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Summertime Record

von

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II.IV Childhood Ghosts

Als er aufwachte, waren die Bilder seiner Träume nur noch vage Schlieren, wie der Ausblick aus einem verregneten Fenster. Er starrte an die Decke seines Zimmers. Es war heiß draußen, das wusste er, auch wenn er es dank Klimaanlage nicht spürte; die Sonne schien leuchtend grell ins Zimmer. Es hatte seit Tagen schon nicht geregnet, war seit Tagen drückend warm, der Wetterbericht hatte keinen Grund gegeben, wieso sich das heute ändern sollte.

Ein Blick hinaus zeigte wolkenlosen Himmel.

Er seufzte müde, ließ den Kopf wieder zurück aufs Kopfkissen fallen. Er fühlte sich scheußlich. Die Uhrzeit auf dem Wecker zeigte, dass es noch verdammt früh war – er hatte nicht einmal einen Grund, aufzustehen. Selbst Iku würde noch nicht wach sein, was ein recht guter Indikator dafür war, dass es wirklich viel zu früh war. Und er wollte nicht aufstehen. Er wollte hier bleiben und ergründen, warum er aufgewacht war, mit viel zu wenig Schlaf.

Er erinnerte sich gar nicht mehr so recht, was er geträumt hatte.

Er wusste es, weil es Träume waren, die sich jedes Jahr wiederholten, doch er erinnerte sich nicht mehr an diesen Traum spezifisch. Erinnerte sich nicht an das kleine Straßenfest, das von hübschen Papierlaternen erleuchtet wurde. An das kleine Mädchen in Krankenhauskluft an seiner Seite, das die Welt um sich herum mit einer Begeisterung betrachtete, als hätte sie nie ein größeres Wunder gesehen. Das Glöckchenklingeln, als sie ihren Haarschmuck befestigte. Er schloss langsam die Augen wieder, versuchte die zentnerschwere Last zu ignorieren, die sich auf seine Brust legte. Sie machte ihm das Atmen schwer.

 

Er erinnerte sich nicht.

 

Als er die Augen wieder öffnete, wirkte die ganze Welt grell und unwirklich im Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel. So grell und unwirklich, als wäre das hier der Traum, aus dem er nur aufwachen müsste, damit er sofort wieder wusste, wie ihr Lachen klang und wie es sich angefühlt hatte, an ihrer Seite zwischen den Straßenfestbuden hindurchzulaufen.

Neben ihm regte sich etwas, riss ihn aus allen chaotischen Gedanken. Er drehte den Kopf zur Seite. Rui lag neben ihm, entspannt, schlafend. Kais Herz krampfte und plötzlich war ihm nach Weinen, ohne dass er genau wusste, warum eigentlich. Er streckte eine Hand nach ihm aus, streichelte über sein warmes Gesicht. Warm. Real.

Kein Traum.

Mit schmerzhafter Intensität wurde ihm bewusst, dass er auch gar nicht wollte, dass dieses Leben ein Traum sein könnte. Niemals.

Er schüttelte entschieden den Kopf, schob jede Erinnerung und Nichterinnerung an seinen Traum wieder von sich. Es war genug. Er kannte das. Jedes Jahr dasselbe. Er konnte es abschütteln, es würde vorbei gehen. Es warf ihn jedes Mal wieder mit einer solchen Wucht aus der Bahn, dass er Zeit brauchte, um sich neu zu orientieren und zu seinem eigentlichen Selbst zurückzufinden, aber er konnte das. Es war kein Unterschied zu sonst.

Und er war nicht alleine damit. Er hatte Freunde. Ein kunterbuntes Leben, das ihn von der Schwermut ablenken würde, sobald er sich erst dazu aufraffen konnte, aus dem Bett zu kriechen. Der Tag war ohnehin vollgeplant, er hatte kaum Zeit, um sich in seinem Kummer zu verlieren. Es war gut. Er war froh darüber, und er freute sich eigentlich auf all die neuen Erfahrungen, die auch heute ihm bringen würde.

Auf dass er irgendwann wirklich eine spannende Geschichte haben würde, die er erzählen konnte, wenn sie sich wiedersahen.

 

Für den Moment konnte er all das noch von sich schieben. Rui neben ihm war wie ein Anker, der ihn daran hinderte, im Meer seiner Erinnerungen fortzutreiben. Er lächelte flüchtig, streichelte sanft durch Ruis Haar, über seine warme Haut. Erinnerte sich an dieses Jahr, das sie jetzt miteinander verbracht hatten. Zuerst allein in einer kleinen Wohnung, dann zwischen so vielen anderen Leuten in diesem bunten Chaoshaufen. Rui hatte sich verändert. Er war viel offener geworden, kam viel mehr aus sich heraus.

Er war glücklicher geworden.

(Kai wusste nicht, ob er sich verändert hatte. Heute wollte er darüber auch nicht nachdenken.)

Und immer noch so wunderschön. Kai grinste unwillkürlich schief, als ihn der Anblick des schlafenden Jungen daran erinnerte, dass da auf seinem Handy immer noch ein Foto verborgen lag, das Rui jedes Mal dazu brachte, sehr beleidigt zu sein, wenn er sich daran erinnerte. Er würde es nicht löschen, und das nicht nur, weil es einfach viel zu schön war – es war vor allem eine wertvolle Erinnerung, die Kai nicht verlieren wollte.

Er wollte keine einzige Erinnerung an Rui verlieren. Die Vorstellung, dass er in zehn oder zwanzig Jahren, warum auch immer, dieses wunderhübsche Gesicht vergessen könnte, die Art, wie Ruis Wimpern zuckten, wenn eine verirrte Haarsträhne ihn an der Nase kitzelte… es war erschreckend, es war angsteinflößend. Da war er wieder, der Impuls, zu weinen, ein verdächtiges Brennen in den Augen, das Kai stur wieder abschüttelte.

 

Rui regte sich wieder, zog unwillig die Augenbrauen zusammen. Kai hielt inne darin, ihm übers Gesicht zu streicheln. Der Tränenkloß in seinem Hals vermischte sich mit tausend anderen Emotionen, die ihn fast erstickten. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Öffnete ihn. Wollte Rui so viel sagen und fand doch keine Worte dafür, und am Ende lehnte er sich einfach nur vor und presste einen Kuss auf seine Stirn, sanft, behütend.

„…Kai.“

Ruis Blick war so schlafgetrunken, dass Kai unwillkürlich lächeln musste. Sein Freund blinzelte, runzelte irritiert die Stirn, blinzelte dann noch einmal. Schüttelte flüchtig den Kopf und rieb sich über die Augen. Er hatte Mühe, sie überhaupt offen zu halten, trotzdem verließ sein Blick Kai keine Sekunde lang.

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken.“

Rui schüttelte noch einmal den Kopf, fast energisch. Er richtete sich ein Stück weit auf, legte eine zarte Hand an Kais Wange.

„Ich bin da, Kai.“

Ein Jahr zusammen zu sein bedeutete nicht nur, dass er gelernt hatte, beinahe mühelos in Rui zu lesen – es bedeutete auch, dass Rui seine eigenen Macken kannte, besser, als es Kai in solchen Momenten lieb war. Meist vergaß er es, weil er keinen Grund hatte, daran zu denken, und deshalb kam die Erkenntnis jedes Mal aufs Neue mit einer großen Portion Überraschung und einer Mischung aus Scham und Glückseligkeit. Er lächelte, seine Lippen bebten. Seine Augen waren verräterisch feucht.

Es war ein grauenhaftes Gefühl, schwach zu sein. Kai mochte es nicht. Er wollte nicht schwach sein, wollte nicht derjenige sein, der Schutz und Unterstützung brauchte. Er wollte selbstständig sein. Stark. Genug Kraft haben, um auch die Menschen, die er liebte, stützen zu können, wenn sie es brauchten.

 

„Ich weiß. Danke.“

Er umfing Ruis Gesicht sanft mit beiden Händen, zog ihn zu sich hinunter. Als sich ihre Lippen berührten und Kai die Augen schloss, erinnerte er sich an Regentrommeln und kühle Frühsommertage, die sauber und wie frisch gewaschen rochen, und zumindest für den Moment wurde sein Herz wieder leichter.

 

 
 

***

 

 

„Du solltest drüber reden.“

 

Shun grinste. Es war das typische, rätselhafte Dämonenköniglächeln, das Kai so vertraut geworden war. Er nippte entspannt an seinem Tee und seufzte wohlig, als er den Becher zurück auf den Tisch stellte.

„Ah. Kais Tee ist einfach der Beste.“

„Übertreib nicht.“

Aber selbst wenn Shun übertrieb, Kai grinste trotzdem glücklich. Er mochte es, sich gebraucht zu fühlen. Und wenn es nur alberne Banalitäten waren. Das Gefühl, dass es gewertschätzt wurde, motivierte ihn dazu, selbst solche Kleinigkeiten mit vollem Einsatz zu erledigen.  

Und das Thema war ihm bedeutend lieber als der andere Einwurf. Kai seufzte stumm, drehte seinen eigenen Teebecher zwischen den Händen. Er wollte Shuns Blick ausweichen, doch die durchdringenden Augen des Mannes durchschauten ihn sowieso, ganz gleich, was er tat. Verstecken zwecklos. Er schüttelte vage den Kopf, grinste schief. Sagte nichts, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Nein, er wollte nicht reden. Er fühlte sich nicht bereit dazu, diesen Teil seiner Vergangenheit irgendwie offen zu legen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an.

Vielleicht war er auch einfach noch nicht bereit, das zu teilen, diesen drückend heißen Sommer vor neun Jahren, der nur ihm gehörte.

Kai fand, es war ohnehin zu spät für solche Gespräche. Er war erschöpft nach einem arbeitsreichen, lebhaften Tag voller Autogrammstunden und Promotionaktionen, der ihn trotz aller schwermütigen Laune dazu gezwungen hatte, beinahe dauerhaft zu lachen und zu strahlen. Der Sonnenschein hatte geholfen, seine Energiereserven aufzufüllen und am Laufen zu halten, trotzdem hatte es mehr an ihm gezehrt, als er gern zugeben wollte. Er funktionierte einfach nicht ordentlich an diesem Tag.

Shun seufzte theatralisch, schüttelte den Kopf. Als Kai wieder direkt zu ihm sah, war sein Blick ungewohnt ernst und weich geworden – und auf eine sehr unangenehme Art wissend. Er konnte keine Gedanken lesen, nicht wahr? (Bei Shun wusste man ja nie… Aber das hätte Kai doch früher schon gemerkt!)

 

„Drüber zu sprechen kann neue Erkenntnisse bringen, Kai.“

Kai glaubte nicht daran, dass es neue Erkenntnisse bringen konnte. Seit neun Jahren gab es keine neuen Erkenntnisse, aus dem simplen Grund, dass es vergangen war. Shuns Grinsen kehrte an seinen Platz zurück, er verbarg es hinter seinem Tee. Seine Augen blitzten. Kai konnte sich nicht ganz entscheiden, ob es eher von Zuneigung oder nahendem Unheil kündete, aber es war vertraut, weit vertrauter als der ernste Blick, der vorangegangen war, und das war beruhigend.

Sie schwiegen.

Shun nippte an seinem Tee, mit dieser typischen Ruhe, als hätte er alle Zeit der Welt und noch mehr, während Kai sein eigenes Getränk gerade gar nicht anrühren mochte. Der Teebecher in seinen Händen war schlicht eine willkommene Ausrede dafür, seine Finger beschäftigt zu halten und sich damit zumindest ein bisschen von seinen Gedanken abzulenken. Es hörte einfach nicht auf – wie jedes Jahr. Die alte Geschichte verfolgte ihn, oft schon Tage vor Tanabata, verschwand auch meist erst Tage später, wenn der Alltragstrott ihn langsam wieder einholte und die Erinnerungen an das Sternenfest zu unbestimmten Erinnerungen verblassten. Wie der schlierige Ausblick aus einem verregneten Fenster.

Kai lehnte sich gegen die Sofalehne zurück, sah hinaus in den klaren Abend. Trotz Großstadtbeleuchtung sah man einige wenige Sterne leuchten. Wega und Altair fand er immer noch nicht, etwas, das sich wahrscheinlich auch nie ändern würde. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Shun seinem Blick folgte.

„Ah~ noch ein Jahr, in dem Orihime und Hikoboshi ihre Liebe zelebrieren können. Wie schön. Hajime und ich sollten es auch tun, findest du nicht?“

Er wollte lachen, aber Kai blieb jeder Laut irgendwie in der Kehle stecken und er nickte schlussendlich nur mit einem schiefen Grinsen. Er freute sich für Orihime und Hikoboshi, sicherlich, und trotzdem war es wie immer – der Gedanke kam mit einem unangenehmen Beigeschmack, der ihn an die Dinge erinnerte, die er vor langer, langer Zeit verloren hatte und nie wiederfinden würde.

Seine Orihime war fort, und es würde ewig weiterregnen für sie beide.

 

Zumindest war das bisher jedes Jahr das Gefühl gewesen, das er hatte.

Der metaphorische Regen trennte ihn und das, was er liebte.

Und heute…

Er seufzte tief, plötzlich fühlte er sich todmüde, obwohl es strenggenommen noch gar nicht so spät war. Kurz nach dem Abendessen, und aus der Küche hörte er You und Yoru, die beim Abwasch lautstark diskutierten und lachten – wobei er überwiegend You hörte, und ganz selten einen herzlichst empörten Ausruf von Yoru. Iku und Rui hatten sich mit Koi und Kakeru bei den Tieren verschanzt, wie sie es oft taten, seit Haru vor zwei Tagen kommentiert hatte, dass Kuroda zu fett wurde.

„Wenn er nicht abnimmt, setzen wir ihn auf Diät“, hatte er verkündet – die Kleinen hatten dem Bettelblick des Hasen nicht standhalten können und beschlossen, sie würden mehr mit ihm spielen, immerhin verbrauchte Bewegung bestimmt genug Kalorien, dass er sein Fressverhalten nicht verändern musste. Kai hatte ihnen einmal dabei zugesehen, wie sie mit Kuroda durch die halbe Wohnung jagten, und er stellte sich ehrlich die Frage, wer der Beteiligten am Ende nun mehr Kalorien verbrauchte, der Hase oder seine Personal Trainer. Sie hatten Spaß, das war die Hauptsache, und Bewegung tat sowieso gut. Iku hatte gegrinst, stolz wie sonst etwas, als er Kai am gestrigen Morgen erzählt hatte, dass Kuroda damit wohl endlich eine Sportroutine gefunden hatte, die Rui freiwillig absolvierte.

Kai stieß müde die Luft aus, ließ den Blick wieder sinken. Er fühlte sich, als würde er versinken, und gleichzeitig aus einem anderen Versinken wieder an die Oberfläche treiben. Keine acht Uhr abends und trotzdem fühlte er sich so entsetzlich müde – und irgendwie alt.

Shun ihm gegenüber grinste, als wüsste er schon lange, welche Erkenntnis ganz langsam erst Gestalt annahm in seinem Kopf.

 

Er hatte sich verändert.

 

Er schüttelte den Kopf, lächelte flüchtig, weil die Alternative wieder eine Schwäche war, die er sich nicht eingestehen wollte.

„Vielleicht hast du Recht“, lenkte er ein. Shun sah viel zu selbstzufrieden aus bei seinen Worten, wedelte lässig ab. „Natürlich habe ich Recht, Kai. Ich habe immer Recht. Das ist eine meiner charmantesten Eigenschaften.“

Sein typisches Ego war eine herzerwärmend angenehme Ablenkung zu Kais wirren Gedanken. Er verdrehte amüsiert die Augen, sparte sich jeden Kommentar aber – Shuns Ego war alles, aber nicht charmant, und trotzdem liebten sie ihn schlussendlich doch alle, wie er war. Mit allen dummen Macken, allem großen Ego, und auch wenn es unangenehm war, insgeheim war er trotzdem fast dankbar für Shuns Scharfsinn und Beobachtungsgabe.

Vielleicht war es wirklich nicht falsch, auch nach neun Jahren noch neue Erkenntnisse finden zu wollen. Vielleicht konnten auch Dinge, die längst vergangen waren, sich noch verändern.

Vielleicht taten sie es zum Positiven.

 

Er hatte gelernt, den Regen zu lieben.

 

 
 

***

 

 

Rui saß auf seinem Bett, als Kai in sein Zimmer zurückkehrte. Er blätterte in einer Fachzeitschrift über Musik, die er aus seinem eigenen Zimmer mitgebracht haben musste, hörte aber sofort auf, als die Tür leise hinter ihm ins Schloss fiel.

„Du bist spät“, kommentierte er. Seine Stimme klang träge, doch seine Augen, trotz sichtbarer Müdigkeit, waren aufmerksam und forschend auf Kai gerichtet. Er ließ sich neben Rui nieder, küsste ihn flüchtig. Die Tatsache, dass er letzte Spuren von Minzbonbons auf Ruis Lippen schmeckte, ließ seine Kopfhaut kribbeln. Es hatte nur ein kleiner Kuss werden sollen, doch jetzt küsste Kai ihn noch einmal und noch einmal, bis sie irgendwann beide atemlos und keuchend in den Kissen lagen. Ruis Hand lag auf seiner, seine schmalen Finger malten kleine Muster auf seine Handfläche.

„Geht es dir gut?“

Wirklich unerwartet war die Frage nicht. Kai wusste, dass er auffällig erbärmlich war an diesen Tagen. Trotzdem erstarrte er für einen Augenblick wie ertappt. Sein Reflex war es, zu lächeln und die Sache herunterzuspielen, aber er– konnte nicht. Nicht vor Rui. So wenig er es mochte, anderen Leuten Sorge zu bereiten, Ruis Anwesenheit hatte etwas so tröstliches, dass er sich in diesem Moment kaum schlecht dafür fühlen konnte. Behutsam zog er seine Hand unter Ruis weg, um seinerseits die schlanken Finger einzufangen und festzuhalten.

„Habe nachgedacht“, gab er leise zurück. Seufzte. Sah hinauf an die Zimmerdecke, die so unpersönlich und nichtssagend war, dass sie Kai nur noch mehr zwang, sich mit dem Tumult in seinem Inneren auseinander zu setzen. Er konnte nicht einmal zusammenfassen, wie er sich fühlte. Melancholisch, aufgewühlt, sehnsüchtig, überfordert. Verzweifelt, vor allem deshalb, weil es dieses Jahr noch so viel schlimmer zu sein schien, und gleichzeitig so viel leichter; er verstand es nicht.

Shun hatte wirklich Recht. Es wurde Zeit, dass er darüber sprach, er hatte es lange genug in sich hineingefressen und vor der Welt versteckt, aber nach all den Jahren hatte Kai keine Ahnung, wo anfangen und wo aufhören. Selbst Nagi, als er es ihr erzählt hatte, hatte nur eine sehr konfuse, bruchstückhafte Erzählung abbekommen, und das war obendrein Jahre her. Damals war die Wunde frischer gewesen, die Erinnerung auch, Kai jünger, weniger stolz – es war leichter gewesen, darüber zu sprechen.

Ruis Finger griffen um seine. Obwohl sie so klein waren im Vergleich zu Kais eigenen, war ihr Griff fest und selbstsicher.

„Ich höre zu, wenn du es brauchst. Und ich warte, wenn du es brauchst.“

 

Kai brauchte beides, wenn er ehrlich war. Er verzog müde das Gesicht, drehte sich herum, so dass er es an Ruis Schulter verbergen konnte, um sich vor der Welt zu verstecken. Er atmete seinen vertrauten Regenduft ein und spürte, wie zumindest ein Teil der Anspannung von ihm abfiel. Einfach hier bleiben… er war sich sicher, er könnte schlafen, könnte sich vor dem ganzen Thema verstecken, bis es für ein weiteres Jahr in trübe Vergessenheit geriet.

Es war eine lange Zeit, die sie so blieben. Auf seinem Bett liegend, lose beieinander. Kai rührte sich nicht mehr. Rui rührte sich nur, um einen Arm um ihn zu legen, seine Hand kam auf Kais Hinterkopf zum Ruhen. Er hörte nichts außer dem leisen Summen der Klimaanlage und Ruis ebenso leisem Atmen. Es war beruhigend, entspannend. In der Dunkelheit seiner geschlossenen Augen verschwand die Welt bald wieder hinter einem Schleier aus Regen. Er erinnerte sich an den Ausblick von seiner Veranda, erinnerte sich an die Maserung der Holzdielen, aus denen sie gebaut war. Das leuchtend blaue Sitzkissen, das dort gelegen hatte und heute immer noch in Ruis Zimmer lag. Die gemeinsam verbrachten Abende, in denen das Dröhnen des Regens ihre Stimmen übertönte und in einer eigenen kleinen Welt gefangen hielt, in der es nichts außer ihnen beiden gab.

 

Es war der Beginn eines wirren Traums.

Im einen Moment war Kai ein erwachsener Mann mit einer eigenen Wohnung, der einen kleinen Mitbewohner hatte, der ihm kaum seinen Namen sagen wollte, und im nächsten Moment trat er durch eine Tür und befand sich plötzlich wieder in dem Krankenhaus, in dem er viel zu oft gewesen war, in dem Sommer, als er zehn Jahre alt gewesen war.

Das Licht eines frühen Abends ließ den ganzen Flur in einem unwirklichen, rötlichen Licht erstrahlen. Es war beinahe unheimlich, aber Kai kannte es zur Genüge – er war schon so oft hier gewesen, er könnte seinen Weg blind finden. Er wusste genau, wie lange er brauchte. Er hatte sogar seine Schritte gezählt, oft genug.

Sie lag in ihrem Bett, klein und zart und wunderschön, auch wenn Kai es kaum sah; das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenstern fiel, ließ ihr Gesicht in so scharfe Schatten getaucht erscheinen, dass er nichts erkannte. Er wusste, dass sie lächelte, und er erwiderte ihr Lächeln strahlend, als er zu ihr lief, um ihr die heutigen Abenteuer zu erzählen.

 

Es war der Abend von Tanabata, und Kai, zehn Jahre alt und verliebt, beschloss zum ersten Mal in seinem Leben, diesem spontanen Impuls nachzugeben, der ihn noch Jahre später dazu bringen würde, die seltsamsten Entscheidungen zu treffen – und glücklich damit zu sein.

 

Das Straßenfest war genau so, wie es in seinen Erinnerungen immer gewesen war. Kleine Festbuden, leuchtende Papierlaternen. Nur ihr Licht war so seltsam, gleichzeitig grell und diffus, dass die ganze Umgebung völlig unwirklich schien.

Es war wunderschön. Seine Begleitung war glücklich, völlig gefangen von dem Ausblick, der sich ihr bot. Kai wusste, dass sie lachte, auch wenn er es über den Trubel des ganzen Festes hinweg nicht einmal hören konnte. Er war selbst obendrein abgelenkt von dem bunten Treiben, beobachtete Kinder, die sich als Goldfischfänger versuchten, ihre Eltern, die lachend bei ihnen standen, um sie zu ermutigen.

Ein Stand verkaufte Schmuckstücke. Sie waren hübsch. Zierliche, filigrane Haarspangen in typisch japanischen Designs mit verschiedenstem Zierrat – an einigen waren kleine Glöckchen befestigt. Kai sah die Spangen, und er wusste sofort, er wollte eine kaufen. Sein Taschengeld reichte nicht für viel; er war schon tagsüber mit seinen Eltern und Geschwistern auf dem Fest gewesen und hatte Geld für Süßigkeiten ausgegeben, für Äpfel, die mit Zuckerglasur überzogen waren, die so hart war, dass man sie kaum beißen konnte. Es genügte trotzdem für eine Spange, die er ganz besonders hübsch fand – sie war schlicht, und sie hatte ein paar Glöckchen befestigt, die leise klingelten, als der Verkäufer sie ihm im Austausch gegen sein Geld reichte. Das Licht der Papierlaternen verfälschte ihre Farbe.

Mit seinem Einkauf kehrte er stolz zu seiner Begleitung zurück. Sie hatte gewartet, weil sie sich andere Stände ansehen wollte, und Kai war insgeheim froh darum gewesen, sollte das Geschenk doch eine Überraschung sein. Als er sie erreichte, war sie noch ganz fasziniert von den bunten Fächern, die sie gerade betrachtete. Er tippte ihr sanft auf die Schulter und hielt ihr strahlend die Spange hin, aufgeregt, ungeduldig. Sie drehte sich zu ihm um.

 

Ihr Gesicht war ein einziges, blankes Nichts.

 

 
 

***

 

 

Kai erwachte mit einem erstickten Schrei. Er riss die Augen auf, sah im ersten Moment aber nichts als Dunkelheit. Panik griff nach seinem Herzen, ließ seinen Atem flacher werden und seinen Magen krampfen. Ihm war speiübel.

„Kai.“

Rui war da. Warme Hände, die nach seinen Schultern griffen, eine leise, besorgte Stimme, die die letzten grausamen Bilder des Traums fortscheuchen wollte. Es half kaum; Kai konnte es immer noch vor sich sehen, das Mädchen ohne Gesicht, die grell beleuchtete, verdrehte Welt, die so nicht existiert hatte, doch er wusste es nicht einmal mehr besser. Er wusste, es war anders. Er wusste es, aber er wusste nicht mehr, wie es sein musste. Es war beinahe wie am Morgen, nur dass er diesmal nicht dadurch geschützt war, dass er sein eigenes Vergessen nach dem Aufwachen wieder vergaß.

Sein Magen krampfte noch mehr, der Kloß in seinem Hals beinahe unerträglich groß.
 

Er vergaß.

 

Etwas klickte; plötzlich war es heller. Die Lampe auf seinem Nachttisch brannte, und Rui sah auf ihn hinunter, groß und übermüdet und besorgt. War er wachgeblieben? Warum? Es war viel zu spät, als dass Rui noch wach sein sollte! Er schüttelte irritiert den Kopf, setzte sich langsam auf und fuhr sich mit einer Hand durch das wirre Haar. Erst langsam dämmerte ihm, dass das Deckenlicht noch angeschaltet gewesen war, als er eingeschlafen war. Rui hatte es ausgeschaltet, scheinbar. Es war ein seltsames Gefühl; einzuschlafen, um zu einer Veränderung aufzuwachen. Wie ein Kind.

Oder schlicht ein Mensch, der nicht alleine war.

„Warum schläfst du nicht?“

Rui schüttelte den Kopf. Er kniete sich Kai gegenüber hin, hielt ihn aufmerksam im Blick, der keinen Deut weniger besorgt werden wollte.

„Du warst so unruhig. Ich konnte nicht schlafen.“

Obwohl er wusste, dass kein Vorwurf darin steckte, fühlte Kai sich grauenhaft. Er strich Rui zärtlich über die Wange.

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht wachhalten.“

Noch ein Kopfschütteln folgte. Rui sagte, er sei froh darüber. Kai solle mit seinem Kummer nicht alleine sein – „Du bist auch immer für mich da.“

Selbst wenn es ein Thema war, das er lieber für sich behalten wollte, er war es Rui schuldig, mit ihm zu sprechen. Und gerade, so wenig Kai sich wirklich danach fühlte, wollte er reden. Wollte die ganze alte Geschichte noch einmal erleben, um sich zu versichern, dass es alles nicht so schlimm war. Seine Träume waren immer wirr. Es war normal, dass ihm nicht jede Einzelheit sofort wieder einfiel. Es war nichts dabei. Wenn er erst davon erzählte, würde der Rest von alleine wiederkommen, nicht wahr?

Erschöpft ließ er den Kopf in den Nacken fallen, schloss die Augen. Sein Kopf war ein einziges, chaotisches und erschreckendes Durcheinander aus Erinnerungsfetzen und verblassten Farben, die nicht wiederkommen wollten. Rui hielt seine Hand, schweigend, ohne einen Ton von sich zu geben. Kai sah ihn nicht, doch er wusste ganz genau, wie der aufmerksame, abwartende Blick aussah, der auf ihm lag. Die leichte Besorgnis in den hübschen Augen. Die Art, wie Rui kaum merklich den Kopf schief legte, wenn er auf eine Antwort wartete. Die Eigenart, dass er kaum mehr blinzelte, wenn er jemanden ansah.

 

„Ich war zehn“, begann er schließlich leise, schluckte. Seine Stimme klang brüchig, obwohl er noch geradezu gar nichts erzählt hatte. Er hielt inne, schluckte noch einmal. Holte tief Luft. Öffnete die Augen doch wieder, und begegnete Ruis Blick, genau so, wie er ihn vorhergesagt hatte. Sein Herz krampfte. Wollte er wirklich darüber reden? Konnte er mit Rui von allen Menschen darüber reden?

(Über seine erste Liebe.)

Könnte er je mit jemand anderem darüber sprechen?

Mit Shun. Vielleicht. Aber allein der Gedanke fühlte sich falsch an, so falsch, dass Kai keine Sekunde länger darüber nachdenken wollte. So sehr er Shun mochte, das war eine Sache, die ihn dann doch einfach nichts anging.

„Ich warte, Kai. Du musst nicht–“

Er schüttelte entschieden den Kopf, zog Ruis Hand näher, so dass er einen Kuss auf seine Handfläche drücken konnte.

Er hatte Angst, aber das änderte am Ende doch nichts daran, dass die ganze Geschichte rausmusste. Dass er wollte, dass Rui es erfuhr. Er hatte so viel von Rui bekommen, in diesem letzten Jahr, so viele kleine und größere Fetzen, dass er inzwischen guten Gewissens sagen konnte, dass er ihn kannte – es war nicht fair, ihm das im Gegenzug nicht auch zu geben. Rui wollte an seinem Leben teilhaben, Kai wollte, dass er teilhaben konnte. Auch in den Momenten, in denen es schwer war. Er lächelte seinen Freund kurz an, begegnete einem warmen, liebevoll-besorgten Blick.

Dann erzählte er.

 

Es wurde viel zu schnell schmerzhaft absehbar, dass er wirklich vergaß. Es waren so viele Details, die ihm nicht mehr einfallen wollten. Die Farbe ihres Haars. Die Farbe der Haarspange, die er gekauft hatte. Der genaue Betrag, den sie gekostet hatte. Der Klang ihrer Stimme. Der Klang des Glöckchenbimmelns. Je länger er erzählte, desto mehr wurde ihm bewusst, wie viele Lücken sich inzwischen aufgetan hatten in dem alten Erlebnis.

Er wusste nicht mehr, wie ihr Gesicht aussah. Hatte sie eine Stupsnase gehabt? Sie hatte viel gelacht, aber war ihr Mund breit oder klein gewesen? Und ihre Augen? Welche Farbe hatten sie gehabt?

Da waren Tränen in seinen Augen, die fallen wollten, aber Kai wollte nicht, dass sie fielen. Er wischte sie rigoros weg, schüttelte den Kopf und all die grausamen Gefühle zumindest für den Moment ab, um weiterzureden. Die Tränen, die er nicht weinen wollte, schwangen in seiner Stimme mit, als er berichtete, wie er schlussendlich damit konfrontiert worden war, dass seine erste Liebe ihrer Krankheit erlegen war. Er erinnerte sich kaum noch an den Anblick ihres leeren Krankenbettes, obwohl er immer geglaubt hatte, dieser Anblick würde ihn sein Leben lang verfolgen.

Rui, die ganze Zeit über, war still gewesen. Er hatte kein Wort gesagt, hatte Kai nur aufmerksam und unbewegt angesehen, selbst seine Mimik zeigte kaum eine Regung. Er war einfach nur da, und Kai schöpfte mehr  Kraft daraus, als er es je für möglich gehalten hätte.

Jetzt, wo es vorbei war, fühlte er sich trotzdem kraftlos, hatte noch die letzten Energiereserven aufgebraucht, die Tanabata ihm übriggelassen hatte.

 

Shun hatte tatsächlich Recht behalten. Es hatte neue Erkenntnisse gebracht, darüber zu reden. Andere, als Kai erwartet hatte allerdings. Er hatte geglaubt, Tanabata würde einfacher werden, jetzt, wo die Prioritäten in seinem Leben begonnen hatten, sich zu verändern. Sein Herz lebte nicht mehr nur in der Vergangenheit, sondern hatte seinen Platz in der Gegenwart gefunden, so fest verankert, dass es sich auf eine Zukunft freuen konnte.

Und trotzdem tat es einfach nur weh.

Vergessen war eine angsteinflößende, erschreckende Sache, die Kai nicht erfahren wollte, nicht jetzt, und in Zukunft noch viel weniger. Und wie sollte er überhaupt noch in der Lage sein, ihrer zu gedenken, wenn er eigentlich nichts mehr über sie wusste? Wie konnte es sein, dass dieser eine Teil Vergangenheit, der ihm so wichtig war, so gnadenlos verblasste? Würde er irgendwann ganz verschwinden? Bis nur noch die Erinnerung daran blieb, dass er sich einmal erinnert hatte…

„Kai.“

Sein Gedankenfaden riss von Ruis sanfter Stimme, von der kleinen Hand, die sich zärtlich auf seine Wange legte. Ein Daumen an seinem Augenwinkel. Rui sah aus, als würde er allein unter Kais sichtbarem Leid mindestens genauso sehr leiden, wie Kai es gerade tat. Er presste die Lippen zusammen, und plötzlich waren es seine Augen, die feucht glänzten. Kais Herz zerriss, noch mehr als ohnehin schon. Er schüttelte den Kopf, hob eine Hand, wollte die Feuchtigkeit wegstreichen, doch er kam nicht so weit. Da war eine Träne auf Ruis Wange, eine schmale, feuchte Spur, die sich an seinem Kinn verlor.

„Es ist okay“, sagte er leise. Seine Stimme war fest, trotz der Tränen. Es verschlug Kai die Sprache, es tat weh und war tröstend zur gleichen Zeit, und er begriff nicht, warum Rui weinte. Seinetwegen. Weil er unglücklich war. Ruis Mundwinkel zuckten, dann lächelte er, und der Anblick war so wunderschön und herzzerreißend traurig gleichzeitig, dass er Kai noch mehr Tränen in die Augen trieb, die er nicht fallen lassen wollte.

„Du bist nicht allein, Kai. Ich bin hier. Weine ruhig.“

 

Kai wollte nicht weinen. Aber er hatte nicht die Kraft, es nicht zu tun – ehe er auch nur über einen Protest nachgedacht hätte, fiel die erste Träne. Statt Worten drang nur noch ersticktes Schluchzen über seine Lippen. Sofort war Rui da und hielt ihn fest umarmt, die schmalen Ärmchen unerwartet stark, wenn es nur darum ging, ihm Halt zu geben.

„Ich bin da“, wiederholte Rui leise, wie ein sanftes, tröstendes Mantra. „Ich bin da.“

Kai klammerte sich an seine Worte. Klammerte sich an den schmalen Körper, der ihm Halt gab, von dem ihm nie bewusst gewesen war, dass er ihn brauchte. Er fühlte sich, als würde er in dem Meer seiner eigenen Tränen versinken können, aber Rui hielt ihn fest, ließ ihn nicht mehr los, und mit jeder Träne, jedem erbärmlichen Schluchzen fühlte Kai sich ein bisschen leichter.

 

Ein bisschen mehr bereit, zu akzeptieren, dass er keine zehn Jahre mehr alt war und auch gar nicht mehr sein wollte.

 

Es war vorbei.



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