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Monster oder Schöne neue Welt

Kurzgeschichte
von

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Monster oder Schöne neue Welt

Es ist nicht so wichtig, was ich dort gemacht habe, als was ich dort erlebt habe.

Es ist nicht wichtig, dass ich mich immer noch nicht an diesen seltsamen Ton gewöhnt habe, mit dem sich das neue Direkt-Ohr-Telefonimplantat meldet. Das DOT. Ich sollte froh sein, dass es nicht DOTI heißt. Eine blöde Erfindung braucht nicht auch noch einen blöden Namen. Es nervt, wirklich immer und überall erreichbar zu sein. Selbst auf der Autobahn und unter der Dusche. Andererseits kann ich so bequem von zuhause aus arbeiten und muss nicht im Büro warten, bis ich gerufen werde.

Jedenfalls war ich an diesem Abend unterwegs zu einem Kunden. Es war schon ziemlich spät, kurz nach elf, aber noch die erste Hälfte meiner Nachtschicht. Ein Biotech-Unternehmen bat mich in ein Industriegebiet im Süden der Stadt, das so heruntergekommen war, dass es dort nicht mal Stromstraßen gab. Ich rechnete auf dem Weg durch, ob mein Wagen die Strecke von der Abfahrt der Autobahn dorthin und wieder zurück schaffte. Ich lud die Stromdaten dieses Viertels auf mein Endgerät und stellte fest, dass meine Zieladresse mehr als doppelt so viel Saft zog, wie der Rest der Straße, in der sie sich befand, zusammen. Und dass sie eine Steckdose auf dem Parkplatz hatte.

Ich befand mich weniger später auf der spannenden Quest die eine chemische Sicherung zu finden, die den hiesigen Stromausfall verursacht hatte. Das Computersystem war abgestürzt und auch wenn inzwischen Notgenerator-Strom zur Verfügung stand, regte es sich nicht. Ich musste sehr nett zu ihm sein, bis es bereit war, wieder hochzufahren, die Produktion wieder zu übernehmen und mir zu sagen, wo ungefähr sich diese eine, schwer zu ortende chemische Sicherung befand. Sonst hätte ich den ganzen Maschinenfuhrpark absuchen müssen, etwa eine halbe Million Sicherungen. So beschränkte es sich auf ein paar hundert. Ich baute die Verkleidung von der betreffenden Maschine ab, einem bio-mechanischen Bruttank, in dem halbfertige Menschen, halbfertige Babys herumtrieben, deren Mütter sich nicht trauten, sie selbst auszutragen, und machte mich auf die Suche.

Irgendwann hing ich ziemlich verrenkt halb unter dem Tank, nur mit einer Taschenlampe, denn die hiesige Nachtschicht verzichtete größtenteils auf Beleuchtung, und schaute kurz hoch, um meinen Hals zu bewegen. Und erschrak zu Tode. Denn da oben, auf dem Tank, da saß jemand und schaute zu mir runter. Lackschwarze Augen, nass glänzend im kaum vorhandenen Licht und umrahmt von langem Haar und zwei mächtigen Hörnern.

Es war kein Mensch, der da zu mir runterschaute. Diese Erkenntnis war schneller als die einfache Wahrnehmung der Tatsache, dass da überhaupt jemand war und dann zuckte ich zusammen und stieß mir den Kopf an und dann war es weg.

Der Vorarbeiter der Nachtschicht erzählte mir nach getaner Arbeit etwas von Waschbären, die sich nachts in der Fabrik rumtreiben würden. Muss ein ziemlich großer Waschbär gewesen sein. Aber ich gab mich damit zufrieden. Arbeiter hielten uns IT-ler sowieso für verrückt. Sie respektierten uns, brauchten uns, manchmal bezahlten sie uns sogar. Die Computertechnik war inzwischen so weit fortgeschritten, dass kaum eine Firma mehr eine eigene IT-Abteilung unterhielt. Sie würde den Anforderungen nicht gerecht werden, deswegen setzte die Wirtschaft auf freie IT-Dienstleistungsfirmen wie die, die ich mit ein paar Kumpels hatte, Notfallhelfer, die auch nachts und am Wochenende können. Ein System, dass sich eingebürgert hat, weswegen auch die Software-Hersteller ihren Support massiv zurückgefahren haben. Nicht, dass es ihn je in nennenswerter Form gegeben hätte.

Ich grübelte auf dem Heimweg, als die Straße sich mit dem Bordcomputer des Wagens verbunden und das fahren übernommen hatte, über die Begebenheit mit diesem Typen auf dem Tank nach, die sich in der Erinnerung von einem winzigen Augenblick in vielen Stunden Arbeit zu einer bedeutenden Begegnung entwickelte. Ich fragte mich wieder und wieder, was ich da nur gesehen habe. Nichts, dass ich kannte. Es war kein Tier, es fühlte sich nicht an wie ein Tier. Der Blick eines Tieres ist anders, als der eines … Eines was? Ein Mensch war es nicht, definitiv nicht. Auch kein Körperkunst-Freak oder sowas. Aber es fühlte sich an wie ein Mensch, wie der Blick eines Menschen. Zumindest so ähnlich.

Hatte ich mir das eingebildet? Nein, sicherlich nicht.

Dann kam mir der Gedanke, dass die Firma, deren Niederlassung ich besucht habe, ein Baby-Produzent, ein Fertilitätsspezialist ist, spezialisiert auf Wunschkinder. Ohne Krankheiten, Geburtsfehler, fliehendes Kinn oder Bauchansatz, ohne Schönheitsfehler, mit Wunschhaarfarbe. Diese Firma ist ein Genetik- und Gentransformations-Spezialist.

Ich verwarf den lächerlichen Gedanken und fuhr heim. Heute Nacht kamen keine weiteren Aufträge mehr, sodass ich diesen nachbereiten und die Rechnung abschicken konnte. Die Hauptgeschäftsstelle der Firma ist einer der Elfenbeintürme im Norden der Stadt. Warum sie eine Fabrik in einer so heruntergekommenen Gegend unterhält, fragte ich mich nicht.

Ich ließ es sein, weiter zu buddeln, saß die Schicht vollends ab und legte mich dann schlafen. Am Morgen. Na toll, mein Tagesrhythmus war total durcheinander. Blöde Nachtschichten.
 

Nach ein paar Wochen hatte ich es schon fast wieder vergessen. Aber an diesem Tag, als ich gerade vom Weihnachtsshopping kam, sollte mir diese Szene wieder so deutlich und in all ihren Einzelheiten vor Augen treten, dass ich ihn oder es oder was-auch-immer sofort wiedererkannte. Im Nachhinein erschien mir das genauso unwahrscheinlich wie sein Auftreten selbst, denn hier, jetzt, an diesem Ort, zu dieser Tageszeit, so absolut unerwartet und zusammenhanglos, wo ich es doch nur eine halbe Sekunde in fast kompletter Dunkelheit gesehen hatte und es jetzt helllichter Tag war.

Es war hier, mitten in der Stadt, auf dem schneebedeckten Parkplatz eines Einkaufszentrums. Wie in einem schlechten Film fiel mir eines der Geschenke runter, als ich mit dem Zeigefingerimplantat meinen Wagen aufschließen wollte, weil ich mal wieder zu geizig für eine Tüte gewesen war, und noch bevor es im Schnee landete, fingen wie aus dem Nichts zwei Hände es auf. Entweder war ich ausgesprochen unaufmerksam oder das Wesen hatte sich sehr gut angeschlichen, jedenfalls war es plötzlich da. Und ich erschrak so, dass mir noch ein Päckchen vom Arm rutschte, aber dieses fing es auch auf, nicht mit den Händen, sondern mit seinem Schwanz.

Ich brauchte ein paar Augenblicke, um zu verstehen und einzuordnen, was ich sah. Ein menschenähnliches Wesen stand vor mir, größer als ich, aber nicht viel, das einen fast bodenlangen, schwarzen Mantel mit Kapuze trug, offensichtlich aus Wollfilz und eingeschneit. Unter der Kapuze schaute ein Menschengesicht hervor, umrahmt von langem, schwarzem Haar, struppig und dick wie eine Mähne, gekrönt von einer knöchernen Stirnplatte, aus der nach hinten gewundene Hörner wuchsen, wie die eines Widders im Kreis, sodass die Spitzen auf Mundhöhe wieder nach vorn zeigten. Der Blick der gigantischen, doch vollständig schwarzen Augen war freundlich bis neugierig und nahm mir die Angst, die ich eigentlich vor diesem Wesen hätte haben sollen. Vor dem dicken, langen Schwanz, der unter dem Mantel herausschaute, vor dem grauen, glänzenden Pelz, der wohl den ganzen Körper bedeckte, vor den Krallen an den Fingerspitzen, die ausgesprochen bedacht mit dem teuren Geschenk in dem teuren Geschenkpapier umgingen. Vor dem Lächeln, das so falsch aussah, wie ein Lächeln nur falsch aussehen konnte. Vor der Geduld, mit der das Wesen wartete, bis ich mich einigermaßen gefasst hatte, den Kofferraum geöffnet und die Geschenke auf meinem Arm verstaut. Es wartete, bis ich die Hände frei hatte, bevor es mir die beiden Päckchen mit ausgesuchter Vorsicht reichte.

Es war, als hätte es Angst, mit seinem furchteinflößenden Körper irgendetwas anzustellen. Ein Gefühl, dass ich verstehen konnte, denn auch wenn zweifellos ein Monster vor mir stand, sagte sein Blick mir etwas anderes. Etwas hinter der Neugierde, der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, neben der Tatsache, dass es mich ganz offensichtlich bewusst aufgesucht hatte. Etwas, ich konnte es zwar noch nicht benennen, aber in diesem Moment wusste ich, es war da, versuchte das Wesen mir zu sagen.

Jetzt erstmal fragte ich wie der letzte Trottel: „Wer bist du?“

Sein schüchterner Blick zur Seite suchte Worte, aber fand sie nicht sofort. Dann sprach es: „Ich weiß es nicht.“ Aber es sprach es mit den Händen.

Es redete nicht, es benutzte die Gebärdensprache. Aber es hatte mich verstanden.

„Warum bist du zu mir gekommen?“, fragte ich weiter. Aber es kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn mein DOT klingelte plötzlich vernehmlich, mein Ohr blinkte dazu auf. Als ich mich instinktiv wegdrehte und mein Blickfeld durch die Hand am Ohr verkleinerte, verschwand es. Nach rechts, das sah ich noch. Aber als es hinter den blauen SUV tauchte, war es weg. Ja, ich befand mich definitiv in einem schlechten Film.
 

Also buddelte ich. Und ich buddelte tief. Ich werde selten zum Hacker, aber manchmal bin ich so von etwas besessen, dass ich nicht anders kann. Ich buddelte also, statt meine Freizeit wie gewöhnlich beim Squash oder bei meiner Freundin zu verbringen.

Ich fing bei der Fabrik an, wo ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Ich hatte ihre Software eigenhändig modifiziert, damit Vorkommnisse, wie das, weswegen ich kommen musste, so schnell nicht mehr passieren konnten, und benutzte jetzt ein Hintertürchen, das ich wie immer eingebaut hatte, damit keiner mich um mein Urheberrecht bringen kann. Der Urheber hat immer Zugriff auf seine Software, auch wenn es nur eine Mod war.

Ich kam also ins System der Fabrik. Technische Daten, Betriebssysteme des Maschinenfuhrparks, Dienstpläne, Personalakten, Aufträge, Arbeitsanweisungen, Fahrpläne, Verschwiegenheitserklärungen. Nichts, nur Babys, Log, Betrieb und Komm. Nichts, aber der Rechner des Produktionsleiters hatte Zugriff aufs Intranet der Firma.

Eine Firma, die 24-stellige Passwörter fürs Intranet verlangte. Allgemein löblich, dass endlich ein Arbeitgeber kapiert, dass nicht das ganze Großbuchstaben/Zahlen/Sonderzeichen-Blödsinn Passwörter sicher macht, sondern allein die Länge. Bedeutete aber auch, dass mein Passwort-Knacker bis ins nächste Jahrtausend brauchen würde, das Passwort dieses Produktionsleiters zu knacken. Also schloss ich mein Hirn an und benutzte dessen volle Rechenleistung für diese Aufgabe. Vier Tage lag ich neben dem Rechner auf der Couch, ohnmächtig, sabbernd, gigantische Zahlenreihen vor dem inneren Auge. Ging eben etwas Urlaub drauf, nicht weiter wild. Ich würde noch wochenlang Kopfschmerzen haben, das war definitiv schlimmer.

Aber ich hatte Zugang zum Intranet. Ich schlief ein bisschen, dann modifizierte ich mein Stealth. Ein kurzer Blick hatte genügt, zu verstehen, dass ich ewig brauchen würde, aus diesem Netz eine bestimmte nur theoretisch vorhandene Information herauszusuchen. Also benutzte ich auch hierfür mein Hirn und brauchte deswegen dringend einen Schutz, um meine Spuren zu verwischen.

Ich tauchte ein. Und fand nichts. Dafür, dass ich nicht genau wusste, wonach ich überhaupt suchte, und deswegen alle Möglichkeiten offen hatte, war das nicht viel. In dem überraschend schlecht organisierten Wust von Informationen war einfach nichts zu finden, was auch nur entfernt etwas mit dem Monster, Wesen, was-auch-immer zu tun hatte. Man sollte meinen, Naturwissenschaftler und Betriebswirte, die den Großteil der Belegschaft stellten, könnten ihr Zeug besser ordnen. Ich wollte doch sehr hoffen, dieses Chaos war Absicht und/oder hatte eine Ordnung, die ich nur nicht erkannte, denn ansonsten war es für eine Firma mit einem solchen Ruf echt armselig.

Ich vertiefte mich in einem zweiten Versuch in die Kommunikation und das Personal, wenn die Forschung und Entwicklung schon nichts zu bieten hatte. Nicht viel. Aber Hinweise auf Geheimaufträge, über die nichts digital abgelegt werden durfte. Ein bisschen überraschend, aber bei genauerem Hinsehen dann doch wieder nicht, vielversprechend, aber eine Sackgasse.

Ich verfolgte die spärlichen Hinweise auf diese Geheimaufträge, ahnend, dass das die wärmste Spur war, aber auch mangels Alternativen. Ich fand nicht viel, aber einige Beteiligten. Und ich wusste sehr wohl, dass ein System nur so sicher ist wie sein blödester Benutzer. Irgendjemand hatte einen Fehler gemacht, irgendjemand hatte was auf seinem Rechner. Also suchte ich die einzelnen Rechner dieser Personen ab. Ich versuchte, nicht ohnmächtig zu werden, denn dann könnte ich eine gefundene Information nicht mehr festhalten. Ich versuchte, meinen Computer nicht zu überlasten, der als Mittler zwischen meinem Hirn und dem fremden Intranet diente, denn wenn er abstürzte, hätte mein Hirn einen Kurzschluss. Es war immer heikel, die eigene, organische Rechenleistung zu benutzen, aber verführerisch. Ich reduzierte die Leistung auf 40%, damit ich sicher bei Bewusstsein blieb und einigermaßen handlungsfähig. Mein DOT meldete sich, ich drückte es weg. Ich arbeitete nicht, also konnte es kein Kunde sein, ein Kollege, meine Freundin, vielleicht meine Mutter. Daraufhin meldete sich mein Endgerät, also sicher meine Mutter, auf einer altmodischen Handytelephonie-Leitung. Ich drückte es weg und steckte das Gerät in die Hosentasche.

Ich tauchte in den Computer dieses Vorstands ein. Und kaum hatte ich etwas entdeckt, da wurde ich entdeckt. Ich traf hier nicht auf die Sicherheitsmaßnahmen der Firma, ich traf auf militärische Abschirmtechnik, die auf Cyberangriffe wie meinen ausgerichtet war. Ich musste schnell hier raus, bevor Gegenmaßnahmen gegen mich unternommen wurden, die mein Hirn in Gefahr brachten, aber ich ließ mir Zeit für ein paar Anweisungen, die die Festplatte kopieren und zu einem meiner Server schicken sollten. Dann verschwand ich, bereinigte meine letzten Fußstapfen und schloss die Tür hinter mir.

Ich stöpselte mein Hirn aus, entkoppelte meinen Rechner von Netz und auf einmal war es still. Und dunkel, es war Nacht geworden. Dann sprang der Kühlschrank in der Küche an, ich hörte ihn hier im Arbeitszimmer. Sein monotones, vertrautes Brummen beruhigte mich, ich raffte mich weit genug auf, den Kühlschrank übers Wohnungssteuerungspad anzuweisen, ein Abendessen aus dem Hauslager zu holen, den Ofen, vorzuheizen und die Kaffeemaschine, zwischenzeitlich einen Kaffee zu machen. Dafür musste ich nicht mal aufstehen.

Schöne neue Welt.
 

Erst ein paar Tage später, nach vielen nachgeholten Schichten, hatte ich Zeit, die gewonnenen Informationen zu verarbeiten.

Das Wesen war ein Alien. Ja, klar. Es war aus der DNS eines Aliens geklont worden, das einstmals auf die Erde gekommen und hier gestorben war.

Das klang so unwahrscheinlich, dass es schon wieder ziemlich wahrscheinlich war. Der Auftrag, das Alien wiederherzustellen, kam vom innenmilitärischen Geheimdienst, er ging an diese bewusste Firma, weil sie in Genmodifizierung Weltmarktführer war. Das Alien war seinerzeit an den Umweltbedingungen der Erde zugrunde gegangen. Ja, wie einst im Krieg der Welten. Na, wohl eher an der damaligen Verseuchung der Erde, denn es war während des Krieges angekommen. Es musste jedenfalls modifiziert werden, damit es hier überlebte und gedieh. Zu Forschungszwecken, versteht sich.

4 Wochen Recherche. Kopfweh fürs nächste halbe Jahr. Ich hätte mir auch einfach einen guten, altmodischen Science-Fiction-Film reinziehen können, wie die, die ich in meiner Jungend gesehen habe. Ein Offizier, der in einen Firmenvorstand gesetzt wurde, um diskret Geheimaufträge ausführen lassen zu können. Geklonte, modifizierte Aliens. Eine unfreiwillige Hauptfigur, unbeholfen, unwissend, aber mit speziellen Kenntnissen.

Ein Alien. In der Vorstellung der im Universum bislang doch ziemlich einsamen Menschheit sahen Aliens so nicht aus. Sie hatten kein solches Fell, keine Widderhörner oder Harpyen-Füße. Allenfalls in der literarischen oder filmischen Fiktion, aber nicht in der ernst gemeinten, theoretischen Astrobiologie.

Offiziell wurde noch kein extraterrestrisches Leben entdeckt, aber seit über 100 Jahren gab es Gerüchte und Verschwörungstheorien, dass uns die Regierung da etwas verheimlichte. Die Regierung, das Militär. Verschwörungstheoretiker waren nie so genau in der Benennung der bösen, mächtigen Instanz. Sie hatten neuen Schwung bekommen, als die Weltraumbehörden ihre Suche nach ET nach dem Krieg und auch später auf ein sehr bescheidnes Maß zusammengekürzt hatten. In Anbetracht der immensen Aufgabe der Dekontaminierung und des Wiederaufbaus der Erde eine durchaus logische Entscheidung, aber im anschließenden Wirtschaftswunder wäre eigentlich genug Geld da gewesen. Aber kein Interesse. Die eigene Welt war, besonders unter den sozial-darwinistischen Gesichtspunkten der Nachkriegsregierung, viel interessanter.
 

Dann erreichte mich die Erkenntnis, dass ich das Wesen wohl eh nie wieder sehen würde. Es glänzte durch Abwesenheit, es suchte mich nicht noch einmal auf. Und da ich keine Ahnung hatte, wo oder wie ich es suchen sollte, entgingen mir potentielle Möglichkeiten, es meinerseits zu finden.

Ich wärmte die Beziehung zu meiner Freundin auf, zu meinen Kollegen, arbeitete mehr und zog noch ein paar Kunden an Land. Ich entschuldigte mich bei meiner Familie, dass ich Weihnachten so abgelenkt gewesen war, die paar Stunden, die ich meine Recherche unterbrochen und bei ihnen verbracht hatte. Ich verdiente in den folgenden zwei Monaten ziemlich viel Geld, zahlte meinen E-Wagen ab und ließ meine Implantate erneuern.

Das neue Zeigefinger-Implantat ließ sich endlich als Universalschlüssel und ID benutzen, was bedeutete, ich konnte endlich meine sämtlichen Geräte und Logs zusammenfassen. Die Haustür, der Wagen, das Büro, die Bankkonten und Schließfächer, meine Passwörter und Zugänge zum Netz. Eine amtliche Identifikation war es noch nicht, aber das kam auch noch, davon war ich überzeugt.

Mein Krankenkassen-Implantat petzte derweil meinem Endgerät, dass ich in letzter Zeit ziemlich wenig Sport gemacht hatte, woraufhin dieses mir selbstständig Zeiten im Fitness-Raum des Turmes reservierte. Ich regte mich ein bisschen auf und verzog mich dann murrend aufs Laufband, bevor meine Beiträge raufgingen, oder schlimmer, das Implantat dem Kühlschrank verbat, Schokolade aus dem Turmlager zu holen.

Ich ging mal wieder zum Friseur, was ich seit Monaten nicht gemacht hatte und ließ mir dabei die Haare um den Netzanschluss in meinem Hinterkopf epilieren, damit mir der nicht mehr zuwuchs. Ich würde den Anschluss wahrscheinlich noch öfter benutzen. Öfter als bisher jedenfalls. So eine Buchse im Kopf wirkte befremdlich, aber anders war es nicht zu machen, die Neuroenergie-Wandlersonde mit der Außenwelt zu verbinden. Drahtlos war viel zu unsicher und störungsanfällig, fraß auch zu viel Energie. Kabel war das einzig Wahre, Steckverbindung das einzig Sinnvolle. Dieses Implantat bestehend aus Sonde und Buchse, war nicht wirklich legal, aber es war einst von einem qualifizierten Chirurgen eingesetzt worden. Es war außergewöhnlich, aber nicht gefährlich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass genau diese Technologie auf eben jene Alienrasse zurückging. Aber das wusste niemand.
 

Eines Morgens brachte ich meine Freundin zur U-Bahn, sie hatte bei mir übernachtet. Sie wurde in der Bahnstation vom Alien getötet. Gerade hatten wir uns verabschiedet und sie war durch die Ticket-Schranke durch, da stürzte wie aus dem nichts dieses Monster auf sie, warf sie um und dann war da nur noch Blut. Einen Moment später fing es meinen Blick auf, das Maul und das Fell darum bis hoch zur Nase troff entsetzlich rot und ich konnte nur daran denken, wie seltsam das aussah, wo das Wesen doch in seinem grauen Fell und mit der schwarzen Mähne sonst so gänzlich farblos war. Während um mich herum die ersten Menschen zu schreien anfingen, verzog es den lippenlosen Mund, leckte über die langen Reißzähne, die davon sehr plötzlich wieder sehr weiß wurden.

Erst sehr viel später wurde mir klar, dass nichts von all dem Zufall gewesen war. Der Auftrag von dieser Firma. Meine Begegnung mit dem Monster. Die Informationen, die ich hacken konnte. Das ungesunde Interesse meines Krankenkassen-Implantats an meiner Gesundheit.

Erst sehr viel später wurde mir klar, was das Monster getan hatte. Es hatte eine Konkurrentin beseitigt. Eine Konkurrentin um mich.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sam45230
2016-12-04T15:48:18+00:00 04.12.2016 16:48
Coool.
Viel mehr brauch ich eigentlich gar nicht mehr zu sagen. Spannend. vielschichtig, ohne Tunnelblick und ohne Scheuklappen. Eine gelungene Mischung aus klassischem Si-Fi, "Jonny Mnemonic" und Shaddowrun. Hat mir richtig gut gefallen. Drei enthusiastisch Daumen.
Bitte mehr davon.
LG
Sam


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