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Der letzte Schnee

Vernon Roche vs. Sigismund Dijkstra
von

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„Also, erzählst du mir nun von deinem tollen Plan?“, fragte Ves angriffslustig.

„Warum bist du denn so gereizt?“

„Ich bin gar nicht gereizt!“, konterte sie aufgebracht. „Du hältst mich jetzt schon den ganzen Tag hin, weichst mir aus, oder erfindest irgendwelche Geschichten, um vom Thema abzulenken. Als ob ich was mit einem von den Aubry-Brüdern hätte.“

Roche verdrehte die Augen gen Himmel.

„Hör mal, wir haben das doch geklärt“, fing er väterlich an. „Ich muss in meiner Truppe die Disziplin aufrecht erhalten. Das ist eines der Dinge, die du von der Pike auf gelernt hast. Es kamen Gerüchte auf, dass ...“

„Sag mir endlich, von wem die Gerüchte kommen! Dem dreh‘ ich den Hals um, aber sowas von!“

„Na na, Ves! Ich hab mich doch dafür entschuldigt. Offensichtlich scheint es sich dabei um ein Missverständnis gehandelt zu haben, und ...“

„‚Missverständnis‘?!, echote sie. „Hier geht’s wohl eher darum, meine Ehre und meine Stellung innerhalb der Truppe in den Dreck zu ziehen!“

„Na!“

„Sei still, wenn du mir nicht sagen willst, wer den Blödsinn erzählt.“

Der Hauptmann wagte es nicht, zu grinsen. Ves hatte von ganz alleine wieder von ihrem eigentlichen Thema abgelenkt. Überhaupt sprach sie seit den letzten paar Stunden nur von den Gerüchten, die jemand über sie verbreitet hatte. Nachdem Roche ihr die Details erzählt und sie einhellig zu dem Schluss gekommen waren, dass es sich dabei um Humbug handeln musste, war die adrette Blondine wieder etwas abgekühlt. Aber nur etwas, denn ab und zu war sie so neugierig, wie das häufig bei Frauen der Fall war. Aber er konnte ihr ja schlecht beichten, dass er selber der Übeltäter war, der die falschen Schlüsse gezogen hatte.

Roche tat, wie ihm geheißen. Sie waren den Rest des Tages marschiert. Seit sie den Frohnheimer Wald verlassen hatten, hatten sie noch einmal eine Rast eingelegt und waren dann in zwei Trupps weitergezogen. Hortensio hatte mit Athur zusammen das Kommando über den anderen Trupp bekommen. Die Dimmehügel zeichneten sich im Osten bereits ab, das Sternenzelt reichte nicht mehr bis auf den Boden herab. Der Hauptmann hatte vor einiger Zeit schon angeordnet, das Tempo zu verringern und den vierten der Späher ausgeschickt, den anderen Trupp zu finden. Er müsste eigentlich längst mit ihnen zurück sein.

„Also was ist jetzt?“

„Wie ‚was ist jetzt‘?“

„Was ist das nun für ein toller Plan, den du dir ausgedacht hast.“

Er grunzte. Roche hatte sich während ihres Marsches weitere Einzelheiten überlegt, Vorgehensweisen durchgespielt, wieder verworfen, mögliche andere Lösungswege durchdacht, aber ebenfalls für unausführbar empfunden. Er würde diesen Abend wohl nicht mehr umhinkommen, seinem kecken Feldwebel darüber zu berichten.

„Willst du’s wirklich wissen?“

Ves sah ihn entnervt von der Seite her an.

Roche blickte sich einmal um, um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurden.

„Du erinnerst dich doch noch an das, was in Kaer Morhen passiert ist?“

Die junge Frau verlor alle Farbe im Gesicht.

„Roche, ich weiß nicht, ob ...“

Er bedeutete ihr mit einem Fingerzeig, zu schweigen. Sie gehorchte.

„Früher oder später müsste ich dich sowieso einweihen“, erwiderte er ernst. „Mein Plan ist leider nicht ausführbar für einen allein. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass nicht jeder meiner Freischärler an der Mission wird teilnehmen können.“

Sie nickte nach einem Augenblick.

„Und lass mich bitte erst zu Ende erklären, bevor du mich allenthalben unterbrichst.“

Ves sah gekränkt drein.

„Ich hab‘ nachgedacht. Unser Hauptproblem ist, dass sich Dijkstra und ich in gewissen Dingen nicht unterscheiden. Er ist Geheimagent, ich bin Geheimagent. In seinem Zustand wird er einen Teufel tun und sich auf die Straße wagen. Viel wahrscheinlicher ist, dass er sich irgendwo verkriecht, wo er sein lädiertes Bein kurieren kann. Ich bedaure sehr, dass Geralt ihn nicht getötet hat, als er die Gelegenheit dazu hatte. Jedenfalls, der Dickwanst wird in seinem Bau nicht untätig bleiben. So, wie er einem freien Temerien als Vasallenstaat von Nilfgaard im Weg steht, so stehen wir einem freien Redanien als Vasallenstaat im Weg.“

„Ich hatte eher den Eindruck, dass er für den ganzen Norden einstehen will ...“

Roche ging nicht darauf ein.

„Unser Problem besteht nun darin, dass er das ebenfalls weiß. Und nach uns suchen wird.“

Er sah ihr an, dass sie etwas anmerken wollte, aber Ves beherrschte sich.

„Ich will meine Leute keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Zu viele wurden schon im Kampf getötet, solche Scharmützel zwischen den Nördlichen Königreichen sind echt ein Unding, wenn du mich fragst. Wir bekriegen uns, während Nilfgaard immer weiter nach Norden marschiert.“

Sie sah ihn schief an.

„Wenn wir uns ständig mit unseren Nachbarn herumprügeln müssen weil sie Vereinbarungen nicht einhalten, ist das doch kein Wunder!“, meinte die Blondine.

Roche nickte.

„Es ist nun, wie’s ist. Wir müssen eine Lösung für das Problem finden.“ 

„Und was ist nun deine Lösung?“

„Gemach gemach! Eines unserer weiteren Probleme ist, dass Dijkstras Netz von Spionen sehr weitreichend ist. Er hat nicht nur viel mehr Leute in einem viel größeren Gebiet verteilt, als wir. Er hat auch noch viel mehr Mittel, um sein Netz zu speisen. Ein weiterer Nachteil ist, dass wir uns genau in seinem Netz befinden. Nach Süden können wir nicht, da Nilfgaard vor der Haustür steht. Zu weit nach Osten können wir auch nicht, da wir uns zu sehr von Dijkstra entfernen würden, wenn wir ihm beikommen wollen. Weiter nach Norden scheidet aus demselben Grund aus. Weiter nach Westen ist schon aus geografischer Sicht ausgeschlossen, weiter westlich als Novigrad ist nichts mehr.“

Ves sah mutlos drein.

„Außerdem bin ich mir über eine Sache noch nicht ganz im klaren.“

Roche verschränkte theatralisch die Arme vor der Brust.

„Na spuck’s schon aus!“, forderte Ves nach einer Kunstpause.

„Philippa Eilhart.“

„Die Hexe?“

Er nickte.

„Soweit ich weiß, hatte Dijkstra sich zuletzt mit ihr in der Wolle, aber die Information kann auch schon längst wieder veraltet sein.“

„Roche, ich glaub nicht, dass wir es mit einer Hexe aufnehmen können...“

Die Blondine schien nun allen Kampfeswillen verloren zu haben.

„Ich auch nicht. Mir ist durchaus bewusst, was meine Truppe zu leisten vermag. Und was ihre Fähigkeiten übersteigt. Wie gesagt, ich weiß nicht, auf welcher Seite Philippa steht. Gut möglich, dass sie sich aus allem heraus hält. Es kann aber genauso plausibel sein, dass sie nach dem geglückten Attentat auf Radovid wieder mit Dijkstra angebandelt hat. ‚Alte Liebe rostet nicht‘ heißt es immer.“

„Und was hast du nun konkret vor? Lass mich das bitte nicht immer und immer wieder fragen müssen.“

Ves klang nicht so, als ob sie den eigentlichen Plan überhaupt noch würde hören wollen. Vielleicht lag es daran, dass sie einen ganzen Tag marschiert und entsprechend körperlich abgekämpft waren, doch Roche konnte sich nicht daran erinnern, wann er sie zuletzt so demotiviert erlebt hatte.

„Wir müssen zuerst unsere eigene Ausgangssituation verbessern. Uns Verbündete suchen.“

„Tja, den Hexer hast du weggeschickt.“

„Ich habe dir schon erklärt, dass er uns nicht helfen würde.“

Roche sah Ves durchdringend an. Sie schien es langsam zu begreifen.

„Roche, nein! Das ist ein blöder Plan!“

„Ist es nicht. Ich wüsste sonst niemanden, der uns helfen würde.“

„Die Elfen? Wieso sollten ausgerechnet die uns helfen? Vor allem dir?“, entgegnete sie.

Der Hauptmann legte den Kopf schief und sah sie noch mal durchdringend an.

„Das ist eine ausgesprochen blöde Idee! Hast du vorhin nicht selbst gesagt, dass er nicht eher ruhen wird, bis wir aus dem Weg sind? Realistisch betrachtet, müsste er ja eigentlich nur dich aus dem Weg räumen. Tut mir leid, Roche“, legte sie dar. „Wär’s da denn nicht einfacher, wenn du dich als Köder zur Verfügung stellst, und ...?“

„Zu riskant! Stell dir einfach vor, dass Dijkstra wie ich denkt. Er wird eine Falle wittern und kein Risiko eingehen. Vermutlich würde er genau das von mir erwarten. Gerade deshalb muss der Angriff aus einer Richtung erfolgen, die er nicht erwartet. In Kaer Morhen waren viele verschiedene Charakter mit verschiedenen Fähigkeiten vereint. Die Hexer, einige Zauberinnen, wir, ... Ich will versuchen, für diese eine Mission ebensolche ... Kampfgefährten zu finden.“

Ves sah ihn zwiespältig an.

„Aber du magst doch Anderlinge überhaupt nicht!“, wandte sie ein. „Außerdem ist die Schlacht in Kaer Morhen nur bedingt zu unseren Gunsten ausgegangen, wie du dich sicher erinnerst.“

Roche schwieg. Sie hatte da einen wunden Punkt getroffen. Er hatte nie einen Hehl gemacht aus seiner Abneigung gegenüber Zwergen, Gnomen und Halblingen. Allen voran hasste er die Elfen. Schon seit er denken konnte, hegte er einen Groll gegen sie, von dem er nicht einmal mehr sagen konnte, woher er rührte, der aber von ihrer kriegerischen Verhaltensweise gegenüber Menschen genährt wurde. Vielleicht mochte sein Hass auch daher kommen, dass sie sich stets als „das bessere Volk“ darstellen, besser in Kunsthandwerk, besser in den Wissenschaften, besser in Architektur, einfach besser in allem. Und dass Menschen nur das zuletzt gekommene Volk seien, das eigentlich keinen Anspruch auf dieses Land habe.

Der Hauptmann war ein ehrbarer Mann, konnte hier und da mit Anderlingen anderer Art umgehen, lehnte Pogrome gegen die zuerst gekommenen Völker sogar ab. Aber ihm kam die Galle hoch, wenn er nur daran dachte, wie sich manche – für seinen Begriff viel zu viele – Elfen gerierten. Nicht, dass er beabsichtigte, die Scoia’tael um Hilfe zu bitten, wie Ves vermutlich annahm. Nein, er wollte Verbündete ganz anderer Couleur haben. Welche, die unter Umständen auch mit einer Hexe fertig werden würden. Und die sicherlich an bestimmten Informationen interessiert sein würden, zum Beispiel Aufenthaltsorten von gewissen Personen.

„Wie willst du die Scoia’tael überhaupt überzeugen, dir zu helfen?“, fragte Ves dann auch.

„Das lass mal meine Sorge sein.“

Offensichtlich hatte er sie nicht überzeugen können, aber das war Roche egal. Wichtig war nur, dass sie die Befehle ausführte, die er ihr erteilen würde. Dann entschied sich, von welchem Holz die schmucke junge Blondine geschnitzt war. Ob sie bereit war, in die menschlichen Abgründe einzutauchen.

 

* * *

 

Hortensio fluchte zum wer weiß wie vielten Male innerhalb kurzer Zeit.

„Verdammter Scheißdreck, Blöder! Er wird mir den Kopf abreißen.“

„Jetzt mach mal halblang ...“, meinte Athur.

„Ich versteh‘ nich‘, wie du so ruhig bleiben kannst.“

Der Späher verstand es selbst nicht ganz. Innerlich brodelte sein Blut, seit sie sein Ausbleiben bemerkt haben. Er fühlte, wie es abwechselnd kochend heiß und wieder eiskalt zu werden schien.

„Vielleicht gibt es auch eine ganz einfache Erklärung dafür ...“, fing er hoffnungsvoll an.

„Die da wäre?“, wollte der Armbrustschütze, der das Kommando über den Trupp hatte, wissen.

Sie alle, um die dreißig Mann, standen auf einer kleinen Lichtung um einen Findling herum. Einige nutzten die Gelegenheit, sich die Wartezeit mit etwas Proviant zu verkürzen. Manche hatten sich hingesetzt, die Stiefel ausgezogen und massierten nun die schmerzenden Füße. Hortensio stand mit Athur und Victor zusammen etwas abseits. Trotz allem waren Hortensios Flüche deutlich für die anderen zu hören.

„Junge!“, wandte er sich an den jüngeren Aubry. „Glaubst du wirklich, dass er das Weite gesucht hat?“

Victor sah unsicher drein. Er war es nicht gewohnt, von seinem Bruder getrennt zu sein. Üblicherweise hatte Leif immer für ihn gesprochen, wenn der Hauptmann oder einer seiner Stellvertreter etwas von den Burschen wollte. Jetzt sah er dem Armbrustschützen scheu ins Gesicht, dann zu Athur, der seinen Blick aufmunternd erwiderte. Dann sah Victor auf seine Füße.

„Er hat den ganzen Tag vor sich hingefaselt ... Ich dachte mir, er sei wütend ... Ist ja auch irgendwie verständlich ...“, versuchte er, zu entschuldigen. „Ich hab ihn in Ruhe gelassen. Er war eh schon wütend genug auf mich, da wollte ich ihm nicht auch noch zusätzlich auf die Nerven gehen ...“

„Schon gut, erzähl nur weiter.“

Victor fasste sich ein Herz.

„Als wir ein zweites Mal Rast einlegten, schien er hingegen etwas abwesend zu sein. Ich musste ihn dreimal fragen, ob er bei seiner Erkundung etwas Auffälliges wahrgenommen hätte. Nicht, dass er mich absichtlich ignoriert hätte. Es war vielmehr so, als wär‘ er mit seinen Gedanken wo ganz anders ... Murmelte auch nicht mehr vor sich hin. Als ich ihn direkt fragte, ob alles in Ordnung sei, hat er erst genickt, und dann aber den Kopf geschüttelt.“

Die drei brüteten vor sich hin bei dem, was der Jüngere der Aubry-Brüder erzählt hatte.

„Vielleicht gibt es ja auch eine ganz andere Erklärung für sein Verschwinden?“, überlegte Athur laut. „Hier draußen ist es ziemlich abgeschieden. Die einzigen, die sich hierher wagen, dürften Scoia’tael Banden sein. Unsere Späher können es mit deren elfischen Fährtenlesern nicht aufnehmen, so leid mir das tut.“

„Glaubst du wirklich, dass er sich von Schlitzohren hat fangen lassen?“, fragte Hortensio zweifelnd.

„Oder er war dazu gezwungen, in Deckung zu gehen, und versteckt sich noch immer vor ihnen. Das kann man nicht wissen.“

„Ich würde es aber schon gerne wissen. Und vor allem Roche, der wird mir die Ohren langziehen, wenn ich mit einem Mann weniger komme. Da ist es erst einmal egal, aus welchem Grund er fehlt.“

Sie schwiegen wieder. Die Sonne streifte im Westen schon den Boden. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden sie hier in Finsternis herumtapen.

„Sir?“, fragte jemand.

Die drei drehten sich um.

„Auch das noch“, murmelte der Armbrustschütze. „Du kommst sicher mit einer Nachricht vom Hauptmann, oder?“

Der Mann, der sie angesprochen hatte, war Ende dreißig und ein erfahrener Späher. Er war der vierte, hauptberufliche Kundschafter in ihrer kleinen Truppe von Partisanen. Er nickte.

„Ich soll euch mitbringen, hat er gemeint. Is‘ vielleicht fünfzehn Minuten weg, wenn man marschiert. Ich hab nur zehn gebraucht.“

„Ist ja schon gut, wir kommen“, seufzte Hortensio. Dann wandte er sich an seinen Trupp. „MÄNNER!? Der Hauptmann will uns in zehn Minuten bei sich haben, also hurtig, hurtig! Stiefel anziehen, Proviant wegpacken, Ausrüstung schultern und dann ab, wenn ich bitten darf!“

Kollektives Grummeln schwappte ihm entgegen, aber die Soldaten erhoben sich artig. Keine zwei Minuten später waren sie wieder unterwegs, in die Richtung, in die sie der vierte Späher führte. Athur hatte sich ihrer Nachhut angeschlossen, während Hortensio mit dem Späher des anderen Trupps voranging.

„Sag mir“, fing Hortensio an, als sie einige hundert Schritt weit gekommen waren. „Ist euch unterwegs irgendwas Auffälliges unter die Augen gekommen?“

„Nee ...“

„Niemand aus meinem Trupp, der unerwartet bei euch aufgekreuzt ist?“

„Nein, wie kommste drauf?“

Der Armbrustschütze schwieg und ließ die Schultern hängen. Leif schien wohl tatsächlich verloren gegangen zu sein. Und das ausgerechnet unter seinem Kommando. Das war ihm noch nie passiert und er wollte gar nicht wissen, wie Roche darauf reagieren würde.

Dass es Streit gegeben hatte, darüber war Hortensio sich im Klaren. Er war zwar nicht selbst anwesend, aber von Athur darüber aufgeklärt worden, warum er sich nun über ganze drei Kundschafter in seinem Trupp freuen durfte Von dem Schlag, den Roche dem älteren der Aubry-Brüder versetzt hatte, wusste er auch. Insgeheim mutmaßte er, dass Leifs Verschwinden direkt damit zusammenhing. Aber er wollte sich keinen vorschnellen Schlussfolgerungen hingeben.

Sie kamen zu einem etwas breiter geratenen Bach, der von den Dimmehügeln herunter kam und den sie erst an einer etwas seichteren Stelle flussabwärts überwinden konnten.

„Na toll, auch noch nasse Füße zum Abend ...“, murrte jemand hinter ihm.

„Schnauze, da hinten!! Najden, jetzt, fang du nicht auch noch an, aufsässig zu werden! Ein naseweiser Rebell in meiner Truppe ist bereits einer zu viel!“

„...’schuldigung“, kam es von dem Gescholtenen.

Den anderen Männern war natürlich nicht entgangen, dass Leif fehlte. Doch keiner ließ sich etwas anmerken. Von ihnen hatte keiner etwas gewusst, als Hortensio und Athur sie gefragt haben. Oder zumindest hatten sie vorgegeben, nichts zu wissen.

Der Armbrustschütze brummte.

„Is‘ was?“, fragte der vierte Späher.

„Häh?“

„Du grummelst die ganze Zeit so.“

„Ach was soll’s“, meinte Hortensio. „Früher oder später kommt es ja eh raus. Leif ist verschwunden.“

„Oh“, erwiderte der andere, marschierte aber weiter. „Habt ihr nach ihm gesucht?“

„Hah! Du bist mir vielleicht einer. Wo in dieser Wildnis sollen wir denn nach einem Späher suchen?“

„Na ja. Hast auch wieder Recht.“

Sie hatten den kleinen Fluss mittlerweile weit hinter sich gelassen. Der Mann führte sie auf ein Dickicht zu und da konnte Hortensio schon den anderen Trupp hören. Nicht, dass sie sich besonders laut verhielten.

„Wieso denn immer im dichtesten Unterholz?“, murrte der Armbrustschütze.

„Kennst ihn doch. Könnten wir uns in einem Felsen verstecken, wär das seine liebste Anlaufstelle.“

Hortensio ignorierte ihn. Sie durchschritten das Dickicht über einen kurzen Trampelpfad und der Anführer des zweiten Trupps sah sich sofort nach Roche um. Er musste nicht lange suchen, um den Hauptmann etwas abseits sitzend finden. Hortensio trat zu ihm hin.

„Äh ... Sir?“, fragte er vorsichtig.

Roche schlug umgehend die Augen auf, blinzelte, sah zu ihm hoch. Ächzend kam er auf die Füße und gähnte einmal herzhaft.

„Hab‘ ich dich geweckt?“

„Halb so wild. Hortensio“, erwiderte Roche. „Wieso gefällt mir dein Gesichtsausdruck so überhaupt nicht?“

Der Angesprochene sah auf den Boden und schluckte.

„Leif ist verschwunden“, murmelte er.

„Wie bitte?“

Der Hauptmann war sofort hellwach, sein Gesicht hatte eine ungesunde Blässe angenommen.

„Ist ihm was passiert?“

„Wissen wir nicht“, antwortete der Armbrustschütze nach einem kurzen Zögern. „Ehrlich gesagt, wissen wir nur, dass er weg ist.“

„Habt ihr nicht nach ihm gesucht?“

„Wie denn?“, konterte Hortensio. „Er ist ein Späher, der weiß, wie man die eigenen Spuren verwischen muss. Wir wussten am Anfang gar nicht mal, dass er nicht mehr da ist. Erst, als er jetzt am Abend nicht zu unserem Treffpunkt kam, und Victor auch nicht sagen konnte, wo er ist, ist es uns überhaupt aufgefallen.“

„Verdammt, Hortensio!“, brauste Roche auf. „Das darf doch nicht wahr sein!“

Der Gescholtene spürte, wie ihm jemand eine Hand auf die rechte Schulter legte. Er sah kurz hinter sich. Athur hatte sich mit Victor zu ihnen gesellt. Der Aubry machte ein Gesicht, als wünschte er sich, ganz wo anders zu sein.

„Sir, ich fürchte, das ist meine Schuld“, piepste er kleinlaut.

„So?! Und warum zu Henker?“

Victor sah aus, als würde er am liebsten zurück in das Mauseloch kriechen, aus dem er hervor gekommen war.

„Hat’s mit dem Streit von heute Vormittag zu tun?“, hakte Roche nach.

Sein Gegenüber nickte beschämt.

„N-na ja ...“, stotterte Victor. „Also ... wegen dem Streit ...“

„Na los, raus mit der Sprache!“, raunzte der Hauptmann ungeduldig.

„Also ... es ging da um Feldwebel Ves ...“

Victor schien regelrecht im Boden zu versinken.

„Und weiter?“

„... Und e-euch ... und ... na ja ...“

Roche verschränkte die Arme vor der Brust. Er war doch neugierig geworden.

„Und dann?“

Der junge Aubry war mittlerweile puterrot angelaufen.

„E-es ist wohl so ..., dass ... mein Bruder da etwas ... heikel ist, in der Angelegenheit ...“, druckste er herum.

Der Hauptmann blinzelte. Und blinzelte noch einmal.

„Und was genau hat das mit mir zu tun?“

„Na j-ja ... Sir ... also ...“

„Na los, raus mit der Sprache, Junge!“, fluchte Hortensio.

„A-also, wegen Ihnen und Ves ...“, stammelte Victor. „Leif ... ist da wohl ... e-etwas eif-eifersüchtig, Sir.“

Roche starrte Victor an, Hortensio starrte den Jungen ebenfalls an, während Athur perplex zwischen dem Hauptmann und dem jungen Aubry hin- und hersah.

„Also geh ich richtig in der Annahme, dass ihr denkt, ich hätte was mit Ves?“, fragte Roche nach einer gefühlten Ewigkeit.

„Sir ...“, stammelte Victor. „Ich hab das nur angedeutet, um ... na ja, um Leif zu kränken.“

Ihr Anführer starrte immer noch.

„Ich fass‘ es nicht!“, meinte er. „Wegen so einem Unsinn ...!“

Er ließ die Arme baumeln und verdrehte die Augen gen Himmel.

„Also erstens hab ich nichts mit Ves, damit das klar ist!“

Victor starrte auf seine Fußspitzen.

„Und zweitens, meinst du nicht, dass das ein bisschen arg kindisch ist? Wie lange seid ihr nun in meiner Truppe? Zwei Jahre? Und ihr führt euch immer noch auf wie kleine Kinder.“

„Ja, Sir“, erwiderte der junge Aubry schuldbewusst. „Es tut mir auch leid ...“

Roche schüttelte den Kopf.

„Das glaub ich gern“, erwiderte er. „Ändert jetzt aber nichts mehr daran, dass dein Bruder auf und davon zu sein scheint. Also, wo kann er hingegangen sein?“

Erst im zweiten Moment bemerkte Victor, dass die Frage direkt an ihn gerichtet war.

„Sir. Das kann ich euch leider auch nicht sagen“, antwortete er. „Außer der Truppe haben wir keinen Anlaufpunkt, Sir. Unsere Familie ...“

„Schon gut, das ist mir klar. Es hätte ja sein können, dass du doch was weißt.“

„Na ja, nur das übliche, was vermutlich kein großes Geheimnis ist“, fügte Victor hinzu. „Wenn er tatsächlich das Weite gesucht hat, ist er unter Umständen zurück Richtung Westen. Oxenfurt, da kennt er ein paar Mädchen und ...“

Roche hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„‚Falls er tatsächlich das Weite gesucht hat‘? Wie meinst du das?“

„Na ja ...“

Victor sah hilfesuchend zu den anderen beiden. Hortensio und Athur hatten sich bisher komplett rausgehalten.

„Sir“, erbot sich der Armbrustschütze. „Athur hatte die Vermutung geäußert, dass Leif bei seiner Erkundung auf ein Problem gestoßen sein könnte und dazu gezwungen war, unterzutauchen ... Das weiß man schließlich nicht.“

Der Hauptmann sah schief drein.

„Ziemlich gewagte Theorie. Habt ihr dafür einen Anhaltspunkt?“

Der junge Aubry atmete hörbar aus, da ihm das Hauptinteresse nicht mehr zu gelten schien.

„Sir. Wir sind hier tief in Scoia’tael Gebiet. Gut möglich, dass sie ihn geschnappt haben.“

„Hah! Leif mag vieles sein, aber sich von Elfen schnappen lassen, sieht ihm nicht ähnlich“, konterte Roche. „Na, wie dem auch sei. Es lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Egal, wo er sich aufhält, wir haben nicht die Ressourcen, um nach ihm zu suchen. Erstens nicht in dieser Wildnis, da passiert es uns allenfalls, dass uns die Scoia’tael selbst schnappen. Und zweitens haben wir nicht die Zeit, bis nach Oxenfurt zu reiten und seine Mädchen abzuklappern.“

Roche seufzte hörbar unzufrieden.

„Also“, fuhr er fort. „Wir werden vorerst hier unser Lager aufschlagen. Athur, du kümmerst dich um die Wachen. Außerdem will ich wissen, was sich im Umkreis von zweihundert Metern um unser Lager tut. Morgen früh erläuter ich euch meinen Plan, also seid ausgeschlafen!“

Die drei nickten und zogen von dannen. Der Hauptmann sah ihnen kopfschüttelnd hinterher.

 

* * *

 

Leif Aubry war den ganzen Tag schon unterwegs. Früh in den Morgenstunden waren sie vom Lager der Temerischen Partisanen nordöstlich von Oxenfurt aufgebrauchen und seitdem marschiert. Nur kurz hatten sie einmal in einem Wald nördlich von Frohnheim Rast gemacht. Und danach hatte er sich entschieden.

Dem jungen Mann taten die Füße weh. Er war den ganzen Tag gelaufen, gestiefelt, marschiert, meist quer durch unwegsames Gelände. Man wollte ja nicht gesehen werden. Und als Späher durfte man sich erst recht nicht sehen lassen. Das war eines der ersten Dinge gewesen, die er damals von Athur gelernt hatte. Auch jetzt tat er alles dafür, unentdeckt zu bleiben.

Leif bezweifelte, dass sie sein Verschwinden noch nicht bemerkt haben. Nachdem er seine Wut halbwegs überwunden hatte, hatte er das Grübeln begonnen. Er hatte überlegt, wann der beste Zeitpunkt sei, sich abzuseilen. Direkt am frühen Nachmittag hatte er schnell ausgeschlossen. Der Ältere der Aubry-Brüder wusste, dass sie am späten Nachmittag noch einmal eine Rast einlegen würden. Wenn er da schon weg war, war die Gefahr groß, dass sie ihm Leute hinterherschickten. Viel sinnvoller erschien es ihm, erst danach zu verduften. Abends, kurz bevor es dunkel wurde, schickte Roche üblicherweise nur dann Leute aus, wenn es wirklich dringend war oder es sich um eine Mission handelte. Und diesen Umstand wollte sich Leif zu Nutze machen. 

Sein linker Nasenflügel schmerzte noch immer. Es war die Stelle, auf die Roche mit der Faust geschlagen hatte. Leif kamen Wuttränen, wenn er nur daran dachte. Nicht, dass er den Hauptmann gehasst hätte, soweit gingen seine Gefühle nicht. Aber eine gewisse Abneigung hatte er, hatte sich schon seit längerem bei ihm entwickelt. Anfangs war der junge Mann Feuer und Flamme gewesen, für Temerien kämpfen zu dürfen. Aber mit der Zeit waren ihm Zweifel gekommen, ob die Aktionen des Hauptmanns tatsächlich zum Erfolg führen würden.

Überhaupt war ja sein kleiner Bruder Victor Schuld an allem, wenn er ihn nur nicht die ganze Zeit aufgezogen hätte. Aber Victors Bruder hatte schon länger darüber nachgedacht, die Truppe zu verlassen, sich einen anderen Erwerb zu suchen. Oder einen anderen Dienstherrn, dessen Pläne eher zum Ziel führen würden. Der Streit heute und der Faustschlag ins Gesicht hatten ihn in seiner Entscheidung nur bestärkt. So war Leif nach ihrer zweiten Rast verschwunden.

„Aua...“, stammelte er.

Der junge Mann humpelte zu einem morschen Baumstamm, der neben dem Weg lag, setzte sich und zog die Stiefel aus. Er war den ganzen Tag gelatscht, ohne einmal größere Pause zu machen und die Füße entspannen zu können. Nicht einmal an einem Bach hatte er halt gemacht, um seine geschundenen Beinen ins kühle Wasser halten zu können. Er war den ganzen Tag gelaufen. Schon beim Denken daran wurde ihm schlecht.

„Wenn das vorbei ist, brauch ich ein paar Tage Ruhe ...“, murmelte er. „Ein paar Tage in Marias Bett, und ...“

Seit er sich abgeseilt hatte, war Leif auf Straßen und Wegen gegangen. So kam er bei Weitem schneller voran und hatte jetzt, kurz nach der Abenddämmerung, die Lichter Oxenfurts vor sich. Trotzdem würde er noch einige Zeit marschieren müssen, um die Stadt zu erreichen. Und es war nicht sicher, ob Maria ihn einlassen würde. Ab und zu zierte sich das Mädchen. Nicht, dass er nicht drauf stehen würde, aber Maria hatte die Angewohnheit, sich immer dann anzustellen, wenn ihm nicht der Sinn danach stand. Er hoffte nur, dass sie nicht wieder ihre Blutung hatte. Sonst würde sie ihm erst gar nicht das Fenster öffnen und seine Rufe ignorieren.

„Autsch.“

Leif nahm das rechte Bein hoch und versuchte, den Fuß so weit wie möglich mit den Händen zu biegen. Es knackte gut hörbar. Danach massierte er Ballen und Ferse mit den Daumen.

„Die werden mir morgen auch immer noch weh tun ...“

Mit dem anderen Fuß verfuhr er genauso. Der junge Mann dachte darüber nach, was er von jetzt an tun sollte. Diese Gedanken hatten ihn bereits in der Vergangenheit geplagt, aber er war nie zu einer sinnvollen Lösung gekommen. Zu häufig hatten ihn die Nachteile verunsichert. Gut, er war auf einem Bauernhof groß geworden, wusste, wie man mit Harke und Pflug umging, wann das Getreide auszusäen, wann das Vieh zu versorgen war. Aber dafür fehlte ihm einfach alles, angefangen bei einem eigenen Hof, über Vieh und Getreide bis hin zu einer Frau, die mit ihm den Hof bestellen würde. Nicht, dass Leif sich selbst als Bauer sah, hatte er nie. Hatte er damals schon nicht gewollt, als seine Eltern noch am Leben und er und Victor noch kleine Kinder waren. Der ältere hatte immer gehofft, dass sein jüngerer Bruder irgendwann in des Vaters Fußstapfen treten würde. Der Krieg hatte diesen Wünschen ein Ende bereitet.

Als Späher war er gut, wie er fand. Die anderen hatten selten etwas auszusetzen daran, wie er die Arbeit machte und welche Ergebnisse er lieferte. Nur anfangs hatte es hier und da den ein oder anderen Hinweis gegeben, wenn Leif sich doch durch ein Geräusch im Dickicht verraten hatte. Nichts, was er dann nicht verbessert hätte. Aber er fragte sich, ob es, außer der Redanischen Armee, noch jemanden gab, der Verwendung für Späher haben würde. Nilfgaard mit Sicherheit, aber das kam für ihn nicht in Frage. Das wäre, als ob er seinen Vater und seine Mutter verraten würde. Von den anderen Königreichen wusste Leif nur, dass in Nord-Aedirn noch so Einiges los war, aber Details waren nie bis an sein Ohr gedrungen. Und noch weiter nördlich?

Der Ältere der Aubry-Brüder hatte den halben Weg zurück darüber nachgedacht, ob er sich tatsächlich bei den Redaniern melden sollte. Jetzt, so ganz ohne König, war fraglich, wer das Kommando über die Armee hatte. Vermutlich irgendein General, aber das würde nur solange gelten, bis ein neuer König gefunden war. Leif wusste, dass Radovid V. zeit seines Lebens keine eigenen Kinder gezeugt hatte. Um die Thronfolge würde vermutlich ein Kampf unter verschiedenen Fraktionen ausbrechen, machtgierige Adlige, die fadenscheinige Verwandtschaft mit der Königsfamilie als Gründe anführen würden, würden sich mit den ein oder anderen militärischen Befehlshabern in die Wolle kriegen über die Nachfolge. Leif hatte kein gesteigertes Interesse, an den Wirren teilzunehmen.

„Ach, was mussten wir auch den blöden König umbringen?“, seufzte er verdrießlich und streckte seine Beine von sich.

Es war stockfinster um ihn herum. Nicht einmal Sterne oder der Mond hellten den Nachthimmel etwas auf. Nur die Lichter in den Häusern von Oxenfurt leuchteten von fern. Der junge Mann griff nach den Stiefeln, zog sie an und raffte sich danach wieder hoch. Er hatte noch mindestens eine halbe Stunde Weg vor sich, es war inzwischen kurz vor Mitternacht und je später es wurde, desto misstrauischer wurden die Wachen an den Zugängen zu der Stadt. Ob sich schon herumgesprochen hatte, dass ihr König tot war?

„Hoffentlich nicht, hernach haben die noch die Stadt komplett abgeriegelt deswegen.“

Leif ächzte vernehmlich und machte sich auf den Weg.

 

* * *

 

Die Eingangshalle war den Umständen entsprechend geräumig und von einem schweren, hölzernen Kronleuchter erhellt. Es roch nach Ruß und Kerzenwachs. Trotz der dicken Mauern, über die der Turm verfügte, war das Gewitter draußen deutlich zu hören. Hin und wieder donnerte es, aber von den Blitzen, die dem Lärm üblicherweise vorangingen, war nichts zu sehen.

Sigismund Dijkstra schnaufte wie ein Schwein. Die Tempelwächter hatten ihm, Krüppel, der er war, freundlicherweise einen Stuhl herbei geschafft, auf dem er sich ausruhen konnte. Nicht, dass der Weg hinauf zum höchsten Punkt der Stadt so anstrengend gewesen wäre. Seine Lakaien hatten ihn auf eine Kutsche verfrachtet und hochgefahren, aber die letzten paar Meter hatte er dann doch an Krücken und durch strömenden Regen zurücklegen müssen. Jetzt perlte Regenwasser von seinem Mantel hinab auf den Boden, wo es traurige Pfützen bildete.

Die Tempelwächter hatten ihm geheißen, hier zu warten, bis Seine Exzellenz Zeit für ihn hatte. Üblicherweise erwartete Dijkstra, dass man ihn sofort und ohne Umschweife zu seinen Gesprächspartnern vorließ. Aber dieses eine Mal war er doch froh drum, dass er warten musste. So konnte er sich von der körperlichen Anstrengung noch etwas erholen und gleichzeitig darüber nachdenken, was er den alten Cyrus Engelkind Hemmelfart alles wissen lassen wollte. Der Hierarch musste zweifellos erfahren, dass König Radovid V. nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Sigi Reuven hatte schon vor einigen Wochen erfahren, dass der Hierarch plante, unter den Schwingen des Redanischen Adlers Schutz vor den allzu brennenden Strahlen der Nilfgaarder Sonne zu suchen. Ironie des Schicksals, dass er dem Kult des Ewigen Feuers vorstand und sich jetzt davor fürchtete, sich an der Übermacht aus dem Süden die Finger zu verbrennen. Der Geistliche würde alles andere als erfreut sein, was Dijkstra aber im Grunde egal war.

Der Kult des Ewigen Feuers war ihm seit jeher suspekt. Der beleibte Mann hegte generell keine großen Sympathien gegenüber den verschiedenen Religionen, doch die Glaubensrichtung, der sie in Novigrad huldigten, und die teilweise auch schon in Oxenfurt praktiziert wurde, hielt er für höchst gefährlich. Zahlreiche Magier, Kräuterkundler und sonst wie unliebsame Personen  waren den tosenden Scheiterhaufen schon zum Opfer gefallen. Viele starben auch während der Folter durch die Hexenjäger und nur selten hatten sich die Leute tatsächlich etwas zu Schulden kommen lassen. Die meisten von ihnen waren Unschuldige, die nur irgendjemandem im Weg standen, der sie dann als Hexe oder Alchemist bezichtigte. Trotzdem hatte Dijkstra um eine Audienz bei Hemmelfart gebeten, sobald es seine Zeit zuließ.

Jemand riss die Eingangstür auf und er riss den Kopf herum. Nur eine Wache, die mit eingezogenem Kopf ins Warme flüchtete. Das Unwetter schien sogar noch schlimmer geworden zu sein.

„So ein Sauwetter...“, murmelte der Wächter.

Er musterte den Gast kurz verwirrt, zuckte dann mit den Schultern und ging seiner Wege. Dijkstra sah ihm nach, ohne das Gesicht zu verziehen. Seine Gedanken galten dem vergangenen Tag. Von Eliza, der Tavernenwirtin des Sieben Katzen hatte er nichts erfahren, was er nicht eh schon vermutet hatte. Dass Roche mit seinen Mannen das Lager nordöstlich von Oxenfurt fluchtartig verlassen hatte. Reckham, den er zuvor schon hingeschickt hatte, hatte diese Information bestätigt und zudem herausfinden können, dass die Temerier wohl in Richtung Osten davon marschiert sind. Dijkstra konnte sich nun überlegen, ob er die Nadel im Heuhaufen tatsächlich suchen wollte.

Es knirschte, das Geräusch von Holz, das über Stein geschoben wurde. Er sah auf, versuchte dann umständlich, mit Hilfe der Krücken auf die Beine zu kommen.

„Eure Exzellenz!“

Dijkstra verbeugte sich nur so tief als nötig und gab vor, den Oberkörper wegen der Krücken nicht noch tiefer senken zu können.

„Herr Sigismund Dijkstra?“

Der Angesprochene erhob sich wieder und nahm den missbilligenden Blick war, mit dem der Hierarch ihn musterte.

„Vielen Dank, Exzellenz, dass Ihr mir trotz Eurer gering bemessenen Zeit so kurzfristig eine Audienz gewährt“, schleimte Sigi Reuven.

„Jaja, schon gut. Ich hab tatsächlich nicht viel Zeit, also kommt zum Punkt!“, forderte der Geistliche.

Er schlurfte auf Dijkstra zu und dieser seufzte innerlich. Cyrus Engelkind Hemmelfart war doppelt so breit, wie er selber, trug eine scharlachrote Casula, die leicht schimmerte und deren Farbe und Glanz Dijkstra ein wenig an den Wappenrock erinnerte, mit dem Radovid zuletzt immer herumstolziert war. Darüber trug der alternde Hemmelfart eine schwergliedrige Amtskette, die vorne von einem geschliffenen Rubin geziert wurde. In der fleischigen rechten Hand hielt er einen schlichten Goldkelch. Reuven wollte sein Hinterteil darauf verwetten, dass es sich um Massivgold handelte, sowohl bei der Kette, als auch dem Kelch. Und dass es sich bei dem Edelmetal und dem Juwel um illegal erlangtes Material handelte. Hexen, Alchemisten und Kräuterkundler horteten häufig wertvolle Gegenstände.

Dijkstra bemerkte, dass der Hierarch ihn mit Abneigung musterte. Hinter ihm kamen einige Tempelwachen hinzu, die ihm einen gepolsterten Eichenstuhl herbei schleppten, der eher wie eine sehr kurze Bank wirkte. Er ließ sich darauf fallen und bedeutete seinem Gast, sich ebenfalls zu setzen.

„Also? Laut meinen Leuten behauptet Ihr, irgendwer Wichtiges zu sein. Aber ich kenne Euch nicht. Also mit wem beim Ewigen Feuer hab ich es zu tun und womit beabsichtigt Ihr, meine kostbare Zeit zu vergeuden?“, fragte Hemmelfart.

„Eure Exzellenz! Meinen Namen kennt Ihr bereits. Ich war seinerzeit Chef des Redanischen Geheimdienstes unter König Wisimir, bevor mich gewisse Umstände dazu zwangen, einer anderen Tätigkeit nachzugehen“, lamentierte Dijkstra. „Ich sehe mich gezwungen, Euch von Vorgängen in Kenntnis zu setzen, die allerhöchste Wichtigkeit für das Wohl von Novigrad und insbesondere den Kult des Ewigen Feuers haben.“

Der Hierarch zog mit genervtem Gesicht die Augenbrauen nach oben.

„Mir wurde zugetragen“, fuhr Reuven ungerührt fort. „Dass seine königliche Hoheit, König Radovid V. von Redanien, einem Attentat zum Opfer gefallen ist.“

Hemmelfart ließ den Kelch fallen, dessen dunkelroter Inhalt sich in die Regenwasserpfützen ergoss.

„Was habt Ihr da gesagt?“, hauchte er.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Dijkstra verbeugte sich wieder leicht, um Ehrerbietung zu heucheln.

„König Radovid, der Herrscher von Redanien, ist Opfer eines Mordkomplotts geworden, Eure Exzellenz.“

Hierarch Hemmelfart versuchte, auf die Beine zu kommen, knickte mit dem rechten Fußgelenk um und rutschte ungelenk von seinem Stuhl auf den Boden. Er kam auf dem Bauch zum Liegen, mitten in der Pfütze, die sich aus Dijkstras Regenwasser und dem teuren Wein aus dem Kelch gebildet hatte. Er ruderte wild mit den Armen und fluchte saftig, was die Tempelwachen auf den Plan rief. Sie sahen das Malheur ihres Herrn, starrten den Besucher wütend an, obwohl sich dieser während der ganzen Szene nicht gerührt hatte und machten sich dann daran, Hemmelfart wieder auf den Stuhl zu helfen. 

Der Hierarch schnaufte wie eine ganze Schweineherde, die man einen Berg hinauf getrieben hatte. Schweiß troff ihm von der Stirn auf seine Casula, die vieles von der Wasserweinpfütze aufgesogen hatte. Der nasse Fleck war deutlich zu sehen, doch Hemmelfart schien dies zu entgehen. Er keuchte mehrmals und versuchte, sich mit der Hand Luft zuzufächeln, während seine Wachen wieder ihren Arbeiten nachgingen.

Dijkstra seinerseits hielt es für ratsam, den Kopf gesenkt zu halten und erst wieder zu sprechen, wenn man ihn dazu aufforderte. So komisch der Vorgang mit dem Hierarchen auf dem Boden auch war, so vorsichtig musste er sein, sich seine Belustigung anmerken zu lassen. Hemmelfart hustete mehrmals, keuchte noch einmal herzhaft und schien sich dann soweit beruhigt zu haben, dass er das Gespräch fortsetzen konnte.

„Ich warne Euch“, keuchte seine Exzellenz. „Wenn Ihr Euch einen Scherz mit mir erlaubt!“

Sein Gesprächspartner senkte den Kopf noch etwas tiefer.

„Das würde ich mir nie erlauben, Eure Exzellenz“, versicherte er schnell.

Cyrus Engelkind Hemmelfart schnaubte.

„Also erzählt! Woher habt Ihr die Information?“

„Eure Exzellenz! In meinen Kreisen gibt es ein Sprichwort. ‚Einmal Spion, immer Spion‘. Man hört nie ganz auf, ein Agent zu sein. Es war schwer, an die Informationen zu kommen, und ...“

„Weniger Gefasel, mehr Fakten, wenn ich bitten darf!“

‚Wie du meinst‘, dachte sich Dijkstra.

„Laut meinen Informationen verübte eine Gruppe Temerischer Widerstandskämpfer die Bluttat auf den geschätzten König.“

Hemmelfart bekam erneut einen Hustenanfall.

„Die Hunde!“, keuchte er erschöpft. „Weiß man, wie sie’s angestellt haben?“

„Leider nein, Eure Exzellenz. Nur, dass sich das Attentat vergangene Nacht zugetragen hat. Am diesseitigen Ende der St.-Georgs-Brücke.“

„Um Himmels willen. Warum hat das keiner gemerkt?“, fluchte der Geistliche.

Durch sein Geschrei wurden wieder die Wachen angelockt.

„Justus! Wie kann es sein, dass direkt vor unserer Nase ein Attentat auf Radovid verübt wird und wir es nicht merken?“

„Eure Exzellenz?“

„Ja! Schau mich nicht so entgeistert an. Beweg deinen Hintern und klär‘ die Sache auf, aber ein bisschen plötzlich!“, schrie Hemmelfart.

Der Gescholtene wollte etwas erwidern, entschied sich aber bei dem tödlichen Blick seines Meisters dagegen. Mit hängenden Schultern zog er davon. Dijkstra schluckte. Innerlich fragte er sich, warum der Hierarch immer noch das Oberhaupt des Kultes des Ewigen Feuers war. Wer seine Leute so planlos herumkommandierte, konnte sich seiner Meinung nach nicht lange an der Spitze halten. Trotzdem war es Cyrus gelungen. Schnell hatte Reuven einen anderen Entschluss gefasst.

„Eure Exzellenz, mit Verlaub!“, sagte er leise.

„Ja?“, schnauzte Hemmelfart ihn an.

„Bitte verzeiht meine Forschheit und seid versichert, dass mir Euer Wohlergehen zu dieser schweren Stunde am Wichtigsten ist“, log Dijkstra. „Leider liegen mir keine Informationen zum Aufenthaltsort der Täter vor. Ich äußere den Verdacht, dass sich seine Exzellenz ebenfalls in großer Gefahr befinden.“

Der Hierarch wurde blass.

„Aber wieso?“

„Sie sehen in seiner Exzellenz als Oberhaupt des Kultes des Ewigen Feuers eine Bedrohung, und ...“

„RUPERT!!“, dröhnte Hemmelfart.

‚Er ist schwierig zu lenken‘, dachte Dijkstra.

Der Gerufene kam nicht und der Geistliche fluchte obszön.

„Aber Eure Exzellenz!“

Cyrus‘ Gesprächspartner neigte erneut demutsvoll das Haupt. Der Dickwanst, der ihn zu dieser späten Stunde aufgesucht hatte, war ihm nicht ganz geheuer. Hemmelfart wollte dessen Informationen durch seine eigenen Leute bestätigt wissen, ehe er ihm mehr Zeit widmete, als er verdiente. Er kämpfte sich auf seine umfangreichen Beine.

„Ich lasse nach Euch rufen, sollte ich Eure Dienste erneut benötigen. Jetzt hinfort mit Euch!“, raunte er Dijkstra an.

Letzterer sah perplex drein. Hatte der Hierarch ihn gerade eben tatsächlich hinaus gebeten? Nachdem er ihm solche lebenswichtigen, wenngleich falschen, Informationen hatte zukommen lassen? Der Geistliche warf ihm einen wütenden Blick zu und erst da merkte Dijkstra, dass seine Anwesenheit tatsächlich nicht mehr erwünscht war.

 

* * *

 

„Also hört zu!“, begann Roche.

Ves, Hortensio und Athur saßen um ihn herum auf dem Boden, während der Hauptmann selbst auf einem großen Stein Platz genommen hatte. Er hatte die Arme verschränkt und sah sie alle der Reihe nach an. Sie hatten sich etwa hundert Meter vom Lager entfernt und der Chef der Späher hatte sich vergewissert, dass sich keiner seiner Leute in unmittelbarer Nähe befand.

„Ves kennt den Plan bereits im Groben. Trotzdem bitte ich darum, dass ihr mich möglichst nicht unterbrecht. Also“, fuhr er fort. „Um unser Ziel, ein freies Temerien unter der Nilfgaarder Sonne zu erreichen, müssen wir Dijkstra ausschalten.“

Schweigend sahen sie ihn an. Anscheinend hatten die beiden Männer schon geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde.

„Er wird zweifellos damit rechnen, dass wir ein Attentat auf ihn verüben. Oder versuchen werden, ihn anderweitig zur Strecke zu bringen.“

Hortensio nickte leicht.

„Genau das werden wir nicht machen.“

Der Armbrustschütze zog die Augenbrauen hoch.

„Wir werden ihm nicht auf den Leim gehen, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, mir Hilfe bei ... ungewöhnlichen Verbündeten zu suchen.“

Roche sah den Männern an, dass sie geradezu vor Fragen platzten. Er verzichtete darauf, sie schmoren zu lassen.

„Derzeit sind einige unserer Leute in mehreren kleinen Trupps auf Erkundung in der Umgebung. Ich habe ihnen aufgetragen, nach Anzeichen von Scoia’tael Tätigkeit zu suchen.“

Ves verdrehte die Augen.

„Scoia’tael, Sir?“, fragte Hortensio ungläubig. „Die Eichhörnchen?“

Athur sah genauso argwöhnisch drein.

„Ja. Schaut mich nicht so an. Dijkstra hat zahllose Männer in seinem Spionagenetzwerk, verglichen dazu sind wir nur eine Handvoll Partisanen. Wir fahren unsere Erfolge im Guerillakampf ein, während er es sich leisten kann, eine verschiedene Anzahl von Listen und Tricks gegen seine Feinde einzusetzen und sie so zu überrumpeln. Wir müssen uns also danach richten, um ihm nicht auf den Leim zu gehen. Ich habe mit Ves gestern schon besprochen, dass es nichts bringt, wenn ich mich ihm als Köder stelle. Er wird die Finte wittern. Womit er nicht rechnet, ist, dass ich, wir, uns Eichhörnchen als Verbündete suchen.“

„Aber Sir ...“

Hortensio brach wieder ab. Er schien sich nicht sicher, welche seiner Bedenken er zuerst vortragen sollte.

„Ich weiß. Ves hat genau das Gleiche gestern schon gesagt“, erklärte Roche entschuldigend. „Ich hab‘ nie einen Hehl aus meiner Abneigung gemacht ...“

„Deinem Hass meintest du wohl eher ...“, murmelte der Armbrustschütze in seinen Bart.

Der Hauptmann überging es.

„Es würde mich wundern, wenn Dijkstra darüber nicht Bescheid weiß. Ich gehe davon aus, dass er nicht damit rechnet, dass plötzlich Elfen oder Zwerge bei ihm auf der Matte stehen und ihm ans Leder ... oder den Speckwanst, wollen.“

„Warum sollten uns, dir, ausgerechnet die Eichhörnchen helfen?“, warf Athur ein.

„Weil ich sie dafür bezahlen werde.“

„Hah!“, meinte nun auch Ves. „Wie willst du sie bezahlen? Roche, wir waren nie besonders flüssig, das weißt du. Die wenigen Kronen, die wir haben, benötigen wir selber, für Ausrüstung, um für Informationen bezahlen zu können. Und die Scoia’tael, wenn du dich ihnen vorstellst, werden sich auch fragen, wie dein Gemütswandel zustande kommt.“

„Mag sein“, erwiderte er. „Fakt ist, dass ich mich ihnen nicht zwingend vorzustellen brauche. Jedenfalls nicht mit meinem echten Namen oder was sonst noch darauf schließen lässt, dass ich Vernon Roche bin. Ves, du musst endlich anfangen, mehr wie ein Spion zu denken. Von den Leuten, die ich bereits ausgeschickt habe, trägt derzeit keiner die Temerischen Farben. Wenn die Scoia’tael sie aufstöbern, wird es für sie auch nicht auf Anhieb erkennbar sein, was für Leute das sind.“

„Hoffen wir nur, dass unsere sie zuerst aufstöbern ... Anders herum kann das böse ausgehen. Temerische Farben oder nicht, die machen nach wie vor kurzen Prozess mit Menschen. Das weißt du!“, schalt die Blondine.

„Nicht alle.“

„Jetzt mal angenommen“, schaltete sich Athur ein. „Wir können den Kontakt zu den Scoia’tael herstellen, und sie stimmen tatsächlich einem Treffen zu. Roche, wie stellst du dir denn vor, dass ihre Hilfe aussieht? Dass sie für uns geradewegs nach Novigrad marschieren, oder wohin immer Dijkstra sich jetzt aufhält, und sie ihn wegmeucheln?“

„Nein. Von den Eichhörnchen will ich nur Informationen haben.“

Seine drei Mitstreiter sahen sich verwundert an.

„Aber hast du nicht eben gesagt, dass du dir Verbündete suchen willst, mit denen keiner rechnet?“, hakte Ves nach.

„Habe ich. Von den Eichhörnchen will ich nur Informationen. Für die kann ich mit meinem privaten Vorrat an Notkronen bezahlen, wenn ihr so wollt.“

„Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Also die Elfen sollen uns Informationen liefern. Über was denn genau?“, fragte Hortensio.

„Wie man gewisse andere Elfen kontaktiert ...“

Der Armbrustschütze und auch Athur sahen nicht so aus, als verstünden sie, worauf er hinaus wollte. Nur bei Ves schien es endlich Klick zu machen.

„Nein, Roche! Das kannst du nicht!“, warf sie ein.

„Warum nicht?“

„Hast du denn vergessen, was in Kaer Morhen los war?“

„Hab ich nicht.“

„Wie kommst du dann ausgerechnet auf die Idee, die um Hilfe zu bitten. Geschweige denn, sie als Verbündete zu wollen.“

„Ich versteh nicht ...“, meldete sich der Späher. „Von wem redet ihr denn jetzt schon wieder?“

Ves sah den Hauptmann frustriert an.

„Er will anscheinend die Aen Elle um Hilfe bitten“, erklärte sie dann aufopferungsvoll.

Athur sah zwischen der jungen Frau und Roche hin und her, die ihn aber beide zu ignorieren schienen.

„Waren das nicht die aus der anderen Welt?“, vergewisserte er sich.

„Die Wilde Jagd ...“

Schweigen legte sich über die Gruppe.

„Roche, das ist und bleibt eine blöde Idee!“, wiederholte die Blondine nach fünf Minuten der Stille. Sie stand auf.

„Ich hab dir nicht gestattet, zu gehen!“

Es klang wie eine Drohung. Ves sah ihren Hauptmann frustriert an, weigerte sich aber, sich wieder auf den Boden zu setzen. Nachdem sie Roche einen tödlichen Blick zugeworfen hatte, starrte sie in die Baumwipfel über sich, in denen Vögel fröhlich zwitscherten.

„Ich versteh das immer noch nicht so ganz. Wie willst du die denn in unsere Welt holen?“, fragte Hortensio. „Mal außer acht gelassen, dass sie uns vielleicht sowieso gar nicht helfen werden.“

„Das ist einer jener Aspekte meines Plans, den ich mithilfe der Eichhörnchen herauszufinden gedenke.“

„Roche“, schaltete sich auch der Armbrustschütze ein. „Wir sind alle keine Magier. Und ich bezweifle, dass die Elfen oder Zwerge der Scoia’tael groß magisch begabt sind. Mal davon abgesehen, dass ich Ves‘ Meinung bin. Wie soll das denn klappen? Ohne Hexe oder Zauberer?“

„Wie schon gesagt, das müssen wir in Erfahrung bringen. Möglicherweise haben die Eichhörnchen auch Kontakte ...“

„Ach, unsere Eigenen willst du wohl nicht anzapfen? Merigold zum Beispiel? Die schuldet dir doch bestimmt noch irgendwas“, fragte die Blondine.

„Ves, hör endlich auf, dich wie ein Kind zu benehmen. Du weißt selber, dass ich Triss schlecht fragen kann. Ich beabsichtige, niemanden in die Sache zu involvieren, der auf Kaer Morhen dabei war“, erwiderte Roche.

„Ach, deshalb wolltest du Geralt aus dem Weg haben?“

Hortensio und Athur hatten scheinbar beschlossen, lediglich physisch anwesend zu sein. Unsicher sahen sie zwischen der blonden Feldwebel und dem Hauptmann hin und her, zwischen denen sich gerade ein Streit anzubahnen drohte. Weder der Armbrustschütze, noch der Späher waren glücklich über das, was Roche da plante, aber sie hatten schon sehr früh gelernt, wann es wichtig war, die Klappe zu halten. Um ihn nicht zu reizen, wie es Ves gerade tat.

„Ves! Meine Geduld ist langsam an einem Ende. Was konkret passt dir nicht?“, fragte der Anführer der Partisanen rundheraus.

Sie sah ihn wütend an.

„Ich dachte, das wär bereits klar. Dass du die Eichhörnchen um Hilfe bitten willst, damit kann ich mich ja noch anfreunden. Aber ich verstehe nicht, und ich wage zu behaupten, dass ich damit auch für Hortensio und Athur spreche, warum du unbedingt die Elfen der Wilden Jagd mit hineinziehen willst. Roche! Denk doch mal darüber nach! Von allem, was wir wissen, ist es gerade ihr Ziel, in unsere Welt zu kommen. Du warst bei der Besprechung auf Kaer Morhen selbst dabei. Es gibt Möglichkeiten für sie, tatsächlich durch ... Portale zu springen. Aber du weißt doch selber so gut wie ich, dass sie eigentlich hinter Ciri her sind, weil sie’s selber nicht in großem Stil umsetzen können.“

Roche nickte bedächtig, ohne sie zu unterbrechen.

„Roche! Jetzt schau nicht so! Willst du dich wirklich mit denen anlegen?“

Der Hauptmann ließ die verschränkten Arme sinken.

„Ich habe nicht vor, dauerhaft ein Bündnis mit ihnen einzugehen. Auch steht mir nicht der Sinn danach, mich mit ihrem Anführer einzulassen. Was ich suche, sind Verbündete, die Portale zielgerichtet öffnen können. Soweit ich es verstanden habe, gibt es da bei der Wilden Jagd durchaus den ein oder anderen Vertreter ... Navigatoren war, glaub ich, die Bezeichnung, die Geralt verwendet hatte.“

„Das ist doch absurd!“, konterte Ves.

„Eigentlich ist es gar keine so schlechte Idee“, merkte Hortensio an, der der Diskussion gespannt gelauscht hatte.

„Also das mit den Portalen“, fügte er schnell hinzu. „Es öffnet sich ein Portal in Dijkstras Zimmer, womit er nicht rechnet, ein Meuchelmörder kommt hindurch und bringt ihn zu Strecke ...“

„Jetzt hilf du ihm nicht auch noch!“, schimpfte die Blondine los. „Ehrlich, Hortensio, von dir hätte ich mehr Verantwortungsbewusstsein erwartet! Man kann nicht einfach eine Horde von Elfen in unsere Welt holen, die uns sowieso alle am liebsten umbringen würden.“

„Niemand redet von einer Horde!“, schalt Roche.

„Allerdings wäre das mit einem Zauberer auch machbar“, erwähnte der Späher kleinlaut.

Der Hauptmann seufzte vernehmlich und stand auf.

„Ihr habt euch scheinbar alle gegen mich verschworen“, meinte er verdrießlich.

„Ich finde deine Idee nicht per se dumm. Nur ...“

„‚Nur‘?!“, fragte Roche streng.

„Das mit den Elfen ... der Wilden Jagd, halte ich auch nicht für gut. Sollten wir es nicht vielleicht doch vorher bei einer Magierin oder einem Zauberer versuchen?“, fragte Hortensio.

„Ich würde mich nicht drauf verlassen, dass einer von denen zustimmt. Ich bezweifle, dass es sich schon groß herumgesprochen hat, dass Radovid das Zeitliche gesegnet hat. Und für das, was wir vorhaben, bräuchten wir jemanden, der jahrelange, jahrzehntelange, Erfahrung in den magischen Künsten hat. Und die, auf die das zutrifft und die sich noch auf die Straße trauen, kann man an einer Hand abzählen“, entgegnete Roche aufgebracht. „Zum Teufel mit euch! Während wir hier diskutieren, greift Dijkstra vermutlich schon nach der Macht in Redanien. Er wird zweifellos nicht auf seinen vier Buchstaben sitzen und Däumchen drehen, so wie’s bei uns grad der Fall ist! Im Übrigen bin ich für konstruktive Gegenvorschläge jederzeit offen.“

Niemand sagte etwas. Ves starrte den Hauptmann nur weiterhin an, während er selber abwechselnd Hortensio und Athur fixierte. Letzterer machte ein Gesicht, als würde er angestrengt nachdenken. Der Armbrustschütze erwiderte Roches Blick ausdruckslos.

„Scheinbar hat niemand einen Alternativvorschlag zu bieten, der keinen Zauberer involviert“, schloss er. „Gut, das wär’s dann für’s Erste. Athur, kümmer dich darum, dass die Gegend weiterhin ausgekundschaftet wird. Wir sind hier zwar sehr abgelegen, trotzdem möchte ich mich auf ungebetene Gäste vorbereiten können. Hortensio, du sorgst dafür, dass das Lager ordentlich bleibt und dass die anderen Beschäftigung haben.“

Die beiden Männer standen auf und wandten sich zum Gehen. Die Blondine wollte sich ebenfalls entfernen.

„Ves!“

Sie verharrte auf der Stelle, folgte Athurs Rücken mit ihrem Blick. Als die beiden weg waren, spürte sie einen starken Griff an ihrem rechten Oberarm und einen Ruck, der sie herumriss.

„Was zur Hölle ist eigentlich in dich gefahren?!“, herrschte Roche an.

Sie versuchte, sich von ihm loszumachen. Nicht nur, weil sein fester Griff sie schmerzte, sondern weil es ihr auch unangenehm war, sein wütendes Gesicht so direkt vor sich zu sehen. Zwecklos. Offenbar hatte sich der Hauptmann nur mit Mühe beherrschen können, um sie vor den anderen beiden nicht anzuschreien.

„Ich weiß ja, dass du ab und zu deine Phasen hast“, tadelte er weiter. „Auch dann, wenn sie nicht körperlicher Natur sind. Aber was zur Hölle sollte das gerade eben?“

„Was sollte was?“, fragte sie rüde. „Wir waren in kleiner Runde, und ...“

„Du hast meinen Führungsanspruch offen in Frage gestellt! Verflucht, Ves! Was sollen sich Hortensio und Athur denken?“

Im Baum über ihnen stob eine Schar Vögel auf und huschte davon.

„Dein Plan ist blöd!“, entgegnete sie.

„Das sagtest du schon. Mehrmals! Hast du sonst kein Argument vorzubringen?“, schnauzte er.

„Ich werd‘ das Gefühl nicht los, dass du unsere Freunde hintergehen willst“, antwortete sie.

Der Hauptmann ließ endlich ihren Oberarm los und trat einen halben Schritt zurück. Forsch musterte er sie.

„Roche, ich bin nicht dumm, und das weißt du! Mal angenommen, wir schaffen es, mit der Wilden Jagd Kontakt aufzunehmen. Die werden wir auch bezahlen müssen. Und ich glaube nicht, dass du für die auch sowas wie eine Kronenreserve hast. Geschweige denn, dass die sich damit abspeisen lassen ...“

„Und du glaubst, dass ich Geralt und Ciri verpfeife?“

Ves sah ihn lange an, bevor sie etwas antwortete.

„So wirkt es jedenfalls auf mich“, meinte sie leise.

Der Hauptmann der Temerischen Freischärler verschränkte wieder die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Das freie Ende seines schwarzen Chaperons schwang fröhlich neben seinem Ohr.

„Ich beabsichtige nicht, die beiden ans Messer zu liefern“, versicherte er.

Sie sah ihn skeptisch an.

„Aber mit was willst du sie dann bezahlen?“

„Das lass meine Sorge sein“, mahnte er.

Die Blondine sah nicht glücklich aus.

„Roche, ich dachte, wir wären ein Kollektiv, und ...“

„Ves, hör mir zu!“, appellierte Roche. „Ja, wir sind alle eine Einheit. Aber als Führungsperson muss man mehr Verantwortung übernehmen, als alle anderen zusammen. Das bedeutet auch, alle anderen möglichst aus dem Ärger heraus zu halten, was bei unserer Truppe natürlich nicht immer funktioniert. Glaub mir, es ist besser für dich, für euch alle, wenn ihr nicht jedes Detail kennt. Schon zu eurer eigenen Sicherheit.“

„Ah ja.“

Es klang wenig überzeugt.

„Hast du mir nicht auch in der Vergangenheit vertraut?“

„Ja. Aber unsere bisherigen Unternehmungen waren nie so waghalsig. Roche, denkt nur daran, wenn etwas schief geht ... Oder die nicht mit sich verhandeln lassen wollen.“

„Ich lass es darauf ankommen. Denk nicht, ich mache mir keine Gedanken um eine Alternative. Aber von dem, was mir eingefallen ist, verspreche ich mir von der Wilden Jagd noch die größten Erfolgsaussichten.“

„Ist das wirklich so?“, fragte sie zögerlich.

Roche nickte.

„Mich würde es ehrlich gesagt nicht wundern, wenn Dijkstra schon Redaniens Heft an sich gerissen hat. Das macht es für uns nur umso schwieriger, weil er dann nicht nur auf sein Spionagenetzwerk vertrauen kann, sondern auch noch die Armee um sich hat. Ves, unsere kleine Truppe von Partisanen kann es nicht mit der kompletten Redanischen Armee aufnehmen.“

„Das sagtest du schon.“

„Und wie oft muss ich es noch wiederholen, bis auch du es akzeptierst?“, fragte er.

Der Hauptmann legte ihr versöhnlich seine Rechte auf die Schulter.

„Gibst du dich vorerst zufrieden und erklärst dich einverstanden, Missionen auszuführen, wenn ich sie dir auftrage?“

Ves nickte zerknirscht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Peacer
2018-08-14T18:14:11+00:00 14.08.2018 20:14
Roche und Scoia’tael? Das wird ja immer interessanter! Was hat er bloß vor.
Oh und ein Deserteur. Spannend.
Dieser Cyrus ist auch nicht von schlechten Eltern. Das schein Sigi nicht wirklich zu passen, der Arme.
Die Wilde Jagd? Oh boy. Das ist in der Tat waghalsig. xD
Mmh, Triss hätte ihnen bestimmt auch geholfen? Aber interessante Idee.


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