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Sünde

von

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Gregor

Etwa anderthalb Stunden vor dem Abendessen verließ ich mein Zimmer wieder, nachdem ich ein wenig gelesen und meine neuen Kleider bestaunt und fein säuberlich in den Schrank einsortiert hatte. Inzwischen waren deutlich mehr Schüler aus den Ferien zurückgekehrt und man hörte hier und da eine Tür zuschlagen oder leise Unterhaltungen. Anscheinend waren alle damit beschäftigt, auszupacken und über die Ferien vermisste Freunde zu begrüßen. Es schien mir die perfekte Zeit zu sein, um das Internat und seine Parkanlagen ein wenig zu erkunden.

Schnell schloss ich meine Zimmertür hinter mir ab und eilte mit federnden Schritten die Treppe hinunter. Von meiner bedrückenden Nervosität war nichts geblieben. Ich hatte den Schritt tatsächlich gewagt und es fühlte sich gut an. Mir war, als könnte mich nichts aufhalten. Wäre da nicht das leise zwickende Heimweh und die Sehnsucht nach Mel gewesen, die sich unablässig wie dünne Nebelschwaden durch meinen Geist schlängelte, wäre ich direkt glücklich gewesen. So war ich einfach gespannt auf die Zeit, die vor mir lag.

In der Eingangshalle hielt ich kurz inne, um mich zu orientieren. Von Frau Dr. Andersen wusste ich, dass im ersten Stock die Klassenzimmer lagen, die ich noch früh genug kennen lernen würde. Ich wusste auch, dass die Stuben für Schüler und Lehrer im zweiten Stock, sowie in den Dachzimmern der Türme untergebracht waren. Doch was sich alles im Erdgeschoss befand, entzog sich bisher meiner Kenntnis. Ich hatte große Lust, ein wenig herum zu streunen und es heraus zu finden.

Trotzdem stieß ich stattdessen die schwere Fronttür auf und trat in das honiggoldene Nachmittagslicht. Noch immer trieben bauschige Schäfchenwolken über den langsam blasser werdenden, blauen Himmel und es lag ein herrlicher Sommergeruch nach warmer Erde in der Luft. Bei so wunderschönem Wetter musste ich einfach draußen sein – da hatte das Erdgeschoss leider zu warten.

Mit beschwingten Schritten bog ich um die Ecke des Internatsgebäudes und staunte nicht schlecht. Der sich vor mir erstreckende Park war viel größer als er vom Fenster der Direktorin aus gewirkt hatte. Zu meiner Rechten lag ein ausladender, rot geaschter Tennisplatz und links konnte ich in einiger Entfernung Schilfrohr erkennen, was einen Teich oder sogar einen See erahnen ließ.

Begeistert hielt ich auf die zartgrünen Halme und die dicken, braunen Pfeifenputzer zu, die in einer sanften Abendbrise hin und her tanzten. Ich hatte Wasser schon immer geliebt. Bereits als Kind hatte ich stundenlang am Seeufer sitzen und das Glitzern der bewegten, sich kräuselnden Oberfläche beobachten können und Schwimmbadbesuche waren für mich immer ein Fest gewesen. Unwillkürlich fragte ich mich, warum ich eigentlich nie im Schwimmverein gewesen war.

Ich marschierte eine sanft abfallende Wölbung hinab und fand mich schon bald am Ufer des kleinen Sees wieder. Auf der spiegelnden Oberfläche trieben einige Seerosen mit voll entfalteten, weißen Blüten, deren Blätter am unteren Rand einen zart rosafarbenen Strich aufwiesen. Die langen Strahlen der Sonne brachen sich auf dem Wasser und ließen es in vielen bunten Farben glitzern.

Ich ging in die Hocke und beobachtete einige kleine, schwarzgeschuppte Fische, die sich in Ufernähe aufhielten. Über ihnen huschten einige ein wenig desorientiert wirkende Wasserläufer hin und her und hinterließen zarte, sich langsam ausbreitende Kreise auf der Oberfläche. Neben mir schwirrte eine dicke, grüne Libelle mit knatternden Flügelschlägen durch die Luft.

Alles hier wirkte so friedlich und idyllisch, das einem einfach das Herz aufgehen musste. Es war schwer vorstellbar, dass jemand an dieser Stelle sitzen und sich nicht an der Schönheit der Natur erfreuen konnte. Gerade als ich beschloss, dass der See gute Chancen hatte, mein liebster Rückzugsort zu werden, spürte ich, dass mich jemand beobachtete. Sofort riss ich den Kopf hoch und sah mich um – wie ein Reh, das Gefahr witterte.

Auf einer Bank, die ein Stück rechts von mir fast versteckt zwischen zwei Jasminbüschen stand, saß eine junge Frau mit kurzen, pechschwarzen Haaren, deren Spitzen sich wild nach außen bogen, und blickte ungeniert zu mir herüber. In ihren klaren braunen Augen blitzte der Schalk, als sie eine Hand hob und mir zuwinkte.

Für einen Moment war ich so perplex, dass ich ihre Kleidung kaum wahrnahm. Doch als ich das T-Shirt erkannte, von dem aus mir der weißhaarige Dante lässig entgegen blickte, gefror mir beinah das Blut in den Adern. Manuels Schwester!

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie er reagiert hätte, hätte er mich an so einem abgeschiedenen Ort in der Nähe seiner Schwester entdeckt. Vermutlich hätten er und seine Kumpels mich augenblicklich grün und blau geschlagen. Allein der Gedanke daran, ließ mich zittern, was mir wiederum ziemlich sauer aufstieß. Warum ließ ich mich von einem postpubertären Neandertaler so verängstigen?

Doch auch wenn ich wusste, dass es feige war, wollte ich plötzlich einfach nur noch weg. Mit einem Mal wirkte der kleine See gar nicht mehr friedlich und einladend. Stattdessen hatte ich nun das Gefühl, von dem reflektierten Licht geblendet zu werden, das knatternde Flügelschlagen der Libelle hallte viel zu laut in meinen Ohren wider und die Fische schienen mich stumm auszulachen.

Ohne den Gruß des Mädchens zu erwidern, wandte ich mich um und lief zurück zum Internatsgebäude. Sollte sich Manuels Schwester doch bei ihm beschweren, dass ich ein unhöflicher, ungehobelter Klotz war... Dann konnte er mir wenigstens nicht vorwerfen, ich wäre ihr zu nahe gekommen.

So schnell ich konnte, hechtete ich die vielen Treppen zum Wohntrakt nach oben. Dort angekommen eilte ich zu meinem Zimmer, wo ich die Tür etwas zu schwungvoll ins Schloss schmiss. Ein lauter Knall hallte durch die hohen Flure des ehemaligen Jagdschlösschens und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich dafür Ärger bekommen würde. Alle anderen hier schienen so diszipliniert zu sein, dass es mir beinah Angst machte.

Genervt warf ich mich aufs Bett und starrte auf die gekalkte Wand über mir. Meine gute Laune war vollständig verflogen und ich fühlte mich plötzlich schrecklich allein. Eine einsame Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel, als mich fürchterliches Heimweh packte. Ich hätte alles darum gegeben, in diesem Moment eine Partie Schach mit meinem Vater zu spielen, der dabei immer lustige Geschichten aus seiner Studienzeit erzählte, oder meiner Mutter beim Kochen zu helfen.

Doch vor allem sehnte ich mich nach Mel. Sie war meine bessere Hälfte und der Sonnenschein in meinem Leben. Ich knuffte mir meine Bettdecke zurecht, kuschelte mich an den so entstandenen Wulst aus Daunen und Leinen und versuchte mir festzustellen, dass ich stattdessen meine Schwester im Arm hielt.

Ich redete mir ein, dass ich ihre weiche Haut unter meinen Fingerkuppen spürte, dass sich die sanfte Rundung ihres Pos leicht gegen meinen Bauch drückte und dass mich eine ihrer langen Strähnen am Hals kitzelte. Als ich fast glaubte, auch ihren zarten Erdbeergeruch in der Nase zu haben, schlief ich ein.



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