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Der Räuber und der Prinz

von

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Juli (Beta)

Heiß.

Es war unsäglich heiß und stickig und schwül gleichzeitig und anfangs dachte er noch, dass es das war, was ihm an diesem Tag das Gefühl gab, dass die Naturgesetze aus den Angeln gehoben waren. Die Sonne brannte zielsicher vom Himmel auf Akiras schwarzes Haar und Schweiß tropfte ihm in die Brille. Aus seiner gebeugten Haltung heraus kam es ihm bemerkenswert vor, wie mühelos die Leute um ihn herum die Hitze genießen konnten. Normale Menschen wie diese hier, die Besucher des Kulturfests, brauchten dafür anscheinend nur Wassereis, Papierfächer, eisgekühlten Tee und ein erfrischendes Spektakel. Für die Phantomdiebe war der Sommer die Hölle, und es waren die normalen Leute, die sie ihnen im wahrsten Sinne des Wortes noch heißer machten, als sie ohnehin schon wahr. Nicht, dass er ihnen ihren Spaß nicht gönnte - und bei den täglich reißerischeren Presseschlagzeilen über die Medjed-Bedrohung warf Akira der Öffentlichkeit nicht vor, dass sie sich ihre Meinung bildete. Aber je heißer die Tage wurden, desto mehr schien es, als habe die schwüle Luft das Stadtgeflüster über die Verantwortungslosigkeit der Phantomdiebe aufgesogen. Noch nie hatten sie sich so unter Zugzwang gefühlt, sich zu beweisen.

Heute würde er ihr herablassendes Gemurmel mit viel Würde ertragen müssen, wenn er seinen bequemen Job im Blumenladen - seinen Lieblingsjob - nicht verlieren wollte. Es war nicht seine Idee gewesen, mitten im Hochsommer einen Job beim städtischen Kulturfest im Ueno-Park anzunehmen. Doch seine Chefin in Shibuya hatte so davon geschwärmt, wie viel Prestige es mit sich brächte, wenn ihr kleiner Blumenladen bei einem so medienwirksamen Event vertreten sein könnte. Dann hatte sie ihn ihren besten Mitarbeiter genannt und ihn auf die Leiharbeiterliste für die Floristenagentur gesetzt. Und nun war er hier und trotz seines beherzten Sprints durch die Sommerhitze zu spät zu seinem Schichtbeginn. Wenigstens hatte er das fassungslose Gesicht der Speditionsleiterin bisher nur ganz kurz sehen müssen - die Hand des Gesetzes in seinem Nacken hielt ihn auf Augenhöhe mit ihrem geblümten Namensschild. Inagaki stand darauf. Teamleiterin, Floristenspedition Magnolien & Mehr.

“Der Junge gehört wirklich zu Ihnen?”

Das Problem war, dass Akira wohl aus Versehen eine Abkürzung durch eine der äußeren Polizeiabsperrungen bei der Konzerthalle genommen hatte, um es noch rechtzeitig zur großen Hauptbühne des Sommerkulturfests zu schaffen. Der sportliche Polizist, der jetzt hinter ihm stand, hatte ihn erbost verfolgt durch die trägen Besucherströme, die um die großen Bühnen drängten den ganzen Ueno-Park mit lauter Musik und bunten Fähnchen überschwemmt hatten. Jetzt hatte er ihn im Nacken und war fest entschlossen, Akira kein Wort von dem zu glauben, was er zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte. Das neugierige Hälserecken der Popcorn essenden Zuschauer schien ihn zu einem extra autoritären Ton zu inspirieren. Makoto hatte schon prophezeit, dass die Polizeiaufseher auf dem Festgelände auf Alarmstufe rot sein würden und er sich besser nicht verdächtig machen sollte. Leider war es jetzt doch geschehen und nun hing alles an Frau Inagaki.

“Er ist einer unserer Leiharbeiter!” Frau Inagaki stand nachhaltig unter Schock. Dass ihr Unternehmen sich ausgerechnet heute von der Polizei vor all den Festivalgästen schmähen lassen musste, das hatte sie sich nicht träumen lassen. Die Personalliste und ihr pinkes Handy wanderten vor Akiras Augen von ihrer linken Hand in ihre nervöse rechte. “Hat er etwas angestellt?”

“Gerannt ist er!” Der Polizist deutet wütend in die Richtung hinter sich, wo abseits vom Park die Konzerthalle von Tokyo lag. “Von der Konzerthalle hier rüber!”

Akira lächelte und schloss seufzend die Augen, als sich ein herablassendes Kichern durch die Zuschauertraube schlich und die junge Teamleiterin um eine respektvolle Reaktion ringen musste. Natürlich konnte niemand das gefährdende Element an Akiras Verhalten nachvollziehen - die Polizei selbst tat ja alles, um das Debakel vom Konzertsaal vor der breiten Öffentlichkeit geheimzuhalten. Sie genossen das Leben so sehr, dass sie sicher nur noch lauter gelacht hätten, hätte man ihnen gesagt, wie dicht die Bedrohung an ihrem Alltag dran war.

Das Handy vibrierte in Akiras Hosentasche. Der Gruppenchat kündige ungelesene Nachrichten an - das erste Mal, seitdem er die anderen am Ausgang der U-Bahnstation zurückgelassen hatte. Heimlich tastete er nach dem Gerät und presste es tiefer in die Tasche, als es vorwurfsvoll und in zunehmend chaotischer Frequenz weiterbrummte - sicher Nachrichten von Ryuji. Akira hatte versprochen, erreichbar zu bleiben, und seine Teilnahme am Diskurs war heute wichtiger denn je, so nervös, wie sie alle waren. Entweder war Ryuji immer noch sauer, dass Akira sich trotz allem für seinen Nebenjob abgeseilt hatte, oder es war etwas schiefgegangen. Unkonzentriert sah Akira zu, wie Frau Inagaki sich hochverlegen in aller Öffentlichkeit für sein Betragen entschuldigte, weil ihr keine andere Wahl blieb, wie der Gesetzeshüter irgendwann frustriert abwinkte und sich dann endlich umdrehte und zwischen eisessenden

Schülerinnen in der Menge verschwand.

Doch kaum hatte die Chefin sich aus ihrer Verbeugung erhoben, orderte sie ihn mit einem eisigen Blick zu dem kleinen weißen Blumenlieferwagen an der Flanke der großen Hauptbühne des Sommerkulturfests und betonte, dass er sich hier vor fünf Minuten zum Dienst hätte melden müssen. Und kaum hatten die Zuschauer das Interesse an Akira verloren, bohrten sich die missbilligenden Blicke der anderen Aushilfskräfte in seine Augen, die wohl im Gegensatz zu ihm pünktlich zur Schicht erschienen waren und nun, dank seiner fehlenden Arbeitskraft, doppelt anpacken durften.

Also ließ Akira das Handy los und bemühte sich um einen verständigen Blick, während Frau Inagaki ihm eine grüne Arbeiterschürze aus dem kleinen weißen Lieferwagen der Spedition reichte. Gereizt erklärte sie ihm, welche Blumenbündel, Pakete und Gesteckvasen bis zum Auftritt der Ikebana-Künstlerinnen am linken Hinteraufgang platziert werden mussten. “Und wenn ich Sie ab jetzt nicht doppelt und dreifach anpacken sehe, dann bekommt Ihre Chefin in Shibuya heute Abend noch einen Anruf von mir, das können Sie mir glauben. Dass sie Sie empfohlen hat, ist mir ein Rätsel.”

“Natürlich.” Akira nahm ihr mit einer Verbeugung die Schürze aus den Händen, während sie ihr aus der Tasche nahm. “Ich werde mich ranhalten”, versprach er noch, als könnte er mit guten Manieren verhindern, dass sie die Nummer des Blumenladens in Shibuya wählte. Dann sah ihr hinterher, als sie telefonierend von den Menschenmassen verschluckt wurde.
 

Akira ließ die angehaltene Luft fahren. Im Schatten des Lieferwagens riss er sein Handy aus der Tasche und wischte sich eilig durch eine Flut von Nachrichten in immer ehrgeizigeren Schriftgrößen und ein Heer von schwitzenden Sommersmileys. Die unterste Zeile bestand nur noch aus Blockbuchstaben.

“HAST DU’S GESCHAFFT, MANN? HAST DU DEN JOB?”

“Ich glaube schon”, tippte Akira einhändig ein, während er mit der freien Hand Luft unter sein verschwitztes T-Shirt fächerte. “Ist was passiert?”

“ENDLICH1 EIN LEBENSZEICHEN1” antwortete Ryuji und löste dann die Feststelltaste. “Gar nix passiert hier, Mann. Ich sitz hier mit deiner stänkernden Katze und sterbe den Hitzetod!”

Akira pustete sich erleichtert die Haare aus der Stirn. Er legte sich die grüne Schürze mit dem Logo der Floristenspedition um und sah zu, wie Makoto eine Nachricht eingab. “Glaub mir, die Sonne ist für uns alle gleich heiß. Wie ist die Stimmung auf dem Fest, Akira?”

“Die Streifen auf dem Gelände sind auf hundertachzig”, stenografierte Akira auf dem Weg zum Laderaum und machte ein paar seiner Kollegen aus dem Floristenteam Platz, die mit Zweigbündeln und übergroßen Ikebana-Vasen in den Armen aus dem Lieferwagen kletterten. Er warf einen knappen Blick zur Flanke der großen Bühne. Die Sicht auf die eigentliche Bühnenfläche war ihm durch Planen und Absperrungen verwehrt, aber dem energischen Winken der Soundtechniker im Publikumsbereich zufolge befanden sich bereits Gäste auf der Erhöhung. “Auf die Bühne haben sie sich trotzdem getraut, scheint es.”

“Na danke auch”, sprang Akira das Profilbild von Ann durch ein Bündel Weidezweige entgegen, die er vom seinem ausladenden Kollegen ungefragt in die Arme gedrückt bekam. “Wir haben ihre Arbeit gemacht und die lassen sich auf der Bühne feiern oder wie?”

“Ich könnte mir vorstellen, dass keiner von ihnen heute gerne auf der Bühne ist“, bemerkte Makoto. „Nach dem, was ich so höre, steht das ganze Department gerade unter enormem Druck.”

Akira seufzte und rieb sich mit einem Zipfel der Schürze unter der Brille den Schweiß von den Augen. Die erdrückend laute Pausenmusik der Hauptbühne wechselte mit einem Fiepen zu einem Mikrofontest. Eine tiefe Männerstimme brachte die großen Lautsprecher an den Bühnenflanken zum Vibrieren. “Verehrtes Publikum, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Seit vierzig Jahren sorgen wir für Stabilität und Ordnung in einer der größten Städte der Welt.” Der unsichtbare Redner mit der unangenehm metallischen Stimme war bemüht um einen würdevollen, tragenden Rednerton. Erwartungsdruck hin oder her – Akira wünschte sich schon nach zwei Sätzen, sie hätten einen weniger gepresst klingenden Sprecher ans Mikrofon gestellt. Wer weiß, wie lange er dem Mann würde zuhören müssen. “Unsere Erfolgsgeschichte in dieser Stadt sucht auf der Weltbühne ihresgleichen… Und auch heute, angesichts der internationalen Bedrohung, arbeiten wir unnachgiebig…”

Akira schnaubte ein Weidenblatt aus seiner Nase, als die Tonübertragung den Redner im Stich ließ. Zufrieden reihte sich in den Treck der Floristen ein, die sich ihren Weg durch das antriebslose Publikum suchten. Die meisten Leute hatten ihren Blick verträumt nach oben gerichtet, wo gigantische Digitalbildschirme das Bühnengeschehen vergrößerten. Es schien, als fühlten sie sich wohler damit, das Bühnenprogramm im Fernsehformat aufbereitet zu konsumieren als den Rednern von den Zuschauersitzen aus live ins Gesicht zu sehen. Das Bild zeigte einen Mann in Ehrenuniform mit grauen Haaren, einer hohen Stirn und einem toten Mikrofon in der Hand und einen gestriegelten Bühnenmoderator im himmelfarbenen Anzug.

“Hoppla! Ihr Mikrofon will wohl noch nicht so ganz, Herr Kommissar. Dann fangen wir einfach bei unserem jüngsten Gast an. Es sind ja schon schwere Zeiten für die Polizei, aber Sie sind ja trotz allem guter Dinge!” Seine aalglatte Stimme flackerte Zeitversetzt aus den riesigen Boxen. Im Schutze der Weidenzweige hob Akira sein Handy, um heimlich ein Foto des ordengeschmückten Redners für Ann zu ergattern. Ein fragwürdiges Stück Poesie aus Yusukes Feder warf sich ihm auf dem Weg zum Kameraknopf entgegen: “Da geht er hin, unser Anführer, und schmückt sie mit Blumen, die Bühne unserer Rivalen! Welch Ironie! Werden wir für immer Gefangene unseres Schattendaseins bleiben?”

“Natürlich.”

Akiras Finger stoppte kurz vor dem Kameraknopf. Eine glasklare Stimme quoll aus den Lautsprechern direkt in seinen Gefahreninstinkt. “Ich bin immer guter Dinge, wenn ich vor meinen Fans sprechen darf.” Aufgeregte Mädchenstimmen erhoben sich aus den Publikumsrängen. Ein paar Schülerinnen hielten pink bemalte Pappschilder in die Luft. Ein mild amüsiertes Lachen übertönte ihr gerührtes Gequieke und hinterließ ein weiches Echo in Akiras Kopf.

Als er aufsah, zeigten alle Bildschirme das Gesicht von Goro Akechi. Aufrecht saß er in einer Runde von roten Sesseln zwischen Erwachsenen. Ihre Ehrenuniformen ließen keine Zweifel daran, dass es allesamt Beamte von Rang und Namen waren. Aber es war, als ob die Abendsonne ihn zum Liebling auserkoren hatte, so wie sie das Grün seiner Jacke und das Gold seiner Haare leuchten ließ. In der einen Hand das Mikrofon, die andere geduldig in seinem Schoß, der Bühnenscheinwerfer gezielt auf ihn gerichtet - es schien fast, als säße er unter dem Banner der städtischen Polizei für sein persönliches Portrait.

“Spaß beiseite. Ich bin heute hier, um die städtische Polizei bei ihrer Jubiläumsfeier zu unterstützen, und das mit einem gewissen Optimismus. Wie der Herr Kommissar schon sagte, die Behörden arbeiten rund um die Uhr an der Aufklärung der Bedrohung. Wir alle arbeiten rund um die Uhr. Um ehrlich zu sein besuche ich abends oft heimlich die Straße in Shibuya, in der kürzlich Junya Kaneshiro gefasst wurde. Sie wissen schon - man sagt ja, Täter tauchen immer wieder am Schauplatz des Verbrechens auf!”

“Na, das würde ich mir ja wünschen, dass der Detektivprinz derjenige ist ist, der die Diebe fasst! Sie sind ja der neue Experte auf dem Gebiet!”

“Haha, nicht doch! Ich bin gerade erst in die Kommission einberufen worden. Ich kann es noch immer nicht recht glauben - das ist alles eine große Ehre für mich. Ah, nein, bitte keinen Applaus dafür…”

Ah. Dieses beschwichtigende Winken mit der Hand - Akira hatte es schon einmal gesehen. Erst vor einigen Wochen, im Fernsehstudio. Eine Geste der Bescheidenheit, und schon gab es mehr Applaus als diese Bühne den ganzen Tag über erlebt hatte. Akira lachte geschlagen. Es gab nichts an seiner Bühnenpräsenz, das nicht durchdacht war und exakt den Effekt erzielte, zu dem es bestimmt war. Da saß er, der gefeierte Prinz der Medien, und seine bloße Anwesenheit beschwor eine Brandung von Handydisplays aus dem Publikum herauf. Hundertfach wurde sein Gesicht in Fotos gebannt. Und Akira ertappte sein Handy dabei, wie es sich nahezu ohne sein Zutun der Welle anschloss. “Guckt mal, wem ich hier Blumen bringe”, kommentierte er das Foto des Nachwuchsdetektivs für den Chat. Vier wütende Eingabesymbole blinkten auf und explodierten beinahe simultan in einem Feuerwerk an Empörung.

“WAS1 ZUR HÖLLE1 MACHT DER SPAST DA1!”

“OMG, sitzt er da echt in der Jacke und schwitzt nicht? Ich lieg hier auf dem Boden und schwitze wie ein WAL! Und wie kann es sein, dass seine Haare bei dem Wetter nicht fetten!?”

“Das hat uns gerade noch gefehlt. Bleib außer Sichtweite, Akira! Wir dürfen nicht riskieren, dass er irgendwelche Rückschlüsse zieht!”

“Akira! Keine Fotopause! Wenn du kein Geld verdienst, nage ich heute Abend am Hungertuch!”

“Du da! Keine Fotopause, ja?”

Ein verärgertes Pfeifen in seinem Rücken schreckte Akira auf. Böse Blicke von vorbeiziehenden Kollegen warfen ihm vor, mitten in einer Gruppe von Schulmädchen zu stehen und Fotos von einem Popstar zu machen anstatt zu arbeiten. Hastig würgte er den Chat ab und reihte sich im Laufschritt bei seinen Kollegen ein - gerade noch rechtzeitig, bevor Frau Inagaki, die den Schluss des Trecks bildete, sein Austreten registrieren konnte. Das Telefon versank mit immer wütenderem Vibrieren tiefer in seiner Hosentasche. Akira lachte, als er die als er die Absperrung zum Backstagebereich durchschritt. Er konnte es seinen Freunden die gereizte Reaktion nicht übelnehmen. Die Phantomdiebe hatten derzeit viele Gründe, nicht ruhig schlafen zu können, und Akechis Siegerlächeln war in den letzten Wochen zum Platzhalter für alle davon geworden. Aber Makoto hatte recht – nach der gewagten Operation heute war es wichtiger denn je, einen gesunden Abstand zu Akechi zu wahren. Aber er war hier als Blumenlieferant, dem harmlosesten aller Standardjobs. Und sein Arbeitsrevier war hinter der Bühne, irgendwo in den Schatten, weit weg von den Scheinwerfern der Bühne, wo verschiedene Gruppen von geschäftigen Bühnenarbeitern sich gegenseitig auf die Füße traten. Die Chancen, dass Akechi sich hier blicken lassen würde, waren gleich null.

Gleich als er zum ersten Mal den Blick vom Rücken seines Vordermannes löste, sah er, wie sehr er sich geirrt hatte: Akechi war überall. Zwischen Klappstühlen und Absperrungen waren Bühnenmonitore aufgestellt, und jeder von ihnen zeigte Akechis Gesicht. Der erste von ihnen, den Akira passierte, befand sich am Rande der Maske. Ein paar Stylistinnen und Hostessen hatten sich in ihrer Pause mit roten Wangen um einen den kleinen Fernseher geschart und dort standen sie auch noch immer, nachdem er seine Zweige am Bühnenaufgang abgelegt hatte und im Laufschritt zum Lieferwagen zurückkehrte.

“Mein Gott, er ist doch nicht wirklich noch ein Schüler, oder?”

“Doch, er geht noch zur Schule, glaube mir! Achtzehn Jahre ist er!”

Auf seiner zweiten Lieferrunde kam er näher an den Ikebana-Künstlerinnen vorbei, die in der Erfrischungsecke auf ihren Auftritt warteten und sich nicht mehr für die Lieferung ihres Arbeitsmaterials interessierten, seitdem eine von ihnen den Fernseher eingeschaltet hatte. “Erstaunlich, wie ein so junger Mensch eine solche Hingabe an den Tag legen kann…” “Die Hüter des Gesetzes können sich glücklich schätzen, so fähigen Nachwuchs in ihren Rängen zu wissen!”

Es war nach seiner dritten Runde, dass Akira sich eingestehen musste, dass er eine Pause brauchte. Keuchend blieb er über der mannshohen Vase stehen, die er mit letzter Kraft neben den Metallstufen vom Hinteraufgang im Gras abgesetzt hatte. Seine Kleidung klebte an seinem Körper und seiner Arme brannten wie Feuer. Mit einem ausgetrockneten Lachen sah er durch die stickige Luft zur Nachmittagssonne auf. Eigentlich hielt er sich für jemanden, der damit leben konnte, dass sie manche Leute einfach nur lachen sehen und ihn diesen Sommer eben schwitzen sehen wollte. Trotzdem war er erleichtert, als das Rauschen in seinen Ohren nachließ und statt der Interviewstimmen nun wieder die furchtbar poppige Pausenmusik auf der Bühne gespielt wurde. Vielleicht hatte die kryptische Stimme recht, von der er seit Neuestem nachts träumte, und das Leben war ein unfaires Spiel und für manche einfach leichter als für andere. Das musste es sein. Das, oder Makoto hatte schlecht recherchiert und die Sonne doch nicht für alle gleich heiß.
 

Ein Strom eiliger Bühnenmechaniker in blauen Uniformen polterte in schweren Arbeiterstiefeln den Seitenaufgang rauf und runter und scheuchte ihn aus seiner Atempause auf. Behelfsmäßig wischte er sich den Schweiß aus dem Nacken, raffte sich auf und trat die nächste Runde zum Lieferwagen an. Der letzte Bühnenarbeiter wankte die Treppe herunter. Sein Handschuh machte ein seltsam schleifendes Geräusch, als er haltsuchend über das Geländer rutsche. Die metallenen Schritte auf der Treppe stolperten und setzten aus.

Akiras Verstand stolperte mit ihnen. Das kleine Quietschen des Handschuhs riss eine Lücke in Musik und Stimmengedränge. In Stille stürzte ein Körper in seinen rechten Arm und zog Akira in die Knie. Ein schwerer Puls drückte sich durch grünen Stoff in Akiras Handfläche. Wärme sickerte in seine Armbeuge. Blut - das war die Assoziation, mit der sich kaltes Adrenalin an seiner Wirbelsäule emporsaugte. Die stickige Abendluft verschmolz mit seiner Ahnung und schwemmte rohen, metallischen Blutgeruch in seine Lungen. Und irgendwie… Irgendwie hatte er gewusst, dass er aus der Nähe so riechen würde.

“Oh.”

Als er ihn nach Luft schnappen hörte, begriffen seine Hände, dass sie Verantwortung für fremdes Gleichgewicht übernommen hatte. Hastig setzte er mit dem Fuß zurück und stemmte sich dem sinkenden Körper entgegen. Harte Schultern stießen in seine Brust, eine schwarze Hand packte so fest seinen Arm, dass es wehtat. Akira erstarrte, sprachlos darüber, wie sein Körper akzeptiert hatte, was geschehen würde, bevor es geschehen war. Die Welt war still, als wäre sein Gehör der letzte seiner Sinne, der ablehnte, Akechi hinter seine Verteidigungslinien zu lassen. Als Akechi erneut sprach, war seine Stimme war so nah, dass Akira ihn beinahe von sich weggedrückt hätte.

“…Verzeihung.”

Sie vibrierte wie die Stimme eines Schlafenden, warm und verirrt. Aber als er spürte, wie die Kraft in den schweren Rücken unter seiner Hand zurückkehrte, überkam ihn die schleichende Gewissheit, in eine Falle getappt zu sein.

“Nichts passiert”, hörte er sich antworten, während sich die Scherben in einem Kopf langsam einen Sinn ergaben. Wenn das Akechis Puls war, den er fühlte, dann fühlte er seinen. Wenn das Blut war, das er roch, dann konnte der andere die Schatten des Mementos an ihm riechen. Was auch immer seinen Verstand gerade überschrieben hatte, als er Mensch und nicht Monster gesehen hatte, hatte ihn in eine fürchterliche Gefahr gebracht.

Aber als sich das goldbraune Haar aus den Falten seiner Schürze löste, wich der Blutgeruch wie ein Spuk dem Duft eines fremden Shampoos. Und als er endlich zu ihm aufsah, sah Akira schweißverklebtes Haar an seiner Stirn und Augen, denen es ebenso schwerfiel, die plötzliche Nähe zwischen ihnen einzuordnen wie seinen eigenen.

“Oh. Du.”

“Oh! Sie!”

Eine grelle Stimme sengte sich in die träge Stille, die sich um Akiras Gedankenwolke gebildet hatte. “Kurusu! Sehe ich recht, dass Sie da untätig in der Gegend rumstehen?!” Frau Inagaki von der Floristenagentur Magnolien & Mehr, an so viel erinnerte Akiras Unterbewusstsein sich, war die Person mit dem pinken Handy, die er heute Abend kein zweites Mal enttäuschen durfte. Aber ihren näherkommenden Schritten und dem aufkommenden Getuschel der Floristen fehlten plötzlich die Treibkraft, die sie zuvor auf ihn ausgeübt hatten. Wortlos starrte er ins Leere und suchte nach einer Zuordnung für das, was er gerade empfunden hatte.

“Verzeihen Sie - er steht hier meinetwegen.” Ein mildes Lachen streifte Akiras Wange - ein exaktes Echo der sonnigen Stimme, die von der Bühne aus die halbe Stadt in ihren Bann gezogen hatte. Akechi trat aus seinem Schatten, löste seine Hand vorsichtig aus Akiras erstarrtem Griff und platzierte sie stattdessen sichtbar auf seiner Schulter. Ihr sanfter Druck zog Akira aus seinen Gedanken und drehte ihn zu seiner Chefin und unzähligen Augenpaaren, von Floristen, von Caterern und anderem Personal, von dessen Existenz Akira während seiner bisherigen Schicht nicht mal im Ansatz Notiz genommen hatte.

“Goro Akechi!” Frau Inagaki schlug sich synchron mit dem weiblichen Teil ihres Leiharbeiterteams die Finger vor den Mund. “Geht es Ihnen gut? Sie sind ja so blass!”

“Keine Sorge! Mir war nur kurz schwindelig, das geht vorbei. Aber wäre es in Ordnung, wenn ich mir seinen Arm noch einen Moment ausleihe? Nur für den Weg bis zur Maske.”

“Aber selbstverständlich! Nehmen Sie ihn mit! Er gehört Ihnen!”

“Danke! Ich bin sehr froh, dass das Management eine Agentur mit so zuvorkommenden Mitarbeitern für den Bühnenaufbau ausgewählt hat.”

“Z-zu viel der Ehre! Ich bin froh, dass unsere handverlesenen Mitarbeiter sich nützlich erweisen können… Kurusu-kun, ich verlasse mich auf Sie.”

Akira begriff erst nachträglich, wie schnell seine gestrenge Chefin das gefährlich pinke Handy von der Bildfläche verschwinden ließ, wie sie dann sittlich die Hände vor ihrem Rock faltete und sich mit einem hoffnungsvollen Blick in seine Augen vor ihm verbeugte. Nicht weniger unbegreiflich erschien ihm Akechi, der tatsächlich so unbesorgt aussah, wie er klang, während er sich wie selbstverständlich die Leibeigenschaft für Akira überschreiben ließ und ihm nun aufmunternd zulächelte. “Vielleicht könntest du mir helfen, einen Schluck Wasser aufzutreiben?”

Akira hatte keine Ahnung, wie er vom vorigen Moment in diesen geraten war. Doch irgendein Teil von ihm begriff, dass der Pfad, den Akechi vor ihm öffnete, der sicherste Weg aus der Kündigung zu sein schien. Wortlos ließ er zu, dass er Medienstar sich bei ihm einhakte und versuchte zu verstehen, warum sein Markenlächeln für die ganze Welt Sinn machen konnte, aber nicht für ihn. Wie konnte es sein, dass stolzen Bühnentechniker jetzt einfach nur zur Seite traten und den Blick auf den roten Teppich freigaben, der den Weg vom Bühnenaufgang bis in die Maske auslegte? Wie konnte es sein, dass die Floristinnen einfach nur staunend ihre Handys zückten und versuchten, im Vorbeigehen einen Schnappschuss von Akechis Profil zu ergattern? Sah keiner von ihnen, was er gesehen hatte?

“Wer hätte gedacht, dass wir uns so wiedersehen!” sagte Akechi erfreut und wies zwei junge Hostessen mit einer höflichen Geste ab, noch bevor diese sich mit gezückten Autogrammheften in seinen Dunstkreis bewegen konnten. Akira ließ seine klare Stimme an sich vorüberziehen. Zögernd sah er auf die schwarze Hand, die sich um seine Armbeuge geschlossen hatte. Flüchtig unterzog er die hellgrüne Jacke einem weiteren prüfenden Blick. Es war nach wie vor nicht die geringste Spur von Blut zu sehen. Er schüttelte den Kopf. „Ja, wer hätte das gedacht“, murmelte er mit einem gedankenverlorenen Lachen. Jetzt war er schon so weit, dass er Akechis Niedergang halluzinierte. Das war ihm noch nie passiert. Die Hitze musste ihm einen Streich gespielt haben.
 

Am Eingang des Maskenbereichs empfingen sie die Stylistinnen mit einer glücklichen Verbeugung. Akira hatte schon aus der Ferne gesehen, wie sie sich darauf aufmerksam gemacht hatten, dass der lang erwartete letzte Gast im Anmarsch war. Akechi steuerte an ihnen vorbei auf den einzig übrigen freien Platz in der ordentlichen Reihe von Spiegeln, Kleiderständern, Schminkwagen und Stühlen. Die anderen waren besetzt mit den uniformierten Herren der Polizei. Die meisten von ihnen waren damit beschäftigt, sich mit ihren Stylistinnen über Wetter und Wochenendpläne auszutauschen, bemerkte Akira. Als wären ausgerechnet sie, die hohen Tiere der Polizei, dank des Fernsehauftritts von all dem Druck befreit, unter dem die Polizei gerade angeblich stand. Allein der grauhaarige Redner mit der Stahlstimme schien nicht gut genug unterhalten, um Akechis Ankunft zu ignorieren. Hauptkommissar Matsuda stand auf dem Namensschild auf dem Schminktisch neben ihm. Akira wich seinem Starren vorsichtshalber aus und kassierte stattdessen einen neugierigen Blick vom Bühnenaufgang, wo Frau Inagaki sich mit ihrer Checkliste zufällig in einem Winkel positioniert hatte, der ihr den direkten Blick in die Maske gewährte. Ein Wanken an seiner Seite zog seine Aufmerksamkeit zurück nach unten. Hilfsbereit stützte er Akechis Ellenbogen, als der beim Versuch, sich zu setzen, aus der Balance geriet.

„Alles in Ordnung?“ Eine schwarze Hand fuhr nach oben und schnitt ihm das Wort ab. Akira wich überrascht zurück und sah zu, wie Akechis freie Hand in seine verschwitzte Stirn fuhr. Der flüchtige Eindruck, dass Akechi ihn loswerden wollte, führte aus irgendeinem Grund dazu, dass er seinen Arm langsamer losließ als geplant.

„Ich bin wohl selbst schuld, wenn ich mich zu Nachtschichten verpflichten lasse“, sagte Akechi dann und lachte reumütig. „Vor allem vor Tagen, an denen ich dafür bezahlt werde, in die Kameras zu lächeln!”

“Es sah schon wieder erschreckend überzeugend aus, dein Lächeln“, gab Akira skeptisch zurück.

“Haha! Das macht das Make-up.”

“Make-up?”

Akechi hob die Hand aus dem Gesicht und öffnete die Finger in Akiras Richtung. “Make-up”, erklärte er amüsiert. “Anscheinend ist es heute so heiß, dass sogar mein Gesicht schmilzt!”

Akira starrte verdutzt auf die hautfarbene Schminke, die an den Fingerspitzen der schwarzen Lederhandschuhe haftete. Bühnenschminke – richtig, so was gab es ja auch. Er hatte keine Ahnung von Kosmetik, aber mit Krawatte, Jackett und einer zweiten Haut im Gesicht hätte Akira bei der Hitze heute wahrscheinlich keine fünf Minuten durchgehalten.

„Was ist so lustig?“

„Nichts.“ Akechis belustigte Frage ließ Akira schnell abwinken - er hatte gar nicht bemerkt, dass er gelacht hatte. „Irgendwie ist mir gerade zum ersten Mal klargeworden, dass du auch nur ein Mensch bist.“
 

Der harmonische Dreiklang des Pausengongs schallte durch die Hinterbühne und ein Ruck ging durch die Leute in der Maske. Noch zehn Minuten bis zur Live-Übertragung, hieß es von irgendwoher. Der hellblaue Showmoderator schlängelte sich durch Hostessen beim Wasserspender, die Polizeibeamten verlagerten das Gewicht in ihren Stühlen und hinten beim Bühnenaufgang blätterte Frau Inagaki ihre Checkliste um. Die erwartungsvollen Blicke, die sich in Akechis Richtung bündelten, verpufften irgendwo abseits von Akiras Wahrnehmung. Während sich alles um ihn herum in Bewegung setzte, überlegte er, dass er vielleicht achtsamer mit seinen Worten umgehen musste, wenn er das Cover des unschuldigen Blumenjungen nicht verheizen wollte. Aber es war interessant, wie viel Spaß es machte, dem mysteriösen Stechen hinterherzusehen, mit dem seine Worte in Akechis Augen verglommen waren. Es war seltsam befriedigend, wie Akechi sich im Stuhl zurücklehnte und mit klaren Augen zu ihm aufsah, als müsse er ihn neu evaluieren. Einen Moment lang amüsierte Akira sich über den Gedanken, ob es möglich war, dass er ihn gerade mit dem Wort „Mensch“ beleidigt hatte. Dann steckte er mit einem Lachen die Hände in die Hosentaschen, wandte sich ihm offen zu und ließ ihn suchen, was immer er hoffte, auf der grünen Floristenschürze zu finden. „Sorry“, sagte er viel zu spät und bemühte sich, sein Lachen zu irgendwas Neutralem zu konvertieren.

Akechi lächelte zurück. “Du bist anders als das letzte Mal”, bemerkte er und neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. “So höflich.”

“Ich tu, was ich kann, damit ich nicht zurück zur Arbeit muss“, sagte Akira und beobachtete weiter die Floristen in der Ferne, die jetzt augenscheinlich noch schwerere Kisten schleppen mussten als zuvor.

“Ahaha! Natürlich!” Akechi ließ die taktlose Bemerkung mit einem lauten Lachen an sich vorbeiziehen, während er sich endlich erlaubte die Jacke aufzuknöpfen und seine Krawatte zu lockern. “Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich auch.”

“Ach ja? Du wirst für deine wenigstens wertgeschätzt.“

“Wenn du wüsstest, wofür die mich wertschätzen!“

Akira würgte seine Überlegungen dazu ab, was für ein Gesicht Akechi wohl bei diesen Worten gemacht hatte, und ließ zu, dass sein Blick zu den Polizisten zurückwanderte. Hinter Shirakawa mit dem dicken Bauch und Enoki mit der Lesebrille und der feuchten Stirn hatte Matsuda angefangen zu telefonieren und schritt energisch die Stuhlreihe auf und ab. Es war nicht das erste Mal, dass Akira sich fragte, in welcher Form Akechi für die Polizei arbeitete. Es war das erste Mal, dass er die Chance hatte, ihn offen danach zu fragen. „Aber“, fuhr Akechi milde fort, noch bevor Akira beschlossen hatte, was wohl in friedfertiger Florist auf eine Andeutung wie die vorige erwidern würde, “du hast recht. Ich will mich nicht beschweren. Ich bin ja nicht der einzige Schüler, der seinen Schlaf für irgendwelche außerschulischen Verpflichtungen opfert.”
 

“Oh nein, geht die Schminke ab?” Eine Mädchenstimme erklang an Akiras Seite. Die letzte freie Stylistin hatte wohl beschlossen, dass sie von sich aus die Pause ihres berühmten Kunden unterbrechen musste, wenn sie ihre Arbeit noch vor Beginn der Live-Übertragung erledigt kriegen wollte. “Unter den Scheinwerfern auf der Bühne wird es schrecklich heiß, nicht wahr? Keine Sorge, das haben wir gleich!” Sie kramte zwei Schwämmchen aus dem rosa Etui an ihrer Hüfte und richtete eine kleine Schminklampe auf Akechis Gesicht. “Mein Name ist übrigens Sakiko“, gab sie sich einen Ruck über die ausbleibende Antwort hinweg. „Es ist eine riesige Ehre für mich, Sie heute betreuen zu dürfen! Ich bin ein großer Fan, ich verfolge all Ihre - oh! Hoppla!”

“Oh, Entschuldigung.” Akira federte den Arm der hübschen Stylistin ab, als diese in ihrem Lampenfieber seitlich gegen ihn stolperte. Ehe ihr noch mehr Verlegenheitsröte ins Gesicht steigen konnte, ließ er sie rasch wieder los und trat einen respektvollen Schritt zur Seite. “Ich störe hier, oder? Vielleicht gehe ich besser”, sagte er und erwiderte möglichst höflich den verstohlenen Blick eines Floristen, der im Vorbeigehen überprüfte, ob er noch engagiert oder schon wieder für Schwertransporte zu haben war.

“Bleib.” Eine Hand fing seinen Arm. Akechi lehnte sich im Stuhl zurück und sah amüsiert an der Stylistin vorbei und zu ihm hoch, als fände er Gefallen an seinem schüchternen Ausweichen. “Es wurde gerade interessant.”

“Aber hier warten alle möglichen Leute darauf, mit dir zu reden.“

„Hast du eine Ahnung, wie lange ich gewartet habe, um so mit dir reden zu können?“

„...Ich will dich wirklich nicht von der Arbeit abhalten“, sagte Akira und gab ein verlegenes Nackenreiben zur Zugabe.

„Haha!“ Akechi ließ mit einem Lachen seine Hand fahren, als ahnte er, dass die Geste vornehmlich dazu diente, den heftigen Pulsschlag in Akiras Handgelenk zu kaschieren. Der Schwamm der Stylistin fuhr über seine geduldig geschlossenen Augen und nahm die letzten Reste Schminke von seiner Haut. „Was, wenn ich dir sage“, seine zufriedene Stimme sank tiefer, „dass du meine Arbeit gerade um ein Tausendfaches vorantreibst?“

Als Akira endlich nachgab und zu ihm heruntersah, sah er in das Gesicht eines Monsters. Einladend hatte seine Stimme geklungen. Aber als er seine Augen aufschlug, glühten sie in der Abendsonne wie flüssiges Gold, bereit, von der kleinsten Geste auf Akiras geheimste Gedanken rückzuschließen, souverän, als hätten sie hunderte von Antwortmöglichkeiten weit in die Zukunft gelesen. Mit wachsender Faszination ging Akira auf, dass es fast nichts mehr gab, was er noch sagen konnte, umzingelt von dem scharfen Verstand, der sich hinter dem geduldigen Schweigen verbarg. Dass jede Berührung dieses strategischen Genies heute ein leiser Schritt auf diese Matt-Situation hin gewesen war. Und dann, dass es nicht Angst vor dem Ende war, die sein Herz schneller schlagen ließ, sondern das seltsam fehlplatzierte Gefühl, die charmanteste aller Einladungen zum Tanz erhalten zu haben.

„Die Phantomdiebe!?“

Ein Aufschrei zerschmetterte durch das Musikgeplätscher und die fernen Bühnenechos. Ein Telefon zerscholl an einer der Stahlträger in seine Einzelteile. Augenblicklich versiegte das unbefangene Plaudern der benachbarten Polizeibeamten und Stylistinnen. Akiras Augen ruckten aus Akechis, nur um ihnen sofort wieder zu begegnen, diesmal, als sähe er sie zum ersten Mal seit langer Zeit. Gleichzeitig erkannten beide die Stimme des Kommissars. Akechis regte sich zuerst. Doch die Stylistin drehte sein Gesicht sanft zurück in ihr Lampenlicht, bevor er Blickkontakt zu Kommissar Matsuda aufnehmen konnte und erneuerte weiter Schicht für Schicht seine Maske.

„Phantomdiebe... DIE Phantomdiebe?“ Ein Flüstern entsprang, irgendwo hinter irgendeiner der vielen vorgehaltenen Hände der erstarrten Hostessen, die den Wutausbruch bis dahin in aller Diskretion ignoriert hatten. Es suchte sich seinen Weg durch die Ritzen zwischen den Menschen und erreichte Akiras Ohren. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken. Die Phantomdiebe. Von dem Moment an, in dem er mit ihrem Widersacher zusammengestoßen war, hatte Akira die Phantomdiebe, ihre Mission, die Polizeiblockade, den Geiselnehmer, alles vergessen. Eingefroren in Akechis Blick blieb er stehen und fühlte das Brummen des stummgeschalteten Handys in seiner Hosentasche, mit dem es neue Nachrichten meldete, und wieder neue und wieder, wie es sie die ganze Zeit über gemeldet hatte.

„Bitte stillhalten!“ Rote Fingernägel schnellten an Akechis Kinn und drehten ihn erneut zurück ins Licht. Seine Augen sanken langsam auf die Höhe von Akiras Hüften. „Ich trage noch schnell was auf die Lippen auf!“ Die junge Stylistin bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall, um über die angespannte Stimmung hinwegzuspielen. „Dann wirkt dein Lächeln in den Kameras nachher noch strahlender!“

„Dann lass mich dir wenigstens das Wasser bringen, das ich versprochen hatte, wenn du hier festsitzt.“

Akira wandte sich ab, als wären die Nachrichten seiner Freunde nicht gut genug versteckt unter dem Stoff der grünen Schürze. Er schob sich an der überraschten Stylistin vorbei und ging, bevor Akechi auch nur den Mund öffnen konnte, um irgendwas zu erwidern.

Im Schatten des Wasserspenders zog er sein Handy aus der Tasche und wischte fassungslos über das Display, während er mit der anderen Hand einen Plastikbecher ergriff und Wasser einließ. Der Chat platzte mit 56 neuen Nachrichten aus allen Nähten und er hatte keine einzige davon gehört. War doch noch etwas schiefgegangen? War etwas passiert?

“Ist etwas passiert?”

“…Sie!!”

Akrias Finger zuckte vom Display zurück, als die donnernde Stimme des Kommissars, jetzt näher als zuvor, auf Akechis aufrichtige Frage herniederfuhr. “Wenn Sie sich um Ihre Pflicht kümmern würden und nicht um Ihre Idol-Karriere, wäre das nicht passiert! Sie werden bezahlt, damit Sie diese Leute dingfest machen!”

“Kommissar!” Ein metallener Klappstuhl kippte mit einem hohlen Geräusch zur Seite. “Was ist—„
 

Als Akira den Wasserknopf losließ und sich umdrehte, war Akechi fort. Graue Anzugträger pressten sich wie ein Geschwür um den Stuhl, in dem er gesessen hatte. Ihr stimmloses Zischen und Flüstern hatten seine und die Stimme aus Stahl geschluckt. Ihre Arme zeichneten beschwichtigende Gesten in die Luft und versiegelten den Blick in ihre Mitte. Der amelodisch verzerrte Dreiklang des Pausengongs ertönte zum zweiten Mal und beschwor ein Vakuum in Akiras Kopf herauf. Erst viel später verstand er, dass es Angst war, die in seine Glieder sickerte. Von irgendwo aus dem Abseits kündigte der hellblaue Moderator mit lauter Stimme an, dass die große Bühne nun bereit für die Live-Übertragung war. Aber irgendetwas war nicht in Ordnung. Nicht in der Ordnung, in der es sein sollte.

„AKIRAAA!“

Ein Gewicht prallte auf seinen Rücken. Ein Paar Arme mit Nietenarmbändern wuchteten sich um seinen Hals und begannen ihn zu schütteln. Ryujis Stimme beschallte mit absurder Lautstärke seinen Gehörgang. „Bist du denn immer noch hier am Blumentragen, Mann, bist du bescheuert, warum guckst du nicht in den Chat?! Es ist passiert! Es hat geklappt!”

Akira ließ den Wasserbecher fallen. „Ryuji!!“ Ein Feuerwerk schlecht platzierter Knutscher platzte auf Akiras linkem Ohr. Akira stellten sich die Nackenhaare hoch. „Ryuji, warte! Ich muss--“

“Er ist draußen!” Ein ausgelassenes Jauchzen schnitt ihm das Wort ab. In einer stürmischen Umarmung warf Ann sich ihren Freunden um den Hals und drückte ihr strahlendes Gesicht an Akiras linken und Ryujis stachelige Frisur an seiner rechten Wange platt. Mit einem schrillen Maunzen knallte die schwarze Schultasche gegen Akiras Bauch, die Ann für ihn in Gewahrsam genommen hatte. “Es hat echt funktioniert!" jubilierte sie, "Wir hatten den Richtigen erwischt!”

„Ann, lass los!“ rief Akira atemlos und kämpfte mit Mühe seine Brille aus Anns weichen Zöpfen frei, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er sich aus der Traube von Männern löste - der Mann mit der Stahlstimme. Mit stechenden Augen zog der Kommissar vorbei, ohne Notiz von den jugendlichen Eindringlingen zu nehmen, die mit Schwung gegen den Wasserspender getaumelt waren. Seine grobe linke Hand verkrampfte sich in einer unbefriedigten Würgebewegung. Der zischende Atem, der seinen knirschende Zähnen entkam, schien das Wort „Phantomdiebe“ zu formen.

„Akira! Hier seid ihr!“ Akira fuhr herum und sah in Yusukes und Makotos vom Laufen erhitzte Gesichter.

„W-wie zum Teufel seid ihr alle hier reingekommen?“ flüsterte Akira.

"Ann kannte den Typ von der Hostessenagentur am Eingang!“ rief Ryuji in voller Lautstärke und positionierte stolz seinen erhobenen Daumen neben Anns Gesicht. „Gut die Frau, oder?!”

„Wir haben dir eine Million Nachrichten geschrieben, warum hast du nicht geantwortet?“ rief Ann mit runden Augen.

„Leute, es ist gefährlich hier.“ Makoto strich sich eine Strähne aus der Stirn und sondierte mit besorgtem Blick das Polizeiaufkommen in ihrer unmittelbaren Nähe. „Wir sollten schleunigst von hier verschwinden.“
 

Noch bevor Akira ihr zustimmen konnte, flackerte der Backstagemonitor hinter dem Wasserspender auf und schaltete zu den Nachrichten um. Eine Reporterin drängte sich in die Mitte des Fernsehbildes, das im Hintergrund die polizeiumstellte Konzerthalle auf der anderen Seite des Ueno-Parks zeigte. “Gerade hören wir es, meine Damen und Herren”, prasselte ihre Stimme aus den kleinen Lautsprechern. “Es ist ein Wunder geschehen! Der schwer bewaffnete Täter, der sich seit heute Morgen im Konzertsaal von Ueno verschanzt und mehrere Geiseln genommen hatte, hat soeben das Gebäude verlassen und sich der Polizei gestellt! Ich bestätige, die Geiseln sind wohlauf, es ist niemand zu Schaden gekommen...”

„Holy shit, das sind wir!“ Ann hüpfte auf der Stelle und presste sich die Hand vor den Mund, um ein lautes Quieken zu unterdrücken, nur um eine Sekunde später dann doch begeistert auf den Bildschirm zu zeigen: „Oh mein Gott, da! Sie haben ihn bei den Bäumen erwischt!“

Weitere Bühnenmonitore schalteten auf die Nachrichten um und zeigten Bilder von einem tränenüberströmten Mann, der unter den stattlichen Rotbuchen vor dem Saal in Handschellen gelegt wurde, wie freigelassene Geiseln und erleichterte Beamte Interviews für die Presse gaben.

“Das ist der aller-allergeilste Moment in meinem behinderten Leben“, wimmerte Ryuji mit halb angehaltenem Atem und versuchte mit erhobenem Handy, Anns nächster Gruppenumarmung zu entkommen. Er schubste ihre Hand von seinem Kopf und kämpfte prustend gegen ihren Freudentanz an um ein unverwackeltes Kamerabild. Dann filmte er in einem langsamen Schwenk, wie Hostessen aufsahen, Bühnenarbeiter ihren Arbeitsweg unterbrachen und das Floristenteam ihre Pflanzenkisten abstellte. Der Bildausschnitt stoppte auf den Gesichtern der Polizeibeamten. Einer nach dem anderen wandten sie sich um und stellten sich den Bildern, die von allen Seiten das jüngste Zeugnis ihrer Machtlosigkeit reflektierten. “So kann's gehen, Mister Perfect...“ Genüsslich zoomten Ryujis Finger auf das helle Schimmern in ihrer Mitte. „Unser Blumenjunge hat dir heute die Blumen für dein Begräbnis gebracht.”

Es war, als hätten sich ihre Blicke ineinander verhakt, als Akira zu Akechi zurücksah. Unter der ausblutenden Abendsonne war er der Einzige, der sie sah. Während alle Welt den Nachrichten über die Phantomdiebe im Fernsehen staunte, hatte seine Augen sich entschieden, ihnen zu folgen. Ruhig stand er da, umzingelt von den grauen Uniformen wie von Gitterstäben, und lächelte für ihre Kamera.

“Ryuji, du Depp, pack das weg! Willst du, dass wir alle auffliegen?!” Eine gespreizte Katzenpfote peitschte aus der halb geöffneten Schultasche auf Akechis gespenstisches Lächeln. Ryuji hatte so viel Spaß am Vergrößern gehabt, dass es jetzt das ganze Display ausfüllte. “Was denn, das merkt ja wohl kein Mensch”, verteidigte sich Ryuji und versuchte, seine Filmarbeiten aus Morganas Reichweite zu retten, “das war doch wohl mega subtil jetzt! Passt auf, jetzt noch schnell ein Selfie mit uns und denen… he. Akira. Was soll das?”

Der Pausengong ertönte ein drittes Mal und ließ eine Lawine von grauen Rücken zur Bühne aufbrechen. Als Akechis Gestalt von ihnen verschlungen wurde, begriff Akira, dass seine Hand sich um Ryujis Kameralinse geschlossen hatte. Er begegnete dem überraschten Blick seines besten Freundes mit gleichwertiger Überraschung und ließ das Gerät mit einem Lächeln los. “Entschuldige.”

Ryuji lachte prustend los, überhäufte ihn mit lauten Beschimpfungen, schlug ihm das Handy auf den Kopf und zog Akira zurück in die Gruppenumarmung. Makoto und Morgana zischten im Chor und mahnten zur Ruhe. Ann und Yusuke lachten gedämpft und begannen, das ineinander verflochtene Gespann in Richtung Ausgang zu manövrieren. Akira schüttelte den Kopf und ließ sich in die Umarmung seiner Freunde ziehen. „Okay, weg hier.“

Ohne zurückzusehen taumelten sie im Siegesrausch davon, unerkannt bewundert von den Mädchen, die ihre Autogrammbücher wegpackten und stattdessen Youtube anwarfen. Unerkannt gefeiert von den Floristen, die ihre Schürzen abbanden, um sich das Kriminalspektakel bei der Kunsthalle aus der Nähe anzusehen. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die skandalösen Nachrichten über die Absperrung der Konzerthalle, von der bis zum Schluss niemand etwas gemerkt hatte. Auf der Welle, in das Gerücht von Mund zu Ohr weitergeflüstert wurde, wurden sie in die bunten Besuchermengen des Parks hinausgetrieben, bis die Sensation des Tages auch den allergrößten Bühnen hallte: “Meine Damen und Herren, soeben höre ich von meinem Kollegen: bei dem Entführer wurde eine Karte gefunden! Es ist bestätigt, es waren die Phantomdiebe! Die Phantomdiebe haben dieses Wunderwerk vollbracht! Sie sind wieder da!”
 

Es dauerte, bis das Gefühl nachließ, Akechis Blick in seinem Rücken zu spüren. Was blieb, war das seltsame Gefühl, sein Herz in der Hand gehalten zu haben.



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