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The show must go on

von

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Klappe, die Vierzehnte

>> BLP - KG 0.35 - schnell! «

 

Einen schmerzhaften Herzschlag lang starrten sie alle fassungslos die Nachricht an, dann passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Yukke ließ das Mobiltelefon fallen, dessen Display zersprang, als es auf dem harten Asphalt des Parkplatzes aufschlug. Yumikos Kehle entkam ein hohes Wimmern und Gara zog sie geistesgegenwärtig in seine Arme, wo sie gegen seine Brust gekauert in haltloses Schluchzen ausbrach. Miyas plötzlich nüchterner Blick fixierte sich auf die beiden Polizisten, seine Lippen bewegten sich, doch durch das hohe Pfeifen in seinen Ohren konnte Satochi nicht verstehen, was gesagt wurde. Yukke trat einen Schritt nach vorne, dann noch einen, bis sich ihre Augen in stummem Verständnis trafen. Sato hätte später nicht sagen können, wie er mit dem anderen hatte mithalten können, der mit einem Mal über den Parkplatz sprintete, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Er wusste nur, dass er seinen Gehstock hatte fallen lassen, doch nicht einmal noch das Klappern gehört hatte, als er auf dem Boden aufgekommen war. Yukkes Wagen stand unweit von der Stelle, an der sie bis eben noch wie versteinert gestanden hatten. Er hörte seinen Namen, glaubte Miyas Stimme zu erkennen, die jedoch seltsam verzerrt klang. Auch die Polizisten riefen ihnen irgendetwas nach, was Satochi ebenso wenig verstehen konnte und bevor er es wirklich registriert hatte, saß er bereits neben Yukke im Inneren des Autos. Von der Fahrt bekam er kaum etwas mit; das Präsenteste war das blaue Flackern hinter ihnen, das ihnen eine ganze Zeit lang folgte, bis sie die Beamten tatsächlich abgehängt zu haben schienen. Vermutlich war es dumm, nun kopflos zur BLP zu fahren, immerhin wussten sie nicht, was sie erwarten würde. Und was sollten Yukke und vor allem er schon ausrichten können? Fetzen logischer Gedanken hingen wie Spinnweben in seinem Kopf, aber auch sie schafften es nicht, dauerhaft durch den Schleier aus Rot, der sich über seinen Geist gelegt hatte, zu dringen. Tatsuro. Der Name seines Bruders hallte in einer Dauerschleife in seinen Ohren und das Bild seines gequälten Gesichts hatte sich auf ewig in seine Retina gebrannt. Seine Fäuste waren schmerzhaft fest geballt, die Knöchel standen wie weiße Mahnmale hervor und als er den Blick zur Seite wandte, erkannte er, wie verkrampft Yukke sich am Lenkrad festhielt. Die Augen des Schauspielers brannten förmlich und seine Kiefer waren so stark aufeinandergepresst, dass ein Muskel in seiner Wange zu zucken begonnen hatte.

 

Die große Lagerhalle, die der BLP und somit auch ihnen in den letzten Monaten als Dreh- und Angelpunkt gedient hatte, tauchte vor ihnen auf, und mit einem lauten Quietschen kam der kleine Mazda zum Stehen. Das Gebäude wirkte vollkommen verlassen, lag dunkel und unheilvoll vor ihnen. Doch weder Yukke noch er verschwendeten noch einen weiteren Gedanken an ihre Sicherheit oder die Richtigkeit ihres Tuns, als sie die Wagentüren aufrissen und die wenigen Meter zum Seiteneingang hinüber eilten. Yukke drückte die Klinke herunter, aber kein vertrautes Klicken erklang und auch sein eindringliches Rütteln öffnete ihnen nicht.

 

„Abgeschlossen, verdammt!“, zischte der Schauspieler, doch Satochi war bereits wieder einige Schritte zurückgelaufen und hatte die Hand in den großen Pflanzkübel gesteckt, gegen den Tatsuro und er in den letzten Monaten so oft gelehnt und geraucht hatten. Seine Finger zitterten und Schweiß prickelte über seinen Rücken, als er immer hektischer nach etwas tastete, was nicht hier zu sein schien. Verdammt, hatte Miya den Ersatzschlüssel mitgenommen, weil er nicht mehr gebraucht wurde? Er schmeckte Blut, als er sich auf die Unterlippe biss, beherzter seine Finger durch die trockene Erde wühlen ließ und endlich, endlich auf kühles Metall stieß. Es blieb keine Zeit, erleichtert durchzuatmen, stattdessen war er binnen Sekunden wieder an Yukkes Seite und schob mit ungeschickten Fingern den Schlüssel ins Schloss.

Er hatte das Gefühl, als wären Stunden vergangen, als sie endlich die Lagerhalle betraten. Die Zeit schien ihnen durch die Finger zu rinnen, während sie durch die vertrauten Gänge eilten, sich wie Schatten bewegten. An den Treppen angekommen, die in die Kellergeschosse führten, hielt Sato nach der zweiten Stufe inne, als ein unerträglicher Schmerz sein Bein nach oben jagte und in seiner Hüfte explodierte. Er keuchte, krallte sich am Geländer fest und ohne Yukkes beherzten Griff um seine Oberarme wäre er gestürzt.

 

„Was ist?“, zischte ihm der andere zu, Angst und Sorge dick in seiner Stimme.

 

„Nichts, nur mein Bein. Geh weiter, ich komm nach.“ Er konnte Yukkes Gesicht im vorherrschenden Zwielicht kaum erkennen, aber spürte das Zögern, als wäre es sein Eigenes. „Geh schon, beeil dich.“

 

„Okay.“ Ein Wort, derart gehetzt gesprochen, als wäre Yukke in dieser Sekunde erneut schmerzhaft bewusst geworden, weswegen sie überhaupt hier waren. Die stützenden Arme verschwanden und Satochi hörte schnelle Schritte, die sich entfernten. Sein Herz pochte schmerzhaft schnell in seiner Brust und die Sorge um seinen Bruder gab ihm die Kraft, langsam und qualvoll einen Schritt vor den anderen zu setzen. Kurz kam ihm der beinahe morbide Gedanke, dass er diesen Stunt hier später so was von bereuen würde und wie, als würde sein Bein ihm zustimmen wollen, zuckte ein erneutes Stechen, grausamer als zuvor, durch seinen Körper. Fest biss er die Zähne aufeinander und mit sturem Fokus schaffte er es, die nicht enden wollenden Stufen bis in den Keller hinabzusteigen.

 

~*~

 

Yukkes Puls flatterte wie ein kleiner Vogel in seinem Hals und Übelkeit ließ seinen Magen krampfen. Dennoch rannte er weiter, versuchte, nicht an Satochis schmerzverzerrtes Gesicht zu denken. Er hatte den anderen zurücklassen müssen, konnte es sich nicht leisten, durch ihn aufgehalten zu werden. Tatsuro zu erreichen, war nun das Einzige, was von Bedeutung war. Sobald er diesen Gedanken zuließ, brannte das schlechte Gewissen durch seine Adern und am liebsten wäre er zurückgegangen, hätte Satochi gestützt, damit er sich dem, was ihn erwartete, wenn er Tatsuro fand, nicht allein würde stellen müssen. Aber nun war nicht die Zeit, an seine Ängste, sein eigenes oder Satos Wohlbefinden zu denken. Er musste Tatsuro finden, ihn … ja, verdammt, ihn retten, wie auch immer er das anstellen sollte. Wieder flackerte das Bild des blutverschmierten Gesichts seines Freundes vor seinen Augen auf und er beschleunigte seine Schritte. Zweifel nagten an ihm, aber er versuchte, ihnen kein Gehör zu schenken.

Hätten sie nicht doch auf die Polizei warten sollen?

Was konnte er allein schon ausrichten?

 

Er hielt inne, presste die Hand an seine Seite, wo es unangenehm zu stechen begonnen hatte. Die Kellerräume waren stockdunkel. Er hatte es nicht gewagt, das Licht einzuschalten, aus Angst Tatsuros Entführer würde es bemerken. Durch die Fenster in den oberen Stockwerken war ins Treppenhaus wenigstens noch etwas Licht gefallen, aber seit er die Tür, die ins Untergeschoss führte, hinter sich gelassen hatte, sah er nicht einmal mehr die Hand vor Augen. Nein, halt, das stimmte so nicht. Wieder blinzelte er, doch das Bild vor seinen Augen blieb bestehen. Dort hinten, fast am Ende des schmucklosen Flurs, leuchtete ein schmaler Lichtschein unter einer geschlossenen Tür hindurch. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als würde in seinem Kopf gähnende Leere herrschen. Er hätte nicht sagen können, ob er den Entschluss, sich wieder in Bewegung zu setzen, bewusst gefasst oder ob sein Körper von sich aus reagiert hatte. Aber zwischen einem Blinzeln und dem nächsten Stand er vor der schweren Metalltür, durch die kein Laut nach außen drang. Er musste nicht nachsehen, ob es der richtige Raum war, ob die Nummer auf dem Türschild mit der übereinstimmte, die in der Nachricht gestanden hatte. Seine Hand lag auf der Klinke und noch bevor er sein Handeln erneut infrage stellen konnte, drückte er sie nach unten. Es krachte laut, als die Tür gegen die Wand des Kellerraums donnerte …

 

~*~

 

Dieses Mal war seine Ohnmacht nicht so tief wie die Male zuvor. Ob es daran lag, dass sein Herz so schnell und hart schlug, als würde es durch seine Rippen brechen wollen oder an den anhaltenden Schmerzimpulsen, die Nobus Schläge und Tritte durch seinen Körper jagten, hätte er nicht sagen können. Verzweifelt hielt er seine Arme über dem Kopf verschränkt, versuchte, sich wenigstens so etwas vor den gröbsten Treffern zu schützen. Er schrie auf, als Nobus Schuh mit seinem Brustkorb kollidierte, er das widerliche Knirschen und Krachen seiner Rippen hören konnte, als sie brachen. Hände packten ihn, zerrten ihn mit unnachgiebiger Stärke auf den Rücken und als Nobu sich auf seinen Oberkörper setzte, raubte es ihm den Atem, sodass sein gepeinigter Schrei in seiner Kehle stecken blieb. Panisch versuchte er, nach Luft zu schnappen, mit seinen viel zu schwachen Armen nach Nobu zu schlagen – vergebens. Eine Hand packte seine Handgelenke, die Knochen knirschten, als sie schmerzhaft gegeneinander rieben, und eine zweite umfasste sein Kinn, zwang ihn, durch geschwollene, tränende Augen nach oben zu sehen. Nobus Gesicht war hassverzerrt, eine Fratze aus Wahnsinn und Mordlust.

 

„Weißt du, Tatsuro, du hättest dir all das ersparen können“, redete Nobu mit ekelhaft süßlicher Stimme auf ihn ein und legte die Hand an seine rechte Wange.

 

Er wünschte sich, er könnte der Berührung entkommen, seinen Kopf zur Seite drehen oder … verdammt, wahlweise diesem Arschloch auch einfach nur ins Gesicht spucken. Aber sein Körper war zu schwach, um mehr zu tun, als angestrengt nach Atem zu japsen und, obwohl er ständig Blut schluckte, schien es zäh und klebrig in seinem ausgedörrten Mund.

 

„Du hättest nur mitspielen brauchen. Ich hätte mein Filmchen bekommen und die Medikamente hätten den Rest erledigt. Alles ganz zivilisiert. Aber nein, Regeln zählen für dich natürlich nicht, wie immer.“

 

Tatsuro hatte keine Zeit, sich der Absurdität von Nobus Worten bewusst zu werden oder sich gegen den Schlag zu wappnen, der sein Nasenbein brach. Ein halblauter Schrei quälte sich aus seiner Kehle, was seinen Angreifer nur noch wütender werden ließ.

 

„Verdammte Scheiße! Du widerst mich an. Warum kannst du nicht einmal in deinem verfluchten Leben das tun, was von dir erwartet wird?“

 

Nobus Fäuste kannten kein Erbarmen, trafen ihn an den Wangen, den Ohren, der Nase, doch mit jedem Schlag hatte Tatsuro mehr das Gefühl, sich tiefer in die Sicherheit seines Unterbewusstseins zurückzuziehen. Er spürte die Erschütterungen, fühlte, wie sein Kopf von einer Seite zur anderen ruckte, aber der eben noch so präsente Schmerz war nun ein beinahe abstraktes Konstrukt.

 

„Wenn ich mit dir fertig bin, wird nichts mehr von dir übrig sein, woran dein kleiner Lover-Boy dich noch erkennen kann.“

 

Nobu Lachte, ein Geräusch so grausam wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten. Trotz allem, was er bislang durchgemacht hatte, jagte eine Schockwelle der Furcht durch ihn, aber das entsetzliche Stechen in seinem rechten Auge war es, das ihn erneut aus der Zuflucht seines Unterbewusstseins holte. Tatsuro begriff nicht, wollte nicht begreifen, was soeben passiert war. Der Schmerz ging in der Gesamtheit der Agonie seines Körpers unter, doch der stetige Strom Flüssigkeit, der aus seinem Auge seine Schläfe hinunterlief und in seinen Haaren versickerte, ließ ihn trocken würgen.

 

‚Bitte‘, dachte er, ‚lass es vorbei sein. Lass mich sterben, ich kann nicht mehr.‘

 

Als hätte sein Herz sein Flehen erhört, krampfte es plötzlich und schnürte ihm auch noch das letzte Bisschen Luft ab. Sein Körper bäumte sich auf, zuckte unkontrollierbar. Das Letzte, was Tatsuro hörte, war Kaisukes Stimme, der seinen Bruder anbettelte, doch endlich von ihm abzulassen und das Krachen, mit dem die schwere Kellertür gegen die Wand knallte.

 

~*~

 

Yukkes Augen brannten, als sie ohne zu blinzeln, mit der plötzlichen Helligkeit konfrontiert wurden, die im Inneren des Kellerabteils herrschte. Aber erstaunlich schnell hatten sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt und mit einer Klarheit, die ihn bis in seine schlimmsten Albträume verfolgen würde, sah er Tatsuros geschundenen Leib auf dem Boden liegen. Schlagartig wurde ihm übel, als sich unter den vorherrschenden Geruch von Feuchtigkeit und Moder, der von Blut mischte. Sein Freund bewegte sich nicht, das Gesicht eine unförmige Masse aus Rot, Beine und Arme in unnatürlichem Winkel vom nackten Körper abgespreizt, als hätten selbst seine Gliedmaßen vor dem fliehen wollen, was er hatte erdulden müssen. All das registrierte Yukke zwischen einem Atemzug und dem nächsten. War erst noch die Furcht um seinen Freund vorrangig in seinem Geist gewesen, wurde diese nun durch heiße, unaufhaltsame Wut ersetzt, als sein starrer Blick auf den Mann fiel, der Tatsuro all das angetan hatte.

 

Der Fremde hatte keine Zeit, sich vollständig herumzudrehen, geschweige denn der Verwunderung, die in seinem Gesicht stand, auch verbal Ausdruck zu verleihen. Für einen Übelkeit erregenden Moment hatte Yukke das Gefühl, in sein eigenes Gesicht zu starren, dann kollidierte seine Faust mit dem Kiefer des Mannes und ließ ihn zurückstolpern. Mit einem Aufschrei, den er zwar in seiner Kehle brennen fühlen, aber über das Rauschen in seinen Ohren nicht hören konnte, stürzte er sich auf ihn.

 

Nie in seinem Leben hatte er einen derart allumfassenden Hass auf einen Menschen empfunden. Sein einziger Gedanke, sein innigster Wunsch war es, diesem Mistkerl Schmerzen zuzufügen. Er sah wortwörtlich rot. Das blutige Rot in Tatsuros Gesicht, das sich bis weit über seine Brust zog und träge in den Betonboden sickerte. Das verschmierte Rot in der Visage des Fremden; nicht viel, nur etwas am Mundwinkel, geringfügig mehr unter der Nase. Ein flüchtiges Grinsen huschte über sein Gesicht, als ihm klarwurde, dass Tatsuro sich gewehrt haben musste. Für einen Sekundenbruchteil vertrieb unendlicher Stolz auf seinen starrsinnigen Freund seine Wut, doch sogleich brodelte sie erneut in ihm, stärker noch als zuvor. Der Dreckskerl würde büßen für das, was er Tatsuro angetan hatte. Das Rot vertiefte sich, je öfter seine Schläge ihr Ziel fanden. Und selbst das Rot seiner eigenen Fingerknöchel war in diesem Moment wunderschön. Sie waren aufgeplatzt und wund, doch schmerzen spürte er nicht. Nein, das stimmte so nicht. Er fühlte Schmerzen, eine Pein so groß, dass sie ihm die Tränen in die Augen trieb, immer wenn sein Blick auf Tatsuro fiel.

 

In einem Film wäre nun alles so einfach gewesen. Sein Gegner wäre bereits nach dem ersten Schlag zu Boden gegangen oder zumindest derart eingeschüchtert gewesen, dass Yukke leichtes Spiel mit ihm gehabt hätte. In der Realität stieß er jedoch auf beachtliche Gegenwehr und musste selbst mehr als einen Treffer einstecken. Aber das war es wert, oh ja, so was von wert. Viel später würde er sich Vorwürfe machen, würde sich fragen, ob er, statt sich seiner Raserei hinzugeben, lieber sofort zu seinem Freund hätte eilen, ihm helfen sollen. Und auch die Frage, wie er – ein Mensch der bislang keiner Fliege etwas zuleide getan hatte – mit einem Mal so ruchlos gegen einen anderen vorgehen konnte, würde ihn noch für eine sehr lange Zeit nachts wachhalten. Aber gerade war er zu solchen Gedanken nicht fähig. Sein Körper reagierte nur, hörte nicht auf das Wimmern des Mannes vor sich, auf dessen Beteuerungen, dass alles nicht so war, wie es den Anschein machte. Hätte Yukke in diesem Moment mehr als seine Fäuste benutzen können, er hätte nicht sagen können, ob er den Dreckskerl am Leben gelassen hätte.

Allein so etwas zu denken, hätte ihn ängstigen sollen … hätte.

 

Plötzlich waren da dünne Arme, die versuchten, ihn fortzuziehen. In einem kleinen Winkel seines Bewusstseins, der noch zu logischen Gedanken fähig war, erkannte er Kaisukes Stimme, hörte seine kreischenden Bitten, von seinem Bruder abzulassen. Bruder? So war das also. Kurz kratzte so etwas wie Mitgefühl an den versteinerten Wänden seines Herzens, aber nein, nein, dieses, dieses Schwein hatte verdient, was Yukke mit ihm anrichtete.

 

„… ukke! Yukke! Hör auf!“ Die Hände, die sich nun um seine Oberarme schlossen, waren stärker, aber der Stand seines Angreifers unsicher und so genügte ein unwirscher Schlag zur Seite, um losgelassen zu werden. Damit, dass er das Gleichgewicht verlieren und mit zu Boden gehen würde, hatte er jedoch nicht gerechnet. Er schlug unsanft mit der Hüfte auf, verzog das Gesicht, aber wollte sich sogleich wieder hochrappeln. Doch plötzlich versperrten blauuniformierte Polizisten die Sicht auf Tatsuros Angreifer und je mehr Details seiner Umgebung er erkennen konnte, desto klarer wurde ihm, wer ihn da gerade zu Fall gebracht hatte.

 

„Scheiße, Miya, alles in Ordnung?“ Er zog die Beine unter sich, stand wacklig auf und hielt dem anderen die Hand entgegen. Miya musterte für einen kurzen Moment seine Hand, schüttelte mit einem entschuldigenden Zucken seiner Mundwinkel den Kopf und richtete sich aus eigener Kraft auf. Verschämt starrte Yukke auf seine aufgeplatzten Knöchel, ballte die Finger der Rechten zur Faust und spürte mit morbider Faszination, wie das getrocknete Blut aufriss und einen fast erdenden Schmerz mit sich brachte.

 

„Ich …“ Seine Stimme versagte, sein Hals wund und ausgetrocknet und selbst ein Räuspern brachte nicht die gewünschte Erleichterung. „Ich konnte nicht aufhören.“ Seine Worte waren aus dem Zusammenhang gerissen, hätten alles bedeuten können, doch Miya schien ihn zu verstehen. Für einen Moment schloss er die brennenden Augen, als sich der Arm des Regisseurs um seine gekrümmten Schultern legte, doch dann riss ihn ein metallisches Klicken wieder in die Realität zurück.

 

Einer der Polizisten hatte die Arme des Entführers mit Handschellen hinter seinem Rücken fixiert, der andere hielt Kaisuke am Oberarm fest und zusammen führten sie beide Männer nach draußen. Die Beamten sagten noch irgendwas, was Yukke nicht verstand, während er ihnen starr hinterher sah.

 

Plötzlich fühlte er sich wie in einem Traum, sein Geist ebenso träge wie seine Bewegungen, während er sich umzusehen begann. Durch die offenstehende Kellertür fiel ein Rechteck aus Licht in den Flur, in dem er Yumiko und Gara erkennen konnte. Ihre Blicke streiften sich kurz und Yukke wusste in dem Moment nicht, ob ihr Entsetzen ihm oder Tatsuro galt. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn den Kopf langsam – oh, so langsam – drehen und seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf Satochi richten. Der Kameramann kniete über seinem Bruder, das Gesicht eine tränenverschmierte Maske der Konzentration, während sich seine Hände mit rhythmischem Druck auf Tatsuros Brustkorb pressten.

 

Wie lange waren die anderen schon hier?

Wie lange kümmerte sich Satochi bereits um ihren verletzten Freund?

Himmel, er hätte dort an Tatsuros Seite knien sollen, ihm helfen, statt blind seiner Wut zu folgen. Wie in Zeitlupe sank Yukke auf die Knie, als das Adrenalin, das ihn bis eben noch aufrechtgehalten hatte, mit einem Mal aus seinem Körper wich und nichts weiter als panische Angst um seinen Freund zurückließ.

 

„Ich komm gleich wieder, ja?“, hörte er Miyas Stimme wie aus weiter Ferne, aber reagieren konnte er nicht. Er fühlte sich leer, gefühllos, doch innerlich begann ihn die Sorge um Tatsuro langsam aber stetig zu ersticken.

 

~*~

 

„Scheiße!“, schluchzte Satochi auf, nachdem er erneut für seinen Bruder geatmet, sich an seiner Regungslosigkeit jedoch noch immer nichts geändert hatte. Wieder presste er beide Hände auf Tatsuros Brustkorb, während ihm haltlose Tränen über die Wangen rannen.

„Wann kommt der Krankenwagen endlich?“

 

Die Rippen unter seinen Handflächen gaben auf widerliche Weise nach und er verbat sich den Gedanken, was gebrochene Knochen in einem Körper alles anrichten konnten. Aber irgendwas musste er tun, oder? Tatsuro atmete nicht und selbst, wenn er ihn im Versuch, sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, noch mehr verletzte, war das allemal besser, als nichts tuend dabei zuzusehen, wie sein Bruder starb! Zumindest versuchte er, sich das einzureden, während ihn der Geschmack nach Blut auf seinen Lippen beinahe würgen ließ.

 

„Sie werden jeden Moment kommen“, hörte er mit einem Mal Miyas versucht ruhige Stimme neben sich und spürte die warme Hand des anderen Mannes, die sich leicht auf seine Schulter legte.

 

„Er atmet nicht“, hauchte er, ein Schluchzen unterdrückend und holte Luft, um ein weiteres Mal Tatsuros Mund und hoffentlich auch seine Lungen damit zu füllen.

„Miya, er darf nicht sterben.“

 

Ohne mit seinem Tun aufzuhören, fielen mehr und mehr Worte von seinen Lippen, nur unterbrochen von seinen harschen Atemzügen. Irgendwo hinter sich hörte er Yumiko weinen, Gara, der selbst kaum Worte fand, um seine Freundin zu beruhigen und ein immer lauter und schneller werdendes Atmen, das davon zeugte, dass auch Yukke seine Angst kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Oh, Gott, Yukke. Er kniff die Augen zusammen, als er wieder und wieder den Mund auf den seines Bruders presste, in Gedanken den Takt mitzählte, mit dem er seinen Brustkorb nach unten drückte. Yukke war wie in einem Wahn gefangen gewesen, als Satochi den Kellerraum betreten hatte. Er war sich sicher, dass der andere sein Eintreffen überhaupt nicht bemerkt hatte, obwohl er anfänglich noch versucht hatte, mit ihm zu sprechen. Vielleicht hätte er mehr tun sollen, um ihn zu erreichen, aber der größte Teil seiner Aufmerksamkeit hatte Tatsuro gegolten. Selbst Kaisukes Anwesenheit hatte er erst bemerkt, als der Praktikant versucht hatte, dem Entführer zur Hilfe zu kommen.

Wieder kniff er die Augen zusammen, versuchte die Gedanken und Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben und sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, den Kreislauf seines Bruders wieder anzukurbeln.

 

„Komm schon, Tatsue, bitte.“

Miya war eine stumme Präsenz an seiner Seite, unverrückbar wie ein Fels, obwohl Satochi das Gefühl hatte, die Welt würde wie eine riesige Welle über sie hereinbrechen.

„Bitte, bitte“, wisperte er zwischen einem Atemzug und dem nächsten, zwischen den rhythmischen Bewegungen seiner Hände, zwischen Panik und Hoffnung gefangen, als ein kaum hörbares Stöhnen an seine Ohren drang.

„Tatsue?“

 

Im selben Moment, als er innehielt und sich seine geweiteten Augen auf seinen Bruder richteten, wurde es laut im kleinen Raum. Menschen schwärmten wie Bienen herein, brachten Geräte und eine Trage mit sich. Satochi wurde beiseitegeschoben, fand sich innerhalb eines Wimpernschlags in Miyas Armen wieder, der bis an die hinterste Wand des kleinen Raums zurückgewichen war, um den Sanitätern Platz zu machen.

 

Die nächsten Minuten glitten wie ein Film an ihm vorbei. Starr beobachtete er, wie eine Sauerstoffmaske über Tatsuros Gesicht gelegt wurde, Dioden an seinem Brustkorb angebracht und mit dem Herzmonitor verbunden wurden. Ein Zugang wurde ihm in die rechte Armbeuge gelegt, durchsichtige Flüssigkeit gespritzt, bevor der Schlauch eines Infusionsbeutels mit der Nadel verbunden wurde. Er hörte, wie die Sanitäter Fragen stellten, Fragen, auf die keiner von ihnen eine Antwort wusste. Die Polizisten schienen klüger als sie zu sein und gaben Auskunft, während bei Satochi und seinen Freunden nur fassungsloses Schweigen herrschte. Er hörte Diagnosen wie, akutes Herzversagen, Atemstillstand, Schock, Verdacht auf abdominale Blutungen, Perforation der Lunge, und obwohl ihm all diese Begriffe bekannt waren, konnte er sie nicht mit Tatsuro in Verbindung bringen.

 

Sein Bruder musste doch nur aufwachen, dann war wieder alles in Ordnung, oder? Oder?

Tatsuro war doch schon wach gewesen, er hatte ihn gehört …

Oder war das alles nur Einbildung gewesen?

Der Versuch seines Geists, das Schlimmste von ihm abzuwenden?

 

„Du darfst nicht sterben“, wisperte er wieder und wieder. „Verdammte Scheiße, Tatsuro, du darfst nicht sterben.“

 

~*~

 

Miyas Nase brannte, genau wie seine Augen. Ersteres lag an dem scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel, der schwer in der Luft lag, Letzteres an dem grellweißen Licht, das den Wartebereich der Notaufnahme ausleuchtete. Die Sanitäter hatten Tatsuro ins Tokyo Heart Centre gebracht, eine Fahrt quer durch die Stadt und kein gutes Zeichen. Diese Erkenntnis hatte er jedoch für sich behalten, genau wie er vieles für sich behielt, was ihm durch den Kopf ging.

Satochi und Yukke saßen auf den unbequemen, grauen Plastikstühlen und wirkten wie Geister. Ein Eindruck, der sich nur verstärkte, immer wenn einer der beiden seinen Blick suchte und ihn die endlose Leere, die er in den blutunterlaufenen Augen erkennen konnte, zu überwältigen drohte. Satochi hielt sich krampfhaft an seinem Pappbecher fest, in dem der fade Krankenhauskaffee mittlerweile schon kalt geworden sein musste.

Yukke zupfte geistesabwesend an den Pflastern herum, mit denen seine aufgeschlagenen Knöchel versorgt worden waren und Miya selbst blickte zum gefühlt tausendsten Mal auf die Uhr.

Erneut war eine Stunde vergangen und noch immer hatten sie keine Information darüber erhalten, wie es Tatsuro ging.

 

Yumiko und Gara waren endlich nach Hause gefahren, nachdem Miya sich beinahe mit Tatsuros Manager angelegt hatte. Yumiko hatte so krank ausgesehen, zerbrechlich und schwach, dass er es einfach nicht mehr hatte ertragen können, sie zitternd und weinend hier sitzen zu sehen.

Ihre Anwesenheit half Tatsuro im Moment ebenso wenig wie die Tatsache, dass Satochi, Yukke und er hier herumsaßen. Aber er verstand, warum die beiden anderen nicht gehen konnten, und so blieb auch er, um ein Auge auf sie zu haben.

 

Satochis Hand war eiskalt, als er sie in seine nahm und einen flüchtigen Kuss darauf hauchte. Er war normalerweise kein Freund von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, aber das schwache Lächeln, welches die Lippen des anderen daraufhin zierte, war es wert gewesen, über seinen Schatten zu springen.

 

„Glaubst du, er schafft es?“, fragte Sato nicht zum ersten Mal, aber wie auch schon die Male zuvor konnte er ihm darauf keine Antwort geben, die ihn beruhigen würde.

 

„Tatsuro ist in guten Händen. Ich bin mir sicher, dass die Ärzte alles tun, was in ihrer Macht steht.“ Leere Worte ohne Bedeutung. Gott, wie er es hasste, so hilflos zu sein. Er versuchte sich an einem Lächeln, von dem er wusste, dass es seine Augen nicht erreichte und keinesfalls so überzeugt wirkte, wie er es gerne gehabt hätte. Aber der gute Wille zählte, oder?

„Dein Bruder ist der sturste Mensch, der mir jemals untergekommen ist. Ich glaube kaum, dass er Nobu die Genugtuung geben wird, jetzt einfach so aufzugeben.“

 

„Nein, das würde er nicht zulassen. Du hast recht.“ Sato nickte und richtete seinen Blick auf Yukke, der diese Geste erwiderte.

 

„Sicherlich nicht“, murmelte der Schauspieler, der für Miya in den letzten Jahren mehr ein Bruder als ein Freund geworden war, und klang beinahe überzeugt von dem, was er sagte.

 

Wie automatisch legte er den Arm um Satochis Rücken, als er den Kopf gegen seine Schulter lehnte und für einen Moment die Augen schloss. Miya hätte es ihm am liebsten gleichgetan, stattdessen begann sich das Karussell seiner Gedanken erneut zu drehen.

 

Nobu. Endlich hatten sie einen Namen zu der nicht greifbaren Bedrohung, die der Stalker in den letzten Monaten gewesen war. Die Hintergründe seines Handelns, seines Hasses auf Tatsuro lagen noch immer im Dunkeln, aber wenigstens wussten sie nun, warum er immer so gut über die Geschehnisse in der BLP informiert gewesen war. Miya weigerte sich, die Gewissensbisse zuzulassen, die mit Nachdruck an die Oberfläche treten wollten. Er war es gewesen, der Gara empfohlen hatte, Kaisuke eine Chance als Praktikant zu geben. Er hatte Potenzial gesehen, einen formbaren, jungen Menschen, der Interesse gezeigt und sich engagiert hatte, und dabei hatte er der Bedrohung Tür und Tor geöffnet.

Hätte er die Polizei früher einschalten sollen?

Hätte er sich über Tatsuros Wunsch, dem ganzen nicht noch zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken, hinwegsetzen sollen?

Hätte er den Dreh abbrechen sollen?

 

Energisch richtete er den Blick wieder auf die große Uhr, die hinter Yukke an der Wand hing und unaufhörlich die Sekunden zählte. Es war sinnlos, sich diese Gedanken zu machen, nicht zielführend und keinesfalls hilfreich, also warum zum Teufel konnte er nicht damit aufhören? Er fühlte die Unruhe, die seine Muskeln zucken, seine Knochen schmerzen ließ. Der Drang, sich zu bewegen, wie ein eingesperrter Tiger auf und ab zu gehen, war fast unerträglich. Gerade, als er dachte, es keine Sekunde länger auszuhalten, hörte er Schritte über den bislang leer und still daliegenden Flur auf sie zukommen.

 

~*~

 

Doktor Yoshida war müde. Todmüde, um genau zu sein, wobei er sich diesen Ausdruck im Dienst tunlichst verkniff. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte 05:38 an und entlockte ihm ein leises Seufzen. Weit über achtundvierzig Stunden war er mittlerweile in Bereitschaft und die vier Stunden im OP-Saal hatten ihm seine letzten Reserven geraubt. Er würde ein Stoßgebet gen Himmel schicken, sobald er endlich zu Hause war. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschten auf dem Linoleum, was er in der vorherrschenden Stille als unangenehm laut empfand. Vermutlich war es auch dieses Geräusch, das die ungleiche Gruppe Männer, die allein im Aufenthaltsbereich der Notaufnahme saßen, auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Auch nach den vielen Jahren als Notfallchirurg hatte er sich noch nicht an den Gesichtsausdruck von Angehörigen gewöhnt, die darauf warteten, über den Zustand ihrer Liebsten informiert zu werden. Eine Mischung aus Resignation, Hoffnung und bodenloser Furcht, etwas gesagt zu bekommen, das sie niemals wieder würden vergessen können. Er war nicht gern der Überbringer schlechter Nachrichten …

 

„Herr Takayasu?“, erkundigte er sich und lächelte die Männer leicht an. Der kleinste der ungleichen Runde, mit ernstem Gesicht aber noch am gefasstesten wirkend, wandte zuerst den Blick von ihm ab und richtete ihn auf vermutlich seinen Freund, der gegen seine Seite lehnte. Dieser blieb jedoch einen langen Moment regungslos, während der Dritte überhaupt nicht reagierte und auf seine bandagierten Finger starrte.

Geduldig wartete Doktor Yoshida, während sein geschulter Blick bei allen dreien Anzeichen von Shock und Erschöpfung registrierte. Er machte sich eine mentale Notiz, später Pfleger Michiya zu bitten, den Herren etwas für die Nerven zu bringen.

 

„Wer von Ihnen ist Herr Takayasu?“, wiederholte er seine Frage und beobachtete interessiert den langen Blick, den zwei der Männer austauschten. Der, der sich die Hände verletzt hatte und einen äußerst markanten Haarschnitt trug, wie Doktor Yoshida innerlich belustigt feststellte, stand schlussendlich auf und schaute ihm ernst ins Gesicht.

 

„Haben sie Neuigkeiten für uns? Wie geht es Tatsuro?“ Die Höflichkeit verlangte eine Verbeugung, die Doktor Yoshida auch knapp und zweckmäßig erwiderte, schließlich war ihm klar, dass Antworten gerade das Einzige waren, was für die Wartenden zählte.

 

„Ihr Bruder hat die Operation den Umständen entsprechend gut überstanden. In diesen Minuten wird er auf die Intensivstation verlegt.“

 

„Können wir ihn sehen?“

 

„Als sein Angehöriger können Sie zu ihm, Herr Takayasu, aber Ihre Freunde muss ich bitten, hier zu warten.“

 

Wieder tauschten die beiden Männer lange Blicke aus, bevor sein Gesprächspartner fast schon schuldbewusst nickte und der andere an seinen Freund gelehnt sitzen blieb. Doktor Yoshida hatte das Gefühl, dass hier gerade nicht alles mit rechten Dingen zuging, aber wer wäre er, würde er nun darauf bestehen, einen Ausweis sehen zu wollen? Wer der drei in welchem Verhältnis zu seinem Patienten stand, konnten die Schwestern der Tagschicht später klären.

 

„Folgen Sie mir bitte, Herr Takayasu.“ Er setzte sich in Bewegung, wartete, bis sein Begleiter zu ihm aufgeholt hatte und stellte sich vor: „Mein Name ist Yoshida. Ich habe Ihren Bruder in den letzten vier Stunden gemeinsam mit meinem Team operiert. In Anbetracht seiner vielen Verletzungen geht es ihm den Umständen entsprechend. Derzeit liegt er im künstlichen Koma …“ Er hörte ein harsches einatmen, richtete den Blick auf den Mann an seiner Seite und beeilte sich, ihn zu beschwichtigen: „Das ist ein übliches Vorgehen nach Kopfverletzungen, um dem Körper die Möglichkeit zur Regeneration zu geben. Außerdem muss Ihr Bruder derzeit noch künstlich beatmet werden, um seine Lunge zu entlasten. Das wäre nicht möglich, wäre er bei Bewusstsein.“

 

Obwohl er das Gefühl hatte, Takayasu-san würde ihm nicht zuhören, redete er weiter. Er hatte bislang die Erfahrung gemacht, dass es den Angehörigen half, so viel wie möglich erklärt zu bekommen, auch wenn sie meist gar nicht in der Lage waren, alles zu verarbeiten. Außerdem sagte man ihm nach, dass seine Stimme eine beruhigende Wirkung auf andere hatte, also warum sollte er das nicht ausnutzen?

 

Nachdem sie eine doppeltürige Schleuse hinter sich gelassen hatten, die die Intensivstation vom Rest des Klinikums abtrennte, begann die zähe Prozedur, sich und seine Begleitung mit Schutzkleidung, Handschuhen und Mundschutz auszustatten.

 

„Ein notwendiges Übel“, versuchte er, mit einem entschuldigenden Lächeln die gedrückte Stimmung ein wenig zu entlasten, und erhielt sogar ein zögerliches Schmunzeln zur Antwort.

 

„Ich denke, man kann nicht vorsichtig genug sein.“

 

„Sie sagen es. Hier entlang, dort drüben ist das Zimmer Ihres Bruders. Bitte stören Sie sich nicht an dem Sichtfenster im Raum. Herr Iwakami befindet sich in engmaschiger Überwachung, da ist es notwendig, auch optische Anzeichen eventueller Probleme sofort erkennen zu können. Sobald er das Gröbste überstanden hat, wird er erneut verlegt werden.“

 

~*~

 

Yukke nickte, während ihm Doktor Yoshida eine Erklärung nach der anderen lieferte, doch seine Gedanken kreisten um ein ganz anderes Thema. Noch immer verstand er nicht, weshalb Satochi zugelassen, ihn sogar mehr oder weniger stumm dazu aufgefordert hatte, mit dem Arzt mitzugehen. Nicht, dass er ihm dafür nicht unendlich dankbar war …

Er konnte es kaum erwarten, Tatsuro zu sehen, und hatte gleichzeitig unerträgliche Angst davor. Angst, ja, vielleicht war das der Grund, weshalb Satochi nichts gesagt hatte. Tränen brannten in seinen Augen, als er daran denken musste, wie verzweifelt Sato sich um seinen Bruder bemüht hatte. Und er? Er hatte nichts tun können. Also war es jetzt wohl nur fair, dass er diesen schweren Gang allein ging, sich alles, was der Arzt zu sagen hatte, so gut wie möglich einprägte und Tatsuro zeigte, dass sie für ihn da waren.

 

„Hier sind wir.“ Die Stimme Doktor Yoshidas riss ihn aus seinen Gedanken und verschämt richtete er den Blick für einen Moment auf seine Schuhe, die in blauen Plastiküberziehern steckten. So viel also dazu, dass er sich alles merken wollte, was der Arzt ihm sagte.

 

Eine hellblau gestrichene Tür mit rundem Sichtfenster darin wurde ihm aufgehalten und Yukke hatte das Gefühl, seine Beine wären plötzlich bleischwer geworden, so anstrengend war jeder Schritt, der ihn Tatsuros Bett näherbrachte. Der Anblick erinnerte ihn auf schmerzliche Weise an seinen Besuch an Seeks Krankenbett vor einigen Stunden. Er kniff die Augen zusammen. War das alles wirklich erst gestern geschehen?

 

Tatsuro, der ihn ins Krankenhaus gefahren hatte.

Seek, bewusstlos und übel zugerichtet.

Seeks Eltern, die so schreckliche Angst um ihren Jungen hatten.

Der Drehschluss.

Die Feier.

Tatsuros blutiges Gesicht.

 

Er spürte, wie sein Atem immer schneller ging, wie sehr er zitterte und sich alles zu drehen begann. Ein fester Griff um seinen Oberarm stabilisierte ihn und dirigierte ihn zu einem Stuhl, der unweit von Tatsuros Bett stand. Eine ruhige Stimme drang an seine Ohren, aber der Sinn der Worte wollte ihm nicht klar werden, bis ihm ein Pappbecher in die Hand gedrückt wurde.

 

„Herr Takayasu, versuchen Sie ruhig zu atmen und trinken Sie einen Schluck.“

Wie automatisch tat er, was von ihm verlangt wurde, bis seine Sicht sich soweit klärte, dass er Doktor Yoshidas mitfühlendes Gesicht unweit vor sich erkennen konnte.

„Ein Pfleger wird Ihnen gleich etwas zur Beruhigung bringen, in Ordnung?“

 

Yukke nickte nur, zu aufgewühlt und ausgelaugt, um zu widersprechen. Ohnehin lag seine Aufmerksamkeit schon nicht mehr auf dem Arzt, sondern auf dem, was er von Tatsuro im Krankenbett liegend und an Dutzende Instrumente angeschlossen erkennen konnte.

 

„Oh, Tatsue“, entkam es ihm mehr schluchzend als gesprochen und mit zitternden Fingern tastete er nach der Hand seines Freundes. Selbst hier war ein Zugang gelegt, die Finger kühl und leicht geschwollen.

„Was ist mit seinem Auge?“ Er hob den Kopf, suchte Doktor Yoshidas Blick und störte sich nicht daran, dass der Arzt die Tränen sehen konnte, die in seinen Augen standen.

 

„Die Hornhaut wurde verletzt, die Linse darunter ist durch Einblutungen eingetrübt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch keine sichere Prognose abgeben, aber es kann sein, dass Herr Iwakami eine Transplantation benötigen wird, um seine Sehkraft wiederherzustellen.“

Yukkes Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ihm ein Laut entkommen wäre. Schock ließ seine Glieder kribbeln und seine Lippen eiskalt werden.

„Wenn sich Ihr Bruder von seinen Verletzungen gut erholt, und davon gehe ich derzeit aus, wird die Erblindung nur temporär sein.“

 

‚Erblindung. Oh, Tatsuro.‘

„Und …“, krächzte er mit rauer Stimme, „was ist mit all dem Rest?“

 

„Die verabreichten Medikamente und Drogen konnten wir soweit neutralisieren, dass seine Leber in den nächsten Tagen alles Weitere erledigen kann. Sein Herz wird keine bleibenden Schäden davontragen. Sorgen machen uns im Moment noch die Kopfverletzungen. Falls der Druck in seinem Gehirn steigt, werden wir ihn heute noch einmal operieren müssen, aber wie ich eingangs schon erwähnte, wird Iwakami-san rund um die Uhr überwacht, damit wir unverzüglich reagieren können.“

 

Yukke nickte erneut, auch wenn die Worte des Arztes mehr und mehr wie Nebelfetzen an ihm vorbeizogen. Er wollte aufpassen, das wollte er wirklich, aber es war einfach zu viel. Zu viel war geschehen, zu groß waren die Sorgen in den letzten Stunden gewesen. Er konnte nicht mehr. Er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde, sich Doktor Yoshida mit jemandem unterhielt, aber erst, als ihm eine kleine, weiße Tablette in die Hand gedrückt wurde, blickte er wieder auf.

 

„Zur Beruhigung“, erklärte Doktor Yoshida und lächelte ihm zu. Yukke hätte diese Geste gern erwidert, allein schon aus Dankbarkeit, weil der andere sich so viel Zeit für ihn nahm, obwohl er sehen konnte, dass auch der Arzt erschöpft und müde wirkte.

 

„Danke“, murmelte er stattdessen nur und schluckte das Medikament.

 

„Ich lasse Sie nun für ein paar Minuten allein. Reden sie mit ihm, das wird ihm guttun.“

 

„Kann er mich hören?“ Er spürte zwar, dass seine Lippen sich bewegten, aber seine Gedanken und sein Blick lagen einzig und allein auf Tatsuro.

 

„Das ist durchaus möglich. Er wird auf jeden Fall spüren, dass jemand für ihn da ist.“ Die Hand des Arztes legte sich auf seine Schulter, drückte einen kurzen Moment lang zu, doch bevor Yukke diese Geste des Mitgefühls überhaupt vollends registrieren konnte, war er allein mit Tatsuro und den Geräuschen der Maschinen.

 

Wie in Zeitlupe erhob er sich, beugte sich über seinen Freund, der so erschreckend still in seinem Bett lag. Tatsuros Brust hob und senkte sich unnatürlich gleichmäßig im Rhythmus der Beatmungsmaschine, deren mechanisches Surren in seinen Ohren schmerzte.

 

„Es tut mir so leid.“ Seine Finger schwebten über Tatsuros Gesicht, aber bis auf das linke Auge gab es fast keine Stelle Haut, die nicht von weißen Verbänden bedeckt war.

„Du siehst wie eine Mumie aus“, brach es plötzlich gefolgt von einem schluchzenden Lachen aus ihm heraus. Am liebsten hätte er seinen Kopf an der Brust des anderen versteckt und wie ein kleines Kind geweint. Aber seine Verletzungen machten dies zu einem Ding der Unmöglichkeit.

„Du wirst toben, sobald du wieder wach bist“, redete er weiter, obwohl er keine Ahnung hatte, was er von sich gab. „Sie mussten dir deine Haare abschneiden, doch schöne Menschen kann ja bekanntermaßen nichts entstellen, stimmt‘s?“ Barsch wischte er sich über die Augen, weil sein Mundschutz der vielen Tränen wegen schon ganz aufgeweicht war.

„Sie haben Nobu und Kaisuke festgenommen. Der Mistkerl bekommt, was er verdient, da bin ich mir sicher. Schon allein, weil die Polizisten das Video beschlagnahmt haben.“ Er spürte, wie erneut Wut in ihm hochsteigen wollte, aber sie fühlte sich eigenartig gedämpft und distanziert an. Vermutlich die Medikamente, dachte er sich.

„Ich muss wohl mit einer Anzeige wegen Körperverletzung rechnen, aber soll ich dir was verraten? Dem Arschloch die Fresse blutig zu schlagen, wars wert.“ Erneut hallte ein Lachen von den Wänden wider, das in seinen Ohren so gequält und schrill klang, dass er diesen Laut gar nicht erst mit sich selbst in Verbindung bringen konnte.

„Weißt du, dass Sato dir das Leben gerettet hat? Himmel, Tatsue, du hast nicht mehr geatmet, aber Satochi hat nicht aufgegeben. Er hat so lange versucht, dich wiederzubeleben, bis die Sanitäter eingetroffen waren.“ Er schniefte und rieb sich über die Augen.

„Es tut mir so leid, Tatsue. Ich hätte … keine Ahnung. Ich hätte mehr tun müssen.“ Er senkte den Kopf, stumme Schluchzer schüttelten ihn, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

„Tschuldige. Es ist nicht fair von mir, dir was vorzuheulen, wenn du dich nicht wehren kannst, was?“ Tief durchatmend richtete er sich wieder auf und streichelte Tatsuro über die bandagierte Wange. Vermutlich spürte er die Berührung nicht einmal, so leicht war sie, aber Yukke brauchte wenigstens diese winzige Nähe.

„Satochi und Miya sind auch hier, sie durften nur leider nicht zu dir. Eigentlich hätte ich auch nicht hier sein dürfen, weil das nur Angehörigen gestattet ist. Aber ich hab mich für Sato ausgegeben, weil er das so wollte. Frag mich nicht warum, aber ich bin ihm unglaublich dankbar.“ Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen und für einen Moment versteckte er sein Gesicht hinter der linken Hand, die Finger der Rechten noch immer um Tatsuros gelegt.

„Gott, Tatsue, du musst wieder aufwachen, bitte. Du musst gesund werden. Ist dir eigentlich bewusst, wie wenig ich von dir weiß, obwohl wir die letzten Monate ständig aufeinander gehockt sind? Es tut mir leid, dass dieses dumme Missverständnis zwischen uns stand. Ich hätte viel früher mit dir reden und mich nicht ständig abwimmeln lassen sollen. Aber den Fehler mach ich nur einmal, hörst du? Ich bleib an dir dran, Iwakami, und auf unser Date besteh ich auch. Egal, ob wir’s zur Ghibli-Ausstellung schaffen oder nicht, vom Haken lass ich dich ganz sicherlich nicht mehr.“

 

Yukke redete so lange, bis Doktor Yoshida ihn höflich bat, mit ihm mitzukommen, Tatsuro würde nun Ruhe brauchen. Sein Hals schmerzte, ebenso wie seine verletzten Finger und sein Herz, als er seinen Freund hinter der hellblauen Tür mit dem Sichtfenster zurücklassen musste.

 

Wieder im Aufenthaltsbereich der Notaufnahme angekommen, verabschiedete sich der Mediziner kurz von ihnen, bevor Yukke begann, alles wiederzugeben, was er in Erfahrung hatte bringen können. Satochi und Miya unterbrachen ihn kein einziges Mal, selbst als der Regisseur sie aus dem Krankenhaus und in sein Auto dirigierte. Miya hatte wohl beschlossen, dass man ihn nicht allein lassen konnte und er deswegen genau wie Satochi mit zu ihm nach Hause fahren würde. Yukke musste ehrlich zugeben, dass er nicht mal noch die Kraft fand, sich gegen diese gut gemeinte Bevormundung zu wehren. Die Fahrt verstrich wie in einem schlechten Traum, Fetzen der Aussicht aus dem Seitenfenster und von Gesprächen flogen an ihm vorbei, aber später hätte er nicht einmal sagen können, wie er in Miyas Gästebett gelandet war.

 

Sein letzter Gedanke galt Tatsuro, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

 

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Ich denke, dieses Kapitel kann man als Transitionskapitel bezeichnen. Ich hab das Gefühl, dass nicht wirklich viel passiert, obwohl sich die Ereignisse mehr oder weniger überschlagen. Zu urteilen, ob ich etwas Lesbares aufs Papier gebracht habe, überlasse ich also lieber euch. ;)



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