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Sünde

von

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Melanie

Ich saß auf Gregs altem, ausgesessenem Schreibtischstuhl mitten im Raum und sah mich in seinem Zimmer um. Das Bett war nicht gemacht und das zerwühlte Laken sah aus, als hätte mein Bruder eine unruhige Nacht hinter sich. Die fast bodenlangen, schwarzen Vorhänge aus dickem, steifem Stoff waren jedoch ordentlich zur Seite geschoben.

Auch Gregs Kleidung befand sich noch immer in seinem Schrank und war – so weit ich das beurteilen konnte – vollzählig. Alles in allem wirkte es nicht, als wäre mein Bruder abgehauen und doch hatte er sich irgendwann aus dem Haus geschlichen, ohne dass Mama oder ich etwas bemerkt hatten. So etwas sah ihm gar nicht ähnlich.

Mama war fuchsteufelswild gewesen und hatte sogar Papa aus dem Krankenhaus kommen lassen. Nur mit Mühe und Not hatte dieser sie davon abhalten können, gleich los zu stürmen und nach Greg zu suchen. Irgendwie hatte ich dabei ein ungutes Gefühl. Sicher, mein Bruder wurde bald volljährig und konnte dann sowieso tun und lassen, was er wollte... Aber trotzdem konnte ich Mamas Sorgen besser verstehen als Papas stoische Ruhe. Hatte er denn gar keine Angst um seinen Sohn?

Zum wahrscheinlich hunderttausendsten Mal fragte ich mich, was bloß mit Greg los sein konnte. Hatte er sich falsche Freunde ans Bein gebunden, die ihn in irgendeine krumme Sache mit rein gezogen hatten? Nein, ich kannte eigentlich alle seine Freunde und die waren echt okay. Das konnte es nicht sein.

Hatte er womöglich in der Schule irgendeinen Mist gebaut? Nein, dann hätte er schon vor den Sommerferien so schräg drauf sein müssen.

War es die plötzliche Angst vorm Abitur, das relativ kurz bevor stand? Nach den Ferien würde Greg in die zwölfte Klasse wechseln und wäre damit in dem Bereich, wo fast jede Note bereits für den Numerus Clausus zählte, der später über die Zulassung für diesen oder jenen Studiengang entscheidend sein konnte. Setzte mein Bruder sich damit selbst so sehr unter Druck? Eigentlich hätte er das gar nicht nötig. So weit ich wusste, war Greg von Natur aus immer schon ein guter Schüler gewesen, dem alles zuzufliegen schien. Eine Tatsache, die ich stets als extrem unfair empfunden hatte.

„Vielleicht hat er Liebeskummer.“, platzte Finchen in meine Gedanken hinein. „Was?“ Irritiert drehte ich mich zu ihr um, wobei der Drehstuhl protestierend quietschte. Ich fragte mich, wie Greg auf diesem Ding sitzen und arbeiten konnte.

Josephine stand vor dem Schreibtisch meines Bruders und blätterte völlig ungeniert einige seiner Schulhefte durch. Ihr rückenlanges, rötliches Haar wickelte sie dabei immer wieder um ihren linken Zeigefinger. Sie schien das vollkommen unbewusst zu machen, so wie Greg, der immer auf der Unterlippe kaute, wenn er nachdachte.

Als ich mich vollständig zu ihr umgedreht hatte, klappte Finchen gerade eines der Hefte zu und sah mich aus ihren unglaublich großen, blauen Augen mit den blassen Wimpern an. „Na, Liebeskummer halt.“ Ich schüttelte vehement den Kopf, wobei mein Pferdezopf durch die Luft peitschte. „Er hat ja nicht einmal eine Freundin.“ Hatte er doch nicht, oder? Möglicherweise war unser Vertrauensverhältnis doch nie so eng gewesen, wie ich gedacht hatte. Er erzählte mir ja auch jetzt nicht, was mit ihm los war.

„Vielleicht ist ja genau das der Knackpunkt...“, beharrte Finchen. Ich sah sie verständnislos an. „Wie meinst du das?“ Schnaufend rollte sie mit den Augen, so als hätte ich eine selten dämliche Frage gestellt. „Na, vielleicht ist er ja unglücklich verliebt.“ Sie sah mich herausfordernd an und fügte dann, damit auch ein begriffsstutziger Klotz wie ich verstand, was sie meinte, hinzu: „Also, vielleicht hat er sich in eine Frau verliebt, die nichts von ihm wissen will. So etwas kann weh tun...“

„Hm.“ Grübelnd zupfte ich an einem Hautfetzen an meinem rechten Daumen. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob Josephine noch immer in meinen Bruder verliebt war und aus Erfahrung sprach, wenn sie sagte, unerwiderte Liebe könne weh tun. Wobei das eigentlich gar keine Rolle spielte. Wichtig war in diesem Moment eigentlich nur, dass sie recht haben könnte.

War Greg unglücklich verliebt? Nun, das würde seinen leidenden Gesichtsausdruck, seine offensichtliche Appetitlosigkeit, seine verweinten Augen und seine Zurückgezogenheit erklären. Vielleicht hatte er die fragliche Frau bei der Filmvorführung entdeckt und war deswegen aus der Aula geflohen.

Doch warum sprach er dann mit niemandem darüber? Oder tat er das mit jemand anderem? Bis vor zwei Monaten wäre ich jede Wette eingegangen, dass er sich Chris anvertraut hatte, doch mit dem wechselte er inzwischen kein einziges Wort mehr. Mit wem könnte er sonst über so etwas sprechen? Und wohin entschwand er in den letzten Tagen immer wieder?

Ohne drüber nachzudenken stellte ich diese beiden Fragen laut: „Wenn es so ist, warum spricht er dann nicht mit mir darüber? Und wo ist er jetzt?“ Finchen legte den Kopf schief und sah an mir vorbei aus dem Fenster, wo das Sommergewitter endlich weiter zog. „Vielleicht schämt er sich, weil er sich in eine Lehrerin verliebt hat oder so.“ „Möglich. Aber wo ist er?“ „Woher soll ich das denn wissen?!“

In dem Moment ging ein Leuchten über Finchens Gesicht, als sie eine Idee hatte. „Vielleicht ist er ja gar nicht unglücklich verliebt!“ Weil ich ihr nicht folgen konnte, warf ich irritiert die Stirn in Falten. „Häh? Wie denn jetzt?“ „Na, stell dir mal vor, du wärst mit jemandem zusammen, der dir zwar peinlich ist, den du aber trotzdem sehen willst. Dann würdest du dich auch heimlich aus dem Haus schleichen, oder?“

Ungläubig verzog ich den Mund. Gut, Finchens Theorie war durchaus irgendwie logisch, aber die Vorstellung, dass Greg sich genötigt sah, wegen ein paar Dates eine solche Heimlichtuerei an den Tag zu legen, widerstrebte mir. „Und was sollte das für eine Person sein?“ Ich hörte selbst, dass meine Stimme irgendwie bockig und patzig klang.

Doch Finchen ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie zuckte einfach nur die Schultern und sah für einen kurzen Moment nachdenklich zur Decke. „Weiß nicht. Vielleicht wirklich seine Lehrerin oder...“ Sie machte eine Kunstpause, für die ich sie am liebsten geohrfeigt hätte. „... vielleicht handelt es sich ja auch um einen Mann.“

Kaum dass ich begriffen hatte, was meine beste Freundin gesagt hatte, brach ich in schallendes Gelächter aus. Greg und schwul? Nein, das passte einfach nicht. Er war immer schon ein Mädchenschwarm gewesen, auch wenn er momentan noch so wirkte, als müsste er erst noch richtig in seinen Körper hineinwachsen, der noch auf der Schwelle zwischen Junge und Mann stand. So lange ich denken konnte, hatte Greg von unzähligen Mädchen Liebesbriefe und dergleichen bekommen.

Das Lachen blieb mir in der Kehle stecken, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Warum war mir das früher nie aufgefallen? In all den Jahren, in denen all diese Mädchen ihn umgarnt hatten, hatte Greg sich kein einziges Mal für eines von ihnen interessiert. Und er war schon auffällig eng mit Chris befreundet gewesen...

Finchen sah mich wegen meines Lachkrampfs ein wenig beleidigt, doch noch immer herausfordernd an, während ich darum kämpfte, meine eigenen Gedanken zu verdauen. Konnte das sein? War Greg tatsächlich schwul?



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