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L'amour de Fayette

von

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Christmas Madness

Für viele ist Weihnachten so ziemlich die schönste Zeit des Jahres. Die Leute sind mit vollem Eifer dabei, ihr Haus so dermaßen mit Lichterketten vollzuhängen, dass man ernsthaft befürchten muss, einen epileptischen Anfall zu bekommen, wenn man zu lange auf das ganze Geblinke starrt. Bereits Ende September fängt der ganze Wahnsinn an. In den Supermärkten findet man Lebkuchen und anderes Weihnachtsgebäck, obwohl es meistens noch verdammt warm ist. So kam es zum Beispiel, dass ich bei knapp 25°C im Schatten unserer Veranda gesessen und genüsslich Zimtsterne gegessen hatte. Ja, es bietet schon einen mehr als seltsamen Anblick, bei Sommerwetter einen Typen wie mich zu sehen, der statt Eis einen Weihnachtsmann aus Schokolade verputzt. Ich frage mich sowieso immer wieder, wieso zum Teufel der ganze Kladderadatsch schon im September beginnen soll, ein Vierteljahr vor Weihnachten! Aber ich freue mich trotzdem jedes Jahr immer wieder darauf. Ich liebe den Geschmack von Zimt, Marzipan und Zartbitterschokolade, es schmeckt besser als diese Weihnachtsplätzchen, die in unserem Land produziert werden. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie haben wir Amerikaner nicht so wirklich Ahnung von Weihnachten. Bei uns zählt nur, wer seinen Garten und sein Haus am dekorativsten mit Lichterketten und Plastikmüll zugepflastert hat, die Shopper in den Einkaufszentren erinnern mehr an eine blutrünstige Zombieinvasion und es muss alles schnell gehen. Möglichst prunkvoll und übertrieben. That’s America, Ladies and Gentlemen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Europäer sind da etwas entspannter, vor allem die Deutschen. Sie scheinen sich nicht wirklich die Mühe zu machen, ihre Häuser mit so einem Schwachsinn zuzumüllen und sie feiern im engsten Familienkreis und müssen auch keinen gigantischen Gänsebraten servieren. Allerdings ist bei denen auch anzumerken, dass sie schon einen Tag vorher mit den Festlichkeiten beginnen. Für sie beginnt der Heiligabend schon am 24. Dezember, vorzugsweise am Abend. Hier bei uns beginnt man am Morgen des 25. Dezembers. Das ist leider meist ein großer Nachteil, denn die Europäer scheinen da ganz geschickt zu sein. Am 24.12. feiern sie nur in der Familie, wenn sie denn eine haben und haben das Geschenkeprozedere abgeschlossen. Danach können ganz entspannt die Verwandtenbesuche beginnen, die sie über die beiden anderen Tage verteilen. Bei uns gibt es das nicht. Wir müssen alles auf einen einzigen Tag quetschen und das bedeutet in den meisten Fällen Hektik ohne Ende. Von Festtagsstimmung ist da keine Rede, viel eher erinnert das Ganze an eine aufgeschreckte Hühnermeute im Stall, wo gerade der Fuchs reingekommen ist.

Bei meiner Mutter war das nie anders. Sie ging immer erst auf den allerletzten Drücker Geschenke besorgen, jammert jedes Jahr wegen der Hektik dabei und sagt jedes Jahr aufs Neue, dass sie beim nächsten Mal nicht wieder so spät losgeht. Im Grunde ist es wie in diesem Film „Täglich grüßt das Murmeltier“. Ich hab selber schon mal versucht, sie an ihren Entschluss zu erinnern, aber entweder hat sie nie Zeit oder sie sagt einfach, sie kriegt alles zeitig geregelt. Seltsamerweise hatte sie aber die Kurve gekriegt, nachdem Dad sie sitzen gelassen und mit dieser Masseurin oder der Flugbegleiterin (ich kann mich immer noch nicht so erinnern, vielleicht war es auch eine Friseurin) durchgebrannt war. Da bekam sie tatsächlich ein System rein und konnte Ordnung halten. Vermutlich lag es daran, weil sie beweisen wollte, dass sie keinen Kerl an ihrer Seite brauchte, um klar zu kommen.

Bei uns herrschte seit kurzem eine neue Tradition: da unsere Großeltern nicht mehr lebten und unsere anderen Verwandten nach Kanada ausgewandert waren und die Reise viel zu weit war, verbrachten wir den ersten Weihnachtstag unter uns. Einzige Ausnahme war Seth, mein bester schwuler Sandkastenfreund, den meine Mutter quasi adoptiert hatte, nachdem seine eigenen Eltern ihn wegen seiner homosexuellen Neigungen verstoßen hatten. Für sie als radikal Liberale stand fest, dass er an dem Tag nicht alleine feiern dürfe und so feierte er die Bescherung immer mit uns mit, schon seit seinem Coming Out vor fast zehn Jahren. Am zweiten Weihnachtstag luden wir unsere Nachbarn, nämlich die Wyatts ein. Diese waren ja auch gute Freunde und Jesse half uns oft genug mit irgendwelchen technischen Kleinigkeiten. Auf diese Weise wollte sich meine Mutter dann revanchieren. Aber es lief meist darauf hinaus, dass sich Jesse und Mum die Arbeit aufteilten, weil er es als Ehrensache ansah, ihr unter die Arme zu greifen und da standen sie dann gemeinsam in der Küche und er gab ihr als Koch ein paar hilfreiche Ratschläge. Seine Frau Charity machte das Dessert, während meine Schwester Babysitterin spielte. So ungefähr sahen unsere Weihnachtstage aus.

Dieses Jahr würde es aber etwas anders verlaufen, denn es hatten sich einige Dinge geändert. Da ich es ja schon vorher angemerkt hatte, wisst ihr es ja schon, dass ich inzwischen bei Rion wohne. Ja genau! Mr. Drecksarsch höchstpersönlich. Zugegeben, am Anfang hatte ich mich noch ein wenig geziert, es tatsächlich zu tun, immerhin fiel es mir manchmal noch schwer, ihn nicht mehr als meinen verhassten Peiniger, sondern als meinen Freund anzusehen, mit dem ich in einer Beziehung war. Er selbst sah das alles wie immer ganz locker und entspannt. Und als ich ihm sagte, dass ich wenigstens etwas an Miete beisteuern wollte, meinte er nur, dass ich als Student eh keine Kohle dafür hätte, außerdem wäre eine Miete völlig unnötig, wenn ihm das Haus gehöre und wir in einer Beziehung wären. Trotzdem war es mir schwer gefallen. Jedenfalls würde es dieses Jahr so aussehen, dass wir Weihnachten bei Rion verbringen würden. Seth wäre wie immer mit von der Partie und den zweiten Weihnachtstag würde Rion dann bei uns sein. Klang eigentlich gar nicht so schlecht, in der Theorie wohl gemerkt. Denn leider gestaltete sich die Praxis oft genug anders.
 

Meinem besten Freund Seth war überhaupt nicht nach Feiern zumute. Nein er sah eher so aus, als wollte er auf eine Beerdigung gehen. Und Schuld an allem war Raphael. Dieser verdammte Barkeeper aus dem Club Moonflower mit diesem Adoniskörper hatte ihn eiskalt abserviert, knapp zehn Tage vor Weihnachten! Als wäre das nicht schon schlimm genug, nein er hatte auch noch auf die wohl mieseste Art und Weise mit ihm Schluss gemacht, nämlich via SMS. Dieser verdammte Wichser hatte doch tatsächlich geschrieben:
 

Hey Seth,

ich glaub das klappt nicht mit uns. Ich mach mit dir Schluss.
 

Raphael
 

Was für ein verdammtes Arschgesicht. Der serviert meinen besten Freund fast zwei Wochen vor Weihnachten ab und das nur, weil er lieber eine lockere Beziehung wollte und keine Lust auf eine feste Partnerschaft mit eventueller Heirat wollte. Das hätte er wenigstens sagen können, aber nein, er schreibt einfach zwei Sätze auf dem Handy und damit ist Seth aus seinem Leben gestrichen. Seitdem ist mein bester Freund nur noch ein Häufchen Elend, sitzt in seinem Zimmer und ist nur noch depressiv. Aber kann man es ihm verübeln? Er hatte schon so oft Pech was Beziehungen betraf und wollte wenigstens ein Mal Glück haben. Und dann so etwas. Dagegen wirkt mein eigenes Dilemma, dass ich immer noch kein Geschenk für Rion habe, ziemlich nebensächlich. Zehn Tage… zehn Tage bis es soweit ist und ich habe immer noch keinen blassen Schimmer, was ich diesem Kerl bloß schenken soll. Ich hab ja auch zusätzlich den Nachteil, dass ich verdammt unkreativ bin, was Geschenke angeht.
 

Genervt seufzte ich, als ich die verschneiten Einkaufsstraßen langging und die Ladenschaufenster besah, die mit allerhand Weihnachtskram dekoriert waren. Mit großer Müh und Not hatte ich es heute endlich geschafft, fast alle Weihnachtseinkäufe zu erledigen und mir taten einfach nur die Füße weh, außerdem hatte ich das Gefühl, dass mir meine Ohren allmählich abfroren. Stundenlang war ich heute durch die Geschäfte gegangen und hatte es wie durch ein Wunder geschafft, die Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Dank meinem Job als Model neben der Uni hatte ich ja zum Glück genug Budget, um auch mal etwas mehr Geld auszugeben. Den Job hatte ich übrigens bei Rion, der nach wie vor großes Interesse an mir als Model hatte und da es ein Job war, bezahlte er mich auch und die Bezahlung war sehr großzügig, was aber auch daran lag, weil Rion halt reich war. So war es mir möglich, bei den Geschenken etwas höher vom Preis zu gehen und hatte Seth neue Kopfhörer für seinen MP3-Player und für Emily die ersten drei Staffeln von Game of Thrones besorgt. Für Mum hatte ich einen neuen Küchenmixer, nachdem ihr alter den Geist aufgegeben hatte. Doch obwohl ich ausnahmsweise mal konkrete Vorstellungen bezüglich der Geschenke hatte, war ich den halben Tag lang planlos durch die Gegend gelaufen. Und nun schneite es, ich hatte zig Einkaufstüten bei mir, die teilweise auch schwer waren und mir taten die Füße weh. Inzwischen war ich auch bis auf die Knochen durchgefroren und ich wollte einfach nur wieder zurück und mich aufwärmen. Dennoch war ich gefrustet. Ich war wirklich überall gewesen und habe nichts gefunden, was ich Rion hätte schenken können. Es war auch so verdammt schwierig, überhaupt ein gutes Geschenk für jemanden zu finden. Das war es auch, was ich an Weihnachten so hasste.

Da ich keine Lust hatte, den Rest zu Fuß zu gehen, beschloss ich, den Rest mit dem Bus zu fahren. Zum Glück gab es ja eine Bushaltestelle in der Nähe. Wenigstens ein kleiner Lichtblick an dem Tag. Nur leider war es immer so, dass es sich bei schmerzenden Füßen immer wie eine Ewigkeit anfühlte, bis man endlich sein Ziel erreicht hatte. Jeder einzelne Schritt war eine Qual und ich wollte mich einfach nur hinlegen und ausruhen.

„Fuck, meine Füße bringen mich um“, jammerte ich und quälte mich langsam die Straße entlang. Von weitem sah ich schon die Bushaltestelle, allerdings zweifelte ich gerade ernsthaft daran, dass es mir tatsächlich gelingen konnte, diese auch zeitig zu erreichen. Dennoch biss ich die Zähne zusammen und erinnerte mich daran, dass ich eh gleich die nächsten Stationen fahren würde und dann wäre Rions Haus sowieso nur noch ein paar Meter weiter weg. Also feuerte ich mich selbst im Geiste noch mal zusätzlich an und schaffte es endlich. Erleichtert setzte ich mich auf einem der Sitzplätze hin und konnte endlich die Einkaufstüten abstellen.

„Ah, Gott sei dank“, murmelte ich und war selten so froh, mich endlich mal setzen zu können. Noch dazu hatte ich Glück, dass die Bushaltestelle überdacht war, so war wenigstens alles frei von Schnee. Inzwischen war es längst dunkel und ein Blick auf mein Handy verriet, dass es bereits 19:20 Uhr war. Eigentlich wollte ich schon vor gut zwei Stunden wieder zurück sein. Wahrscheinlich wunderte sich Rion, wo ich denn so lange blieb, wenn er nicht sogar noch arbeitete. Kurz vor Weihnachten hatte er immer viel zu tun, da viele seiner Kunden gerne Fotoalben und dergleichen zu Weihnachten verschenkten. Es gab auch Paare, die gerne erotische Aufnahmen verschenkten und ich musste zugeben, dass mir das nicht sonderlich behagte, dass Rion nackte Leute ablichtete, andererseits war das ja auch sein Job und das ließ er sich auch nicht verbieten. Ich konnte mich damit anfreunden, indem ich mir einfach sagte „Besser ein Fotograf für Nacktaufnahmen, als ein Callboy oder Stripper.“

Aber trotzdem verunsicherte mich das oft, denn ich wusste selbst, dass ich nicht sonderlich der Hingucker war. Ich mit meinem androgynen Aussehen bin weder ein richtiger Kerl, noch eine richtige Frau, sondern eher so ein Zwischending und diese Komplexe führen selbst heute noch zu altbekannten Problemen. Deshalb sprach Rion auch nie darüber, da er wohl auch wusste, dass mir der Gedanke nicht gefiel, dass er nackte Leute fotografierte. Und seine Fotos bekam ich eh nicht zu Gesicht. Als ich mich bei Seth mal deswegen ausgejammert hatte, meinte der noch zu mir, dass ich Rion zu Weihnachten ein paar heiße Fotos von mir schenken könnte.

Die Idee hätte vielleicht etwas, allerdings hatte mich Rion schon oft genug nackt vor der Linse gehabt, weil ich seine Muse wäre. Also wieso sollte ich ihm denn Fotos von mir schenken, wenn er doch schon so viele davon hat? Und inzwischen sind ein paar von mir ja auch schon bei Ausstellungen gezeigt worden.

„Ähm, Entschuldigung?“

Ich hob den Blick und sah eine groß gewachsene junge Frau mit sehr langen blonden Haaren, lebhaften Augen und dezentem Make-up. Sie trug gefütterte Winterstiefel, eine hautenge Jeans und eine Daunenjacke mit einer Kapuze mit falschem Pelzbesatz. Sie sah sehr hübsch aus, vor allem die Beine waren der Hammer.

„Kannst du mir vielleicht sagen, ob diese Buslinie bis zur Chester Street fährt?“

Ich runzelte die Stirn, als ich diese Stimme hörte. Eine weiche, aber dennoch männliche Stimme, die so gar nicht zu diesem Aussehen passen wollte. Und erst beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass das keine Frau, sondern ein Mann war. Vermutlich ein Transvestit. So etwas gab es in einer Stadt wie Annatown ziemlich selten, immerhin war das hier keine Metropole wie New York City, Los Angeles oder Chicago. Äußerlich schien dieser jedenfalls nicht älter als ich zu sein, sondern eher jünger. Wahrscheinlich um die 21 bis 23 Jahre alt.

„Äh ja, der Bus fährt auch an der Chester Street lang. Du musst einfach an der Haltestelle Greenmill Avenue aussteigen und dann die erste Straße rechts rein, dann bist du in der Chester Street.“

„Ach Dankeschön. Ich komme mit diesen öffentlichen Verkehrsmitteln einfach nicht zurecht…“

Erleichtert atmete der blondhaarige junge Mann aus und setzte sich zu mir. Er hatte einen Rollkoffer bei sich und da er ziemlich teure Klamotten trug, vermutete ich, dass er wahrscheinlich aus der Großstadt kam und vielleicht Freunde oder Verwandte besuchen wollte, auch wenn das noch ein wenig früh war, denn bis Weihnachten dauerte es noch eine Weile. Naja, im Grunde genommen ging es mich ja auch nichts an. Trotzdem fragte ich nach.

„Kommst du nicht von hier?“

„Eigentlich schon, aber ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen und um ehrlich zu sein, bin ich nur zwei Male in meinem Leben Bus gefahren.“

Na das erklärte so einiges.

Schließlich reichte mir der Blonde zur Begrüßung die Hand und hatte dabei ein so fröhliches Lächeln auf den Lippen, als würde buchstäblich die Sonne in seinem Herzen scheinen.

„Ich bin Sunny Daylight, freut mich sehr.“

„Äh freut mich. Ich bin Fay Brightside.“

Der Name klang ein wenig merkwürdig und hörte sich fast nach einem Künstlernamen an. Trotzdem machte dieser Sunny einen sehr sympathischen Eindruck. Schließlich kam endlich der Bus und wir stiegen ein. Da es nicht viel Platz gab, setzten wir uns zusammen und aus reiner Neugier fragte ich ihn wegen des Koffers und erfuhr, dass Sunny jemanden besuchen wolle, da seine Eltern wohl über die Festtage nicht da wären und er keine Lust hatte, Weihnachten alleine zu verbringen.

„Außerdem wollte ich bei meinem Freund nach dem Besten sehen, da er die Feiertage auch ganz allein verbringt. Er sagt zwar immer wieder es geht ihm gut und er bräuchte keinen Besuch, aber ich habe jedes Mal ein schlechtes Gewissen. Also dachte ich mir, ich schau mal vorbei.“
 

Wir unterhielten uns die ganze Busfahrt über und beinahe hätten wir die Haltestelle verpasst. Ich verabschiedete mich von Sunny und wünschte ihm noch frohe Festtage, während ich mich auf den Weg zu Rions Haus machte. Wieder spürte ich, wie sich meine Füße rächten und beeilte mich deshalb umso mehr, endlich wieder zu ihm nach Hause zu kommen. Schon als ich bei ihm an der Tür stand und sie mit meinem Handy öffnete (es ist für mich immer noch sehr ungewohnt, in einem solchen eHome zu wohnen), sah ich im Flur zwei Kartons stehen, in denen sich Fotoalben befanden, die er fertig gestellt hatte. Aus dem Wohnzimmer tönte Musik und so ging ich nachsehen. Tatsächlich sah ich Rion am Tisch sitzen, der gerade an seinem Laptop arbeitete. So wie er aussah, schien er ziemlich vertieft in seine Arbeit zu sein, sodass er mich kaum bemerkte. Aber das war ich schon längst gewohnt von ihm. Wenn er viel zu tun hatte, dann konnte es sogar vorkommen, dass er nicht mal ein Erdbeben wahrnehmen würde.

„Hey Rion, ich bin wieder da!“

„Du kommst spät, Fayette“, stellte er fest, was zeigte, dass er doch merkte, was um ihn herum gerade ablief. Und er hatte offenbar auf die Uhrzeit geachtet. Nun überkam mich fast das schlechte Gewissen.

„Sorry, ich hab mit den Geschenken für Mum, Emily und Seth etwas länger gebraucht und meine Füße bringen mich um. Ich kann nicht mehr…“

Nachdem ich die Tüten abgestellt hatte, setzte ich mich aufs Sofa und zog meine Schuhe aus. Und wie sich meine Befürchtung bestätigte, hatte ich mir doch tatsächlich Blasen gelaufen. Na toll…

„Wie wäre es, wenn ich uns was telefonisch vom Asiaten bestelle? Ich hab leider noch viel zu tun und…“

Als ich sah, wie müde Rion war, tat er mir schon etwas leid. Leider wusste ich auch, warum er sich immer so in Arbeit stürzte, nämlich immer dann, wenn er Probleme hatte. Schon als der Todestag seiner verstorbenen besten Freundin Isabelle Templer gekommen war, da hatte er sich dermaßen übernommen, dass er beinahe zusammengebrochen war. Er war eben jemand, der sich in Arbeit flüchtete, um sich nicht mit seiner Trauer auseinandersetzen zu müssen. Und auch die Weihnachtszeit barg für ihn schlimme Erinnerungen. Es war die Zeit, wo sein kleiner Bruder gestorben war. Darum war es mein Job dafür zu sorgen, dass Rion ein wenig kürzer trat und versuchte, auch mal an etwas anderes zu denken. Also ging ich zu ihm hin und nahm ihn in den Arm.

„Rion, es ist nicht gesund, wenn du so viel arbeitest. Hinterher brichst du noch zusammen und darfst Weihnachten im Krankenhaus verbringen.“

Mit einem erschöpften Seufzer nahm Rion die Brille ab und rieb sich die Augen.

„Da kann man halt nichts machen. Vor Weihnachten bekomme ich halt viele Aufträge rein und die sind wichtig. Arbeit ist nun mal Arbeit.“

Wie ich es doch manchmal hasste, wenn er nicht zuhörte… Da hatte ich nicht selten Lust, ihm mal gehörig in den Arsch zu treten.

„Ich sollte dir zu Weihnachten echt mal eine Zwangsjacke stecken, damit ich sie dir anziehen kann, um dich dazu zu zwingen, auch mal an deine Gesundheit zu denken. Du bist aber auch echt ein sturer Esel.“

„Jetzt hör mit dem Gezicke auf, Fayette. Also was willst du zum Essen haben?“

Wie ich es doch hasste, wenn Rion nicht auf mich hören wollte. Manchmal konnte er aber auch ein uneinsichtiger Dickkopf sein, der meinte, er wüsste es besser. Und dabei blendete er komplett aus, dass ich mir verdammt noch mal Sorgen um ihn machte. Zwar liebte ich diesen Idioten, aber manchmal gab es auch Tage, an denen ich ihm am liebsten eine scheuern würde. Tja, da hatte sich seit dem offiziellen Beginn unserer Beziehung nicht viel geändert. Wir liebten uns, stritten uns aber dennoch immer wieder. Andere würden unsere Beziehung als eine Art Hassliebe bezeichnen und vielleicht lagen sie damit mal gar nicht so falsch. Aber das war halt die Art, wie wir unsere Beziehung führten. Er zog mich manchmal auf und ich antwortete ihm mit „Gezicke“. Zwar war das vielleicht nicht die gesündeste Art von Beziehung, aber wir beide waren halt sehr unterschiedliche Menschen und es fiel eben nicht sonderlich leicht, aus diesem alten Muster herauszukommen, in welchem wir beide jahrelang drin waren.

„Gebratene Nudeln mit Ente“, antwortete ich schließlich und ließ ihn wieder los. „Und wenn der Herr mich jetzt bitte entschuldigt, ich bin im Bad und verarzte meine Füße.“

Damit wollte ich gerade ins Bad gehen, da klingelte es auch schon an der Haustür.

„Ich gehe schon!“ rief ich und verließ das Wohnzimmer. Ich war mir sicher, dass derjenige, der geklingelt hatte, höchstwahrscheinlich Seth war. Seit ich bei Rion eingezogen war, kam er abwechselnd mich und meine Mutter besuchen. Insbesondere nachdem er sitzen gelassen worden war, brauchte er sicherlich jetzt jemanden zum Reden. Darum ging ich auch fest davon aus, dass Seth auch derjenige war, der gerade anklingelte. Doch als ich die Tür öffnete, stand Seth gar nicht vor mir, sondern ein anderes bekanntes Gesicht, welches mich in diesem Moment genauso überrascht ansah. Es war Sunny, der Blonde von der Bushaltestelle.

„Du?“ entfuhr es uns beiden zur selben Zeit und sofort warf Sunny die Frage „Entschuldige, aber wohnt vielleicht Rion hier?“ hinterher.

Doch ich war im ersten Moment viel zu perplex, um Antwort zu geben. Ich lernte an der Bushaltestelle einen Typen kennen, der zu Rion wollte? Und ich dachte immer, solche Zufälle gab es nur in Büchern oder Filmen.

„Äh ja“, murmelte ich zögernd und wusste immer noch nicht, wie ich das Ganze einordnen sollte. Vor allem weil mich folgende Fragen beschäftigten: wer war der Kerl, was wollte er von Rion und warum wusste ich denn bitteschön nichts davon? Wieso war ich denn nicht informiert worden? Schließlich aber hörte ich Schritte näher kommen und da tauchte auch schon Rion im Flur auf.

„Hey Fayette, wer ist da?“

„Besuch für dich“, antwortete ich, wobei diese Antwort eher automatisch bei mir ablief, da ich immer noch unter Schock stand, dass da ein blonder androgyner Kerl mit Rollkoffer vor Rions Haustür stand und zu ihm wollte. Was sollte ich da auch bitteschön sonst davon halten? Ich wandte mich fragend an Rion, doch dessen Aufmerksamkeit war ganz auf seinen Besuch gerichtet. Und als ich sah, wie seine eisblauen Augen aufleuchteten und die Lebensgeister wieder bei ihm zurückkamen, spürte ich, wie sich etwas in meiner Brust zusammenschnürte.

„Sunny!“ rief Rion und sofort drängte sich der Genannte an mir vorbei und umarmte Rion. Es hatte etwas so Vertrautes zwischen ihnen, fast schon als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Nun, für gewöhnlich hätte ich mich vielleicht nicht so aufgeregt. Immerhin begrüßte ich meine Freunde auf eine ähnliche Art und Weise und Rion machte deswegen keinen Aufstand, auch wenn er wusste, dass mein bester Freund am selben Ufer fischte. Doch was mich so wütend machte, war die Tatsache, dass Rion bis gerade eben noch nur über seiner Arbeit hing und kaum mit mir geredet hatte. Und kaum, dass dieser Kerl da vor der Tür stand, war er völlig aus dem Häuschen und umarmte ihn auch noch. Etwas völlig untypisches für Rion. Er war im Gegensatz zu mir jemand, der distanziert war und niemanden umarmte. Höchstens bei mir tat er das und das auch nicht allzu oft. Und jetzt? Jetzt umarmte er einfach diesen Typen, den ich überhaupt nicht kannte und wirkte so, als wäre dies gerade der schönste Moment in seinem Leben.
 

In diesem Moment spürte ich zum allerersten Mal die Eifersucht in mir. Und bei Gott ich hätte diesem Blondchen die Extensions einzeln ausgerissen, wenn ich nicht so eine enorme Selbstbeherrschung gehabt hätte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mor
2015-12-27T13:59:33+00:00 27.12.2015 14:59
^^ Ja Ja die Liebe Eifersucht ^^


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