Christophers kleine Schwester
Nervös mit den Beinen auf und ab zitternd, saß Christopher am Montagabend auf einem der Sessel im Empfangsbereich des Fitnesscenters. Immer wieder sah er hinauf zu der Uhr, die über dem Büro hing.
War das Teil stehen geblieben?
Es schien ihm, als würde die Zeit nicht vergehen. Lediglich der stetig vor sich hin tickende Sekundenzeiger wies ihn darauf hin, dass er sich nur noch wenige Minuten gedulden musste.
Geduld jedoch war eine Tugend, die überbewertet wurde!
Nur warum war er eigentlich so nervös?
Er wartete doch nur auf Elli, die seit sechs Uhr in der der Ernährungsberatung saß.
„Bye Chris“
„Bye Chris“
„Bis Morgen, Chris“
So hallte es immer wieder von den Mädels hinüber, mit denen er vor bald einer Stunde den Yogakurs beendet hatte. Anschließend war er lange und ausgiebig duschen gewesen, oder zumindest hatte er das gedacht, denn nach nur fünfzehn Minuten hatte er mit seinem Hab und Gut an dem Tisch Platz genommen und starrte auf diese verfluchte Uhr.
Clara hinter dem Tresen zog irritiert eine Augenbraue hoch und trocknete weiter die Tassen ab, ehe sie sie in die Schränke einsortierte. So hatte sie ihn wirklich noch nie gesehen.
Er hob wieder den Kopf und sie folgte seinem Blick. Sage und schreibe dreiundvierzig Sekunden waren seit seinem letzten Hochsehen vergangen.
Vielleicht war doch ein Notarzt nötig.
Er ließ sich gegen die Lehne seines Stuhls fallen, hob einen Fuß auf das Knie des anderen Beines und sah hinaus auf die Straße.
Er benahm sich seltsam. Nicht nur wegen seiner Unruhe, sondern auch, weil er noch immer im Center war. Normalerweise ging er, sobald er fertig war, aber heute...
Sie packte das nun leere Tablett beiseite und zog einen der Pappbecher aus dem Schrank. Bis zur Oberkannte gefüllt mit kaltem Wasser, brachte sie ihn zu ihm hinüber und stellte ihn vor ihm ab.
„Sorry, Baldrian kann ich dir nicht anbieten, aber vielleicht hilft ja schon ein Schluck Wasser, um dich zu beruhigen.“
Er sah sie wenig begeistert an, dankte aber mit knapper Geste für das Getränk, also ging sie wieder, als er ansetzte.
„Keine Sorge, Baldrian brauche ich nicht.“, rief er nach dem Schluck zu ihr hinüber.
„Nein? Du wirkst wie ein Eichhörnchen auf Koffein. Erinnerst du dich an Hammy aus „ab durch die Hecke“? Genau diesen Eindruck vermittelst du gerade.“
„Stimmt doch gar nicht! Ich bin nicht nervös oder so!“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Mit einem Schlag saß er kerzengerade da und sah aufmerksam wie ein Hündchen an ihr vorbei.
Nun endgültig an seiner Gesundheit zweifelnd beobachtete Clara das Ganze.
„Clara?“, erschrocken fuhr sie herum. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie ihre Kollegin Kathi plötzlich neben ihr aufgetaucht war und nun nach irgendetwas in den Schränken suchte.
„Hm?“, war alles, was sie antworten konnte mit den Gedanken noch immer woanders.
„Haben wir noch irgendwo einen neuen Stempel? Meiner ist leer. Oder wenigstens ein frisches Stempelkissen.“
„Ja, klar, warte!“, Clara wandte sich ab und trat, gefolgt von Kathi, an einen weiteren Schrank heran. Ein wenig kramen und schon hatte sie das Gesuchte zu fassen bekommen. „Hier, nimm erstmal den, wir tauschen das Kissen nachher aus.“
Kathi nickte, bedankte sich überschwänglich und lief eilig zurück zu der Glastür, hinter der normalerweise die Kinderbetreuung war.
Als sie sie wieder geschlossen hatte entspannte sich Christopher in seinem Stuhl – vorausgesetzt man konnte das so nennen – und lehnte sich zurück. Nicht nur mit einem Fuß wippend, sondern jetzt auch mit den Fingern einer Hand auf der Armlehne trommelnd, sah er wieder zur Uhr.
Es war fünf vor halb acht.
Clara schloss alle Schränke, sah von ihm zur Tür und wieder zurück.
War er wegen Kathi so nervös?
Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Kathi war verheiratet und erwartete ein Kind. Man konnte ja über diesen Schürzenjäger sagen was man wollte, aber an Frauen in Beziehungen machte er sich prinzipiell nicht heran.
Aber was war es dann?
Sie kratzte sich den Kopf unter dem kurzen, schwarz gefärbten Haar und stützte sich am Tresen ab.
Der Ernährungskurs fand gerade statt und wurde von Kathi geleitet.
War das der Schlüssel?
Plötzlich begann sie breit zu grinsen, unterdrückte ein Lachen und verschränkte die Finger hinter ihrem Rücken. Mit steifen Beinen und den Hochzeitsmarsch pfeifend schlawenzelte sie zu ihm hinüber.
Verständnislos sah er ihr entgegen, bis sie sich auf den Stuhl vor ihm plumpsen ließ. Wie die Königin auf ihrem Thron breitete sie ihre Arme aus, warf ein Bein über das Andere und wippte freudig mit dem Fuß in der Luft.
„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Christopher abwehrend.
„Warum? Ich freu mich doch nur!“
„Und worüber?“
„Du weißt es ganz genau.“
„Nein, leider nicht. Klär mich auf.“
Wie von der Tarantel gestochen sprang Clara plötzlich auf die Füße, um den Tisch herum wie ein junges Reh und schmiss sich ihm auf den Schoß.
„Hey, hör doch auf mit der Scheiße! Was soll das denn?“, jammerte er, als sie ihn mit vielen kleinen Küsschen folterte. „Bäh, was ist denn in dich gefahren? Sehe ich aus, wie Zuckerwatte?“
„Ich freue mich einfach so für dich, mein süßes Brüderchen, du! Du kleiner Herzensbrecher und verführerisches...“
„Clara“, er patschte ihr einfach eine Hand ins Gesicht. „Benimm dich mal wieder. Du bist kein kleines Kind mehr.“
„Natürlich. Entschuldige.“
Sie kicherte leise und stand auf, um sich auf ihren Platz zu setzen. Immer noch grinsend begegnete sie dann seinem verständnislosen Blick. Sie sagte nichts sondern kicherte weiter, bis er den Kopf schüttelte.
Was wollte dieses kleine Monster eigentlich von ihm?
„Du und Elli, ja?“
Nun verzog er das Gesicht noch mehr. Was war denn bitte mit ihm und Elli?
„Na Elli, diese kleine Dicke, die sich gestern angemeldet hat.“
„Ich weiß, wer Elli ist, aber was soll mit ihr sein?“
„Na ihr beide! Da tam-ta-da“, sie begann wieder den Hochzeitsmarsch zu singen, weshalb er nun genervt die Augen rollte.
„Clara...“
„Nein, nein, keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt! Aber lass dir gesagt sein, dass Mama und Papa sich wahnsinnig darüber freuen werden! Endlich wirst du sesshaft.“
„Ich bin bereits sesshaft, Clara. Erinnerst du dich? Ich hab ein Haus.“
„Ja, schön und gut, du hast ein Haus. Aber nur, weil Mama und Papa sich bei Papas Geschwistern dafür eingesetzt haben, dass du es bekommst, damit sie deine Eskapaden nicht mehr ertragen müssen. Und wenn sie nun hören, dass du eine Freundin...“
„Elli und ich haben nichts miteinander.“
„Nein? Warum taucht sie dann hier auf und meldet sich an? Hast du dich nicht als persönlichen Trainer für sie eingetragen? Und der beste Beweis: Ihr seid gestern zusammen gegangen und heute sitzt du hier, eine halbe Stunde nach Feierabend, und wartest darauf, dass der Ernährungskurs beendet ist, in dem sie sitzt!“
„Woher willst du wissen, dass ich darauf warte, dass der Ernährungskurs beendet ist?“
„Ach komm, das ist offensichtlich. Du warst wie ein Erdmännchen im Zoo, als die Tür da eben auf ging.“
Er grummelte leise und sah aus dem Fenster.
„Ha! Ich habe also doch recht.“
Er schüttelte erneut den Kopf.
„Ich gratuliere dir, Brüderchen, du entwickelst dich weiter! Ich habe zwar bisher immer nur „Hallo“ und „Tschüss“ zu ihr gesagt, aber sie hat eine so einnehmende Ausstrahlung.“, sie lächelte glücklich und atmete tief ein. „Ich bin stolz auf dich! Endlich hast du eine Freundin, die ich mag! Oh, und Mama und Papa werden sie sicher auch lieben! Und vor allem sieht sie nicht so künstlich aus, wie deine bisherigen Mädchen! Mama und Papa werden Augen machen! Sie ist klasse!“
„Clara, ich sage es jetzt noch ein letztes Mal: Ich habe nichts mit Elli. Elli wohnt im Haus nebenan bei ihren Eltern. Ihre Mutter hat mich Samstag zum Mittagessen eingeladen und gestern wie heute nimmt sie mich einfach mit nach Hause, das ist alles.“
„Ah ja, und du bist so aufgeregt, weil du mal nicht mit dem Bus fahren musst? Träum weiter, Schatzi, ich hab dich durchschaut.“
Er seufzte.
Es war sinnlos gegen das Mädchen anzureden, sie war so stur, wie ihr Vater.
„Also, was macht ihr Heute Abend noch? Darf ich schon mal in Babyläden nach hübschen Sachen für meinen Neffen oder meine Nichte suchen? Oder für beide?“
„Wenn du es genau wissen willst: Marie kommt nachher zu mir.“
Nun blieb Clara endlich ruhig. Ihr Lächeln verschwand und ihr Gesicht versteinert.
„Du kranker Idiot.“
Irritiert zog Christopher den Kopf ein und sah seine Schwester an, als sei sie nicht ganz dicht.
„Mal ehrlich, du stehst auf Schmerzen, oder?“
„Solche Sexspielchen machen wir nicht.“
„Davon rede ich nicht. Erinnerst du dich daran, als ihr beide Abi gemacht habt? Wie lange wart ihr zusammen, bis heraus kam, dass sie noch mindestens einen weiteren Kerl hat, drei Tage?“
„Drei Wochen.“
„Also drei Tage.“
„Clara, du missverstehst das.“, er wedelte abwehrend mit den Händen. „Marie und ich haben nichts Festes. Und neben ihr hab ich außerdem noch was mit Sandra und Anna.“
„Und wer soll das sein?“
„Kennst du nicht.“
„Also existieren sie nicht.“
Christopher rollte entnervt mit den Augen. Dieses kleine Biest ging ihm gehörig sonst wo hin.
„Gib es zu, du rennst Marie schon wieder hinterher, stimmt ‘s? So lange, bis sie wieder jemanden neues gefunden hat.“
„Nein, das tu ich nicht.“, jammerte er frustriert. „Aber wenn du es genau wissen willst: Marie schläft heute bei mir und morgen vermutlich auch.“
„Du bescheuerter Hohlkopf!“, zu seinem Glück konnte Clara nichts in ihrer Reichweite finden, womit sie nach ihm werfen konnte. Christopher schüttelte nur den Kopf und sah wieder raus.
„Und was ist mit Elli?“
„Wir sind nur Freunde.“
„Seit wann kannst du mit einer Frau befreundet sein, ohne sie zu vögeln?“, platzte es aus Clara heraus.
„Tja, scheinbar kann ich es.“
So langsam wurde das Gespräch nicht nur lästig, sondern auch schwachsinnig. Sie würden sich gleich auf einer Ebene ineinander verbeißen, wonach sie wieder wochenlang nicht miteinander redeten, bis sich ihre neue Dienstmutti – Kathi – die beide zur Brust nehmen und ihnen gehörig die Meinung geigen würde.
„Hör zu Clara, wir streiten uns jetzt bitte nicht, in Ordnung? Nimm es hin, wie ich es sage: Ich und Marie haben nichts Festes. Wir schlafen nur gelegentlich miteinander. Und Elli ist ein liebe, gute Freundin von mir, nicht mehr und nicht weniger.“
„Und warum bist du dann so nervös?“
Er seufzte.
Ja, warum eigentlich? Da er es selbst nicht genau sagen konnte, musste sehr schnell eine sehr gute Ausrede her.
„Ach, wahrscheinlich, weil ich einfach total dumm gewesen bin.“
„Oh, etwas ganz Neues!“, verkündete Clara sarkastisch. „Na los, spuck es aus! Was hast du angestellt?“
Er seufzte.
„Ich will morgen mit den Jungs einen drauf machen. Im Garten grillen und so. Und einige Mädels werden auch dabei sein. Einige von mir und einige von den Jungs...“
„Oh Gott, nicht schon wieder... genau wegen sowas wollten dich Mama und Papa aus dem Haus haben!“
„Um ehrlich zu sein, mache ich mir über sowas, wie das, was beim letzten Mal passiert ist, weniger Sorgen.“
„Ja, die größte Sorge ist vermutlich: Wird das Haus am Ende noch stehen.“
„Sehr komisch. Nein, meine größte Sorge ist Elli.“
Clara schwieg.
„Na klasse.“, knurrte sie dann. „Sag nicht, dass du sie zu einer Fete mit dir und deinen hirnverbrannten Vollochsen eingeladen hast.“
„Doch, sieht so aus.“
Clara ließ sich stöhnend in dem Sessel nach hinten fallen und schlug eine Hand vor den Kopf.
„Wann geht ’s los? Nur damit ich weiß, welche Zeit ich dem Notarztwagen mitteilen muss.“
„Komm, so schlimm sind sie nicht!“
„Nein? Darf ich dich an eure Mitschülerin erinnern?“
Er schwieg. War ja klar, dass sie mit der Geschichte wieder anfangen musste. „Erinnerst du dich an sie? Wie hieß sie noch?“
„Paula“, knurrte er missmutig. Paula, das Mädchen, wegen der er eine Laufbahn im Namen der Gesundheit eingeschlagen hatte... Getroffen sah er aus dem Fenster.
„Erzähl mir noch einmal ihre Geschichte, Christopher.“, forderte sie, aber er biss nur die Zähne aufeinander. Clara ließ ihm einige Sekunden, ehe sie weiter meckerte. „Und nun willst du Elli auf eine Fete mit diesen Idioten mitnehmen?“
„Clara, ich weiß, dass das scheiße war was damals passiert ist. Aber wir waren damals gerade erst fünfzehn Jahre alt. Es ist über zehn Jahre her. Wir sind erwachsen geworden. Und Elli ist eine mental gefestigte Frau. Da passiert schon nichts.“
„Ah ja und als was willst du Elli vorstellen?“
„Meine Nachbarin.“, erklärte er schulternzuckend.
„Nachbarin?“
„Als eine Freundin!“, korrigierte er frustriert und Clara nickte mehr oder weniger zufrieden.
In dem Moment wurde es laut in dem Raum. Eine Masse von pummeligen Frauen jeglichen Alters strömte aus dem Spielzimmer zur Theke.
Clara sah suchend auf, Christopher dagegen hob nun wesentlich nüchterner als vorher den Kopf und sah sich um.
Mit ihrer dunkelroten Sporttasche über den Schultern, kam Elli sofort auf sie zugelaufen, als sie Christopher entdeckt hatte.
Sie strahlte über das ganze Gesicht und während es Christopher so schien, als würde es im Raum etwas heller werden, sprang Clara eilig auf die Füße.
„Hey“, begrüßte sie sie.
„Hallo“, entgegnete Elli etwas zurückhaltender. Doch Clara grinste nur noch breiter und wackelte freudig nervös von einem Fuß auf den anderen.
„Ehm...“, machte Elli nur. „Soll ich euch beide wieder allein lassen?“
„Was?“, fragte Christopher irritiert, nahm seine Tasche und stand auf. Clara brach in schallendes Gelächter aus.
„Nein, quatsch, alles gut, wir sind fertig, nicht wahr, Kleiner?“, sie warf einen herrischen Blick auf ihren Bruder, der sich nur wie ein getretener Hund kleiner machte und sich – einen Bogen um seine Schwester machend – hinter Elli zu verstecken versuchte.
„Können wir bitte fahren?“, fragte er missmutig.
„Alles in Ordnung?“, wollte Elli wissen und Clara lenkte sie sofort wieder ab, ehe ihr Bruder etwas Dummes sagen konnte – wie immer.
„Ja, ja, alles gut, er ist nur etwas sauer auf mich, weil ich gesagt habe, dass ich meinen weltberühmten Nudelsalat bis Morgen nicht mehr schaffe. Ich muss den ganzen Tag arbeiten, weißt du...“
Elli nickte und konzentrierte sich weiter auf Clara, weshalb sie den was-soll-der-scheiß-Blick von Christopher nicht bemerkte. Sie versuchte stattdessen noch immer einzuordnen, was da war, zwischen Christopher und Clara.
„Also dann, ich muss weiterarbeiten. Wir sehen uns dann spätestens beim Grillen.“
Moment... hatte sie sich gerade selbst eingeladen?
Fassungslos sah ihr Bruder ihr nach. Clara konnte seine Freunde absolut nicht leiden und nun kam sie freiwillig zu einer Fete mit ihnen?
Er wandte sich verwirrt ab und sah zu Elli.
„Fahren wir?“
„Mein Auto ist unten in der Tiefgarage.“, sie nickte und verließ mit ihm zusammen das Studio. Seite an Seite machten sie sich schweigend auf den Weg zu den Fahrstühlen.
„Deine Freundin?“, fragte Elli irgendwann und nickte zurück zu dem gläsernen Eingang.
„Oh nein“, Christopher schüttelte den Kopf, als wäre das absolut undenkbar. „Meine Schwester. Ich bin Single.“
Warum auch immer er den Nachsatz hinterher geschoben hatte...
„Das Problem ist, dass ich den ganzen Tag unterwegs bin und eigentlich nie einen Blick auf die Uhr werfe.“, erklärte Elli ihrem Telefon, das an der Halterung in ihrem Ausschnitt baumelte, und rührte in dem Nudeltopf herum.
„Stell dir doch einen Wecker.“, schlug Christopher am anderen Ende der Leitung vor.
„Ok, das ist eine Möglichkeit, aber was soll ich unterwegs essen?“
Er seufzte.
„Pass auf, Elli. Fakt ist, dass es so mit deinen Ernährungsgewohnheiten nicht weitergehen kann. Du musst regelmäßig essen.“
„Ja, ich weiß, das haben wir heute gelernt. Morgens gleich nach dem Aufstehen etwas essen, damit der Kreislauf in Schwung kommt. Und dann alle vier Stunden, damit der Stoffwechsel den Tag über in Gang bleibt und sich nicht einfach ausschaltet. Und am besten etwa vier Stunden vor dem Schlafengehen das letzte Mal etwas essen.“
„Eben... Was kochst du da eigentlich im Hintergrund?“
„Nudeln.“
„Elli, nein! Nicht am Abend! Nudeln und Kartoffeln setzen abends sofort an.“
„Brot eigentlich auch.“, erklärte sie und streckte ihm die Zunge heraus, wenn er es auch nicht sehen konnte. „Nein, ich koche Nudeln für einen Salat für morgen. Als Ausgleich für den von deiner Schwester.“, sie hatte die Ausrede wirklich geschluckt.
„Ach so“, er seufzte undefinierbar. „Naja, zurück zum eigentlichen Thema.“
„Ok, also für mich würde das bedeuten: Morgens um sechs oder halb sieben aufstehen und essen. Aber nach dem vier-Stunden-Rhythmus müsste ich dann wieder gegen zehn etwas zu mir nehmen und da habe ich noch lange keine Pause!“
„Dafür wurden die Zwischenmahlzeiten erfunden. Am besten etwas Obst oder Gemüse. Vielleicht eine aufgeschnittene Paprika. Und dann kannst du gegen eins oder zwei wieder was essen.“
„Mittagspause... Und was soll ich da essen? Ich habe keine Lust auf Brot. Und da ich nur dreißig Minuten Pause habe, kann ich mir auch nichts kochen oder der Gleichen.“
„Hm“, machte Christopher nur. „Also wenn du magst, dann schick mir einfach deinen Terminkalender. Ich hole dich von deinem letzten Termin vor der Pause ab und dann suchen wir uns zusammen etwas. Einen Schnellimbiss vielleicht, oder wir holen uns was aus dem Supermarkt oder so.“
Elli lächelte selig. Er war ja so süß.
„Ein Schnellimbiss, ist das nicht ungesund?“
Er machte ein ablehnendes Geräusch. „Es ist nicht das Beste, aber man kann auch bei einem Schnellimbiss gute Mahlzeiten finden. Abgesehen davon, kannst du wirklich absolut alles essen, du musst auf nichts verzichten. Du musst nur wissen, was du wie oft essen solltest und wann. Selbst einen Schokoriegel kannst du essen, solange es bei einem bleibt und nicht eine ganze Packung wird.“
Sie lachten beide ausgelassen.
„Ok“, wenn du willst, dann schicke ich dir gleich per SMS die Treffpunkte für die ganze Woche, in Ordnung?
„Super, das machen wir. Also, gehen wir davon aus, dass du um eins die nächste Mahlzeit gegessen hast. Wann bist du zu Hause?“
„Achtzehn Uhr?“
„Hm... ok, dann solltest du noch eine Zwischenmahlzeit einnehmen ich sage mal zwischen drei und vier und dann spätestens zu sieben dein Abendbrot. Und verzichte beim Abendessen nach Möglichkeit auf Brot, Nudeln und Toast. Allerdings wäre etwas Eiweißhaltiges ganz sinnvoll, denn Eiweiß braucht dein Körper in der Nacht, um sich zu regenerieren.“
„Ist gut. Ich bestell mir Sushi.“
Er lachte.
„Nein, Reis steht auch auf dem Index, was das Abendessen angeht. Aber vielleicht ein Salat mit Fisch oder Putenstreifen...“
„Oh, mein großer Essensguru, was würde ich nur ohne dich tun?“
Er lachte.
„Du hast noch viel zu lernen, junger Padavan.“
Sie kicherte. Am liebsten würde sie ihn für seine Unterstützung in den Arm nehmen. Es tat einfach so gut jemanden bei sich zu haben, der ihr half. Es klingelte im Hintergrund.
„Also, ich muss Schluss machen. Du schickst mir alles, ja?“
„Na klar“, flüsterte sie liebevoll, dass selbst er am anderen Ende leise lächeln musste.
„Wir sehen uns dann morgen, Elli. Schlaf gut.“
„Ja, du auch.“
Es dauerte noch einige Sekunden, bis Elli auflegte und sie war sich sicher, dass er in der Leitung geblieben war, bis er das Knacken vernommen hatte, das ihm zeigte, dass sie das Gespräch beendet hatte.
Schnell tippte sie die SMS in ihr Telefon, um ihm die Adressen mitzuteilen, wo sie die kommenden Tage zur Mittagszeit sein würde und packte es dann auf ihren Schreibtisch zu ihrem Diensthandy.
Sie seufzte verliebt und hüpfte mit beschwingtem Schritt zurück zum Herd. Gedankenverloren begann sie wieder in den Nudeln zu rühren.
Christopher war einfach wundervoll. Er gab ihr so viel Kraft und Mut, um endlich eine Diät durchzuziehen. Dieses Mal, so war sie sich sicher, würde sie das alles schaffen.
Wie viel Kilos würde sie wohl bis Weihnachten verloren haben?
Und wie viel bis zum nächsten Sommer?
Wie würde sie dann aussehen?
Würde sie ihm dann endlich gefallen?
Sie lief rot an, als sie daran dachte und nahm den Topf, um die Nudeln in ein Sieb zu schütten. Dann tänzelte sie regelrecht ins Badezimmer.
Sie war sich sehr sicher, dass sie gute Karten hatte.
Gut, irgendwo in ihr flüsterte auch immer eine kleine Stimme, dass sie sich so aufführte wie die Figur Gigi aus „er steht einfach nicht auf dich“, die überall nach irgendwelchen Zeichen dafür sucht, dass ein Kerl mehr von ihr wollte und Dinge in Situationen hinein interpretierte, die eigentlich nicht da waren… Aber sie war sich wirklich sicher, dass sie bereits jetzt mehr für Christopher war als eine bloße Freundin.
Dieser Gedanke ließ ihr Herz höher schlagen und weckte das Verlangen Liebeslieder in ewig falschen Tönen zu schmettern.
Doch wie sollte sie etwas anderes denken, wenn er stets und ständig alles für sie stehen und liegen ließ und sich ausschließlich mit ihr befasste, so lange sie in dem Fitnesscenter war. Gut, es war natürlich sein Job, doch die Idee, dass er ihr persönlicher Trainer sein würde, die kam doch auch von ihm. Und dann waren da noch andere Kleinigkeiten: Er hatte sie zu dem Grillabend eingeladen, hatte auf sie nach dem Ernährungskurs gewartet und kaum, dass sie ihre Wohnung betreten hatte, da hatte ihr Festnetztelefon schon geläutet und sie hatten beinahe eine Stunde lang weiter telefoniert.
Und wenn sie an das Schwimmen mit ihm am Vortag dachte...
Ein letztes Mal vor dem Schlafengehen bürstete sie ihr Haar durch und band es zu einem Zopf zusammen. Ein Kontrollblick in den Spiegel zeigte ihr, dass ihre Zähne auch tatsächlich sauber waren und so ging sie zurück in die Küche, um die Nudeln zu Ölen und in den Kühlschrank zu stellen.
Ob er ihr wohl bereits auf ihre SMS geantwortet hatte?
Sie freute sich so unwahrscheinlich darüber, dass er sich mit ihr verabreden wollte. Ein einziges... Date wäre ja schon unfassbar gewesen, aber gleich die ganze Woche? Jeden Tag immer zum Mittag...
Sie schwebte förmlich auf Wolke sieben.
Ja, sie war sich sicher, dass er bereits genauso interessiert an ihr war, wie sie an ihm. Sie würden ein Paar werden!
Sie und Christopher!
Ganz bestimmt!
Sie lachte freudig und ging hinüber zum Schreibtisch, wo ihre beiden Handys lagen. Schnell checkte sie ihr privates, von dem aus sie die Nachricht an ihn gesendet hatte. Bisher keine Antwort.
Na ja, das würde sie nun aber nicht runterziehen. Immerhin konnte es dafür viele Gründe geben und wenn sie sich nicht geirrt hatte, dann hatte auch vorhin seine Haustür geklingelt. Vielleicht hatte ihn ein Freund besucht oder ihm wurde etwas zu essen geliefert...
Wie angewurzelt blieb sie am Fenster stehen.
Konnte das wahr sein?
Ihr Blick suchte sich seinen Weg durch die Scheibe, direkt auf die perfekte, nackte Gestalt ihres Nachbarn, wie er auf seiner Matratze auf dem Boden saß, den Oberkörper gegen ein Kissen und die Wand hinter sich gelehnt. Während er eines seiner fantastischen Sportlerbeine ausgestreckt hatte, hatte er das andere angezogen. Das verwegene Grinsen in seinem Gesicht war deutlich zu sehen, ebenso wie das schwere Heben und Senken seiner Brust bei jedem Atemzug, während seine Hand von seine Bauch hinab wanderte und ruckartig fest nach seiner steinernen, schier gigantisch wirkenden Erektion griff.
Zittrig atmete Elli ein und aus. Konnte das möglich sein?
Und selbst wenn ja, er musste doch wissen, dass sie in sehen konnte, wenn er Licht anhatte. Immerhin besaß er keine Vorhänge!
Wie gebannt starrte sie durch das Fenster zu ihm hinüber.
Schwer erregt schloss er die Augen und legte den Kopf soweit es ging in den Nacken. Sein Mund öffnete sich als würde er leicht stöhnen – Oder etwas sagen? – Dann lachte er leicht und sah wieder vor sich.
Was tat er da? Hatte er einen Film an?
Elli biss sich auf die Unterlippe.
Irgendwas musste sie tun, nur was? Sie konnte doch hier nicht so einfach stehen und ihm zusehen, doch sie schaffte es einfach nicht, sich von ihrem Platz fort zu bewegen.
Schwer schluckend tastete sie nach ihrem Tisch um sich irgendwo fest zu halten, als er die Geschwindigkeit auf sein eigenes Geschlecht anhob und sie spürte, wie es ihr Eiskalt den Rücken hinunter lief. Auf ihren Armen und Beinen bildete sich eine beinahe schon schmerzliche Gänsehaut und ihre Mitte begann zu kribbeln.
Was würde wohl passieren, wenn er wüsste, dass sie ihn sah?
Würde er sie zusehen lassen, oder nie wieder mit ihr reden?
Sie schloss die Augen, um wenigstens einen Augenblick lang durchatmen zu können.
Oder würde er sie vielleicht zu sich auf seine Matratze ziehen und...
Verdammt, warum mussten diese Fenster auch bodenlang sein? Es war ja schön und dadurch heller im Zimmer, wenn es Tag war, aber das war das Problem, warum sie ihm so unverblümt zusehen konnte!
…
Und wenn sie ihn nun anrief?
Sie musste ja nicht sagen, dass sie ihn sah...
Wie würde er wohl darauf reagieren?
Oder würde er überhaupt rangehen?
Vielleicht würde er sie bitten rüber zu kommen?
Ja, das würde ihr gefallen! Sie spürte sie genau, die Feuchtigkeit, die sich langsam in ihrem Schritt ausbreitete.
Was würde er tun? Es gab nur einen Weg es heraus zu finden.
Sie schielte zu ihren Handys hinüber.
Würde sie sich das trauen?
Sie sah wieder zu ihm und wieder zu dem Telefon, in dem seine Nummer gespeichert war.
Nur was sollte sie ihm sagen, warum sie anrief?
Er hatte doch zu ihr zum Abschied gesagt, dass er auflegen musste. Dann würde er sich jetzt vielleicht von ihr belästigt fühlen, wenn sie keinen triftigen Grund nennen konnte...
Vielleicht konnte sie ja einfach fragen, ob er ihre Nachricht bekommen hatte?
Ja, das war doch gut!
...
Nein, eigentlich nicht, aber ihr war jede Ausrede lieb, um seine Nummer zu wählen!
Schnell griff sie nach dem Telefon und begann in ihrem Adressbuch zu blättern. Sie rief sein Profil auf und warf noch einmal einen Blick hinüber.
Noch immer massierte er seine Spitze fest.
War es normal, dass er solch ein Stehvermögen besaß?
Sie schluckte.
Oh wei, was war, wenn er durch das Telefonklingeln aufgeschreckt wurde und sie hier bereits stehen sah? Wenn es ihm nun nicht recht war, dass sie ihn beobachtete, dann würde ihr gesamtes Verhältnis gestört werden!
Sie sah sich um. Nur wo sollte sie sich verstecken?
Auf die einfachste Lösung, dass sie schlicht das Licht ausschalten könnte, kam sie gar nicht erst. Stattdessen sprang sie aus dem Sichtfeld des Fensters und hockte sich dort auf den Boden. Kurz schielte sie ein letztes Mal durch das Glas, dann drückte sie schnell den Wahlknopf.
Was wohl passieren würde?
Neugierig, aber vorsichtig, spähte sie an ihren Vorhängen vorbei und hielt sich den Hörer an das Ohr.
Ein Tuten ertönte und keine Sekunde später lehnte sich Christoper ein Stück vor und wandte den Kopf vom Fenster ab, als würde er neben sich auf den Boden sehen. Seine freie Hand, die auf seinem Knie gelegen hatte, fuhr zu der Stelle, auf die er sah.
Gleich würde er abnehmen! Gleich würde er...
Eine blonde, nackte... wahnsinnig schlanke Frau ließ sich katzenhaft in ihr Sichtfeld vor das Fenster gleiten und drängte ihn wieder zurück, während ihr Mund über seinen Oberkörper hinab fuhr.
Erschrocken legte Elli auf. Ehe Christopher die Gelegenheit bekam zu ihrem Fenster hinüber zu sehen und sie doch noch zwischen den Stoffbahnen zu entdecken, zog sie den Kopf wieder ein und starrte schockiert in den leeren Raum vor sich.
Christopher hatte eine Frau bei sich.
Eine ausgesprochen hübsche Frau...
Und verdammt, war sie dünn gewesen...
Elli ließ das Telefon sinken und sah auf seine Nummer, die zusammen mit seinen Daten im Adressbuch aufgeführt wurde.
Konnte sie sich doch geirrt haben, was sie und ihn anging?