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Die Hexe und die Priesterin

von

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Was man über Hexen wissen sollte

Die Frau war am Abend zurückgekehrt, ohne einen Soldat im Schlepptau zu haben. Stella konnte gar nicht beschreiben, wie erleichtert sie darüber gewesen war. Dafür wurde sie aber von ihr nun förmlich ignoriert, statt dass sie einfach nur den Blickkontakt zu meiden versuchte. Selbst wenn Stella sie vorsichtig ansprach, blieb die andere stumm, und da sie ihre Retterin nicht unnötig bedrängen oder gar nerven wollte, schwieg sie seitdem lieber ebenfalls.

Irgendwie hatte sie es nach dem plötzlichen Aufbruch ihrer Gastgeberin doch geschafft, mit Hängen und Würgen diesen Kräutertee zu trinken. Gute Medizin war ja angeblich bitter und diese hier erfüllte diese Aussage in jederlei Hinsicht, so was Widerliches hatte sie zuvor noch nie im Mund gehabt. Nachdem sie die Tasse aber komplett geleert hatte, verschwanden wie durch Zauberhand ihre Kopfschmerzen und eine wohlige Wärme strömte durch ihren Körper. Dieser Zustand hielt bis jetzt an und darum war sie sehr froh.

Zwischendurch war sie zwar kurz eingenickt, hing ansonsten aber ihren Gedanken nach. Das Thema Hexen begleitete sie ja schon seit langer Zeit, doch durch das Gespräch mit der Namenlosen war der Drang, mehr über sie zu erfahren, stärker als je zuvor. War sie deswegen im Wald unterwegs gewesen? Um die dortige Hexe aufzusuchen und sich schlau zu machen?

Falls ja, warum tat sie es ausgerechnet erst jetzt? Sie hätte es schon früher tun können. Es musste noch mehr dahinter stecken, jedoch konnte sie sich immer noch nicht erinnern. Zum verzweifeln.

Die Nacht war angebrochen. Glaubte sie zumindest, denn hinter dem schmutzigen Fensterglas war es nun dunkel. Weil sie zuvor am Tag ein Nickerchen gemacht hatte, war sie nun hellwach und konnte nicht mehr schlafen. Nachdenklich blickte sie durch den Raum und genoss den Geruch der Kräuter. Daran könnte sie sich gewöhnen. Gut möglich, dass sie es schon getan hatte.

Schließlich blieb ihr Blick an der Frau hängen, die zurückgelehnt in einem Stuhl am Tisch saß und im Gegensatz zu ihr schlief. Stella wusste genau genommen gar nichts über sie, hatte zwischenzeitlich sogar befürchtet, an eine hexenfeindliche Person geraten zu sein, die sie nach ihrer Erzählung nun für verrückt hielt und doch war von Anfang an ein vertrautes Gefühl da gewesen, wie bei ihrer Mutter, was nach wie vor seltsam war.

Manche Besucher der Kirche hatten ihr schon davon erzählt, dass sie einem Menschen begegnet waren, mit dem sie sich sofort stark verbunden fühlten, obwohl sie diesen zum ersten Mal sahen. Ihr Ausbilder meinte, dass so etwas nicht ungewöhnlich wäre, sondern eine wunderbare Sache. Er hatte gesagt, es hätte etwas mit Schicksal und den Erinnerungen aus einem anderen Leben zu tun. Diese beiden Faktoren sorgten dafür, dass man Menschen, die einem zu irgendeiner vergangenen Zeit mal wichtig gewesen waren, niemals aus dem Gedächtnis strich und ihnen früher oder später wieder über den Weg lief. Aus diesem Grund konnte es auch passieren, sich auf den ersten Blick unsterblich in jemanden zu verlieben.

Gedankenverloren verharrte sie mit ihrem Blick auf ihrer Retterin. Ob ihre Anwesenheit sich für sie deshalb so vertraut und angenehm anfühlte? Eine seltsame Entdeckung verdrängte diese Überlegung.

„Hm?“ Stella kniff die Augen zusammen. „Was ist das?“

Da war etwas Dunkles. Sicher, es war Nacht, zurzeit war das normal, aber etwas Dunkles umgab die Frau, nein, verließ ihren Körper, schwebte an die Decke und verschwand durch diese. Sah beinahe aus wie eine Art Rauch. Eine schwarze Aura? Sogleich huschte ein kalter Schauer über ihren Rücken, trotzdem stand Stella auf und schlich leise zu ihr.

In ihrer Nähe könnte sie nun auch etwas spüren. Aus irgendeinem Grund schoss ihr der Begriff negative Strömungen durch den Kopf und ihre Haut fing an zu kribbeln. Fühlte sich ein bisschen wie feine Nadeln an, die ihr mit jedem Stich die Wärme entzogen und gegen Kälte austauschten. Sie fröstelte und rieb sich die Arme.

Priester waren dafür bekannt, ein besonderes Gespür für außergewöhnliche Regungen wie solche zu haben, auch Stella besaß dieses Talent, sonst wäre sie wohl nicht so leicht in der Kirche aufgenommen worden und sie ahnte, dass dieser Rauch schädlich war, worum es sich auch handeln mochte. Besorgt streckte sie eine Hand aus, um nach der Schulter der Schlafenden zu greifen und sie zu schütteln, doch so weit kam es nicht.

Plötzlich fegte scheinbar aus dem Inneren der Frau eine kräftige Druckwelle nach außen und schleuderte Stella durch die Luft, bis sie von einer Wand aufgehalten wurde. Bei dem Aufprall stockte ihr kurzzeitig der Atem und ein stechender Schmerz zog sich durch ihren Rücken. Auch Gegenstände flogen kreuz und quer durch die Luft, prallten aneinander oder ebenfalls gegen die Wände. Dieser Lärm musste die Hausherrin wachgemacht haben, denn sie sprang vom Stuhl hoch. Mit ihrem Erwachen ließ dieser kräftige Wind augenblicklich nach und Stella fiel mitsamt den anderen Gegenständen zu Boden.

„Oh nein!“, keuchte die vermeintliche Verursacherin betroffen. Ohne zu zögern eilte sie zu Stella hinüber und beugte sich zu ihr runter. „Das wollte ich nicht! Ist alles Ordnung mit dir?!“

Der Wind musste ihr die Kapuze vom Kopf gerissen haben, denn Stella konnte endlich ihr Gesicht sehen. Vor Schmerz konnte sie die Augen zwar nur halb offen halten, aber das reichte völlig aus, um festzustellen, was für ein hübscher Anblick sie war: Helle, reine Haut. Langes, geschmeidiges, schwarzes Haar und goldene Augen. Leuchtendes Gold. So etwas Faszinierendes hatte sie noch nie gesehen.

„Warum“, murmelte sie vor sich hin. Durch diesen unglaublich starken Schmerz im Rücken war ihr Körper dabei, sich davor zu schützen, indem er sie ins Traumland schicken wollte. Ausgerechnet jetzt. „Warum versteckst du dich unter dem Ding?“

„Was?“ Sorge spiegelte sich in ihren Augen wider.

„Du bist so ... wunderschön.“

Das waren die letzten Worte, die sie über die Lippen brachte. Danach wurde ihr schwarz vor Augen.
 

***
 

Erneut war es der Geruch von Kräutern, den sie bei ihrem Erwachen als erstes wahrnahm. Dieser süßlich-bittere, exotische Duft, den sie bereits lieben gelernt hatte. Langsam öffnete sie die Augen und blickte an die hölzerne Decke der Hütte. Zum ersten Mal schoss ihr die Frage durch den Kopf, wie lange sie überhaupt schon hier war?

Müde setzte sie sich aufrecht hin und rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen. Hatte sie geträumt oder konnte sie vergangene Nacht tatsächlich das Gesicht der Frau sehen? Schmerzen hatte sie jedenfalls keine mehr, nicht mal ein bisschen, und aufgeräumt sah der Raum auch aus, zumindest wäre es unmöglich, dieses Chaos ohne weiteres in Ordnung zu bringen, das diese Druckwelle angerichtet hatte.

Die – nach wie vor namenlose – Frau stand an der Kochstelle und bereitete irgendwas zu, wobei sie sehr konzentriert war. Das hoffte Stella, denn sie wollte unbedingt wissen, ob sie nur geträumt hatte oder nicht, auch wenn ihr folgendes Vorhaben als recht unhöflich eingestuft werden könnte. Erst recht bei einer Person, die sie immer noch nicht sonderlich gut kannte, egal ob sie von ihr gerettet worden war oder nicht.

Vorsichtig stand sie auf und bewegte sich so lautlos wie möglich auf die Hausherrin zu. Vor lauter Nervosität trommelte ihr Herz gegen die Brust und veranstaltete damit ein regelrechtes Konzert, das in ihren Ohren rauschte. Kurze Zeit später stand sie hinter ihr und nahm allen Mut zusammen, bevor er sie wieder verlassen konnte. Ohne Zurückhaltung griff sie nach der Kapuze und zog sie zu sich nach hinten.

Überrascht wandte sich das Opfer ihrer Aktion zu ihr um und sah sie direkt an. Stella hielt den Atem an. Kein Traum. Sie hatte nicht geträumt! Helle, fast weiße Haut, so makellos, ohne jegliche Unebenheiten. Langes Haar, so schwarz wie die Nacht und glänzend wie Seide. Augen so leuchtend wie Gold und unergründlich tief. Im Zusammenspiel mit dem Haar wirkte ihr Augenpaar fast wie zwei strahlende Monde am nächtlichen Himmelszelt. Ihr Gesicht war so unbeschreiblich schön. Jung und doch von Reife erfüllt. Alles passte perfekt zusammen.

Stella konnte lange nichts anderes tun, außer sie unentwegt anzustarren und merkte auch nicht, dass ihr Mund halb offen stand. Irgendwann wurde ihr aber bewusst, was sie hier gerade tat, dennoch konnte sie nicht den Blick abwenden. Sie war total gefangen von diesem Anblick und es war ihr gleichzeitig peinlich. Für gewöhnlich achtete sie nie auf Äußerlichkeiten und fand sogar, dass diese viel zu wichtig genommen wurden, aber jetzt stand sie hier und war total gebannt von ihrem Aussehen.

Verlegen senkte ihr Gegenüber irgendwann den Kopf und strich sich durch die Haare. „Du bist also wach. Es scheint dir gut zu gehen.“

„Äh, also ...“ Nun wandte auch Stella verlegen den Blick ab. „Ich, äh, ja. Tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich wollte nur wissen, ob ...“

„Schon gut. Du wolltest nur wissen, ob du geträumt hast oder nicht, richtig?“

„Ja, genau“, bestätigte sie, doch es blieb ihr unangenehm.

Da das Wasser in einem der Töpfe überzukochen drohte, drehte die Frau sich um und fuhr da fort, wo sie vorhin unterbrochen worden war. „Also, du kannst dich gerne schon mal an den Tisch setzen. Ich habe Frühstück gemacht.“

„Oh, danke, das ist nett.“

Dem Angebot ging Stella gern nach und nahm deshalb Platz an dem Tisch in der Mitte des Raumes. Sie gab keinen Laut mehr von sich und starrte stur auf die Oberfläche des Tisches vor sich. Auch wenn Stella sie gar nicht mehr ansah, schwirrte ihr ohne Unterlass dieses hübsche Gesicht im Kopf herum und vergrößerte den Ärger, den sie auf sich selbst empfand. Auf keinen Fall wollte sie sich so sehr von Äußerlichkeiten beeinflussen lassen, was sollte sie nur dagegen tun?

... Aber diese goldenen Augen. So etwas gibt es normalerweise doch nicht. Wie ist das möglich? So schön.

„Argh!“ Für eine Sekunde setzte ihr Verstand aus und sie schlug mit dem Kopf auf den Tisch, was sie nur einen Wimpernschlag später bereute. „Aua! Verdammt! Ah, nein, jetzt habe ich auch noch geflucht!“

„Hier“, warf die Frau ein und stellte ihr einen Teller hin, auf dem ein Frühstück serviert wurde, wie man es von fast jedem, gewöhnlichen Haushalt kannte: Brot, Eier und etwas Speck. Nur die grünen Kräuter waren ein netter Zusatz. „Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen und dir vor allem nicht selbst weh tun, sonst bleibst du noch länger mein Patient.“

„J-Ja. Und Danke.“

Anschließend saßen sie beide am Tisch, nur stocherte Stella bloß in ihrem Essen herum, ihre Gesellschafft dagegen ließ es sich schmecken. Diese hatte die Kapuze nicht mehr aufgesetzt, wodurch Stella wieder und wieder dazu verleitet wurde, einen Blick zu ihr rüber zu werfen. Sie war ihr durch und durch ein Rätsel. Außer, dass sie von ihr gerettet wurde, wusste sie gar nichts von dieser Frau. Dabei wüsste sie zu gerne ihren Namen.

Luna“, erhob ihr Gegenüber unerwartet das Wort. „Mein Name, den habe ich dir noch nicht gesagt.“

Überrascht fror sie erst in ihrer Bewegung ein und benötigte einen Moment Zeit, bis sie sicher sein konnte, sich das nicht nur eingebildet zu haben.

„Wow. Danke“, meinte Stella dann begeistert, sackte aber beschämt im Stuhl zusammen, als Luna amüsiert zu schmunzeln anfing.

„Sag mal, soll das ein Gesicht sein?“, nickte sie zu ihrem Teller rüber.

In der Tat hatte Stella unbewusst die Lebensmittel zu einem Gesicht zusammengeschoben, das lächelte. Schnell fing nun auch sie an zu essen. „Mmmh, köstlich!“

„Danke“, erwiderte Luna, nur sagte sie dies so eindringlich und glücklich, dass sie kaum das Frühstück gemeint haben konnte. Darum fragte Stella nach, wofür, immerhin hätte eigentlich vielmehr sie gute Gründe, sich zu bedanken.

Die Antwort, die sie darauf bekam, verwirrte sie nur umso mehr. „Dafür, dass du mich siehst.“

„Wie meinst du das?“

„Du interessierst dich doch für Hexen, oder?“, sprach Luna das Thema von sich aus an und legte das Besteck zur Seite. „Wusstest du, dass normale Menschen das wahre Ich von ihnen nicht sehen können?“

Erstaunt weiteten sich Stellas Augen. „Was?! Wie meinst du das?“

„Die Menschen können nur das falsche Bildnis einer Hexe sehen, solange ihr Herz auch nur ansatzweise mit negativen Strömungen gefüllt ist. Oder besser gesagt: Negative Eigenschaften. Und davon kann sich so gut wie niemand freisprechen. Jeder besitzt in irgendeiner Art und Weise Macken und Kanten, die in Bösartigkeit ausarten könnten, aber nicht müssen.“

„Ah, ich weiß, worauf du hinauswillst.“ Stella nickte verstehend. „Jeder Mensch besitzt sowohl eine gute, als auch eine böse Seite. Das richtige Zusammenspiel macht die perfekte Mischung aus.“

„Ja, schon. Aber das heißt auch, dass eine Hexe dazu verdammt ist, niemals wirklich gesehen zu werden. Menschen ohne jegliche negative Strömung gibt es nicht. Höchstens jene, die sie zwar in sich tragen, die positive Seite jedoch so stark ist, dass sie durch diesen Schleier durchblicken kann und auch solche Menschen sind selten.“

Neugierig beugte Stella sich vor. „Ich verstehe nicht ganz. Meinst du, dass sich jemand mit negativen Strömungen, wie du es nennst, nicht die Mühe macht, die inneren Werte zu erkennen?“

„So leicht ist das leider nicht“, seufzte Luna zutiefst bedrückt und ließ den Kopf hängen. „Die Menschen behaupten zwar immer, Hexen würden sie verfluchen, doch in Wahrheit ist es genau andersherum. Hexen sind diejenigen, die durch einen Fluch missverstanden werden. Dieser Fluch sorgt dafür, dass alles, was sie tun, in den Augen der Menschen als schlecht dasteht. Sie sehen nicht nur grässlich aus, sondern wirken vor den Leuten auch bedrohlich in ihrer Art wie sie sprechen und handeln. Es ist wie ein überzeugendes Trugbild, das die wahre Natur verschleiert und einfach alles und jeden denken lässt, sie wären ...“

Luna hielt inne. Schluchzend ließ sie den Kopf noch tiefer sinken und beende mit zitternder Stimme ihren Satz. „Das ist die Strafe.“

Vollkommen überrumpelt von dieser unfassbaren Information bezüglich Hexen, fiel Stella nach hinten in den Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. „Eine Strafe? Aber wofür denn?“

„Für ihre Existenz“, versuchte sie zu erklären, was ihr nicht sonderlich leicht fiel, da sie bitterlich zu weinen schien. „Hexen besitzen Fähigkeiten, die ein gewöhnlicher Sterblicher nicht besitzen dürfte. Darum ist alles, was sie ausmacht, eine Strafe. Angefangen von diesem Trugbild, das zur Abschreckung dienen soll, bis hin zur Unsterblichkeit, durch die die Einsamkeit eine unbeschreibliche Größe annimmt.“

Spätestens jetzt war Stella mit diesen Details überfordert. Eine Frage reihte sich an die nächste. Zu allem Überfluss rissen sie diese Worte emotional so sehr mit, dass auch ihr zum Weinen zumute war. Sie wusste gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollte, wählte dann jedoch der Punkt, der sie am meisten beschäftigte. „Moment mal, Hexen sollen unsterblich sein? Aber ich habe doch schon oft genug davon gehört, wie sie auf verschiedene Weisen hingerichtet wurden und ...“

Schlagartig kehrte ihre Erinnerung zurück. Hinrichtung. Genau. Man wollte sie hinrichten lassen. Die Hexe, die im Wald in der Nähe des Königreiches lebte, das Stella ihre Heimat nannte. Ein Trupp Soldaten sollte ausgesandt werden, um sie zu holen. Wenn nötig auch mit Gewalt. Lange hatte man sie ignoriert, aus Angst vor ihren Fähigkeiten und weil sich niemand sicher war, ob es sich nur um lebhafte Gerüchte handelte oder wirklich eine existierte.

Allerdings wollte man bald einen Handelsweg durch eben diesen Wald schaffen, um die Routen somit zu verkürzen. Dabei war die Hexe selbstverständlich ein Dorn im Auge. Darum sollte ein Trupp losgeschickt werden, um die Gegend gründlich nach ihr abzusuchen und sie hinrichten zu lassen, sollte es sie geben. Und es gab sie. Das wusste Stella. Es war ein Bauchgefühl. Eines, das so stark war, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Anfangs hatte sie vorschlagen wollen, loszuziehen und zu versuchen die Hexe von ihrer Boshaftigkeit zu reinigen. Als Priesterin zählte dies unter anderem zu ihren Aufgaben, auch wenn sie darin kaum Erfahrung hatte. In Wirklichkeit hatte sie die Hexe aber nur warnen wollen. Leider wurde ihr Vorschlag vehement abgelehnt und so hatte sie sich ohne entsprechende Erlaubnis auf den Weg gemacht.

Der Wald war groß gewesen. Sie hatte es unterschätzt. Viele Tage war sie unterwegs gewesen, ohne entsprechende Vorbereitungen, hatte sich verlaufen und diese Beeren gegessen, aus Hunger. Ja, jetzt fiel ihr das alles wieder ein. Die geplante Hinrichtung. Die Hexe.

„Oh nein!“, stieß Stella entsetzt aus und fuhr hoch. „Die Hexe! Ich muss sie warnen! Soldaten werden kommen um sie zu holen! Man will sie töten! Ich muss ...“

Ehe sie irgendetwas tun konnte, hatte Luna sie längst in einer sanften Umarmung eingeschlossen. Perplex stand Stella da und rührte sich nicht. Spürte die Wärme, die auf sie überging und dafür sorgte, dass sich ihr Körper in dieser Sekunde unglaublich leicht anfühlte.

„Ich weiß“, flüsterte Luna und umarmte sie noch stärker. „Du hast es im Schlaf gesagt, bevor ich dich behandelt habe. Während ich dich in meine Hütte brachte, hast du es wieder und wieder gesagt. Die Nachricht ist also angekommen.“

„Was?“ Eine Ahnung beschlich sie, die sie erst jetzt in Erwägung zog, nachdem ihre Erinnerung zurückgekommen war. „Sag mal ... steht deine Hütte im Wald?“

Sie nickte stumm.

„Du bist die Hexe?“

Sie nickte abermals ohne ein Wort.

„Warum ... bist du dann noch hier?“ Verständnislos wanderte ihr Blick nach oben zur Decke. „Wieso bist du nicht abgehauen, wenn du es doch wusstest?!“

„Weil ich dich dann hätte zurücklassen müssen und das wollte ich nicht. Du wärst gestorben, wenn ich mich nicht um dich gekümmert hätte.“

Stella biss sich auf die Lippen und kniff die Augen zusammen. „Dann musst du aber jetzt abhauen! Noch ist es vielleicht nicht zu spät!“

„Keine Chance. Sie sind schon im Wald unterwegs. Der Wind hat es mir verraten.“

In ihrer Stimme lag nicht die kleinste Spur von Angst verborgen. Keine Angst oder Sorgen, dass man sie erwischen könnte. Nichts. Stattdessen klang sie glücklich, was Stella nicht verstand. Stimmte es etwa, dass Hexen unsterblich waren? Aber warum hatte sie dann schon von so vielen Toten ihrer Art gehört? Warum blieb sie so gelassen? Warum floh sie nicht?

„Wenn sie dich hier im Wald finden, werden sie denken, ich hätte dich verflucht und werden dir mit Sicherheit etwas antun.“ Nach diesen Worten löste sie die Umarmung und sah Stella an. Ihr Gesicht war noch total nass und ihre Augen leicht rot unterlaufen vom Weinen, aber sie lächelte. „Es tut mir so leid. Ich habe hin und her überlegt, was ich tun könnte, finde aber immer nur eine Antwort: Ich muss sterben.“



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