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Nimbus Magnus

von

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Diluculum

Wenn das Tropfen lauter klingt als dein Herzschlag, ist der Albtraum vorbei. Zumindest für den Moment.

Diese Worte waren ebenso wahr wie gelogen und hatten sich vor unzähligen Jahren in Joshuas Verstand eingebrannt. Mit jedem Tropfen Blut, den er von seinem Kinn in die Pfütze zu seinen Füßen fallen hörte, schien sein Herz leiser, ruhiger zu schlagen. Sein Atem ging flach und gleichmäßig, als säße er gemütlich im Bett und läse ein nur mäßig spannendes Buch.

Vor langer Zeit hätte sich dies bei dem Anblick, der sich ihm bot, schlagartig geändert. Nun jedoch war es nur ein weiterer lebloser, noch lauwarmer Körper, der bald eins mit dem Müll und den Abgasen der industriellen Landschaft werden würde.

Mit Abklingen des Halluzinationen setzten unerträgliche Kopfschmerzen ein, die er einen Moment lang nur allzu gern damit gestillt hätte, sein eigenes Leben zu nehmen. Für einen Augenblick stand er reglos da, versuchte, sich wieder an seine Umwelt zu gewöhnen. „Wo bin ich?“ war eine der Fragen, die er sich schon lange nicht mehr stellte. Egal, wie lange es dauerte, irgendwann kam er immer wieder an dem Ort an, den er Heimat nennen musste.

Die Straßenlaternen flackerten entlang seines Weges, der ihn in Richtung der hell erleuchteten Stadtmitte führte. Die Namensgebung hatte etwas Makaberes, klang der Term doch wie ein Zentrum von Leben. Was sich in Wahrheit dort sammelte, waren nichts weiter als verwirrte, seelisch und körperlich geschändete Menschen, die alle, genau wie er selbst, einen Anhaltspunkt brauchten, um nach Hause zu finden.

Zu seiner eigenen Verwunderung war der Weg für ihn heute eigenartig kurz, und es befanden sich auch noch unzählige Menschen am Brunnenplatz. Für gewöhnlich fand er sich spät hier wieder, weil er sich nur selten in derartiger Nähe der Stadtmitte aufhielt.

Seine Hoffnung, gegen die unkontrolliert ausgelösten Halluzinationen, den geistigen Wahn eine Resistenz zu entwickeln, war im Laufe der Jahre geschrumpft, aber nie ganz gestorben. Vielleicht war es ein verzweifelter Versuch, sich selbst einzureden, dass in Wahrheit noch nicht alles vorbei war.

Er machte sich auf direktem Wege auf zum Brunnen, an dessen Westseite eine weibliche Skulptur stand, die mit vor der Brust gefalteten Händen hoffnungsvoll in den Himmel blickte. Ein skurriler Anblick inmitten der weinenden, blutenden Menschen, die mit trägen Körpern über den Platz stolperten, um mit letzter Energie nach Hause zurückzufinden.

Joshua ließ sich neben der Skulptur auf den kalten, schmutzigen Steinboden sinken und strich sich eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Seine Haare waren schon wieder viel zu lang geworden. Sowohl seiner persönlichen Präferenz nach, als auch aufgrund der Tatsache, dass sie ihm ständig vor den Augen hingen und die Sicht verdeckten. Auch wenn es manchmal gar nicht verkehrt wäre, den Blick von der Welt abwenden zu können.

„Du bist früh dran“, erinnerte ihn eine hohe, nahezu piepsige Stimme daran, warum er hierhergekommen war.

„Ich hatte es nicht weit.“

Das war die einzige Erklärung, die er liefern würde, und auch die einzige, die relevant war. Vielleicht, so kam ihm der Gedanke, stimmte nicht einmal das, und alles, was hier geschah, würde niemals etwas bedeuten.

„Lass uns nach Hause gehen.“

 

Den Großteil der Zeit, in der sie so frei wie möglich waren, verbrachten sie zu zweit – eine Voraussetzung, um sich jegliche Chance aufs Überleben zu sichern. Zwar war es selten, in Nächten wie dieser angegriffen zu werden, jedoch nicht völlig ausgeschlossen, und zwei geschwächte Personen konnten sich immerhin noch besser wehren als eine Einzelne.

„Das ist eine ziemlich große Wunde, Nora“, stellte Joshua unterwegs kühl fest und nickte ihr mit einem Blick zu ihrer Schläfe leicht zu. Die Angesprochene hob eine Augenbraue, vielleicht ob der Feststellung, oder aufgrund der Tatsache, dass er nie aufhören würde, ihr diesen Spitznamen zu geben.

„Habe nicht aufgepasst“, erwiderte sie kurz angebunden und fasste sich an die noch blutende Wunde, verzog kaum merklich das Gesicht und wischte das bereits gerinnende Blut an ihrer ohnehin völlig verschmutzten Hose ab.

Wie so oft waren ihre Worte für Joshua nicht völlig nachvollziehbar. Ihm war schließlich völlig bewusst, dass das Selbstschutzsystem in ihrem Körper es ihr unmöglich gemacht hatte, ihre eigenen Handlungen zu kontrollieren und das Geschehene zu beeinflussen.

Manchmal glaubte er, sie gäbe nur irgendwelche Floskeln wieder, die sie einmal aufgeschnappt hatte und deren Klang ihr gefiel, doch ihre Tonlage war dafür meist zu ernst.

„Aufgepasst, hm?“, antwortete er deswegen skeptisch, wurde jedoch nur noch mit einem hämischen Grinsen entlohnt, bevor sie den Kopf schüttelte und das Thema somit beendete. So war es immer. Aber vielleicht waren ihre eigenartigen Erklärungen einer seiner Gründe, nicht völlig aufzugeben, und zu hoffen, dass es einen Weg aus dieser Kontrollgesellschaft heraus gab.

Sie kamen am Ende der Oldover Road an, welche vor Ewigkeiten einmal ziemlich belebt gewesen gewesen sein musste. Es hatte mehrere Schulen gegeben, ein großes Café, und auch der nächste Cricketplatz war nicht weit entfernt.

Joshua versuchte öfter, an eine derartige Zeit zurückzudenken, aber war viel zu jung gewesen, sich all diese Dinge wirklich einzuprägen. Nicht mal der Name seiner ehemaligen Schule wollte ihm noch einfallen, und die größtenteils verwesten Lettern, die mit sehr viel Fantasie A s lm Sch o zeigten, waren keine große Hilfe.

„Bist du fertig?“, wurde er frech gefragt, löste mit gerunzelter Stirn den Blick vom alten Schulgebäude und merkte erst jetzt, dass er stehengeblieben war. Eine Angewohnheit, die er wohl niemals ablegen würde. Er strich sich eine tiefschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, nickte und setzte seinen Weg fort.

 

Sie hielten an einem der wenigen Häuser, die sich in noch bewohnbarem Zustand befanden. Es war eine Seltenheit, jedoch hatte sich innerhalb der letzten Jahre die Bevölkerung derart stark dezimiert, dass es wahrscheinlich auch keine große Rolle spielte. Was brachte schon ein tolles Haus, wenn es niemanden gab, der darin leben könnte?

„Wir sollten das Schloss austauschen“, konstatierte Joshua, als dieses, wohlgemerkt zum wiederholten Male, theatralisch ächzte, während er es verriegelte. Es war nicht das erste Mal, dass er dies feststellte, und er wusste auch, dass es nicht das Letzte bleiben würde.

„Die Mytens waren seit Wochen nicht da. Wenn sie nicht bald mal wieder auftauchen, nehme ich ihres raus.“

Er nickte flüchtig und blickte aus dem Küchenfenster zum gegenüberliegenden Haus. Es stimmte. Die Mytens waren wirklich seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen, zumindest hatte er sie nicht gesehen, und das war ungewöhnlich, da sie diesen Ort schon immer bewohnt hatten.

„Zieh nicht so ein Gesicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis-“

„Hör auf. Behalt es einfach für dich, Lenora.“

Sie verdrehte die Augen und trat in den Flur hinaus, wohl um das Türschloss zu inspizieren.

„Manchmal bist du wirklich sentimental.“

„Ich bin mit diesen Menschen aufgewachsen. Entschuldige bitte, dass mich ihr möglicher Tod nicht vollständig kalt lässt.“

Stille trat ein, was Joshua fast noch mehr verärgerte als irgendwelche harschen Kommentare bezüglich seiner Gefühle. Es stimmte, dass ihn der Tod der meisten Menschen wohl eher ermüdete als mitnahm, aber der Verlust der wenigen positiven Verbindungen zu einem freien Leben, die ihm bis hier verblieben waren, nahm ihm den Großteil des wenigen Antriebs, den er noch nicht verloren hatte.

„Ich bin müde“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Lenora, die wieder in die Küche getreten war und sich an den Tisch gesetzt hatte. Sie murrte leise Zustimmung, was unter Umständen auch das Letzte sein würde, was er heute aus ihr herausbekäme.

Es stimmte in vielerlei Hinsicht. Die letzten zwei Nächte hatten sie im eher wenig funktionalen Schutz einer alten Bushaltestellenüberdachung verbringen müssen. Das war immer noch verlockender gewesen, als von tennisballgroßen Hagelkörnern erschlagen zu werden, und da der Sturm Bäume und Autos umher geworfen hatte, war es auch nahezu unmöglich gewesen, nach Hause zu gelangen.

„Ich werde ins Bett gehen.“

Der Tag war viel zu lang gewesen, der Längste in einer geraumen Zeit, und auch wenn sich der Sturm gelegt hatte und Joshua froh war, diese Nacht in etwas verbringen zu dürfen, was sich gerade so noch Bett schimpfen durfte, wusste er, dass auch morgen ein anstrengender Tag bevorstand.

„Klar. Ich habe uns übrigens ein paar Lebensmittelkarten besorgt. Dürften für etwa eine Woche reichen. Vielleicht zwei, wenn wir sparsam sind.“

„Möchte ich wissen, woher du so viele hast?“

Lenora sah ihn für einen langen Moment an, verzog dann die Lippen zu einem unschuldigen Grinsen, das sie eher aussehen sah wie einen Kindermörder, und schüttelte dann kurz den Kopf.

„War ein langer Tag.“

Er beließ es dabei, denn er dachte genauso. Genau genommen war es gerade deswegen ziemlich ungewöhnlich, dass keiner von ihnen auch nur daran gedacht zu haben schien, dem anderen von seinen heutigen Erlebnissen zu erzählen.

Aber manchmal war es einfach am besten, mit diesen furchtbaren Gedanken allein zu sein und sie niemand anderem aufzuzwingen. Es reichte, dass Joshua kaum die Augen schließen konnte, ohne vor seinem inneren Auge das Bild der jungen Frau zu sehen, der er im geistigen Wahn absolut unkontrolliert den Schädel zertrümmert und einen Finger ausgerissen hatte.

Er drehte sich auf die linke Seite, verwirrt darüber, dass ihn dieser Gedanke gerade jetzt einholte. Es war nichts Neues für ihn. Furchtbar, tragisch, aber ebenso alltäglich. War es, weil sie offenbar kaum älter gewesen war als er selbst? Oder lag es an der Tatsache, dass ihn die unkontrollierbare Angst, irgendwann auf jemanden loszugehen, der ihm wichtig war, seit beinahe fünfzehn Jahren noch nie wirklich losgelassen hatte?

In jedem Fall standen ihm Albträume bevor, die er sich nicht vorstellen mochte, und die ihn bereits gedanklich an einem Tag geistiger Instabilität möglicherweise weit genug gequält hätten, dass er in Tränen ausgebrochen wäre.

Doch nichts führte daran vorbei, dass er in einigen Stunden wieder aufwachen müsste, und nichts würde sich ändern, solange er hier blieb.

Solstitium

Zum ersten Mal seit Tagen waren es warme Sonnenstrahlen, die Joshua den nötigen Anreiz gaben, sich aus dem Bett zu schälen. Das war schon insofern ironisch, dass es ebenfalls das erste Mal seit Tagen war, dass er in einem Bett in einem zumindest halbwegs anständigen Haus lag.

Es hatte jedoch den entscheidenden Vorteil, dass es ihm somit leichter fallen würde, in den Tag zu starten, der viel versprach.

Lenora war, und damit hatte er bereits gerechnet, am Küchentisch eingeschlafen, mit dem Kopf auf eine Zeitung gebettet, die, auch wenn ihr langes, rotes Haar das Meiste verdeckte, schon mindestens eine halbe Woche alt sein musste. Für Joshua war es absolut unbegreiflich, wie sie sich den endlosen Terror auch noch in ihrer Freizeit zu Gemüte führen konnte, ohne völlig durchzudrehen, aber sie plädierte immer wieder darauf, dass es ihr ein eigenartiges Gefühl von Sicherheit gab, wenn an anderen Enden der Stadt schlimmere Dinge geschahen als hier.

Er beschloss, sie nicht zu wecken, da er ohnehin wusste, wie gering ihre Begeisterung über seine Tagesplanung ausfallen würde. Aufhalten würde sie ihn nicht, oder es zumindest nicht schaffen, aber ihm fehlte generell die Energie für ihre Kommentare dazu und die allgemein schlechte Stimmung, die sich dann grundsätzlich zwischen ihnen breitmachte.

Vorsichtig, darauf bedacht, sie nicht aus ihrem offen gesagt eher wenig gemütlich wirkenden Schlaf zu reißen, erlaubte er es sich, aus ihrer Jackentasche einige der Lebensmittelkarten zu nehmen, die sie von wo auch immer bekommen hatte.

Eigentlich hätte eine Karte für den Moment gereicht, und Joshua war grundsätzlich nicht wohl dabei, zu viele mit sich zu tragen. Es fühlte sich an wie eine Handvoll Geldscheine, wobei die Karten heutzutage sogar noch weit mehr wert waren als das.

Aber besonders die letzten Wochen waren derart chaotisch gewesen, dass es ihm davor graute, möglicherweise morgen nicht nach Hause kommen zu können und sich bis dahin auch keine eigenen Karten zu erarbeiten. Er wollte vorsichtig sein und nichts riskieren.

Für eine kleine handgeschriebene Notiz nahm er sich jedoch noch die Zeit, ließ seine Erklärung mit Ich muss los, wir sehen uns später aber weitaus vager ausfallen als beabsichtigt. Lenora würde ohnehin wissen, was genau das bedeutete, die Notiz zerknüllen, wieder auseinander falten und dann auf dem Tisch liegen lassen. Es war ein repetitives Szenario.
 

Die Sonne hatte nicht zu viel versprochen, es war sehr warm und wenn man es geschafft hätte, die Trümmer auf den Straßen auszublenden, hätte man tatsächlich behaupten können, dass es ein schöner Tag war.

Aber Joshua blendete nichts aus. Er sog den Anblick eines jeden umgefallenen Autos, die Skurrilität von grün überwachsenen Straßenbänken und Haustrümmern, die endlose Einsamkeit der Straßen in sich auf, denn all das war es, was ihm den Antrieb gab, etwas ändern zu wollen. Es war egal, wie groß seine Chancen standen, und auch, ob es irgendeinen Haken gab, den er bisher übersehen hatte. Nur der Gedanke daran, etwas ändern zu können, hielt ihn davon ab, endgültig aufzugeben und sich einzugestehen, dass es möglicherweise keinen Ausweg aus dieser Situation gab.
 

Er folgte der Straße in Richtung Innenstadt, bog jedoch in den Park am Cricketplatz ein, da es der kürzeste Weg zu seinem Ziel war. Zugegeben, es war weit hergeholt, es als Park zu bezeichnen, denn primär wirkte es inzwischen wie ein kleiner mitt-städtischer Urwald, was gleichermaßen passte wie völlig Fehl am Platz wirkte. Im Gegensatz zu den industriell verseuchten, und gleichsam von der Natur übergrünten Straßen, fühlte sich das hier normal, nahezu gut an, weil es Joshua an Waldwanderungen erinnerte, und das verkorkste Leben um ihn herum dabei völlig ausblendete.

Er folgte so gut wie möglich dem sandigen Weg, und stellte gedanklich fest, dass dieses Jahr vielleicht das Letzte war, in dem ihm das möglich sein würde, egal wie viele er noch hier verbringen würde. Gras und Unkraut wuchsen wild und unkontrolliert darüber, und hätte Joshua nicht gewusst, dass genau hier einmal der Weg durch den Park gelegen hatte, hätte er es vielleicht gar nicht erkannt. Aber es war alltäglich für ihn, er war schon unzählige Male hier lang gelaufen, und egal wie sehr sich alles veränderte, er konnte und er wollte die Erinnerungen nicht loslassen.

Einer der höchstwahrscheinlich ältesten Bäume hier, so stellte er fest, hatte den mehrtägigen Sturm offenbar nicht überlebt. Das war irgendwo niederschmetternd, aber andererseits zu erwarten gewesen. Und wenn er so genau darüber nachdachte, war ein derart natürlicher Tod das mit Abstand Utopischste, was er sich vorstellen konnte. Absolut erstrebenswert.

Die Lichter des alten Gemischtwarenladens am anderen Ende des Parks waren zum ersten Mal seit langem nicht das, was die Straße erleuchtete, und für einen Moment war Joshua nicht sicher, ob er überhaupt geöffnet hatte, sah jedoch bei näherem Herantreten, dass sich Menschen darin zu befinden schienen.

Wie auf Kommando knurrte sein Magen unkontrolliert, und er hätte mit Worten nicht beschreiben können, wie glücklich ihn die Lebensmittelmarken in seiner Hosentasche machten. Es war eine absurde Form von Seligkeit, aber es war eine.

„Hey, Joshua mein Bester, lange nicht gesehen!“, grüßte ihn der Ladenbesitzer, Harry, euphorisch, und erhielt wie auf Knopfdruck ein schmales Grinsen als Antwort. Er war ziemlich klein und für die existentiellen Umstände beinahe dick. Denn auch er kam nicht drum herum, seine Lebensmittel mit Lebensmittelmarken zu erwerben, und niemand wehrte sich gegen dieses Konzept, wenn ihm irgendetwas an seinem Leben lag.

„War in den letzten Tagen völlig unmöglich, hierher zu gelangen“, erklärte Joshua knapp und ließ sich aufmunternd auf die Schulter klopfen. Der ältere Mann war das genaue Gegenteil von ihm selbst, sowohl äußerlich als auch charakterlich. Es war wahrscheinlich ein ulkiger Kontrast, sie nebeneinander zu sehen, wobei die meisten anderen Menschen sich gar nicht die Zeit nahmen, dafür auch nur kurz stehenzubleiben. Nicht, dass man ihnen dies verübeln könnte.

„Ja, ja. Furchtbar, diese Stürme. Wird immer schlimmer“, murmelte Harry vor sich hin und nickte dabei wie in Trance.

„Also, wohin geht’s?!“

Joshua verstand es nicht ganz, aber obwohl ihm überhaupt nicht danach war, über seine Pläne zu reden, als gäbe es irgendeinen guten Grund für Plaudereien, antwortete er schon, bevor er darüber wirklich nachdenken konnte.

„Zu Onkel Thomas. Habe ihn schon seit Wochen nicht gesehen.“

Er bekam einen mitleidigen Blick zugeworfen und wusste auch sofort, warum. Jemanden für längere Zeit nicht zu sehen schloss in den seltensten Fällen aus, dass diese Person inzwischen gestorben sein könnte. Es war unangenehm, darüber so trocken nachzudenken, aber er konnte das durchaus nachvollziehen.

Wenn es jedoch um Onkel Thomas ging, kamen ihm diese Gedanken nie. Vielleicht wollte er sie einfach nur nicht denken, aber allem voran hatten sie gemeinsam schon so vieles überlebt, immerhin fast fünfzehn Jahre lang, dass es ihm unnatürlich schien, ihn ausgerechnet jetzt zu verlieren.

„Ich bin mir sicher, ihm geht’s gut. Ich war nur lange nicht zuhause, und wenn, dann habe ich es gerade noch so geschafft, völlig ausgelaugt ins Bett zu fallen.“

Dabei beließ er es nun endgültig, bezahlte einen Laib Brot mit drei seiner Brotmarken, und hob zum Abschied kurz die Hand, bevor er den Laden verließ.

Die befremdliche Normalität hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, gerade im Anblick des Chaos' außerhalb, aber Joshua versuchte, darauf nicht zu viele Gedanken zu verschwenden.

Er bog in die nächste Seitenstraße ein und folgte ihr geduldig bis zum Ende. Bis hierher schaffte es die Sonne kaum noch, denn aktuell stand sie im Südosten und wurde daher von den Überresten der alten Häuser und der Bäume abgefangen. Es wirkte beinahe ein wenig paranoid, sich hier hinten zu verschanzen, gerade weil auch die zentraleren Straßen kaum noch bewohnt waren, und das war vielleicht auch einer der Gründe, warum er es hier nie sonderlich lang aushält. Es war auslaugend, deprimierend und würde ihm auf Dauer höchstwahrscheinlich jedes letzte Bisschen seines Antriebs nehmen.

Er klopfte drei Mal kurz an die Tür des Hauses, als er endlich angekommen war, und wartete geduldig auf das Geräusch sich nähernder Schritte. Sie waren heute verabredet, deswegen machte er sich keine großen Sorgen, und es dauerte auch nicht lange, bis der dumpfe Schall zu ihm hervordrang.

Die Tür öffnete sich langsam, vorsichtig, ging jedoch schnell weiter auf, als er entdeckt wurde.

„Gut, dich zu sehen, mein Junge. Sehr gut! Ich habe großartige Neuigkeiten!“

Er ließ sich in eine herzliche Umarmung ziehen, und war wirklich froh darüber denn dieses Bisschen Zwischenmenschlichkeit hielt ihn förmlich am Leben. Nichtsdestotrotz war seine Verwirrung über die Wortwahl zu groß, als dass er sich auf etwas Anderes hätte konzentrieren können.

„Großartige Neuigkeiten?“

„Ja, ja. Setz' dich erstmal. Trink einen Tee.“

Sein Onkel war besessen von Tee, und höchstwahrscheinlich einer der wenigen Menschen, die für eine Teekarte mehrere Brotkarten eingetauscht hätten. Für Joshua war das nicht begreiflich. Ihm war sogar das eine Brot, was er nun auf den Tisch vor dem Sofa legte, mehr wert als eine Teekarte.

Es schien schon alles vorbereitet zu sein. Auf dem Tisch war eine Stadtkarte ausgebreitet, auf der alle Kontrollpunkte eingezeichnet waren. Es bestand gar kein Zweifel an ihrer Vollständigkeit – eine Dedikation, der Joshua viel Respekt zollte.

„In drei Tagen feiert diese schmierige Obrigkeit irgendein großes Fest. Frag mich nicht, was genau. Vielleicht das Fest zur fünfzehnjährigen Versklavung. Ist auch irrelevant.“

Onkel Thomas zeigte auf einen der Kontrollpunkte südlich von ihrem eigenen Standpunkt, der mit einem blauen Punkt markiert war.

„Das hier wird dann die einzige starke Kontrolle im Süden der Stadt sein, die noch verbleibt. Wahrscheinlich, weil sie auf direktestem Wege aus der Stadt führt.“

Sein Finger wanderte über die Karte zu einem Punkt weiter östlich, und beinahe enthusiastisch tippte er mehrmals darauf.

„Das hier jedoch ist was ganz Anderes! Sie ziehen einen Großteil der Wachen ab, um ihre bescheuerte Obrigkeit zu beschützen. Vor dem bösen, bösen Volk, nehme ich an. Wäre wohl einfacher gewesen, hätten sie die Wachroboter bereits fertiggestellt.“

Joshua erinnerte sich an eben jene Wachroboter. Sie waren vor Jahren erstmalig zum Einsatz gekommen, hatten innerhalb kürzester Zeit unzählige Fehlfunktionen aufgewiesen, waren willkürlich Amok gelaufen und schlussendlich wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Seitdem hatte man nie wieder einen gesehen, wahrscheinlich waren sie immer noch in der Überarbeitungsphase.

„Verstehe ich das also richtig?“, hakte Joshua vorsichtig nach, und spürte, wie Euphorie in ihm empor kroch, wollte sich aber noch nicht ganz von ihr vereinnahmen lassen.

„Völlig richtig. Das wird die mit Abstand beste, sicherste Möglichkeit seit...seit vielleicht immer, die Stadt zu verlassen.“

Auch wenn er sich dagegen zu wehren versuchte, sein Bestes tat, rational zu denken und mögliche Gefahren zu bedenken, blieb es nicht aus, dass sich Hoffnung in Joshua breitmachte.

Seit Jahren, unzähligen Jahren, hatten sie gemeinsam die Stadtkontrollen beobachtet, dokumentiert und analysiert, alles nur für die Chance auf einen Tag wie diesen.

Es gab mehrere aufeinanderfolgende Kontrollen, und für jeden weniger ambitionierten Menschen wäre alleine der Gedanke, auch nur eine Einzige davon zu umgehen, schon wie Selbstmord gewesen. Aber für Joshua war der Gedanke an die Freiheit auf der anderen Seite wie eine lebensrettende Infusion, auf die er so lange hatte warten müssen.

„Ich...bin ein bisschen überwältigt“, gab er zu, gerade weil diese Möglichkeit sich so kurzfristig auftat, und er damit absolut nicht gerechnet hatte. Und auch nicht alles daran war simpel und ideal.

„Ich werde keine andere Möglichkeit haben, als Lenora davon zu erzählen.“

Und er wusste bereits, dass sie spätestens dann ihren kühlen Kopf verlieren würde, den sie sonst immer hatte. Genau wie sie ihm gestern vorgeworfen hatte, sentimental zu werden, fiel es ihr selbst manchmal schwer, ihre unkontrollierte Wut über diese Dinge zurückzuhalten.

Du bringst dich nur ins Grab!, würde sie zum wiederholten Male sagen, vielleicht brüllen oder kreischen. Er würde mit den Schultern zucken, und sie ihn dafür so fest schlagen, dass er sich auf die Innenseite seiner Wange beißen würde.

Bis dahin war alles noch vorhersehbar, wobei er wirklich nicht einschätzen konnte, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er nun nicht mehr nur plante, zu fliehen, sondern es einfach tun würde.

Zu zögern lag Joshua nicht im Blut, hatte es nie, zumindest nicht dann, wenn die Entscheidung eine derart wichtige war. Diese Chance wirkte so einmalig, so perfekt, dass er es sich nie verzeihen würde, sie verstreichen zu lassen, auch wenn er sich ob der mit ihr verbundenen Gefahren bewusst war.

„Du willst sie doch wohl nicht mitnehmen?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen, und senkte mit einem Schmunzeln den Blick.

„Das wird sie ohnehin nicht wollen. Sollte sie sich aber doch dafür entscheiden, werde ich sie auf keinen Fall hier zurücklassen. Ich weiß, ihr verabscheut euch, aber ihr habt beide viel für mich getan, und wenn ich die Möglichkeit habe, euch beide aus dieser Hölle mitzunehmen, dann werde ich sie ergreifen.“

Onkel Thomas' Unmut war durchaus nachvollziehbar für ihn. Nachdem Joshuas Eltern gestorben waren, hatten sie sich für die längste Zeit zu zweit durchgekämpft, und ihr Wunsch nach Freiheit war es vielleicht gewesen, was sie so weit gebracht hatte. Wenn die landesweite Bevölkerungsdezimierung auch nur ansatzweise mit der hier in Cantery konform ging, war die Zahl der lebenden Menschen in den letzten fünfzehn Jahren um etwa fünfundneunzig Prozent zurückgegangen. Wie lange konnte es noch dauern, bis sie bei neunundneunzig ankämen?

Es war also verständlich, dass ihm die Tatsache, mit einer Person gleichgestellt zu werden, die Joshua erst seit wenigen Jahren kannte, nicht wirklich passte. Gerade deshalb, weil Lenora ihre Absichten überhaupt nicht teilte. Vielmehr noch als die meisten Menschen, denen die Angst, gefasst und qualvoll hingerichtet zu werden, jeglichen Mut nahm, auch nur über eine Flucht nachzudenken, sträubte sie sich vehement gegen den Gedanken, dass es irgendeinen Vorteil haben könnte, von hier zu entkommen.

Warum glaubst du, sollte es außerhalb besser sein?

Er wusste keine Antwort auf diese Frage, und vielleicht gab es keine, aber was er schlussendlich sagte, war immer das Gleiche.

Kann es wirklich schlimmer werden?

Und ebenfalls gleich war immer ihre Reaktion. Ein müdes, unbelustigtes Schnauben, ein Kopfschütteln, bevor sie den Blick abwenden und stunden-, vielleicht tagelang kein Wort mehr mit ihm wechseln würde.

Der Gedanke daran war beängstigend, gerade weil ihm die Möglichkeit fehlte, so lange darauf zu warten, dass sie sich wieder beruhigte. Ihm verblieben drei Tage, sie davon zu überzeugen, dass die Freiheit zum Greifen nah war. Dass sie wirklich die Chance hatten, aus diesem Käfig ohne Gitter zu entfliehen und irgendwo, weit weg von hier, einen Neuanfang zu starten.

„Du bist und bleibst eben ein Sturkopf. Hier, ich habe alle wichtigen Punkte inklusive der genauen Route noch mal auf dieser Karte eingezeichnet.“

Ihm wurde ein zusammengefaltetes Blatt Papier in die Hand gedrückt, und erneut war er schlicht und ergreifend dankbar für die Hingabe seines Onkels, und gleichsam benebelt von den Träumen, Wünschen und Vorstellungen, die er an eine Zukunft hatte, die immer unendlich weit weg gewirkt hatte und nun zum Greifen nah war.

„Danke, Onkel Thomas. Hätte nicht gedacht, dass ich das so bald sagen würde, aber: Es scheint, als sei die Zeit reif.“

Zum ersten Mal seit langem wirkte das breite Grinsen auf seinen eigenen Lippen echt und vollkommen ehrlich, und Joshua konnte schon jetzt kaum erwarten, es zur Alltäglichkeit werden zu lassen.
 

Erst als die wenigen Sonnenstrahlen, die es bis hierher schafften, nach und nach verblassten, waren sowohl Joshua als auch Onkel Thomas derart ausgelaugt von ihren Planungen und Besprechungen, dass sie beschlossen, den Tag ausklingen zu lassen und morgen genauere Vorbereitungen zu treffen.

Selbst unter der Voraussetzung, dass alles nahezu perfekt nach Plan verlaufen würde – und keiner von ihnen war naiv genug, zu glauben, dass nichts schiefgehen würde – stand ihnen eine anstrengende Zeit bevor.

Ihr Ziel war der Hafen am südöstlichen Ende Englands, der es ihnen ermöglichen würde, innerhalb nur weniger Stunden mit einem Schiff bis nach Frankreich überzusetzen. Prinzipiell sollte das nicht allzu schwierig sein, da zwischen den Ländern ein enges Handelsverhältnis bestand, jedoch hatte Joshua keine genaue Vorstellung davon, wie es außerhalb seiner Heimatstadt aussah, und ob Menschen überhaupt noch auf den Schiffen mitreisen durften.

Es war beängstigend, wie wenig er eigentlich über irgendetwas wusste, das über einen bloßen Überlebenskampf für sich selbst hinausging.

Und trotz der Hoffnung, ja beinahe der Vorfreude auf das, was ihn vielleicht erwarten würde, sollten sie es wirklich schaffen, das fremde Ufer zu erreichen, ließ ihn gleichsam auch nicht der Gedanke los, die einzige Person, die er als Freundin bezeichnen konnte, egal wie schwierig ihre Situation oft war, egal ob sie anderer Meinung waren oder andere Ziele hatten, im Laufe dessen möglicherweise zu verlieren.
 

Und obwohl er sich wirklich viele Gedanken über ihre Reaktion gemacht hatte, den ganzen Weg zurück durch den Park über, sich mental darauf vorbereitet hatte, wie er ausweichen müsste, damit sie ihm nicht die Nase brach, denn das konnte er gerade jetzt überhaupt nicht zulassen, so war er auf das, was wirklich passierte, absolut nicht vorbereitet gewesen.

Für den Bruchteil eines Momentes spiegelte ihr Blick blanken, unverblümten Horror wider. So weit, so erwartet. Dann jedoch, entgegen seiner Erwartungen, dass sie schreien und ihn schlagen würde, passierte für einen sehr langen Moment, vielleicht eine Sekunde, Minute oder Stunde, überhaupt nichts. Ihre Augen strahlten Leere aus, beinahe Gleichgültigkeit, dann jedoch senkte sie schnaubend den Blick und schüttelte den Kopf.

„Ich wusste ja, dass es irgendwann passieren würde. Also. Wann gehen wir?“

Joshua wusste nicht, was er sagen sollte. Das ergab alles keinen Sinn. Wieso gab sie einfach nach, obwohl sie sich die gesamte Zeit über so vehement dagegen gewehrt hatte, mitzuziehen? Lag es daran, dass es nun förmlich unausweichlich war, und ihr bewusst wurde, dass sie keinerlei Möglichkeit hatte, ihn umzustimmen? War irgendetwas vorgefallen, dass auch bei ihr den Wunsch, all diesem Horror zu entfliehen, so sehr verstärkt hatte, dass sie sich nicht mehr vor den Gefahren fürchtete?

„Es sei denn, du willst mich nicht dabei haben?“, fügte sie fragend hinzu, grinste dabei aber schmal, und er schüttelte sofort den Kopf.

„Das ist es nicht und das weißt du. Ich hätte nur nicht damit gerechnet, nicht betteln zu müssen, dass du uns begleitest.“

Sie wandte den Blick zum Fenster, sah vielleicht zum Haus der Mytens herüber, deren Tod sie gestern noch als vorhersehbar bezeichnet hatte, und schien sich ihrer eigenen Worte nicht ganz sicher, als sie antwortete.

„Denk bloß nicht, dass sich meine Meinung dazu geändert hat. Ich bin mir immer noch sicher, dass es draußen schlimmer sein kann als hier. Aber ob ich nun alleine zusehen muss, dass du geschnappt und öffentlich brutal hingerichtet wirst, oder wenigstens mein Bestes gebe, dir über die Grenzen zu helfen, damit es nicht so weit kommt...ich möchte nicht mehr allein sein, Joshua. Selbst wenn es mein Leben kostet.“

Ein unerwartet großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als sie ihn wieder anblickte, denn so offen und persönlich hatte sie das noch nie gesagt. Sicher, auf rationaler Ebene hatte sie ihm schon mehrfach an den Kopf geworfen, dass es töricht wäre, es überhaupt zu versuchen. Aber ihre ganz eigene Angst, niemanden mehr zu haben, war etwas, was Joshua viel besser nachvollziehen, nachempfinden konnte, und beinahe fühlte er sich ein wenig schlecht dafür, sie in diese Lage mit hineinzuziehen.

Doch gleichzeitig war der Wunsch, sein eigenes Leben – und damit verbunden dann natürlich auch das ihre – zum Besseren zu wenden, so unglaublich viel stärker, vereinnahmte ihn bis ins Blut und verbat es ihm, jetzt Zweifel an seinem Vorhaben zu hegen.

„Ich wünschte, ich könnte etwas sagen, was all das hier einfacher macht, aber ich glaube nicht, dass es etwas gibt. Ich hätte deine Bedenken ernster nehmen sollen, bin aber einfach nur froh, dass wir an einem Strang ziehen. Danke, Lenora.“

Sie nickte knapp, schmunzelte leicht und ging an ihm vorbei, nicht jedoch ohne ihm auf die Schulter zu klopfen, was ein wenig ulkig wirkte, da sie fast zwei Köpfe kleiner war als er.

„Ich denke, ich werde dann mal diese ganzen Lebensmittelmarken für das Nötigste einlösen, hm? Ist sicher ein weiter Weg nach draußen.“

„Ja, es wird nicht einfach werden.“

Aber mit ihr an seiner Seite, dessen war er sich sicher, war er so nah an einer vielversprechenden Zukunft wie schon lange nicht mehr.

Eclipsis Lunae

Die nächsten zweieinhalb Tage verliefen so gut wie schon lange keiner mehr. Joshua schlief genug, fühlte sich erholt und voller Energie. Das war ein beinahe makaberer Kontrast zu der seelischen Ohnmacht, die er die letzten Wochen, Monate, ja vielleicht schon seit Jahren verspürt hatte, und deren Ende er so verzweifelt herbeisehnte.

Er hatte weder Lenora noch Onkel Thomas wirklich lange gesehen, und dass sie es geschafft hatten, für knapp eine Stunde gemeinsam ihre Pläne durchzugehen, war bereits mehr gewesen, als er sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Der Hass zwischen den beiden war zweifelsohne spürbar gewesen, aber das gemeinsame Ziel – aus welchem Antrieb auch immer es bestand – hatte gereicht, dass sie für den Moment zusammengearbeitet hatten.

Der Plan war gleichsam simpel in der Theorie wie kompliziert in der Ausführung. Es gab drei größere Stützpunkte, die sie durchqueren mussten, und für jeden hatten sie sich ein anderes Ablenkungsmanöver ausgedacht. Die Gefahr, dass mindestens einer von ihnen gefangen würde, war riesig, aber nicht genug, um sie aufzuhalten. Er wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn es nur einer von ihnen schaffte, oder zwei. Er wollte erst recht nicht daran denken, was passieren würde, schaffte es keiner.

Alles war soweit ins kleinste Detail geplant, wie eben möglich. Sie würden nach Anbruch der Nacht losziehen, und zu ihrem Glück war ihnen das Wetter bisher zuträglich gesinnt, denn es war neblig und regnete laut und stark.

Jeder von ihnen war mit genügend Lebensmitteln ausgestattet, dass es jegliche Hungerreaktionen ihrer Körper unterbinden sollte. Das war absolut essentiell, denn jeder von ihnen, jeder Mensch dieser Stadt war mit einem Chip ausgestattet, der ab einer gewissen körperlichen Unterversorgung halluzinogene und aufputschende Signale direkt im Gehirn zentrierte und verheerende Folgen hatte. Mord erschien Joshua dabei beinahe noch am harmlosesten, denn er war wenigstens endgültig.

Die Vorstellung, etwas in seinem eigenen Körper, etwas für ihn völlig unkontrolliertes, würde ihn dazu zwingen, den Menschen, die ihm noch etwas bedeuteten, Schaden zuzufügen, war furchtbar, gerade weil bei Kannibalismus noch lange nicht das Ende erreicht war. Fremde mochten sich für ihn in leblose Körper verwandelt haben, ein Albtraum, aber ein Bekannter. Seine Begleiter jedoch…
 

Es war für Joshua befremdlich, sich allein auf den Weg zu ihrem Treffpunkt zu machen, aber Lenoras Einwand, es sei viel zu auffällig, schon vor Einsetzen ihres Plans zu dritt und mit Rucksäcken derart nah an die Stadtgrenzen zu ziehen, hatte durchaus seine Daseinsberechtigung. Sie war tagsüber, ein letztes Mal, wie sie es nannte, in Richtung der Innenstadt losgezogen und würde einen kleinen Umweg machen, auch um sich aus einem anderen Winkel einen Überblick über die Lage zu verschaffen.

Onkel Thomas würde, so hoffte Joshua, bereits auf sie warten, sodass sie gleich eine ungefähre Vorstellung davon hatten, wie viele Wachen auf sie warteten und wie lange ihr Plan aufgehen würde.

Ein Anflug von Euphorie beflügelte Joshua, als er auf die Straße trat, den Rucksack fest um den Körper geschnürt, die Haare reflexartig nach hinten gestrichen, wobei der Regen sie auf seinem Kopf fixierte, und beide Hände fest um die Rucksackträger geschlossen. Eine eigenartige Glückseligkeit wollte ihn vereinnahmen, obwohl er wusste, dass es dafür viel zu früh war.

Egal, was passierte, er wusste eines: Niemand würde ihm dieses Gefühl, für seine Freiheit, sein Glück und ein Entrinnen aus diesem Leben nehmen können. Das Wissen, alles gegeben zu haben, was in seiner Macht stand, egal ob es von Erfolg gekrönt war oder nicht.

Die Straßen waren völlig leblos, mehr so mit jedem Schritt, den er tat, was sicherlich nicht verwunderlich war, bedachte man, dass kaum jemand so weit fernab der Stadtmitte wohnte, und selbst die, die es taten, würden sich sicherlich nicht grundlos nachts auf den Straßen aufhalten.

Der einzige große Nachteil des Regens war die Tatsache, dass Joshua seine Karte nicht nutzen konnte. Aktuell war das irrelevant – er hatte sich den Weg derart oft angesehen, dass er vor seinem geistigen Auge erschien wie bei einer dieser einst futuristischen Hologrammbrillen, die heutzutage in Vergessenheit geraten waren. Spätestens jedoch, wenn der Plan nicht mehr vollständig aufging, würde es durchaus ein Problem für sie alle darstellen, wenn der Regen es ihnen erschwerte, ihre Ressourcen optimal zu nutzen. Sicherlich, das war ein Risiko, das man akzeptieren musste, aber er konnte nicht einschätzen, ob die Vor- oder Nachteile des Wetters überwogen, und es verunsicherte ihn mehr, als ihm lieb gewesen wäre.

Zu seiner ernsthaften Verwunderung war es nicht Onkel Thomas, der ihn am Treffpunkt erwartete, sondern Lenora. Sie hockte hinter den Trümmern eines alten Denkmals, und blickte gedankenverloren auf ihre Hände, hob jedoch den Blick, als sie die sich nähernden Schritte hörte.

Ihr Gesichtsausdruck war all das, was Joshua den gesamten Tag nicht hatte denken wollen. Angst, Verzweiflung, Unsicherheit. Aber es spielte noch etwas anderes mit, was er nicht deuten konnte, und plötzlich, da er sie so dort sitzen sah, leicht zusammengekauert, vielleicht ob der Kälte, vielleicht anderweitig begründet, wusste er weder, was er tun noch denken und geschweige denn sagen sollte.

„Nora?“, fragte er vorsichtig, dachte gar nicht daran, dass es sie für gewöhnlich nervte, wenn er sie so nannte, was jedoch keine Rolle spielte, da es ihr kaum aufzufallen schien. Sie zuckte zusammen, schüttelte wie mechanisch den Kopf und zog die Beine noch näher an den Körper heran. Ihm blieb nichts anderes übrig, als neben ihr auf die Knie zu gehen, um ihr möglichst beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen.

„Was ist passiert?“

Sie schüttelte immer noch den Kopf, vielleicht weinte sie sogar, der Regen machte es unmöglich, das einzuschätzen. Sie sah zur Seite, von Joshua weg, und er folgte ihrem Blick, doch nichts dessen, was er dort sah, was sich wie geschmolzenes Plastik schmerzhaft und unerträglich in sein Herz, seine Seele, sein Gedächtnis brannte, wollte ihm auf irgendeine Weise verständlich erscheinen.

Er dachte an die vielen Stunden, Wochen, Jahre, die sie zusammen verbracht hatten. Wie sie sich gegenseitig am leben gehalten hatten, sowohl körperlich als auch mental. Ihre Träume und Wünsche, individuell und gemeinsam. Wie weit sie gekommen haben, ohne jemals völlig aufzugeben. Wie nah sie wahrhaftig davorstanden, diesem Terror ein Ende zu setzen.

Er dachte an absolut alles, was ihm half, die in ihm aufsteigende Übelkeit, die Wut, den Hass, die Angst und den Unglauben zu zügeln, die ihn allesamt vereinnahmen und durchdrehen lassen wollten.

Dort drüben, zehn, vielleicht zwanzig Meter von ihnen entfernt, sah er den leblosen, inzwischen vielleicht bereits erkalteten, starren, blutüberströmten Körper des einzigen Menschen, der ihm von seiner Familie bisher verblieben war.

„Onkel Thomas...“, hörte er sich selbst rau und kratzig murmeln, wollte es nicht denken, nicht glauben, aber konnte auch nicht leugnen, was seine Augen so untrüglich sahen. Er konnte sich nicht bewegen, spürte nur das Zittern seiner eigenen Hand in Lenoras Schulter, wie sich die Nägel seiner anderen in die Handfläche bohrten, wie seine Augen zu brennen begannen, weil er es nicht wagte, zu blinzeln.

„Wie?“, war das einzige Wort, was er hervorpressen konnte, die einzige Frage, die er sich zu stellen vermochte, alles, was aktuell eine Bedeutung hatte.

Seine gesamte Existenz schien vor ihm zusammenzufallen wie ein viel zu hohes Kartenhaus. Egal, wie nah ihm sein eigener Tod oder der seiner Gefährten erschienen war, so gab es nichts, womit er das Gefühl beschreiben könnte, das ihn einhüllte und zu ersticken drohte.

„Joshua, ich...es tut mir leid. Ich weiß nicht einmal...wie ich es dir erklären soll.“

Und genau in diesem Moment, als er ihre Worte hörte, kleinlaut und zurückhaltend, damit das genaue Gegenteil dessen, wie er sie sonst kannte, war es ihm möglich, in ein Wort zu fassen, was er zuvor in ihrem Gesicht gelesen hatte, ihm aber unerklärlich gewesen war.

Reue.

Alles an ihr, die Art wie sie dort hockte, ihn ansah, sprach und sich ausdrückte, war überfüllt mit Reue über etwas, das sie getan oder auch nicht getan hatte, und instinktiv hätte Joshua sie am liebsten geschlagen.

Er tat es nicht.

„Wir müssen hier weg“, hörte er sich selbst sagen, die Stimme so sehr wie sein Herz, und völlig auf seine Vernunft fokussiert, die ihm sagte, dass sie beide nicht viel länger leben würden, wenn sie hierblieben.

Sie gab keinerlei Widerworte.
 

Es war grotesk, nahezu morbid, wie sich das Knarzen des Türschlosses, von dem Joshua geglaubt hatte, es nie mehr hören zu müssen, in seine Seele bohrte, als sie nach Hause zurückkehrten. Nichts kam ihm Falscher vor, als hier zu sein, und gleichsam weigerte er sich, vielleicht für sich selbst, vielleicht für Onkel Thomas, jetzt einfach aufzugeben und sich selbst den Todesstoß zu verpassen.

Er starrte aus dem Fenster, auf die verregnete Straße, den hellen Leuchtkegel der einzigen Straßenlaterne, die noch nicht flackerte. Sollte er nachhaken? Für immer stillschweigen? Keine Lösung schien ihm richtig, und Lenora schien das auch zu spüren, denn sie atmete mehrfach tief ein, setzte mehrfach zum Sprechen an, und sagte dann:

„Ich wusste mir nicht anders zu helfen!“

Es war offensichtlich, dass das nicht die Wortwahl war, die sie hatte wählen wollen, denn sie ging schon in Deckung, bevor Joshua überhaupt nach dem Teller gegriffen hatte, den er instinktiv in ihre Richtung warf.

„Du wusstest dir nicht anders zu helfen?! Anders als was? Onkel Thomas umzubringen? Was hat er dir getan?! Versucht dir zu erklären, dass wir das Richtige tun wollten?!“

„Er wollte mich umbringen, Joshua!“

„Ich...was? Bitte was?!“

Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht und spürte, wie Hass in ihm kochte. Sicherlich hatte Onkel Thomas Lenora nicht mehr gemocht als sie ihn. Es war schon immer reine Abscheu gewesen, die sie füreinander empfunden hatten, aber nie, niemals hatten sie einander körperlich angegriffen. Weil Joshua ihnen beiden etwas bedeutete, und sie ihm. Und beide hatten das respektiert.

„Und bestimmt hast du eine lupenreine Erklärung dafür, warum er das getan haben sollte!“

„Habe ich! Es ist, weil...“

Sie war an ihn herangetreten, nah genug, dass er nach ihr Greifen könnte, aber mit genügend Abstand, vorher auszuweichen.

„Ich war naiv, Joshua. Gutgläubig, vielleicht. Und panisch. Und dein Onkel war cleverer, als ihm oder mir gut getan hätte.“

„Sprich nicht in Rätseln mit mir, verdammt.“

Sie schnaubte, obwohl es eher wie ein Schluchzen klang, und griff in ihre Hosentasche.

„Ich wollte es dir heute sagen. Als letzte Instanz, bevor du dich entscheidest, ob du das wirklich tun willst, und wirklich losgehst. Aber er kam mir zuvor.“

Sie reichte ihm ein scheinbar uraltes Blatt Papier. Es war so dünn, dass es beinahe riss, als er es auseinander faltete. Es erinnerte ihn an eine Urkunde, schien aber eine Art Identitätsausweis zu sein.

Er sah zuerst das Bild – ein junges Mädchen, mit starrem Blick, vielleicht ein junger Teenager. Und es dauerte keine halbe Sekunde, bis er in diesem Mädchen Lenora erkannte.

„Was soll mir das sagen?“, fragte er kalt und reichte es ihr wieder, doch sie schüttelte den Kopf.

„Sieh genauer hin.“

Ihm war nicht nach solchen Spielen zumute, aber was genau wäre die Alternative? Sie rausschmeißen und allein mit sich selbst sein? Der angestaute Hass, die Verzweiflung, all das, was er vergessen wollte?

Er sah genauer hin. Auf das Bild, was ihm nichts erklärte, auf den Namen, der…

Es dauerte, bis sein Kopf die Information verarbeitete. Die Person auf dem Foto war zweifelsohne die Gleiche, die ihm gegenüberstand. Das stand völlig außer Frage für ihn, warum sonst sollte sie dieses Dokument überhaupt besitzen?

Was sein Verstand nicht begreifen wollte, war der Name, auf dem sein Blick heftete.

Aurélie Lefèvre.

Der Zusammenhang war so offensichtlich, doch er konnte sich nicht dazu bringen, ihn zu ziehen. Die Verbindung des Bildes, des Namens und des Ausweises, dessen Ursprung er erst jetzt erkannte, ließ absolut keinen Zweifel zu, und er musste sich stark zusammenreißen, das Papier nicht zu zerknüllen und aus dem Fenster zu werfen.

„Du hast mich angelogen.“

Sie nickte knapp. Alles an ihr, ihre Herkunft, ihr Name, ihre Ambitionen und Vergangenheit, all das war eine Identität, die sie sich zurecht gelogen und zusammengestellt hatte. Es war unbegreiflich, und Joshua wusste nicht, ob er es verstehen wollte, aber er schaffte nicht mehr, als zu fragen:

„Wieso?“

Lenora – Aurélie, wie ihn sein Kopf mahnen wollte – sah wieder aus dem Fenster, zum Haus der Mytens, spielte nervös mit einer Hand an ihren Haaren, schüttelte gedankenverloren den Kopf und suchte ganz offensichtlich nach einer Erklärung, die er akzeptieren würde, und nicht danach, wie sie wirklich empfand.

„Nach allem, all den Lügen, die du mir aufgetischt hast...willst du nicht wenigstens einmal ehrlich zu mir sein?“

„Es ist nicht alles gelogen! Ja, es mag sein, dass ich mir eine Person erstellt habe, die ich nicht bin, aber...ich wollte nicht, dass du dort draußen erlebst, was...“

Sie beendete den Satz nicht, und es war auch nicht nötig. Er verstand, was sie sagen wollte, er verstand vielleicht endlich, wieso sie ihn zwingen wollte, hier zu bleiben, obwohl es für ihn das Schlimmste war, was er sich vorstellen konnte.

Sie wusste, was auf der anderen Seite lag. Sie hatte durchlebt, was die fremden Ufer, nach denen er sich so verzweifelt gesehnt, an die er sich hoffnungsvoll geklammert hatte, für denjenigen bereithielten, der sie erreichte. Und sie wusste – so unerträglich es auch für ihn war, das nur zu denken – dass dieser Käfig, dieses Gefängnis, diese Hölle auf Erden, die er sich schlimmer niemals ausmalen könnte, im Vergleich zu dem, was außerhalb lag, ein kleines Übel war.

„Wieso hast du mir nie etwas gesagt?“

„Du hättest mir vorgeworfen, ich würde es mir ausdenken. Eine Lüge, um dich abzuhalten. Eine Lüge, die dich nur noch mehr dazu angetrieben hätte, es durchzuziehen.“

Das stimmte wahrscheinlich sogar, auch wenn er es ungern zugab. Es gab keine schlimmere Situation für ihn, in der die einzige Person, die er jetzt noch hatte, sich als jemand wildfremdes entpuppen könnte, und gleichzeitig gab es keine andere Situation, in der er es überhaupt geglaubt hätte. Selbst diesen Ausweis hätte er problemlos als eine Fälschung bezeichnet.

„Das erklärt mir dennoch nicht, wieso Onkel Thomas dich angreifen sollte. Gerade jetzt, da du dich nicht mehr dagegen gesträubt hast, uns zu helfen.“

„Er hat mich beobachtet. Vielleicht noch weitaus mehr, als mir bewusst ist. Joshua, verstehst du überhaupt, was das hier bedeutet?“

Sie zeigte auf den Ausweis, aber er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Den Namen? Die Herkunft? All das war für ihn befremdlich, aber was genau hatte Onkel Thomas gesehen, was ihm entging?

„Nicht wirklich.“

„All die Dinge, die ihr tut. Mord, Kannibalismus, ich muss dir das nicht aufzählen. Ihr habt keine Wahl. Euer Körper ist modifiziert und kontrolliert euch von innen heraus.“

Sie hätte nicht weitersprechen müssen, aber er schaffte es nicht, zu reagieren, war zu beschäftigt damit, die Bedeutung der Puzzlestücke zu verstehen, die sich in seinen Gedanken zusammensetzten.

„Bei mir ist es anders. Ich bin in dieses Leben von klein auf hineingewachsen. Ich war allein ab dem Moment, an dem ich in diese Stadt gekommen bin. Was denkst du, wieso mich die Stadtpatrouille nicht eingesammelt und öffentlich hat hinrichten lassen?“

Er schüttelte den Kopf, da er nicht geglaubt hatte, dass sie überhaupt geschnappt worden war. Andererseits ergab alles andere keinen Sinn, denn wieso sollte es einfacher sein, in die Stadt hineinzugelangen, als herauszukommen?

„Weil sie vom ersten Moment an wussten, dass ich genau der Teil des Fußvolkes war, an dem sich die Obrigkeit so ergötzt. Mordlustig, kaltblütig. Werde nie verstehen, was an diesem Todeswahn gut sein soll, aber ich habe es auch nie ernsthaft hinterfragt. Ich nehme es hin, weil ich weiß, wie viel schlimmer es noch sein kann. Und das hat deinem Onkel offenbar panische Angst eingejagt, als er es herausgefunden hat.“

Sie wandte sich ab, hievte ihren Rucksack auf den Tisch und verräumte die Lebensmittel, die sie zuvor mitgenommen hatte. Es war, als sei für sie auf einen Schlag alles zur Normalität zurückgekehrt, so krankhaft und abstrus diese auch war. Für Joshua war das unbegreiflich, und doch begann er instinktiv, ihr zu helfen.

„Das alles geht nicht in meinen Kopf“, gab er offen zu. „Wie soll es jetzt weitergehen?“

Die Tatsache, dass sie seinen Onkel auf dem Gewissen hatte, vertiefte er nicht noch einmal, auch wenn es ihm auf der Zunge lag. Offen gesagt zweifelte er nicht mehr daran, dass sie zumindest diesbezüglich die Wahrheit gesagt hatte. Paranoia war das Letzte, was er seinem Onkel nicht zugetraut hätte, und wenn sich diese Paranoia in Panik verwandelte, waren Kurzschlussreaktionen nicht ausgeschlossen.

Lenora hielt inne, blickte auf die Packung Mehl in ihren Händen und schüttelte den Kopf.

„Gute Frage. Du hast niemanden mehr, dem du trauen kannst. Dein Onkel ist weg und ich bin alles, nur nicht die Person, für die du mich jahrelang gehalten hast.“

„Sehr aufmunternd.“

„Du hast gefragt, wie es weitergehen soll, nicht nach emotionalem Beistand.“

Sie schüttelte den Kopf, offenbar von ihrem eigenen Verhalten, ihrem Fokus darauf, eine Lösung zu finden, egal wie sehr sie schmerzte, ermüdet und genervt.

„Um ehrlich zu sein...ich weiß es nicht. Es spielt keine Rolle, was ich sage, oder? Meine Beweggründe; dass ich nicht wollte, dass du mich hier zurücklässt, aber auch nie wieder dort hin will, woher ich komme. Du kannst weiterkämpfen oder aufgeben. Himmel, du kannst weiterhin versuchen, von hier zu fliehen, es ist deine Entscheidung.“

Sie trat an ihn heran, wagte es zum ersten Mal seit sie zurückgekehrt waren, ihm in die Augen zu sehen. Sie war gefasst, aber er erkannte mehr als das. Ihre Unsicherheit, die sie immer versteckt hatte. Ihre Hoffnung, dass noch nicht alles vorbei war. Ihre Dankbarkeit dafür, dass sie noch nicht allein war.

Er erkannte all die Dinge, die er in sich selbst sah, in vielleicht jedem Einzelnen, dem er je begegnet war und begegnen würde. Seine Zweifel, der Vertrauensbruch, das alles saß tief, und es würde ihm schwer fallen, darüber hinwegzukommen, aber am Ende des Tages war sie trotzdem der einzige Mensch, den er noch hatte – trotz der Lügen, die es zwischen ihnen gegeben hatte und zweifelsohne weiterhin geben würde.

Aber vielleicht war das in Ordnung. Nichts in dieser furchtbaren, kalten, trostlosen Welt würde jemals gut sein, aber in diesem Augenblick, als die Regentropfen so unendlich viele Male lauter klangen als sein Herzschlag, wusste Joshua zum ersten Mal, seit er denken konnte: Zumindest für diesen einen Moment war der Albtraum vorbei.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von: abgemeldet
2017-10-15T17:48:10+00:00 15.10.2017 19:48
Blöd, oder? Der Kommentar kommt jetzt erst, nachdem ich dich für YUAL vorgeschlagen hab. :P Das hast du sicherlich gesehen (solltet ihr noch sonntags eintragen XD) und dich gewundert: Ja, wieso eigentlich? Und das, liebe Valenfield, erörtern wir jetzt <3

Ich sag es nochmal, was meine ersten Gedanken zur FF waren, damit es auch Nicht-Mitglieder des Wichtelzirkels zur Kenntnis nehmen: Auf meiner Liste steht "umso kaputter, desto besser", und es ist, als hättest du diesen Satz genommen und 1:1 in die Geschichte gepackt. Kaputter geht ja fast nicht mehr. Alleine das mit dem Chip war schon echt gruselig (und hat die FF so wunderbar abgerundet, weil das den Anfang erklärt hat :D).
Schade fand ich hierbei, dass man die "Gefahr" der Stadt gar nicht direkt gesehen hat. Wobei... das macht die ganze Sache eigentlich NOCH gruseliger, weil dadurch so viel im Dunkeln bleibt, dass man sich nicht sicher sein kann, WIE schlimm es ist... wenn da jemand kontrolliert, ohne wirklich präsent zu sein. Aber dann jedem nen Chip verpasst... :/

Die Charaktere fand ich passend, wobei man aus Lenora ja nicht wirklich schlau werden konnte, wie sich später zeigte. Ich hätte unheimlich gern aber mehr von ihr gelesen, vor allem von der Welt "da draußen". Du lässt allgemein in der Geschichte viel im Dunkeln, was einerseits wahnsinnig passend ist, weil die Charaktere es ja nicht wissen können UND weil es einfach den Effekt verstärkt, dass die Gefahr nicht greifbar ist (was einem mehr Angst macht als zu wissen was kommt). Andererseits find ich es halt schade, weil ich gern mehr über das Setting erfahren hätte :< Ich hatte mir irgendwie eine Auflösung dann erwartet, gerade zu den Zuständen in der Stadt. Hach. Aber wie gesagt, ich seh auch ein, dass das Fehlen der Infos gut gepasst hat.
Sehr gelitten hab ich ja wegen Onkel Thomas ;.; Irgendwie hatte ich ihn schon ins Herz geschlossen und nur noch gehofft, dass ihm nichts passiert. Die Umstände seines Todes waren auch echt wirr. Nicht im Sinne von "nicht verständlich", sondern von: OMG wieso musste das nur passieren?! Wieso tut sie sowas?! Wie schlimm muss es "draußen" sein??? Mir tat es dann trotzdem leid.
Ab diesem Punkt hatte ich übrigens das Gefühl, dass durch den personalen Erzähler eine Art "Schleier" über der Geschichte war. Man hat richtig gemerkt, dass Joshua in einer Schockstarre war. (Oder war ICH das? XD) Da verliert er das letzte Familienmitglied, durch seine Freundin, die dann auch noch ständig gelogen hat und nicht die Person ist, für die er sie hielt...

Da kommen wir zum Ende: es macht mich fertig. :< Ich bin nun echt nicht der Typ Leser, der immer sein Happy End braucht, aber das war... heftig. Diese Hoffnungslosigkeit hat mich richtig getroffen. Wie Lenora in Ruhe die Lebensmittel auspackt und Joshua in seiner Schockstarre erstmal begreifen muss, dass er eingesperrt bleibt. Und im Endeffekt hat alles NICHTS gebracht, der Tod von Onkel Thomas war unsinnig... und... ach, ich fand es traurig. Mich hat es bewegt. Das ist die Art Ende, die im Kopf bleiben wird (und die ich mag, auch wenn es mich fertig macht XD). *seufzt*

Das Thema hast du auch richtig gut reingekriegt, ich hatte daran gar nicht mehr gedacht, bis die Erwähnung der "fremden Ufer" kamen. Da hatte ich mir dann aber gedacht: STIMMT! Das passt!!! :D Das Thema hat richtig gut reingepasst in diese dystopische Welt. :>

Hab ich jetzt noch was zu kritisieren..? Fehler hab ich keine nennenswerten gefunden, ich war aber auch sehr schnell im Lesefluss und da achte ich dann möglichst nicht mehr auf sowas. Und ansonsten fehlen mir einfach die Infos, bei denen es aber auch irgendwie gut ist, dass sie fehlen xD
Kritisieren kann ich wie so oft eigentlich nur: wieso ist es nur schon zu Ende? ;)

Daher: vielen Dank für diese Geschichte. <3 Ich glaube man erkennt, dass sie mir gefallen hat. xD
Antwort von:  Valenfield
26.10.2017 00:02
Hi!!
Uff, ich hatte es ehrlich gesagt noch nicht bemerkt, da ich keine Benachrichtigung-ENS dafür bekomme und noch nicht in den Zirkel gesehen hatte. Also alles super gelaufen!! :D

Das Fehlen vieler Informationen liegt zum Einen tatsächlich darin begründet, dass ich es sehr mag, wenn der Leser sich einige Dinge selbst ausmalen kann - weil ich selber weiß, wie gruselig man sich manche Dinge vorstellt; manchmal gruseliger, als man sie hätte lesen können - und zum anderen darin, dass es sonst wahrscheinlich ein Monstrum von einer Geschichte geworden wäre. Also wirklich, ein Multi-Chapter Epos, ich hatte sogar Charakterprofile dafür erstellt, und mich dann gefragt, ob ich wirklich jetzt in meiner aktuellen Wohn- und Arbeitssituation so ein Monster raushauen kann. Ich habe mich dann leider dagegen entscheiden müssen, weil dafür die Zeit ein wenig fehlte, und habe die Informationen absichtlich so gestreut, dass das Meiste (hoffentlich xD) Sinn ergibt, aber eben nicht zu viele Fragen aufgeworfen werden, die dann keine Antwort bekommen.

Auf die Außenwelt wollte ich zuerst eingehen, fand dann aber den Wechsel des personalen Erzählers nicht passend, und wie du ja sagst - Joshua kann es nicht wissen, daher war es schwierig, das irgendwie einzubauen, und ich habe versucht, es durch Lenoras Verhalten, das er ja zumindest teilweise deuten kann, ein wenig darzustellen.

Ich war mir erst nicht sicher wegen des Todes von Onkel Thomas. Es war...ich hatte wirklich überlegt, ob sich das Ende der Geschichte herbeiführen lässt, ohne dass er stirbt, aber er war eben immer Joshuas größte Motivation, dem ganzen zu entfliehen, und auch wenn es böse ist, war es genau diese Motivation, die ich ihm sicht- und fühlbar entreißen wollte, wie eine einstürzende Brücke ohne jegliche seichte Stellen, um den Fluss anderweitig zu überqueren.
Der Schleier und die Schockstarre waren auch so geplant. Der Gedanke, dass nichts mehr wirklich einen Sinn ergibt, deswegen beobachtet er starr, wie sie seelenruhig die Sachen wegpackt, als sei es nur ein ganz normaler Tag, weil er nicht begreifen will, was passiert ist.

Übrigens war das Thema tatsächlich überhaupt die Ursache für die Entstehen von Lenora. Ohne das wäre es wahrscheinlich um zwei Figuren gegangen, die versucht hätten, aus dieser Stadt zu fliehen, und....es nicht überlebt hätten, oder so? xD Weiß nicht.

Ich bin sehr froh, dass dir die Geschichte gefallen hat!! ;_; Ich hab sie auch sehr gern geschrieben. <3


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