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Gedanken

von

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Paradies

Als Light die Augen aufschlug, war alles um ihn herum schwarz. Es war jedoch ein anderes Schwarz, als das, welches nachts die Straßen einhüllte – es ließ sich nicht als Abwesenheit von Licht beschreiben, sondern eher als Abwesenheit allgemein. ›So, wie man sich das Nichts vorstellt‹, dachte Light. Wenn er sich umsah, konnte er die Größe des Raumes (?), in dem er sich befand, nicht abschätzen. Sehr wahrscheinlich besaß das Nichts auch gar kein Ende, weshalb Light davon abließ, den Ort näher auszukundschaften, in der Hoffnung, etwas zu finden. ›Dies ist das Nichts‹, rief der junge Mann sich in Erinnerung. ›Hier gibt es kein ‚etwas‘‹. Zunächst stellte Light fest, dass es allerdings einen Boden zu geben schien – zumindest stand er auf festem Untergrund, auch wenn sich keiner erkennen ließ. Der Blick nach unten zeigte nur unendliches, unergründliches Schwarz, und seine Füße, die in diesem Nichts Halt zu finden schienen. Offensichtlich war sein eigener Körper ebenfalls sichtbar. Light betrachtete seine Hände und stellte fest, dass sein Körper trotz der Dunkelheit sehr gut sichtbar war. Als wäre der Raum, in dem er sich befand, hell erleuchtet, doch selbstverständlich ließ sich keine Lichtquelle ausmachen. Light war das einzige ‚etwas‘ in diesem endlosen Nichts.

Es dauerte nicht lange, bis Light begann, sich zu langweilen. ›Mit Langeweile hat alles angefangen und damit endet es wohl auch‹, stellte Kira fast ein wenig belustigt fest. Er rief sich seine letzten Augenblicke als Lebender in Erinnerung – das Treffen mit Near. Allein der Gedanke daran bereitete ihm Kopfschmerzen. Sein Abgang war des Gottes, für den er sich hielt, mehr als unwürdig. »Du bist kein Gott!«, hörte er auf einmal Mikami rufen. »Du bist Abschaum!« Light sah die Szene wieder vor sich, jedoch als Außenstehender. Er beobachtete sich selbst dabei, wie er sich blutend auf dem Boden der Lagerhalle wand wie ein Wurm und verzweifelt nach Misa und Kiyomi schrie. Völlig fassungslos sah Light dann noch mit an, wie er Ryuk – seinen allerletzter Ausweg – anflehte. Hatte er sich tatsächlich an dessen Bein festgekrallt?, fragte Light sich und ihm wurde übel. Er sah die Reaktionen der anderen Anwesenden – Matsuda war der einzige, der auch nur einen Funken Mitleid für den jungen Massenmörder übrig zu haben schien. Aizawas, Ides und Mogis gefassten Gesichter machten Light krank. Noch schlimmer war jedoch Nears Ausdruck für ihn – wie konnte er den Tod Kiras nur so gleichgültig beobachten? Den Tod eines Gottes?

Sein eigenes Ableben noch einmal aus einer anderen Sichtweise zu durchleben hinterließ ein flaues Gefühl in Lights Magengegend. Ihm war furchtbar schlecht und er schämte sich schrecklich für das Bild, das er dort geboten hatte. Die Niederlage saß sehr tief – Light musste zugeben, dass Near tatsächlich auf ganzer Linie gewonnen hatte. Niemand in dem Raum war auf Kiras Seite gewesen – nicht einmal Matsuda, dem er gar nicht zugetraut hatte, dass er je an Lights Worten zweifeln würde. Sogar Mikami, sein treuer Untergebener, hatte seinem Glauben an Kira abgeschworen. Zweifel durchbohrten Light – wie konnte es dazu kommen? Was hatte er falsch gemacht, welcher Teil seines Plans ging schief? Es schien doch alles so gut zu laufen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er alle Störfaktoren beseitigen können. Lights Gedanken wanderten zu L, beziehungsweise Ryuzaki, seinem – so hatte Kira bis zuletzt angenommen – größten Gegner. ›Hätte... hätte er meinen Tod auch so teilnahmslos mit angesehen?‹, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm war bewusst, dass diese Gedanken völlig lächerlich und unnütz waren. Jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Kira hatte versagt.
 

Eine Weile lang passierte nichts. Light beschloss, ein wenig umher zu gehen, auch wenn er nirgendwo ankommen würde – einfach der Bewegung willen. Nach ein paar Minuten (glaubte Light) fiel ihm auf, dass er nicht nur seine eigenen Schritte hörte – da kamen auch Geräusche von irgendwo hinter ihm. Als Light sich umdrehte, um seinen Verfolger zu sehen, stand auf einmal L vor ihm, genau so, wie Light ihn in Erinnerung behalten hatte: Die schlechte Haltung, das wirre dunkle Haar, die viel zu große Kleidung, das Fehlen dieser an seinen Füßen und sein ausdrucksloses Gesicht, in das deutlich seine Insomnie geschrieben stand. Er stand einfach dar und starrte Light an, so wie er es immer zu Lebzeiten getan hatte. Zuerst konnte Light gar keinen klaren Gedanken fassen, dann sprach er den offensichtlichsten laut aus: »R-Ryuzaki, was machst du hier?« Er bekam keine Antwort. Light schluckte. ›Habe ich ihn etwa nur beseitigt, damit er mich nach dem Tod weiter verfolgt?‹ Als er die Frage erneut stellen wollte, riss L die Augen noch weiter als sonst auf, seine rechte Hand schnellte zu seiner Brust und klammerte sich in sein Shirt – dort, wo sich sein Herz befand. ›Ein Herzanfall?‹, dachte Light erschrocken und eilte zu dem Detektiven, fing ihn auf wie damals, 40 Sekunden, nachdem Rem ihn in ihr Death Note eingetragen hatte. Er hatte die Augen bereits geschlossen, sein Gesicht war jedoch schmerzverzerrt und nicht so friedlich wie das letzte Mal, als er in Lights Armen gestorben war. »H-hey, Ryuzaki... komm schon, wach auf. Du hast mir noch gar nicht erzählt, wieso-« Bevor der Satz beendet war, schlug L die Augen auf und betrachtete den Mann über ihm, als wäre er nicht vor wenigen Sekunden zusammengebrochen. »Es geht mir bestens, danke, Light-kun«, erzählte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme und stand auf. Auch Light erhob sich, noch etwas verwirrt vom Geschehen. Nach einigen Sekunden hatte er die jedoch Situation erfasst: »So ist das also – nach dem Tod lebt man in einem Konstrukt aus seinen eigenen Gedanken? Alles, was ich mir vorstelle, geschieht wirklich?« Light musste ein wenig lachen. »Ist es nicht so? Ich könnte mir das Paradies herbeiwünschen und es wäre hier«, exklamierte er und streckte seine Arme aus, wie er es oft als Kira getan hatte, »der Tod ist gar keine Strafe!« Überzeugt und selbstbewusst sah er zu Ryuzaki, der ihn nur ausdruckslos wie immer ansah. Für einige Sekunden war es still. »Ich kann aber kein Paradies entdecken, Light-kun«, erwiderte der Ältere schließlich, »ich sehe hier nur dich und mich.«
 

Eine lange Zeit saßen die Freunde Light und Ryuzaki – die Todesfeinde Kira und L – nebeneinander, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Irgendwann durchbrach der Jüngere die Stille, er fragte den Detektiven: »Warum bist du eigentlich immer noch hier?« Der Angesprochene schaute weiter geradeaus, während er erwiderte: »Das ist eine ziemlich dumme Frage, Light. So untypisch für dich.« Kira musste wieder an seinen Tod denken, als er sich an Ryuks Aussage erinnert fühlte: ‚Das ist armselig, Light. So untypisch für dich.‘ Wieder kehrten die Scham und das flaue Gefühl zurück. L erklärte weiter: »Du hättest doch wissen müssen, dass Ryuk dir niemals helfen würde. Deine Intelligenz war im Angesicht der Niederlage wie verschwunden.«

Light seufzte, »es macht keinen Spaß, sich mit dir zu unterhalten, wenn du sowieso nur meine eigenen Gedanken laut aussprichst.«

L schwieg einige Sekunden, bis er erwiderte: »Und doch bin ich hier«, und Lights Hand nahm. Dieser zuckte zusammen und entriss sich dem sanften Griff des Detektiven. »W-was soll das denn jetzt, Ryuzaki?! Lass den Mist!«, brachte der Jüngere stockend und etwas zu laut heraus. Er erntete jedoch nur einen wissenden Blick von dem Schwarzhaarigen, der wie so oft seinen Zeigefinger leicht gegen seine Lippen drückte, die sich zu einem kleinen Lächeln formten. »Mir scheint, du verdrängst einige deiner Wünsche, Light-kun«.

Dem Angesprochenen stieg etwas Röte ins Gesicht und er schlug hastig vor, schlafen zu gehen. Light glaubte, an dem Ort an dem er war, keinen Schlaf zu brauchen, aber trotzdem noch in der Lage dazu zu sein. ›Wie ein Todesgott‹, schoss es ihm durch den Kopf. Er fand sich in dem Schlafzimmer wieder, welches er und L gemeinsam genutzt hatten, als sie wegen den Handschellen ein Bett teilen mussten. Bei dem großen Bett kamen einige Erinnerungen und lang zurückliegende Gefühle hoch, doch Light gab sich Mühe, diese nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Auch die Frage, warum sein Unterbewusstsein ausgerechnet dieses Schlafzimmer zu präferieren schien, wollte der geschlagene Gott sich nicht stellen. Er legte sich einfach in das Bett, mit dem Rücken zur anderen Seite, die für Ryuzaki vorgesehen war. Zu Lebzeiten hatte Light den Älteren so gut wie nie schlafen sehen, meist saß dieser in seiner hockenden Position im Bett und arbeitete weiter an seinem Laptop. Dies führte so gut wie jede Nacht zu Diskussionen, da der Jüngere durch das schlaffeindliche Licht und unregelmäßige Tippen immer lange wach lag. In dieser Welt legte L sich jedoch gleich zu ihm und bevor Light sich versah, spürte er, wie Ryuzaki sich ihm zugewendet an ihn drückte, sogar einen Arm um seine Taille legte. Kira konnte die Wärme seines Feindes an ihm spüren, sein wirres Haar kitzelte seinen Nacken. Der Detektiv nahm schließlich auch die Hand des Massenmörders und verschränkte ihre Finger ineinander. Bald spürte Light eine seltsame Wärme in seinem ganzen Körper und registrierte, wie sein Herz schneller als sonst schlug. Aus jeder Stelle, an der er Ryuzaki spüren konnte – sein regelmäßiger, warmer Atem sowie seine Haare an Lights Nacken; sein Rücken, an dem die Brust des Älteren sich ruhig hob und senkte; der Arm, der auf seiner Taille ruhte und ihre Hände – ging ein seltsam angenehmes Kribbeln aus. Light wusste nicht, wie er diese Situation interpretieren sollte, doch er ertrug es.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Cyberschaf
2016-09-05T14:41:06+00:00 05.09.2016 16:41
Wooow...!
Ich bin gerade auf deine FF gestoßen... und finde sie toll! Ich mag deinen umfangreichen Wortschatz total..
Und du hast die Charaktere mit deiner Wortwahl einfach 1 zu 1 (oder wie L sagen würde... zu 99,99%) getroffen :D
Gratuliere dir dafür.. hehe.
Ist zwar schon etwas her, dass du deine FF hochgeladen hast, aber hoffe, dass dich mein feedback trotzdem freut. Dieses Kapitel hat es nämlich auch verdient. Mach weiter so :) LG


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