es hilft mir auch nicht viel weiter, dass sie unglücklicherweise neben mir sitzt, wegen dem ach-so-pädagogischen-Sitz-Auslose-Verfahren.

»Manuelle, est-ce que vous avez un petit ami?«, fragt Frau Wolke mich aus heiterem Himmel. [Übersetzung: Manuela, hast du einen festen Freund?]

Alle drehen sich zu mir um, starren mich an. Nadine feixt schadenfroh. Sie weiß, dass ich keinen Freund habe. Dass ich noch nie einen hatte. Ich bin noch nicht einmal geküsst worden und verliebt war erst recht noch keiner in mich. Allerdings kann sich ja was geändert haben, nicht wahr?

»Oui, j’ai un petit ami«, antworte ich flüssig.

[Übersetzung: Ja, ich habe einen festen Freund]

Die Klasse hält den Atem an. Nadine steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

»Ach echt? Wie heißt er denn?«, fragt sie nach einer kurzen Atempause.

So weit hatte ich noch nicht gedacht. »Ähm … ja … er heißt … wie soll ich sagen … «, bringe ich stammelnd hervor. Was mache ich jetzt? Gott hilf mir!

»Du lügst doch nicht, oder?«, brüllt sie die Frage fast durch das Klassenzimmer, so dass es sogar die, die geschlafen haben, jetzt neugierig aufhorchen.

»Ne-ne-ne-nein! Natürlich nicht!«, stottere ich. Tja, das ist meine Macke. Wenn ich nervös werde, dann fange ich an zu stottern und sinnloses Zeug zu labern. Game Over.

»Ich denke, wir alle wollen ihn mal kennen lernen, so ist es doch, was?« Gemurmel, die Mehrheit brummt: »Ja!« In der Reihe vor uns kann ich ein paar Fetzen verstehen: » … nicht geglaubt … die, einen Freund …mit der … nee … er  … Vollschaden … die … so hässlich … «

Die Leere ist abgehauen, und der tiefe Schmerz in meinem Inneren dringt langsam an die Oberfläche. »Hört auf!«, schreie ich mit tränenerstickter Stimme. »Hört auf!« Ohne es bemerkt zu haben, bin ich aufgestanden. Ich weiß nicht was ich tue, da bin ich schon an der Klassenzimmertüre angelangt und renne, renne so weit es geht. Raus aus der Schule, weg von meinen Mitschülern, weg von Nadine.
 

Die Puste geht mir erst auf dem Feldweg aus, der zum nächsten Stadtteil führt. Es hat aufgehört zu regnen, Sonnenstrahlen brechen vereinzelt durch die Wolkendecke. Es stört mich nicht, dass das Gras nass und feucht und matschig ist, ich lege mich einfach hin. Kann nicht mehr. Da wird mir bewusst, was für eine Scheiße ich da angerichtet habe. Tränen bahnen sich den Weg über meine Wangen, und als ich sie wegwischen will, klebt Blut an meinen Fingern. Ich zucke vor Schmerz zusammen. Scheiße. Meine Handwunde ist wieder aufgerissen. Taschentücher habe ich natürlich keine dabei. Ich muss nicht büßen, ich muss bluten. Meine Schultasche liegt im Klassenzimmer. Samt Taschentüchern, Tampons und dem, was ein Mädchen eben sonst noch so braucht, wenn überall Blut rausspritzt.

Ich sollte zurückgehen. Sehe auf meine Armbanduhr. Vierte Stunde – gleich ist kleine Pause. Dann sind alle im Hof oder in der Aula. Und danach haben wir Sport. Schwänzen würde ich gern, aber kommt nicht in Frage, sonst bringt mich spätestens meine eigene Mutter um, sobald sie den entsprechenden Schulverweis im Briefkasten entdeckt. Ich werde die Scham ertragen müssen oder einfach behaupten, dass ich wirklich einen Freund habe, wer kann schon das Gegenteil beweisen?

Also gehe ich zurück. Kurz vor dem Klassenzimmer passiert es. Ich sehe Tobi. Er hört meine Schritte, dreht sich um. Was macht er noch hier? Er hat doch jetzt auch gleich Sport. »Hey Manu«, ruft er mir zu.

»Hey«, erwidere ich und bete zu Gott, dass er in der Pause nichts von meinem imaginären Freund gehört hat.

»Ich habe gehört, du hast einen Freund« Es klingt eher wie eine Feststellung als eine Frage.

»Ich habe gehört, du hast eine Freundin«, entgegne ich so locker wie möglich, etwas Besseres ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Innerlich zittere ich als würde ich einem Bär gegenüber stehen.

»Ok, ich gebe mich geschlagen.«

Fail. System fährt runter. Das ist mehr als nur ein Schock. Der Schmerz ergreift Besitz von mir. Er lässt mich nicht mehr los, verschlingt mich von innen heraus. Unendlicher Schmerz. Ich sage: »Ach so.« Und haue einfach ab. Gehe betäubt von Schmerz ins Klassenzimmer, hole meine Tasche.

Tobi hat eine Freundin.

Ich gehe auf das Mädchenklo.

Tobi hat eine Freundin.

Wasche meine Hände.

Tobi hat eine Freundin.

Weine leise. Kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wische Blut und Tränen weg.

Tobi hat eine Freundin.

Pilgere zur Turnhalle und bin die Letzte in der Umkleide.
 

»Jetzt aber husch!«, huscht mich unsere Sportlehrerin Frau Göttinger. Sie trägt heute ein Stirnband, das wohl unterstreichen soll, wie sportlich sie ist – ist sie nämlich nicht.

Meistens machen wir zum Aufwärmen bei ihr so eine Art Schwangerschaftsgymnastik, zumindest sehen die Übungen so aus, und danach lässt sie uns entweder eine Ballsportart ausüben oder ein paar Runden im Kreis laufen. Als ich jedoch heute die Halle betrete, trifft mich der Schlag. Ach du lieber Himmel, das hatte ich ganz vergessen: Heute haben wir zur Abwechslung mit den Jungs gemeinsam Sportunterricht (wollten unsere Lehrer schon länger mal machen).

Wir haben gerade das gleiche Thema, Volleyball, deshalb ist die Gelegenheit günstig. Also stehen da jetzt die Jungs rum und wollen mit uns Volleyball spielen. Super Idee, mit meiner kaputten Hand. Davon abgesehen tut es mir auch so echt Leid, sorry, ich hasse Sport. Sport ist Mord. Mord ist tot. Tot ist schlecht. Fazit: Sport = Schlecht. Das bedeutet, ich bin schlecht darin.

Aber da bin ich die Einzige, Nadine zum Beispiel ist total sportlich. Macht alle möglichen Sportarten, ihr Favorit ist Reiten, das war doch einmal eine Adelssportart, oder? Jedenfalls bin ich die Niete und werde mich mal wieder blamieren.

Schluck, da ist Tobi. Tobi, der eine Freundin hat. Vermutlich sogar eine echte, im Gegensatz zu mir. Im schlimmsten Fall ist es sogar Nadine. Für den Sportunterricht hat sie ihr sündhaft teures Seidenhalstuch sogar abgelegt … gut, die Göttinger hat sie bestimmt dazu gezwungen. Der zwei-Euro-Stück-große Bluterguss ist für mich aus zwanzig Metern Entfernung immer noch gut sichtbar, er springt mich förmlich an. Ich sehe nur diesen dämlichen Knutschfleck, der im schlimmsten Fall von Tobi ist. Von Tobi, der in der Pause einen Arm um sie gelegt hat, um dieses Biest.

Frau Göttinger labert irgendwas und zeigt erst auf mich, dann auf Tobi. Wir sind in einer Mannschaft. Auch das noch. Ich habe gar keine Zeit dazu, mich aufzuregen, oder wieder einmal festzustellen, dass Tobi eine Freundin hat, da fängt das Spiel bereits an.

Eine Weile geht es hin und her, mich nimmt der Ball vorerst nicht ins Visier. Wir machen einen Punkt (nicht, dass ich etwas dazu beigetragen hätte). Bei der gegnerischen Mannschaft wird Nadine eingewechselt. Aufschlag. In hohem Bogen fliegt der Ball auf mich zu, ich hebe die Arme, berühre ihn. Zack! Gegen das Netz. Punkt für die anderen.

»Dankeschön Manu! Gut, dass du nicht in meiner Mannschaft bist!«, freut sich Nadine. Die anderen im Team murmeln einstimmig. Eine aus meiner Parallelklasse, Lilly, zischt: »So dumm ist auch nur Manu, echt!«

Ich senke den Kopf, um meine Scham zu verbergen. Auch Tobi ärgert sich, das habe ich gesehen, aber er sagt nichts.

Wir spielen weiter und er holt fünf Punkte für uns. Aber dann macht er einen Fehler und Nadines Hände schlagen nach ... Schneller als ich »Ball« rufen kann, hat sie mir das Ding mitten ins Gesicht geschleudert. Mein Gesicht brennt, die verdammte gelb-blau-weiße Kunststoffkugel fällt zu Boden. Fassungslos betaste ich meine Wange, mein Auge, die Stirn, eben da, wo sie mich getroffen hat.

»Sorry. War keine Absicht«, sagt sie einfach so.

Frau Göttinger fragt mich, ob alles okay ist, weil ich einfach nur so da stehe.

Ich nicke. »Ich komme schon klar.«

Es geht weiter, Nadine zielt wieder auf mich, wirft den Mikasa-Ball aber nicht so heftig und schnell wie zuvor, trotzdem bekomme ich ihn nicht in die Finger. Und wenn doch, pitche ich ihn – abermals – gegen das Netz. Ich bin wütend auf mich selbst. Wieso bekomme ich das nicht auf die Reihe? Wieso tut meine Hand nur so weh?

»Mit Manu in der Mannschaft wird das nie was.«

»Tobi hat die Punkte umsonst geholt.«

»Hey, aber was erwartet ihr, sie war doch immer schon eine komplette Niete.«

Zustimmende Kommentare.

»Das kann echt nicht so weitergehen.« Das hat Tobi gesagt. Mein Herz wird zu Stein.

Dann hat Nadine so viele Punkte geholt, dass ich ausgewechselt werde. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Wenige Zeit später wird auch Tobi ausgewechselt (stand ja neben mir). Er lächelt, doch ich sehe, dass er es schlimm findet, dass wir so schlecht sind. Wegen mir. Er sagt nichts weiter, schweigt.

Das kann ich auch.

Am Ende der Sportstunde begeben wir uns zu den Umkleiden. Die Mädchen tuscheln. Lilly, Chantal und Nadine tuscheln nicht. »Mensch Manu, was war denn das für eine Aktion! Mit so was kann man niemanden beeindrucken!«

Vielleicht will ich das auch gar nicht.

»Also wirklich, so schlecht kann man doch gar nicht spielen. Nicht einmal getroffen, so was gibt’s doch nicht!«

Doch, anscheinend schon.

»Das ist echt asozial von dir, dass du unser Team so im Stich lässt. Wenn du kein Bock drauf hast, dann musst du was sagen, dann sorgen wir dafür, dass du nicht mitmachen musst.«

»Ich wäre echt lieber in Nadines Mannschaft gewesen! Hinterher wirkt sich das auch noch auf die Noten aus!«

Alle hören es, so laut, wie sie das durch die Kabine schreien. Mein Gesicht tut immer noch weh.
 

Völlig fertig tapse ich aus dem Turnhallengebäude. Ich glaube, ich will zum Arzt gehen. Meine Backe schwillt langsam an. Ich lasse mein Froschmaul-Bike vorerst am Fahrradparkplatz der Schule stehen, nehme den nächsten Bus, der kommt. Steige ein. Denke mir, was für eine Welt. Was für ein Tag.

Tobi hat eine Freundin.

Meine Hand schmerzt, ich habe sie zur Faust geballt. Ich bin da, steige aus. Will nicht mehr zum Arzt. Will zur anderen Straßenseite.

Höre ein Hupen. Ein Quietschen. Es kommt immer näher. Und näher. Ohrenbetäubender Lärm, überall um mich herum. Und plötzlich ist es still.



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