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Rotkäppchens Fluch

von

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Es wäre so leicht, die Kontrolle zu verlieren; Wolf zu werden und diese Welt und ihre Grausamkeit ganz einfach zu vergessen.
 

Großmutter lebte in einer einsamen Hütte am Rand des Waldes und starb in einer Vollmondnacht im Herbst. Ihr Blut glänzte warm im Licht der aufgehenden Sonne, als Lucas sie fand. Fast friedlich lag sie da, zwischen Zweigen, Laub und dem ersten Frost – ganz das zerrissene Bild einer bizarren Idylle.

Er konnte kaum atmen, spürte die eigenen Schritte nicht, die ihn zu ihrer Leiche trugen. Er hatte all das schon oft gesehen: das Blut, die Körperteile, Bissspuren, aber keines der Opfer hatte ihm je so nah gestanden, wie die Frau, die ihn jetzt aus toten Augen anstarrte. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken, Erinnerungen rauschten durch sein Gedächtnis. Er dachte daran, wie seine Großmutter immer den Kuchen auf die Fensterbank gestellt hatte und er ihn noch während des Abkühlens stahl, natürlich hatte sie ihn dabei mehr als einmal erwischt. Ganz plötzlich fühlte er sich auch jetzt beobachtet. Es war ein Reflex, die Waffe zu ziehen und sie auf etwas zu richten, was in den Schatten hoher Tannen lauern könnte; ein Rascheln im Gebüsch, schwere Stiefel unter denen Kieselsteine knirschten, wildes, schwarzes Haar und staubige Kleidung: Er erkannte den Mann sofort, ließ die Waffe sinken und ihn näher kommen. Jared sank neben ihm auf die Knie. Er streckte die Finger nach der Leiche aus ­– und wagte es doch nicht, sie zu berühren. Langsam zog er die Hand wieder zurück und tastete nach seinem Talisman.

„Ich hätte gestern Nacht hier sein sollen.“ Jareds Stimme klang bitter. „Bei Vollmond ist der Wald nicht sicher.“

Lucas atmete tief durch, steckte den Revolver zurück in das Holster an seinen Hüften: „Das wusste sie besser als wir. Sie hätte das Haus nicht ohne Grund verlassen, hielt Türen und Fenster nachts fest verschlossen.“

„Trotzdem, wenn ich bei ihr gewesen wäre…“

„Ich war auch nicht hier und hätte es besser wissen müssen.“ Lucas wusste, dass ebenso viel Schuld bei ihm lag. Man konnte die Vergangenheit und die kleine Hütte im Wald so leicht im Gewirr der Gegenwart vergessen. Großmutter hatte immer gewollt, dass sie ihre eigenen Wege gehen. Und sein Weg hatte ihn weg von dieser magischen kleinen Welt geführt, die nur am Rande der Realität existierte, wie ein Traum aus dem man nie ganz erwacht. Großmutter glaubte an Hexerei, an Hellseherei und an die Stimmen des Waldes, die ihr Wahrheiten zuflüsterten, die sonst niemand kannte. Sie hörte zu, und verstand all das, wovor er lieber die Augen verschließen würde. Lucas wusste nie, was er davon halten sollte, dabei stand der eindeutige Beweis für das Übernatürliche doch auch in diesem Moment direkt neben ihm. Er schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihm lag.

Es roch nach Blut und Tod, Kiefernnadeln und Moos und es war, als würde die Zeit stillstehen, solange sich nur niemand bewegte. Doch die Wirklichkeit wartete auf niemanden und irgendwann musste etwas getan werden. Lucas legte seine Hand auf Jareds Schulter: „Steh auf und komm mit. Ich will mir das Haus ansehen.“

Jared hatte sich schon damals an den oft harschen Ton des Jägers gewöhnt, an raue Hände und das Gefühl von Silber auf der Haut. Er spürte die Ringe, durch den Stoff seines Hemdes hindurch. Eine willkommene Ablenkung, dieser Schmerz, der an das Leben und das Menschsein erinnerte. Deplatziert und doch notwendig an diesem Schauplatz unnatürlicher Grausamkeit. Er erhob sich und folgte seinem Freund aus Kindertagen zur Hütte.

Die Tür war unversehrt, keine Kratzer, nichts. Niemand hatte versucht, das Schloss mit Gewalt aufzubrechen, der Schlüssel steckte von Innen. Alles sah so aus, als würde die Besitzerin nur kurz Feuerholz holen und jeden Moment zurückkehren. Lucas trat ein, Jared zögerte plötzlich. Etwas lag in der Luft, ein Geruch, ganz schwach, den er nicht kannte – ein Gefühl, eine uralte Angst, die ihn rastlos machte. Er schob sich an Lucas vorbei, eilte zwischen den winzigen Räumen hin und her und stellte dann fest: „Jemand war hier.“

„Wer?“ Lucas suchte selbst nach Spuren, doch konnte nichts finden. Es gab keine sichtbaren Anzeichen dafür, dass Großmutter gestern Nacht Besuch empfangen hatte.

„Ich kenne diesen Geruch nicht, nicht wirklich jedenfalls. Aber ich bin mir sicher, dass sie nicht allein war.“

Lucas suchte mittlerweile in einer der Kommoden nach einem Bettlaken. Jared verstand und hatte mit wenigen Griffen etwas Passendes gefunden. Er reichte es dem Jäger und war froh, die Hütte wieder verlassen zu können. „Wir müssen die Leiche zudecken.“

Lucas korrigierte ihn sofort: „Großmutter. Wir müssen Großmutter zudecken.“

Das Laken färbte sich rot, während beide in stiller Andacht verweilten. Es gab keinen sauberen Tod und kein noch so weißes Laken konnte die Grausamkeit verbergen, mit der diese liebevolle Frau aus dem Leben gerissen worden war. Jemand würde dafür bezahlen müssen.

„Wir begraben sie bei Großvater, hinter dem Haus in der Nähe der Lichtung und dann muss ich diesen Vorfall der Wache melden. Du solltest dann nicht mehr hier sein.“

Jared nickte. Er wusste selbst, dass man ihn in der Stadt nicht besonders schätzte. Er hielt sich von den Menschen fern, galt als wunderlich, weltfremd und gefährlich. Es wäre zu leicht, ihm etwas anzuhängen, aber sich fernhalten konnte er auch nicht: „Lass mich helfen.“ Lucas drehte sich mit einer abwinkenden Handbewegung weg. Jared spürte den Zorn in sich aufsteigen, der manchmal so schwer zu kontrollieren war. „Komm schon!“, brüllte er. Das Echo seiner Stimme ließ ihn selbst erschrecken. Er hatte die Worte fast gebellt und damit das letzte bisschen andächtiger Stille zerrissen. Lucas drehte sich ihm zu, mit einem Blick der Schweigen gebot. Er warf Jared die Schaufel vor die Füße. Für ihn war die Sache klar.

„Schließ mich hiervon nicht aus“, seufzte Jared als er seinem einstigen Freund folgte.
 

Wind kam auf, es roch nach Regen. Ein Sturm kündigte sich im Rascheln der letzten Blätter an, die sich noch immer an die Bäume klammerten. Großmutters Grab trug noch keinen Namen. Sie standen dort, Staub und Dreck an den Händen, während getrocknetes Blut an ihren Stiefeln klebte und die Gedanken rasten.

„Wir haben keine Zeit.“ Lucas versuchte die Trauer durch Taten zu verdrängen. Und es stimmte,  sie mussten sich beeilen. Noch konnte Jared dem Geruch folgen, doch im Gewitter würde jede Spur verschwinden, weggewaschen vom Regen, so wie das Blut vor dem Haus.

Jared legte die Schaufel zur Seite, der Zorn auf den einstigen Freund war mittlerweile abgeebbt und einer Jahre alten Enttäuschung gewichen. Der nächste Schritt, den sie machen würden, war nicht seine Entscheidung. Er suchte Lucas’ Blick und fragte: „Was willst du tun? Wir brauchen Stunden bis wir die Stadt erreichen und wer weiß, was im Wald lauert.“

„Du bist doch hier, oder? Handeln die meisten Geschichte nicht von Wölfen, die wehrlose Menschen angreifen, sobald sie einen falschen Schritt machen?“ Es war der schlechte Versuch eines unangebrachten Scherzes, aber Jared verstand es als Zeichen dafür, dass Lucas die Anspannung zwischen ihnen ebenso lösen wollte, wie er selbst.

„Ich war nie eine Gefahr für dich.“ Jared hatte schon beim Aussprechen des Satzes die Lüge auf den Lippen gespürt.

Lucas lachte trocken: „Wir gehen.“

Jared nickte, schloss die Augen und ließ die Luft langsam durch seine Nase strömen. Kein Mensch könnte einen Fußabdruck genauer untersuchen, als Jared in diesem Moment die Gerüche um ihn herum. Lucas hatte ihn schon so manches Mal dabei beobachtet, wenn der Wolf in seine Welt aus Gerüchen abtauchte, eine Welt, die ihm selbst völlig verschlossen blieb. Er war fast neidisch – und es war einer der Momente, in denen er Jared für seine tierischen Fähigkeiten mehr bewunderte als fürchtete. Er wartete ab, studierte die feinen Linien auf Jareds Gesicht, die die Jahre bereits hinterlassen hatten und fand ihn attraktiver denn je. Dann drehte der Wolf sich plötzlich um, ganz so als habe ein Geist ihm die nächsten Worte vorgesagt: „Wir müssen da lang.“

Jared hatte ein ungutes Gefühl. Die Spannung in der Luft machte ihn unruhig, denn etwas ganz und gar unnatürliches lag darin. Er spürte den Sturm in den Knochen und die Stimmen des Waldes in seinem Blut. Etwas brachte die Ordnung dieser Welt durcheinander und das Tier in ihm reagierte darauf. Es kratzte an seinen Eingeweiden, bohrte sich in seinen Kopf und schnürte ihm die Kehle zu – es wollte raus und laufen, bis die Welt sich wieder im richtigen Rhythmus drehte.

„Wenn wir in der Stadt sind, muss ich es auch Lilly sagen.“

Lucas’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. An Lilly hatte er noch nicht gedacht. Wie konnte er das kleine Mädchen aus Kindertagen, das das Abenteuer immer mehr geliebt hatte als seine Pflichten, nur vergessen? Er hatte seit Jahren nicht mit ihr gesprochen. Zuletzt soll sie viel gereist sein und Jared wusste nicht einmal, dass sie zurückgekehrt war. Der Jäger erahnte seine Frage, bevor er sie stellen konnte: „Sie lebt wieder in der Stadt und ist verheiratet. Irgendein reicher Kaufmann, den sie von ihren Reisen mitgebracht hat.“

Jetzt war es an Jared ungläubig zu lachen. „Ich hätte nie gedacht, dass sie dich irgendwann aufgibt“, gab er zu. „Eine Zeit lang habe ich es gehofft, aber nie daran geglaubt, dass dieses Märchen nicht doch noch mit einem Happy End abschließt.“

Daraufhin sagte der Andere nichts.
 

Die Wolken hatten sich mittlerweile dicht über ihnen zusammengezogen und die letzten Sonnenstrahlen, die es hindurch schafften, tauchten den Wald in ein bedrohlich wirkendes Zwielicht. Jared konnte den Regen riechen, bevor die ersten Tropfen seine Haut berührten. Die Temperatur nahm deutlich ab, in der Ferne zuckten die ersten Blitze. Lucas blickte besorgt gen Himmel und blieb stehen. Er lehnte an einem Baum, schien plötzlich nachdenklich.

„Wir sind schon zu weit, um jetzt zurück zu gehen“, stellte Jared fest. Er streckte eine Hand nach Lucas aus. „Komm schon, wenn es stärker regnet, wird es mir schwer fallen, die Fährte nicht zu verlieren.“

Lucas zögerte. Er kannte den Wald ebenso gut wie Jared, aber ihm fehlten die feinen Sinne eines Werwolfs. Sie waren bereits einige Stunden gelaufen, fernab von befestigten Wegen und immer tiefer in den Wald hinein. Im dichten, knorrigen Unterholz musste jeder Schritt mit Bedacht gewählt werden. Der Regen würde es ihm nur schwerer machen. Jared bewegte sich sicher. Er geriet nie ins Stocken, verlor nie die Orientierung. Es war immer mehr sein als Lucas’ Zuhause gewesen. Als Kinder waren Lilly und er dem Wolf nur hinterher gestolpert, wann immer sie sich auf Erkundungstour befanden. Er dachte gerne daran zurück. Er zog den Mantel enger um sich, streifte die Handschuhe aus seinen Jackentaschen über und nahm endlich Jareds Hand.

„Ist dir nicht kalt?“

Jared lächelte und schüttelte den Kopf. „Es geht schon.“

Und tatsächlich war seine Hand warm, als er dem Jäger über die rutschigen Steine half.
 

Der Wald erstreckte sich über die bergige Landschaft und der Regen wurde immer stärker. Es dämmerte mittlerweile und für Lucas wurde es schwer im Halbdunkel zu sehen. Er lief dicht hinter Jared, folgte dessen Schritten und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Sie hatten keine Zeit für Fehltritte. Jared sah sich nach ihm um, das schwarze Haar war völlig nass und die Strähnen klebten ihm im Gesicht.

„Alles in Ordnung?“, fragte der Wolf und obwohl Lucas wusste, dass er es nicht böse meinte, fühlte er sich angegriffen. Er war keineswegs hilflos und sicher niemand, um den man sich kümmern musste. Jareds Arroganz zerrte an seinen Nerven.

„Ja“, war seine einsilbige Antwort, kaum hörbar im Donnergrollen.

Jared verdrehte die Augen und stapfte voran. Mittlerweile folgte er mehr einem Gefühl als einem Geruch, aber das konnte er Lucas nicht sagen. Geistesabwesend fuhren seine Finger wieder zu seiner Kette, seinem Talisman. Er bewegte ihn zwischen Zeigefinger und Daumen und ignorierte das Jaulen des Wolfs in seinem Innern. Er wusste auch, dass etwas in diesem Wald nicht stimmte und hatte plötzlich das Gefühl, dass sie geradewegs in ihr Verderben liefen. Er klammerte sich an den Anhänger und die Hoffnung, dass er sich täuschte, während die Dunkelheit sie mehr und mehr einhüllte.
 

Es passierte zu schnell. Jared hatte die Gefahr zwar gespürt, aber es war längst zu spät, um darauf zu reagieren. Er fühlte warmes Blut über seinen Arm rinnen, bevor er den Schmerz registrierte. Er hörte Lucas seinen Namen rufen und sah, wie der Jäger in der Dunkelheit verschwand. Um ihn herum zischte eine Gestalt, die er kaum erkennen konnte. Er rannte in die Richtung, in die Lucas verschwunden war, ignorierte seine eigene blutende Wunde und den Regen, der ihm ins Gesicht peitschte. Die bleiche Figur, die ihn aus kalten, rot-glühenden Augen plötzlich direkt anstarrte, konnte er nicht mehr ignorieren. Ihr Umriss zuckte im Licht der flackernden Blitze. Sein eigenes Blut kochte, der Fluch pulsierte in seinen Adern und der Wolf in ihm stemmte sich gegen seinen Brustkorb. Er schrie, wild und fast wahnsinnig, gefangen in diesem Menschenkörper. Jared tastete nach dem Talisman und zwang sich zur Ruhe – doch die Angst um Lucas nagte ebenso an seinem Verstand wie der Wolf. Der Talisman bannte den Tier und half ihm die Verwandlung zu unterdrücken. Jetzt überlegte er zum ersten Mal, das Ding einfach wegzuwerfen.

Das andere Wesen stand noch immer wie erstarrt, beobachtete, wartete. Jared hoffte, dass es nur eins von ihnen gab und kein weiteres sich gerade an Lucas satt fraß. Er war auch jetzt noch stärker und schneller als ein Mensch, allerdings wusste er nicht, ob das genug sein würde, um gegen den Gegner zu bestehen. Er versuchte, auf Bewegungen und Lucas Stimme zu lauschen – das Pfeifen des Windes, der rasselnde Atem der Bestie, Donnergrollen in der Ferne, ein Stöhnen und Fluchen nicht weit entfernt – Lucas war also zumindest am Leben und Jared wusste, wo er ihn finden konnte. Dafür musste er nur an dem Wesen vorbei, das ihm den Weg versperrte. Der Wolf in seinem Innern brachte sein Blut zum Kochen. Es machte ihn selbst mehr und mehr zum Monster. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle, die Knochen knackten unter seiner Haut, seine Fingernägel wurden zu Krallen. Er atmete schwer. Das Verlangen nach einem Kampf vertrieb die Sorge um Lucas aus seinem Kopf. Das andere Wesen zuckte bedrohlich und sprang auf ihn zu. Diesmal war Jared bereit.

Er wich aus, schlug mit den eigenen Klauen nach der Gestalt. Blut rann über seine Finger, ganz warm im Vergleich zum Regen. Das Wesen schrie, schrill und furchterregend. Es verzog sich in die Bäume, sprang dann aus dem Schatten wieder auf ihn herab. Es erwischte ihn am Hals. Er stieß es zurück. Das Adrenalin pumpte durch seine Adern, er war kurz davor sich selbst und alles um ihn herum zu vergessen. Er dachte nur noch daran, wie das Fleisch des Wesens unter seinen Klauen – zwischen seinen Zähnen – nachgeben würde. Er wollte das dieses Vieh zerreißen. Es sollte aus seinem Wald, aus seinem Revier, verschwinden. So lebendig hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt, so sehr eins mit sich selbst.

Das Geräusch, das aus seiner Kehle drang, klang nicht mehr menschlich. Er brüllte wie ein Wolf, als er sich zurück in den Kampf stürzte und für einen kurzen Moment hatte er die Oberhand, bis ihn etwas an der Schulter traf. Die Kugel kam aus dem Nichts, bohrte sich durch Muskeln und Sehnen und brannte in seinem Fleisch wie nur Silber es konnte. Er jaulte. Da versteckte sich noch jemand im Sturm. Der Schmerz klärte seinen Geist. Lucas fiel ihm wieder ein. Jared presste die Hand auf die Wunde und floh.
 

Jared fand Lucas auf dem Boden liegend. Er wurde panisch und spürte den Atem des Biests schon wieder in seinem Nacken. Er riss seinen unverletzten Arm hoch, drehte sich im Fallen und schwächte die Wucht des Schlages ab. Trotzdem gab der Knochen in seinem Unterarm nach.

Er hörte eine weitere Kugel an sich vorbei zischen. Dieses Mal hatte Lucas geschossen und das Tier mit einem Streifschuss erwischt. Es fauchte und wich zurück, gab Jared die Zeit sein Gleichgewicht wiederzufinden. Wieder hallte ein Schuss durch den Wald. Lucas vertrieb das Tier, aber entweder traf er nicht richtig oder das Biest heilte genauso schnell wie ein Werwolf. Es umkreiste sie lauernd und wartete – die Kugeln würden nicht ewig reichen.

Jared beugte sich zu Lucas herunter. Er knöpfte sein Hemd auf und ließ es achtlos in den Schlamm fallen. „Was hast du vor?“ Lucas’ Stimme klang dumpf in seinen eigenen Ohren. Er hörte alles wie durch Watte.

Jared lächelte nur schief, Blut sickerte aus zahlreichen Wunden und tropfte mit dem Regen von seinem Körper. Lucas sah das Leuchten in seinen Augen und sah spitze Zähne blitzen. Er verstand, obwohl sein Gehirn nur wie in Trance arbeitete.

„Bete, dass ich mich an dich erinnere.“ Jared erhob sich, blickte Lucas ein letztes Mal über seine Schulter hinweg an und riss sich den Talisman vom Hals. Dann wurde seine Silhouette eins mit der Nacht und mächtiges Heulen dröhnte durch den Wald, vermischte sich mit Wind und Donner und erstickte die Schreie des Wesens. Der Wolf – der Herr des Waldes – war zurückgekehrt.

Lucas umklammerte den Griff seines Revolvers. Er dachte an die Silberkugeln und spürte wie sein Geist schon dabei den Fokus verlor. Er musste sich zusammenreißen, durfte nicht zulassen, dass die Welt vor seinen Augen verschwamm. Wenn er jetzt das Bewusstsein verlor, bedeutete das wahrscheinlich seinen Tod und so durfte es nicht enden. Er zitterte am ganzen Körper. Die Kälte kroch bis in seine Knochen. Jareds Hemd lag neben ihm im Schlamm. Er zog es näher zu sich – spätestens morgen früh würde er es wieder brauchen. Lucas hatte Probleme damit, sein Bein zu bewegen, aber viel schlimmer waren die Kopfschmerzen, die ihm die Tränen in die Augen trieben.

Er konnte das bedrohliche Knurren des Wolfs und das Fauchen des anderen Monsters in der Ferne hören. Nur schemenhaft nahm er ihre Umrisse war, sah die fremd-vertrauten Augen des Wolfes in der Nacht funkeln und redete sich ein, dass es immer noch Jared war, der ihn daraus anblickte. Er weigerte sich, dieses trügerische Gefühl von Sicherheit, dass ihn bei dem Gedanken überkam, zuzulassen. Ein Wolf im Rausch unterschied nicht zwischen Freund und Feind – für ihn gab es nur seine Beute und die Jagd, die Lust am Töten und an der Hatz. Trotzdem konnte der Jäger diesen kleinen Funken Hoffnung, der sich in seiner Brust ausbreitete, nicht ersticken: Jared würde ihm nichts tun. Vollkommen egal, wie viel alter Zorn sich auch jetzt noch hinter ungesagten Worten verbarg – ein Wolf wählte nur einmal im Leben seinen Gefährten und blieb loyal bis zum Tod.

Die Linien des Kampfes verschwammen mehr und mehr vor seinen Augen. Seine Aufmerksamkeit schwand. Er wusste, dass sich irgendwo in den Bäumen noch ein weiterer Feind versteckt hielt, aber es fiel ihm schwer sich darauf zu konzentrieren. Er kämpfte mit der Ohnmacht, spürte erst jetzt wie das Blut in sein Auge lief. Er blinzelte den roten Schleier weg, wischte mit einer Hand zu grob über sein Gesicht. Die Wunde pochte jetzt.

Das siegreiche Heulen des Wolfes ließ ihn aufhorchen. Jedoch aufatmen ließ es ihn nur für einen Augenblick, dann kam das Tier mit schweren Schritten brummend auf ihn zu. Es beobachtete ihn aus wachsamen Augen. Das tiefschwarze Fell glänzte im Mondlicht, nass von Regen und Blut. Der Wolf war wirklich riesig. Er hatte Jared in dieser Form zuletzt vor zehn Jahren gesehen, damals war er siebzehn – noch mehr Kind als Mann und Welpe als Wolf. Der Jäger legte den Finger an den Abzug seines Revolvers und zielte. Er war nicht sicher, ob er wirklich abdrücken könnte. Zum Glück blieb ihm diese Entscheidung erspart. Der Wolf war mittlerweile so nah, dass es ohnehin zu spät gewesen wäre. Er ließ die Waffe sinken und streckte die Hand nach dem Tier aus. Seine Finger berührten das Fell, es war erstaunlich weich, und der Wolf legte sich neben ihn. Zutraulich schob er die Schnauze auf den Oberschenkel des Jägers und schloss die Augen. Lucas konnte jeden Atemzug des Tieres fühlen. Er spürte auch den rasenden Rhythmus seines Herzens, der noch schneller, als sein eigener schlug.

„Ich wusste, dass du mich nicht vergisst.“
 

Jared konnte nicht sagen, wie lange er als Wolf neben Lucas gelegen hatte. Als er aufwachte, lag sein Kopf im Schoß des Jägers und es war immer noch dunkel. Wenn der Regen in dieser Nacht schon einmal aufgehört hatte, musste er die Pause verschlafen haben. Sein Körper fühlte sich immer noch überhitzt an, obwohl er fast nackt im Wald lag. Lucas hingegen zitterte im Schlaf. Er war eiskalt. Jared löste die Finger des Jägers aus seinem Haar und erhob sich. Er fand seine Kleidung erstaunlich schnell, zog sich an und kniete dann wieder neben seinem unruhig schlafenden Freund. Er musterte ihn, war dankbar dafür, dass seine Augen auch in der Nacht so gut funktionierten und entschied dann, dass er den Jäger wecken musste. Sie hätten gar nicht erst an diesem Ort einschlafen dürfen.

Er flüsterte seinen Namen, legte eine Hand auf Lucas’ Schulter und schüttelte ihn vorsichtig. Lucas regte sich, riss die Augen und sah Jared erschrocken an. Er wirkte zunächst orientierungslos, schien sich aber schnell zu fangen. Er krallte seine Finger in Jareds Hemd und hielt sich an ihm fest. „Du bist da“, stellte er fest und wäre Jared am liebsten um den Hals gefallen. Stattdessen ließ er sich von dem Anderen auf die Beine helfen. Das Gefühl kehrte nur langsam in seinen Körper zurück. Ihm war eiskalt und seine Muskeln fühlten sich taub an. Der Schmerz in seinem Kopf hatte sich in ein dumpfes Nachhallen verwandelt, so wie die Erinnerung an die letzten Stunden.

„Du hast dich an mich erinnert, Jared. Auch als Wolf.“ Wahrscheinlich war es überflüssig, dass er es überhaupt erwähnte, aber er hatte das Gefühl, dass es dennoch wichtig war.

„Trotzdem sah es aus, als wolltest du eigentlich auf mich schießen“, fügte Jared hinzu, während er Lucas Arm um seine eigenen Schultern legte. Er meinte es nur halbernst und gar nicht böse. Er dachte nur an den Revolver und das glänzende Silber. Die Wunde, die ihm der unbekannte Schütze zugefügt hatte, brannte immer noch. Der Atem des Jägers, den er jetzt deutlich auf seiner Haut spüren konnte, lenkte ihn davon ab.

„Ich hätte nicht abgedrückt“, stellte Lucas klar. Er lehnte sich noch dichter an Jared, suchte seine Nähe. Er gab der Unordnung in seinem Kopf die Schuld an diesem Verhalten und an den Gedanken, der ungefiltert seinen Weg in die Welt fand: „Warum hast du so viel Angst davor, dich zu verwandeln?“

Jared antwortete, obwohl er mehr damit beschäftigt war, sie zurück auf den Weg zu bringen. „Weil ich nie weiß, ob ich den Weg zurück finde.“

„Du warst nie weg“, entgegnete Lucas wieder.

Jared verstand zwar den Sinn dieser Worte, aber nicht den des Gesprächs. Weder Lucas’ Meinung noch seine Einstellung gegenüber dem Wolf würde sich in so kurzer Zeit ändern. In Jareds Ohren klang noch immer die Ablehnung von damals wieder – er hatte ihren Streit nicht vergessen, erinnerte sich an jeden Vorwurf und jede Anklage. Es gab keinen Grund für Lucas, ihn jetzt so anzusehen, mit diesen fiebrig-glänzenden Augen und dem Versprechen von Hoffnung, die vor langer Zeit gestorben war.

„Später“, versicherte Jared. „Später können wir darüber reden. Jetzt müssen wir einfach nur hier weg. Ich glaube nicht, dass ich das Ding getötet habe und es war auch nicht allein.“
 

 „Du musst jetzt wach bleiben“, Jared klang nervös, seine Stimme noch rau von der Verwandlung. Blut tropfte von seinem Kinn. Diesmal war es nicht sein eigenes. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds über das Gesicht, schon feucht von Regen, Blut und Schlamm. Lucas lehnte an seiner Schulter, er trug das Gewicht des Jägers fast komplett, während sie durch den Wald stolperten und nur viel zu langsam vorankamen. Der Boden gab unter jedem Schritt nach, ihre Stiefel sackten immer tiefer ein. Jared wusste, dass irgendwo hier, nicht mehr allzu weit weg, ein Gasthaus lag. Ein Ort, an dem man ihnen keine Fragen stellen würde und vor allem ein Platz, an dem Lucas sich ausruhen konnte.

Der Regen prasselte noch immer unbarmherzig auf sie nieder. Lucas schleppte sich tapfer weiter, obwohl ihm jeder Atemzug im Moment schwer viel: „Ich komme schon klar. Was ist mit dir?“

„Alles in Ordnung. Meine Wunden heilen längst.“ Jared spürte den pochenden Schmerz in seinem Arm kaum noch, die Kratzer an seinem Hals verschwanden auch langsam. „Du bist jetzt sicher froh, dass du mich heute Mittag mitgenommen hast, oder? Ich hatte dir ja gesagt, dass ich durchaus nützlich sein kann.“

Lucas lachte erschöpft, blieb ihm eine Antwort schuldig. Die Ablenkung kam prompt: „Ich glaube, ich sehe Licht. Da vorn, nicht mehr weit.“

Jared folgte seinem Blick und bestätigte: „Das ist es. Dort können wir uns ausruhen, bis der Tag anbricht.“
 

Der metallische Geschmack von Blut klebte noch immer süßlich an Jareds Lippen – weder Whiskey noch Wodka wuschen die Erinnerung fort. Wie viel er auch trank, für Jared schmeckte in solchen Nächten alles nach Blut, völlig verdorben und auf widerwärtige Weise doch so lebendig. Denn es weckte die Gier, die Lust – und den Wolf, der sich danach sehnte, tiefrote Spuren in lebendiges Fleisch zu reißen.

Er atmete schwer, krallte die Fingernägel in die schäbige Tischplatte und verbarg die gefährlich glühenden Augen in der Dunkelheit des Dämmerlichts. Die stickige Luft der Taverne vernebelte seine Sinne, der Geruch warmer Körper lockte das Tier und raubte ihm den Verstand – er sollte jetzt nicht hier sein, nicht nachdem, was er diese Nacht getan hatte, und doch musste er das Risiko eingehen. Sein Freund war verletzt. Er schlief in einem der billigen Zimmer und erholte sich vom Kampf, denn seine Wunden brauchten Zeit und sein Körper Ruhe, um zu heilen. Dieser Umstand zwang sie beide an diesen Ort. Jared – viel mehr der Wolf – sehnte sich nach dem Wald, nach Einsamkeit und Stille, nach dem Geruch von Moos und Blättern im Wind, aber dort war es im Moment nicht sicher. Er bestellte noch ein Bier und spülte die Gedanken hinunter. Er hatte keine andere Wahl, als sich zusammen zu reißen. Er tastete nach seiner Kette. Zum ersten Mal nach Jahren fand er sie nicht.
 

Die Tür quietschte, als Jared sich in das Zimmer hineinschob. „Du bist wach“, stellte er erstaunt fest und näherte sich Lucas wachsam. Er stand vor dem schmutzigen Spiegel und betastete die Wunde an seiner Schläfe. Jared blickte zum Fenster. In der Ferne graute bereits der Morgen.

Lucas drehte sich schließlich zu ihm um und kam auf ihn zu. Jared fiel sofort auf, dass er ein Bein etwas nachzog, wahrscheinlich war der Fuß doch nur verstaucht. Zum Glück war bei dem Sturz nichts Schlimmeres passiert. Er blieb direkt vor ihm stehen und Jared wurde nervös, als sein Freund nichts sagte, ihn nur eindringlich musterte.

„Alles verheilt“, stellte Lucas fest. Er tastete vorsichtig mit den Fingern nach den Wunden an Jareds Hals und fand nichts als makellose Haut. Jared erschauerte unter der Berührung und schloss die Augen für einen Moment. Er ließ Lucas einfach machen – was auch immer in dem Jäger vorging. Jared war zu müde, um darüber nachzudenken. Er fühlte wie Lucas an seinem Ärmel zerrte und es schließlich schaffte das Hemd von seinem Arm zu streifen.

„Da hat mich das Monster gebissen. Als Wolf hat es mich auch ein paar Mal erwischt“, erklärte Jared, nur um etwas zu sagen und diese seltsame Stille zwischen ihnen zu durchbrechen, „Nur diese Narbe bleibt, denke ich.“

Lucas zeichnete die Linien fasziniert nach. Er wusste selbst nicht, was ihn dazu trieb. Er handelte ganz instinktiv. Er musste Jared anfassen und sicher sein, dass mit dem Wolf alles in Ordnung war. „Das, was wir heute Nacht gesehen haben, war ein Wendigo“, stellte er irgendwann fest und merkte selbst, dass er mit den Gedanken woanders war.

Jared öffnete seine Augen wieder und sah Lucas ungläubig an.

„Deine Augen“, begann Lucas und wechselte das Thema noch bevor sie es wirklich aufgenommen hatten, „leuchten noch immer gelb.“

Das schien den Bann zu brechen. Plötzlich wandte Jared sich ab, trat zurück und brachte mehr Distanz zwischen sich und Lucas. „Ich weiß. Du solltest dich besser von mir fern halten, bis ich das wieder unter Kontrolle habe.“

„Warte.“ Lucas überbrückte den Abstand, legte die Hände auf Jareds Schultern und zwang ihn, sich wieder umzudrehen. „Ich will sie sehen.“

Jared lachte bitter, blickte dem Jäger direkt in die Augen und fragte: „Warum?“

Es lag so viel Vergangenheit zwischen ihnen, Erinnerungen und Worte, die keiner würde zurücknehmen können. Lucas hatte Jared verlassen, damals nach ihrem ersten Kuss, nach ihrer ersten Nacht und nach seinem ersten Mord.

„Musst du das jetzt fragen?“ Der Jäger legte seine Hände auf Jareds Hüften und atmete hörbar aus. „Ich will…“ Lucas überlegte, er wusste selbst nicht genau, was er hier tat. Er wollte Jared und spüren, dass sie beide am Leben waren. Er wollte diesen Moment, der nur ihnen gehörte, und der mit der Realität ebenso wenig zu tun hatte, wie ein Traum.

Jared lachte wieder, schüttelte den Kopf. „Für dich ist das hier ebenso wenig ernst wie damals. Das hätte ich mir gleich denken können.“ Er knurrte den letzten Satz fast mehr als dass er ihn aussprach. Seine Haut glühte und er konnte fühlen, dass die Kanten seiner Eckzähne spitzer wurden. Nichts von dem, was hier geschah, war eine gute Idee. Er merkte erst jetzt, wie fest sein Griff um Lucas Oberarme geworden war. Er schüttelte seine Wut ab, schenkte Lucas einen entschuldigenden Blick und löste seine Finger. Er wollte dieses – was auch immer zwischen ihnen passierte – gerade beenden, als Lucas ihn küsste. Und zwar so, dass er nicht widerstehen konnte.

Lucas presste sich dichter an ihn und Jared spürte die Wärme seiner Haut durch die Schichten von Stoff hindurch ganz deutlich. Er verlor sich in diesem betörenden Geruch von Lust und redete sich ein, dass mehr zwischen ihnen war, als nur das. Er war schon immer in Lucas verliebt gewesen, das hatte sich nie geändert. Also küsste er ihn, bis der Moment vorbeigezogen war und Lucas seine Lippen von ihm löste, mit den Fingern durch sein Haar strich und ihn aus dunkelbraunen Augen ansah.

Der Wolf holte tief Luft, legte die Hände auf Lucas’ Brust und versuchte, ihn von sich zu schieben. „Mein Talisman ist weg. Ich weiß nicht…“

„Egal“, unterbrach ihn Lucas, indem er ihn wieder küsste atemlos und noch heißer als zuvor „Lass einfach los. Du wirst mich schon nicht verletzen. Du hast mir auch im Wald nichts getan.“

Jared wollte protestieren und ihm sagen, dass es vielleicht nicht mehr als Glück war. Dass er nicht sicher sein konnte, was vorhin nach dem Kampf wirklich passiert war. Es ging alles viel zu schnell und er hatte noch keine Zeit gehabt, die Ereignisse zu verarbeiten – er wusste nur, dass er seit Jahren nicht versucht hatte, den Wolf ohne die Hilfe des Talismans zu kontrollieren und rauschte das Blut in seinen Adern und sein Herz klopfte wilder als jemals zuvor. In seinem Kopf herrschte völlige Leere als er den Jäger in die Matratze drückte und küsste.
 

Es war Nachmittag oder früher Abend als Jared aufwachte. Feiner Nebel lag über den Straßen, als er aus dem Fenster des Zimmers blickte. Das Wetter war auch heute nicht auf ihrer Seite, aber der Weg in die Stadt war von hier aus leicht zu finden. Man konnte die Lichter sogar in der Ferne sehen. Es war nicht mehr weit.

Das Bett knirschte unter seinem Gewicht als Lucas sich regte. Verschlafen suchte er nach dem Wolf und fand ihn am Fenster stehend. Der Jäger setzte sich auf, fuhr sich durch das strubbelige Haar und lehnte sich dann zurück. „Du hättest mich wecken können.“

„Nein, schon gut. Wir haben genug Zeit, bevor die Nacht hereinbricht“, erwiderte Jared und schaute wieder aus dem Fenster. „Ich bezweifle, dass es heute überhaupt einmal richtig hell war.“

Die Stimmung zwischen ihnen war seltsam, jedes Wort vorsichtig gewählt. Jared nahm das Rascheln von Decke und Kleidung wahr, er lauschte Lucas Bewegungen und hielt den Blick starr aus dem Fenster. Er verschränkte die Arme vor der Brust und stellte die Frage, die ihm am ungefährlichsten erschien: „Du hast vorhin erwähnt, dass das Biest ein Wendigo war…“

Lucas stockte kurz, fing sich wieder und erzählte dann, während er den Gürtel seiner Hose schloss: „Ein Wendigo ist ein Gestaltwandler, Mensch und Monster. Er ähnelt einem Werwolf.“

Jared schnaubte verächtlich. Lucas schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen und erklärte weiter: „So habe ich das nicht gemeint. Sie verwandeln sich – ähnlich wie ein Werwolf. Ein Mensch, der zu einem Wendigo wird, hat diesen Fluch allerdings selbst herbeigeführt, indem er Menschenfleisch gegessen hat. Es ist eine alte Legende, von der ich mal in einem von Großmutters Büchern gelesen habe.“

„Es war unbeschreiblich stark“, fügte Jared hinzu und dachte darüber nach, wie viel Wahrheit tatsächlich in Märchen, Mythen und Legenden lag. Er überlegte weiter, rief sich die Erinnerung an den Kampf ins Gedächtnis: „Es lag auch dort wieder etwas in der Luft, das mir bekannt vorkam. Ein Geruch, der mich seltsamerweise an früher erinnert.“

„Vielleicht liegt das einfach nur daran, dass der Wendigo auch ein Gestaltwandler ist. Du reagierst vielleicht unterbewusst auf diese Verwandtschaft.“

Jared funkelte Lucas wütend an. „Ich habe nichts mit diesem Ding gemeinsam“, zischte er zornig und machte einen Schritt auf den Jäger zu. „Ich laufe nicht durch die Gegend, verstümmele Leichen und fresse Menschen.“

Lucas hob beschwichtigend die Hände. „Ich weiß, ich meinte nur…“ Er unterbrach sich, holte tief Luft und setzte neu an. „Ich habe dich gestern Nacht gesehen. Dich und den Wolf. Ich weiß, dass keiner von euch böse ist.“ Der Jäger erinnerte sich an den Schmerz in den Augen des Wolfes, an die Menschlichkeit die darin lag, an Trauer und Verzweiflung. Das Tier litt nicht weniger als Jared selbst. Warum hatte Lucas das vorher nie verstanden? Warum hatte er das damals nicht gesehen?

Er hätte Jared gern nochmal geküsst, hielt sich aber zurück. Alles war bereits verworren genug, auch ohne die alten Geschichten, die ihn jetzt einholten. Er erinnerte sich an feuchtes Moos unter seinen Fingern und an Jareds Atem auf seinem Hals. Er fühlte noch immer die kühle Nachtluft auf seiner Haut, wenn er daran dachte. Es war Frühling

 „Bist du soweit?“ Jared hielt die Hand bereits auf der Türklinke ihres Zimmers und drehte sich noch einmal zu Lucas um. Der Jäger richtete gerade seinen Mantel. Vermutlich würden die Blutflecke zwischen all dem anderen Dreck nicht auffallen. Lucas nickte und folgte ihm hinaus in den Flur. Sie liefen über den alten Dielenboden, der bei jedem ihrer Schritte knarrte. Zum ersten Mal dachte Jared drüber nach, was für Geräusche in der letzten Nacht ähnlich gut im Gasthaus zu hören gewesen sein mussten. Für ihn waren verachtende Blicke nie ein Problem gewesen, er existierte ohnehin am Rande einer Gesellschaft, die keinen Platz für ihn hatte. Für Lucas aber musste das schwer zu ertragen sein. Jared konnte sehen, dass der Jäger sich jetzt sichtlich unwohl fühlte, während sie den Raum unter vorwurfsvollen Blicken anderer Gäste durchquerten. Jared fühlte sich weder schuldig, noch ertappt. Er hoffte nur, dass es Lucas ebenso ging.

Der Jäger zahlte beim Wirt. Jared stand direkt hinter ihm, vielleicht etwas zu dicht. Aber so fiel es ihm leichter, den Wirt düster anzustarren und so dafür zu sorgen, dass er gewisse Themen nicht ansprach. Manchmal war es von Vorteil, einschüchternd und gefährlich zu wirken. Die blutige, teils zerfetzte Kleidung tat ihr Übriges.

Sie verließen das Gasthaus in Richtung Stadt. Lucas humpelte noch immer ein wenig. Jared passte sein Tempo an. Der Nebel lag dicht über dem Boden, doch anders als gestern Nacht, war dieser Weg befestigt und ungefährlich. Jared blieb trotzdem wachsam und achtete auf jedes noch so kleine Geräusch der Umgebung. Zum ersten Mal drängte er den Wolf in sich nicht in den Hintergrund, sondern bediente sich der Macht, die in ihm wohnte. Der Drang, ständig nach seiner Kette zu suchen, verflog mehr und mehr. Es war befreiend diese alte Angewohnheit endlich loszulassen.

„Deine Augen sind wieder grün“, bemerkte Lucas, als sie bereits einige Zeit gelaufen waren. Jared lächelte erleichtert. Zum einen darüber, dass er offenbar wieder zu sich selbst gefunden hatte und zum anderen auch darüber, dass Lucas endlich wieder mit ihm sprach. Der Wolf erkannte das als Zeichen dafür, dass sich diese unnatürliche Anspannung, die sich im Gasthaus aufgebaut hatte, verflog.
 

Es war spät am Abend als sie die Stadt endlich erreichten. Die Lichtkegel der Laternen verschwammen im Nebel. Sie verliehen der Stadt eine gespenstische Atmosphäre. Es war kalt und roch nach Herbst. Lucas sehnte sich nach einem Feuer im Kamin, seinem Sessel und dem Märchenbuch, dass voller Erinnerungen an seine Großmutter war. Doch Ruhe finden würde er erst, wenn Großmutters Tod gemeldet und der Mörder gefangen war. Jared hatte zugestimmt, zunächst an seinem Haus zu halten, um die Kleidung zu wechseln, bevor sie sich auf den Weg zum Stadtrichter machten.

Auf dem Marktplatz herrschte noch Leben. Die Händler packten liegengebliebene Waren wieder ein und sicherten ihre Stände für die Nacht. In den Gassen patrouillierten vermehrt Wachmänner, wahrscheinlich eine Reaktion auf die Serie von Morden, von der Lucas gehört hatte. Er fragte sich, ob es einen Zusammenhang zu dem Mord an seiner Großmutter gab.

Die Wächter grüßten ihn freundlich und starrten Jared skeptisch an. Als Jäger war er kein reicher Mann und nicht von Stand – aber seine Profession genoss in der Stadt aus alter Tradition heraus noch immer hohes Ansehen. Außerdem galt er wohl als stattlicher Junggeselle, wenn Jared die Aufmerksamkeit draller Marktdamen richtig deutete. Lucas blieb unbeeindruckt, grüßte freundlich zurück und blieb ansonsten distanziert. Er hatte anderes im Sinn, hielt aber die Fassade gern aufrecht.

„Wir sind gleich da.“ Lucas deutete auf ein kleines Häuschen am Ende der Straße. Jared war noch nie dort gewesen. Es rief ihm in Erinnerung, wie weit sie sich seit Kindertagen voneinander entfernt hatten. Früher teilten sie alles, mittlerweile lebten sie ein Leben, in dem die Stimme des jeweils anderen eigentlich nur nachhallte. Lucas ließ sich einige Meter entfernt von einem der Marktschreier in ein Gespräch verwickeln.

Jared beobachtete ihn, horchte auf Wortfetzen, die der Wind zu ihm herüber trug und hatte plötzlich das Gefühl, die Fährte aus dem Wald wiederaufzunehmen. Er sah sich hektisch um, konnte aber nichts Unnatürliches erkennen. Lucas unterhielt sich noch immer angeregt mit dem alten Mann. Sie kannten sich wohl. Er lief weiter schaute sich um und suchte nach dem Ursprung dieses Geruchs – dann stieß er mit jemandem zusammen.

„Lilly!“ Jared starrte die junge Frau, die gerade über ihn gestolpert war, erstaunt an. Etwas fiel klirrend zu Boden, doch er achtete nicht darauf. Da stand Lilly vor ihm. Er erkannte sie sofort. Das lange blonde Haare, die leuchtend-blauen Augen, die feinen Sommersprossen und ihr hübsches Puppengesicht. Sie war nicht viel größer als an dem Tag, an dem er sie zuletzt gesehen hatte und sie trug wieder ein rotes Cape über ihrem Kleid – scheinbar liebte sie die Farbe noch immer ebenso sehr, wie Jared sie verabscheute

Die junge Frau blickte verdutzt zurück, blinzelte ihn einige Male überrascht aus großen Augen an und erschrak schließlich über die Scherben am Boden. „Mein Parfum!“, quiekte sie etwas zu schrill. Ein Fläschchen war bei dem Zusammenprall zu Bruch gegangen, die Flüssigkeit auf Jareds Hemd gespritzt.  „Jared! Entschuldige! Ich muss wohl in Gedanken gewesen sein. Es tut mir so leid, dein Hemd ist ganz feucht.“ Sie zog ein Taschentuch hervor – Jared unterbrach sie, bevor ihre sie sein Hemd berührte.

„Schon gut. Es ist nichts passiert“, erklärte er. Der beißende Gestank des Parfums, das sie auf ihm verschüttet hatte, benebelte seine Sinne. Ihm wurde fast übel davon. Die Fährte hatte er längst verloren.

Sie lächelte wieder und sah sich verlegen um. „Das wir uns gerade so nach all den Jahren wiedertreffen… Wie geht es dir? Hast du die Stadt mal verlassen?“

Jared holte tief Luft, dachte darüber nach, was er würde erzählen können und bemerkte, dass es nichts gab. Bevor er etwas Belangloses stammelte, kam glücklicherweise Lucas dazu. Er war nicht weniger überrascht als Jared, Lilly hier zu treffen.

„Lucas!“, stellte sie vergnügt fest und musterte den Jäger eingängig. „Schön, dich zu sehen.“ Sie schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. Eines, das sie niemals an Jared verschwenden würde, klimperte mit den Wimpern und spielte mit einer Haarsträhne. Manche Dinge änderten sich wohl wirklich nie, dachte Jared und deutete ein Kopfschütteln an. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ Lucas näher kommen. Der Jäger blieb neben ihm stehen und verzog das Gesicht. Das starke Parfum brannte in dieser Konzentration scheinbar sogar in der Nase eines Menschen. Fragend richtete sich sein Blick auf Jared. Der seufzte nur resigniert und Lucas behielt jeden Kommentar für sich. Er wandte sich stattdessen der alten Freundin zu. „Lilly, was machst du um diese Zeit noch hier draußen? Bist du allein unterwegs?“

Er war nicht weniger verwundert über die Anwesenheit der jungen Frau als Jared. Sorge war auch jetzt noch seine erste Reaktion, wenn es um Lilly ging. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, natürlich“, strahlte sie und wirkte dabei seltsam abwesend. „Ich wusste nicht, dass ihr noch immer Zeit miteinander verbringt.“ Sie sah interessiert von einem Mann zum anderen. „Seid ihr auf dem Weg in ein neues Abenteuer und habt mich vergessen?“

Jared schnaubte verächtlich. Er erkannte, dass dieses Gespräch zu einem ihrer Spielchen wurde und wollte keine Figur darin sein. Sie hatte wirklich einen Sinn für Intrigen und Jared lebte noch immer mit den Konsequenzen ihrer letzten Lüge. Lucas winkte ab. „Nein, nein. Eigentlich sind wir auf dem Weg zum Richter. Gestern Morgen ist etwas Furchtbares geschehen, aber das würde ich nur ungern hier draußen erzählen“, gestand der Jäger diplomatisch.

„Oh, da kann ich euch vielleicht helfen“, stellte Lilly fest und strich sich mit den Fingern abwesend durch das lange Haar. „Der Richter trifft sich heute Abend mit meinem Mann. Es geht wohl ums Geschäft. Begleitet mich doch einfach nach Hause.“

Lucas und Jared überlegten wohl einen Moment zu lang.

Lilly setzte nach: „Mit euch an meiner Seite würde ich mich auch viel sicherer fühlen. Ich habe gerade erst von den Morden erfahren. Schrecklich, schrecklich…“

Jetzt konnten sie nicht mehr anders, als der jungen Frau zu folgen. Lucas bot ihr galant den Arm an, Jared folgte mit etwas Abstand. „Vielleicht ist es gut so, dass wir uns heute Abend begegnet sind. Das, was passiert ist, muss ich auch dir erzählen…“, hörte er Lucas sagen. Dieses Treffen war wirklich ein außerordentlicher Zufall und jetzt, nachdem Jared nicht mehr auf seinen Geruchssinn vertrauen konnte, war es doppelt so wichtig, die Augen offen zu halten. Auf Lucas verließ er sich jetzt besser nicht mehr. Lilly war Gift für den Verstand des Jägers und wenn er die beiden jetzt so eng nebeneinander spazieren sah, verstand er nicht, warum Lucas damals ihn und nicht diese Frau gewählt hatte. Sie wirkten wie das Paar, das am Ende eines Märchens glücklich miteinander leben sollte; und Jared war nur der böse Wolf, der diese Zukunft störte – und der musste beseitigt werden.
 

Lillys Haus war wunderschön. Groß und geräumig, aber irgendwie zu leer. An den Wänden hingen fremdländische Bilder und Masken, überall waren Erinnerungsstücke ihrer Reisen verteilt. Sie hatte zu jedem Stück ihrer Sammlung etwas zu erzählen. Einige der Reliquien und Statuen, die ihn aus toten Augen anstarrten jagten Jared eisige Schauer über den Rücken.

„Ich habe die ganze Welt gesehen.“ Nostalgie lag in ihrer Stimme – aber da war noch etwas anderes, ein Unterton, den Jared nicht einordnen konnte. Lucas wirkte interessiert. „Nachdem ich die alte Hütte und den Wald hinter mir gelassen hatte, stand mir alles offen. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Es war berauschend, so frei von allem. Ich wollte vergessen, was passiert war.“ Sie trat näher an ein besonders auffälliges Kunstwerk. Es hatte auch die Blicke der beiden sofort auf sich gezogen. Lilly ließ die Finger gedankenverloren über die Masken gleiten. „Schön, nicht wahr?“ Lucas und Jared hielten inne und betrachteten das tiefschwarze Gesicht, das sie mit funkelnden Bernsteinaugen und weitaufgerissenem Maul anstarrte. „Es ist ein Wolf, sehr ihr? Ich musste ihn einfach haben. Er hat mich so sehr an dich erinnert, Jared. Wusstet ihr, dass man diese Tiere in manchen Kulturen für die Verkörperung des Teufels hält?“ Sie lachte schrill und für einen kurzen Moment sah es so aus, als wollte sie die Maske von der Wand reißen.

Jared spürte Lucas Hand auf seinem Arm. Eine willkommene Geste, die er nicht einordnen konnte. Anders als Lilly, die in jeder Geste eine Botschaft las.

„Passend, oder?“, fuhr sie bitter fort, wandte den Männern den Rücken zu und schwebte voran. „Ein gieriger Seelenräuber. Ein Verführer, der Hand an das legt, was nicht für ihn bestimmt ist.“

Jared stockte der Atem. Lucas’ Griff um seinen Arm wurde fester. Lilly hielt sich an verletztem Stolz fest. Plötzlich war es, als wären sie wieder siebzehn.

„Ah, wir sind da. Ich habe genug geredet.“ Sie blieb vor einer mit Ornamenten verzierten Flügeltür stehen. „Mein Mann müsste mit dem Richter im Salon sitzen“, erklärte sie. Sie lächelte auf diese künstliche Art, die Jared immer verabscheut hatte und schob sich hinter ihnen in den Raum. Die Tür fiel lautlos ins Schloss, Jared vernahm jedoch das verräterische Klacken des Riegels und sah noch, wie Lilly den Schlüssel in ihre Tasche schob. Er wurde misstrauisch, hatte plötzlich das Gefühl direkt in eine Falle zu laufen.

Sein Herz raste. Sein Instinkt gebot ihm Wachsamkeit. Der Wolf heulte im Inneren – und dann verstand Jared warum. Einer der Männer, der am anderen Ende des Raumes auf sie wartete, war kein Mensch. Er spürte es sofort, diese eiskalte Aura und die stechenden Augen, die ihn an die letzte Nacht erinnerten. Er konnte es riechen. Durch den Parfumschleier hindurch, nur war es jetzt zu spät. Dieser teuflische Gestank hätte auch an Lilly haften müssen, und doch – Hatte sie absichtlich das Parfum auf ihm verschüttet? Er lachte verächtlich und konnte seine eigene Dummheit kaum fassen: ‚Entschuldige, ich muss wohl in Gedanken gewesen sein‘, in seinem Kopf hörte er Lillys Stimme noch einmal die Worte sagen und erstarrte. Es war kein Versehen gewesen. Sie wusste, dass der Geruch des Wendigos an ihr haftete und dass sie das vor einem Werwolf nicht verbergen konnte.

Grimmig starrte er in den Raum. Jared konnte sich nicht erklären, warum dieser Mann – dieses Monster, korrigierte er sich in Gedanken – hier war. Was hatte Lilly damit zu tun? Aufgeregt griff er nach Lucas’ Arm und gebot ihm so, stehen zu bleiben. Der Jäger blickte ihn seinerseits verwirrt an. Er schien nicht zu sehen, was Jared längst durchschaut hatte.

„Komm schon“, raunte er nur und schüttelte Jareds Griff sorglos ab. Zielstrebig ging er auf die beiden Männer zu, obwohl ihn Jareds Verhalten irritierte. Andererseits verhielt sich Jared schon immer sonderbar in Lillys Nähe. Lucas reichte dem Richter und Lillys Mann – Henry, erinnerte er sich – die Hand, stellte sich vor und überspielte Jareds unangemessenes Verhalten charmant.

„Schön, dass ich Sie endlich einmal kennenlerne. Lilly hat schon so viel von Ihnen erzählt.“ Henry machte eine kurze Pause, sah die beiden in diesem Ambiente vollkommen deplatzierten Männer eindringlich an. „Gerade diskutiere ich mit dem Herrn Richter die Mordserie hier in der Gegend. Aber das ist ein unappetitliches Thema und ganz und gar unpassend zum Essen. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin sehr hungrig.“

Jared konnte die Gefahr fast schmecken. Er suchte Lucas Aufmerksamkeit und wollte möglichst viel Distanz zwischen Henry und den Jäger bringen.

Henry kommentierte das seltsame Verhalten amüsiert: „Ihr Freund ist diese Art der Gesellschaft wohl nicht gewöhnt?“

Lucas lächelte, als müsse er sich für Jared entschuldigen und blickte seinen Freund mahnend an. Jared hatte langsam genug und flüsterte viel zu laut: „Das ist der Wendigo!“

Der Richter hatte die Worte gehört. „Ein Wendigo? Nichts weiter als ein Märchen. Ich bitte Sie, solche Geschichten haben in den Köpfen von erwachsenen Männern doch nichts zu suchen.“

Skeptisch blieb Lucas’ Blick an Jared hängen. Der Richter sollte der Wendigo sein?

„Gehen wir doch zum Esstische, meine Herren“, mischte sich Henry wieder ein. Sein Tonfall klang mittlerweile gereizt. Scheinbar war er es nicht gewöhnt zu warten. Jared taxierte den hünenhaften Mann mit den kalten Augen und verstand nicht, was Lilly in dem Monster sah.

Lucas konnte den Verlauf des Gesprächs nicht einordnen, nahm aber die wachsende Spannung zwischen den Männern wahr. Lilly hielt sich im Hintergrund und wirkte plötzlich ganz klein. Noch immer verwirrt erklärte er: „Diese Geschichten – Märchen, wie sie sagen – sind viel öfter wahr als man denkt. Meine Großmutter hat daran geglaubt und sie war eine weise Frau.“

Der Richter ließ nicht locker. „Dann sollte mir so ein Wendigo mal vor die Flinte springen.“ Er lachte zu laut. Henrys erneute Ermahnung ging dabei fast unter, doch jetzt nahm auch Lucas den Zorn wahr, der unter der Maske des feinen Gastgebers zu lodern schien. Nur der Richter schien völlig unberührt von dem, was um ihn herum geschah. „Märchen sind ja schön und gut, aber ein ordentliches Gewehr schießt auch Löcher in die dicksten Sammlungen von alten Volksgeschichten.“

Nicht einmal Jareds Reflexe ließen ihn erahnen, was im nächsten Moment passierte. Der Richter lachte noch immer, als die Wut aus dem Wendigo herausbrach und er ihm mit einem Schlag den Kopf von den Schultern trennte. Jared stieß Lucas zur Seite und baute sich schützend vor ihm auf. Lilly presste sich an die Wand neben der Tür, sie wirkte weder ängstlich noch überrascht, nur abgeklärt und kalt, wie sie so auf den rollenden Kopf und die blutende Leiche starrte.

„Warum kannst du eigentlich nie auf mich hören?!“ Jared sprach mit Lucas, wagte es aber nicht die Augen von Henry, vom Wendigo, abzuwenden.

„Jetzt!“, schrie Lilly. Im selben Moment klatschte ein schweres Silbernetz auf Jareds Rücken. Gleißender Schmerz fuhr durch seinen Körper. Er verlor fast das Bewusstsein und brach zusammen. Henrys Gesicht war seltsam verzerrt glich mehr und mehr der Fratze des Wendigos. Das breite Grinsen gab den Blick auf die dichten Reihen spitzer Zähne frei. Seine funkelten in blutigem Rot. Er umkreiste Jared lauernd.

Lucas wollte seinem Freund zur Hilfe eilen, doch bevor er sich in sinnloser Verzweiflung auf den Wendigo werfen konnte, sank er zu Boden. Zuerst dachte er, etwas hätte sich in seinem Bein verbissen und ihn hinunter gezerrt. Es dauerte einen Moment, bis er verstand, dass er einen Schuss hörte. Reflexartig griff er nach der Wunde, tastete nach der Art der Verletzung und schaute dann auf seine blutverschmierten, zitternden Hände, hinter denen sich langsam die Konturen des Revolvers schärften, den Lilly in der Hand hatte.

„Tut mir leid, Lucas.“ Sie sprach ganz ruhig. Er konnte jedes Wort gut verstehen, obwohl das Keifen des Wendigos, der sich nur wenige Meter von ihm entfernt an Jared zu schaffen machte, ihn fast taub machten.

„Lilly, verdammt, hilf uns! Erschieß die Bestie!“

„Großmutter hat etwas ganz ähnliches gesagt“, erinnerte sich Lilly mit einem kalten Lächeln auf den Lippen. Lucas’ Augen weiteten sich. „Leider“, setzte Lilly wieder an, während sie mit der freien Hand die rote Kapuze tief in ihr Gesicht zog, „gibt es Dinge, die wichtiger sind als ihr. Sogar wichtiger als du.“ Lucas fand keine Worte. Entsetzt wandte er den Kopf von ihr ab. Sein Blick fiel auf den Wendigo, der auf einen zusammengekauerten Jared einprügelte.

„Wann bist du vom Weg abgekommen?“, Lucas sah sie verzweifelt an. Er verstand nicht, wie sie mit diesem Monster und seinem grausamen Geheimnis leben konnte. Hatte sie ihm sogar Großmutters Tod verziehen?

„Wir beschützen alle das, was wir lieben, oder nicht?“, erklärte sie bitter und hielt die Waffe auf Lucas gerichtet. „Auch wenn jemand anderes dafür sterben muss. Das solltest du besser wissen als jeder andere.“ Lucas litt unter ihren Worten ebenso sehr wie unter den Bildern, die sie ihm ins Gedächtnis riefen: Jareds blutverschmiertes Gesicht im Schatten der aufgehenden Sonne – mehr Monster als Mensch – eine traurige Gestalt am Ufer des Flusses, die den Leichnam ihres Opfers beweinte. Wasser färbte sich so leicht rot. Erst Jareds Stimme vertrieb die Erinnerung aus seinen Gedanken.

Er ächzte unter dem Gewicht des Silbernetzes, jaulte unter Schmerzen und schützte sich so gut er konnte vor den Attacken des halbverwandelten Wendigos.

„Er war nicht immer so, aber es wird stetig schlimmer“, erklärte Lilly und beobachtete ihren Mann aufmerksam. „Ich wollte Großmutter um einen Talisman bitten.“ Sie zog die zerrissene Kette mit dem Anhänger von Jared aus ihrer Tasche und streckte ihn Lucas entgegen. „Warum wirkt es nicht? Was ist das verdammte Geheimnis?“, fragte sie frustriert. Tränen stiegen ihr in die Augen. Lucas hatte plötzlich Mitleid, auch wenn die junge Frau das nicht verdiente.

„Ein Wendigo ist kein Werwolf. Es ist mehr eine Krankheit als ein Fluch. Es wird immer schlimmer. Selbst wenn er wollte, könnte er den Drang zu töten nicht kontrollieren.“ Lucas versuchte es mit Logik, auch wenn Verrückte und Verliebte angeblich selten darauf hörten – es war seine einzige Chance Lilly zur Vernunft zu bringen. „Und der Talisman war niemals magisch.“

Er wollte zu Jared eilen, aber er wagte es nicht den Blick von Lilly abzuwenden. Sie hielt den Finger am Abzug und aus dieser Entfernung konnte sie ihn nicht verfehlen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Kampf der anderen beiden. Jareds Krallen kratzten über den Marmorboden, sein Blick war wild und weniger menschlich als zuvor. Die Zähne des Wendigos blitzten, Blut klebte an seinen Klauen.
 

Der Verrat der einstigen Freundin wog am Ende schwerer als die silbernen Ketten, die bei jeder Bewegung tiefe Furchen in sein Fleisch rissen. Jared spürte die Wunden kaum, nur dieses eigenartige Kribbeln, diese Wut, wie sengende Flammen, die in seine Seele krochen. Er spürte wie seine eigenen Knochen knackten, wie dünne Zweige zersplitterten und sich unter seiner Haut neu zusammenfügten. Er fühlte sich stärker und schwächer zugleich – der Zorn, die Hitze, der Schmerz und der Hass – das alles vernebelte seinen Geist, doch es befreite seinen Körper. Er verlangte nach der Verwandlung, ließ den Wolf hinaus uns sprang mit grenzenloser Kraft unter dem Netz hervor. Er erwischte den Wendigo mit den Zähnen, zog und zerrte, zerriss Muskeln und Sehnen. Das Biest schrie fürchterlich. Es kratzte und schlug um sich, der Wolf hielt den Attacken stand. Er wartete nur darauf, dass das Biest schwächer wurde.
 

Jareds eigenes Herz – der Teil von ihm, der sich immer noch nach Menschlichkeit sehnte – brach, als Knochen zwischen seinen Kiefern knackten: Er riss den Wendigo in Stücke. Das Blut breitete sich über dem einst makellos-weißen Boden aus – Jetzt würde Lilly die Farbe auch hassen. Der Wolf war zufrieden, sein Gegner lag tot vor ihm. Lillys Flehen und ihre spitzen Schreie, erreichten ihn nicht. Er beobachtete wie die Teile des Körpers wieder ihre menschliche Form annahmen und erst der Widerhall eines Schusses lenkte seine Aufmerksamkeit davon ab.

Lucas stand noch. Die Kugel hatte ihn nur gestreift – und eben das war in diesem Moment Lillys Glück. Jared und der Wolf hätten nicht gezögert, gleiches mit gleichem zu vergelten. Das Adrenalin des Kampfes pulsierte noch immer in ihren Adern und fachte die Mordlust weiter an. Er wollte sich Lucas nähern, aber Lilly schoss wieder. Diesmal zielte sie auf den Wolf. Jared zog seine Pfote gerade noch rechtzeitig zurück. Er knurrte bedrohlich in Lillys Richtung und wich zurück. Vom Flur her konnte er deutlich hören, dass sich schnelle, schwere Schritte der Tür näherten. Er musste fliehen. Lucas nickte ihm zu, zwang seine Lippen in ein beruhigendes Lächeln, während er die Hand auf die neue Wunde presste und sich kaum auf den Beinen halten konnte: Es ist gut, geh.

Jared verstand, sprang durch eines der hohen Fenster und verschwand. Lilly leerte das Magazin vergebens. Der Wolf hinterließ nichts außer blutigen Spuren.
 

Später erzählte Lilly der Polizei, dass ein Werwolf ihren Ehemann angegriffen hatte. Lucas war nicht sicher, ob man ihr Gerede wirklich komplett als reine Hysterie abtat, denn kurze Zeit später schickte man vermehrt Suchtrupps in den Wald. Er traf die Männer im Gasthaus im Wald, das er zuletzt auch mit Jared besucht hatte. Lucas wusste, dass sie keinen Wolf gesehen hatten. Trotzdem sprachen die Männer zwischen Bier und Wein von einem riesigen Untier, dessen Augen wie Feuer in der Nacht glühten und dessen Schatten sie lauernd umschlich. Lucas belächelte diese Geschichten und entzog sich den merkwürdigen Blicken, die man ihm danach zuwarf.

„Du willst das Biest nur selbst erlegen, Jäger“, spuckte man ihm verächtlich entgegen und fuhr dann deutlich misstrauischer fort: „Oder warum zieht es dich immer wieder nachts hinaus?“

Lucas lächelte düster, hielt den Blicken der Meute stand und leerte sein Bier in einem Zug. Er stellte den Becher ruhig ab, erhob sich langsam von der Bank, richtete seinen Mantel und strich beiläufig über den Revolver an seiner Hüfte. Er nahm seinen Hut, verabschiedete sich mit einem Nicken und ging ohne ein Wort.
 

Er fand Jared tief im Wald. Auch im Dunkel konnte er das feine Lächeln sehen, die müden Augen und das wirre Haar. Lucas vergrub seine eisigen Hände darin und küsste die schmalen Lippen.

„Du hast getrunken“, stellte Jared fest, leckte sich über die eigenen Lippen und zog den Jäger noch näher an sich heran.

„Mhmmm“, brummte Lucas, „Nicht viel. Zu wenig, um die Männer im Gasthaus zu ertragen.“

„Du musst ihnen endlich sagen, dass du den Werwolf auch gesehen hast.“ Jared klang besorgt. „Sag ihnen, dass du ihn – dass du mich – jagst. Sag ihnen, dass du nicht ruhst, bevor du das Monster, das deine Großmutter tötete und deine Freundin ins Unglück stürzte, gefunden hast. Sag ihnen, dass du – und nur du allein – seinen Kopf verdient hast. Sag ihnen alles, was sie hören wollen, was sie hören müssen, bevor es zu spät ist.“

Lucas schüttelte den Kopf: „Das werde ich nicht.“

„Sie werden dich verdächtigen. Das darf nicht passieren“, erklärte Jared. Er seufzte und ließ den Blick in die Ferne schweifen. „Es ist okay, ich komme klar. Ich halte mich fern von der Stadt, von den Wegen, von allem.“

Von dir hatte er nicht gesagt. Aber es lag ihm auf den Lippen und klang auch ungesagt in Lucas’ Ohren nach.

„Es ist zu gefährlich für uns beide, wenn wir zusammen sind“, flüsterte Jared und lehnte seine Stirn gegen die des Jägers. „Irgendwann werden die Menschen vergessen. Ich kann warten und du – Du hast schon einmal für mich gelogen.“

Lucas drückte Jared an den Schultern von sich, um ihm in die Augen zu sehen. „Das war etwas völlig anderes“, sagte er bestimmt.

„Du hast gelogen, damit niemand erfährt, dass ich ein Mörder bin.“

„Und jetzt soll ich lügen und dich zum Mörder machen. Das ist nicht richtig.“ Lucas blieb stur. Er machte einen Schritt zurück, senkte den Blick und wandte sich von Jared ab.

„Du musst.“

Jared blieb beharrlich. Er überbrückte die Distanz, zögerte nur einen Moment lang und legte dann die Arme wieder um Lucas. „Versprich es“, flüsterte er. „Versprich, dass du tust, was nötig ist.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Vidora
2016-07-20T16:42:12+00:00 20.07.2016 18:42
Ihr Blut glänzte warm im Licht der aufgehenden Sonne, als Lucas sie fand. Fast friedlich lag sie da, zwischen Zweigen, Laub und dem ersten Frost – ganz das zerrissene Bild einer bizarren Idylle.

Ich.Will.Das.Auch.Können X'D Sorry. Ich muss den Kommi gleich mit einer Portion hässlichen gelben Neids zukleistern. *räusper* Diese zwei Sätze allein schaffen für mein Empfinden so viel für die Stimmung und die Atmosphäre, bringen gleichzeitig die Friedlichkeit des Todesschlafes rüber und andererseits die grässliche Kälte der Zurückbleibenden. Wirklich toll!
Der ganze Text ist eine Melodie, jeder Satz hat seine eigenen Noten und man muss schon sehr pingelig sein um irgendwo eine schiefe zu finden. Wenn man deine Beschreibungen liest, sieht man nicht nur die Bilder, sondern man hört die Worte im Regen auf die Blätter tropfen und im Kampf mit der Kleidung reißen. Dennoch hat man nie das Gefühl, dass du dich wahnsinnig anstrengen musstest, um das zu erreichen. Das ist Kunst und das ist Talent - und da kannst du dich auf den Kopf stellen, meine Liebe, es ist schlicht und ergreifend die Wahrheit!

Eine Zeit lang habe ich es gehofft, aber nie daran geglaubt, dass dieses Märchen nicht doch noch mit einem Happy End abschließt.

Ein Märchen wird im Quasi-Märchen erwähnt :D sowas liebe ich ja.

Mir gefallen auch die kleinen Stücke, die sich zu einem Puzzle zusammensetzen lassen... ich finde es keineswegs zerhackt oder so. Wie sie sich im Regen zum Gasthaus schleppen ist ein gutes Bild, viele kleine Pinselstriche, die die Beziehung der beiden zeichnen, auch wenn wir ihre Vergangenheit nicht im Detail kennen.

Dann Lilly... Als ich das mit dem Parfüm zum ersten Mal gelesen habe, war ich gleich misstrauisch ^^ #sherlock
Das mit dem Anhänger, den sie für ihren Geliebten haben wollte, fand ich sehr gut gelöst. Ich hatte auch fast ein bisschen Mitleid. Gut, dass sie nicht getroffen hat, sonst sähe es anders aus.

Im Kampf kommen die aufgewühlten Emotionen rüber (man könnte sagen, man kann sie empfinden und sogar fühlen XDDD). Aber das bezieht sich auch allgemein auf diesen inneren Kampf zwischen menschlicher und wölfischer Seite von Jared - übrigens ein toller Name, hihi <3

Eine wirklich tolle Geschichte, die sogar mir als bekennendem Nicht-so-sehr-Werwolf-Fan gefällt. Ich wünsche Lucas und Jared ein märchenhaftes Happy End... und da das Ende, was ihre Beziehung und Zukunft betrifft, relativ offen ist, spinne ich mir das in Gedanken so dahin ^^
Antwort von:  Naenia
10.10.2016 18:12
Der ganze Text ist eine Melodie, jeder Satz hat seine eigenen Noten und man muss schon sehr pingelig sein um irgendwo eine schiefe zu finden.

Oh man, ich kann einfach nur... <3
Das ist ein so wunderschönes Kompliment, das ich mir die Worte fehlen. Der ganze Kommentar ist so gut, dass ich ihn vermutlich eigentlich gar nicht verdient habe.

Aber so viel sei gesagt: Ich bin wirklich erleichtert, dass du während des Lesens das Geschehene nicht nur mitgefühlt, sondern auch empfunden hast. (:'D)


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