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Der Himmel läuft rot an …

von

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die ferne wird greifbar


 

Zimmer ohne Zeit

ich bin noch ziemlich klein, als ich merk': mir geht das ticken auf den geist | jede uhr wird an wände geschmissen bis sie schweigt | in mein kinderzimmer schleicht sich kein ziffernblatt mehr ein | hier bin ich frei

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[JUSTIFY]Der Sekundenzeiger bewegte sich wild im Kreis, rasant drehte er seine Runden über das Ziffernblatt hinweg und zuckte hart unter seiner Rastlosigkeit, doch die Minuten standen still, trostlos in ihrer Sprachlosigkeit und kein Hauch von Leben bewegte ihren zu langen Zeiger, nicht ein Mal. Die Zeit stand wie in die Bahnhofsuhr gemeißelt fest, das Gleis war eine Zone klebriger Trägheit, der keine Uhr entkam. Selbst die Luft in seinen Lungen diente nicht mehr als Zeitmesser, nur noch als Zwang zum zeitlosen Fortbestand. Für die Bahn war Zeit ein Auslaufmodell; hatte sie die Endlichkeit der Zeit – die Wiederkehr des Messias – endlich erreicht? Stillstand und Ewigkeit waren nicht deckungsgleich. Wieder sah er auf die Uhr: die an seinem Bahnsteig, die an seinem Handgelenk, die auf seinem Handydisplay. Nur weil die Zeit kaputt war, würde er nicht seinen Zug verpassen, auf den er so dringend wartete. Aber die Zeit zeigte sich unversöhnlich auf 7 Uhr 4 eingeschweißt, ein Boykott getragen von allen Geräten. Behandelte er sie nicht gut genug? Wertschätzung, Bezahlung und Achtsamkeit. Die Lieder in seinen Kopfhörern gingen weiter, summten, sangen und trällerten über die Tonleiter, trotzdem saß Warten unbewegt neben ihm auf der Bank.[/JUSTIFY][JUSTIFY]In den letzten Wochen und Monaten hatte er gelernt, Warten zu tolerieren, doch akzeptieren fiel ihm nach wie vor schwer; es zu ignorieren, wenn er wieder in eine Sinnkrise fiel; es zu hassen, wenn gar nichts anderes mehr half. Im Sommer wurden die Tage endlich wieder länger, vor Wochen hatte die Zeitumstellung alle verwirrt – erlebte er hier einen letzten Reflex? – zum Glück dachte sein Handy selbständig mit, aber auf mehr Zeit zum Warten verzichtete er gern. Da schrieb er gestern noch eine SMS, weil er sich so auf ihr Treffen freute, nur wusste er nicht, wie er das sagen sollte. Eine Antwort erhielt er natürlich nicht. War die Absage bloß nicht bei ihm angekommen? Egal, er würde jetzt fahren. Sobald der Zug käme. Das Ticket brannte seit Wochen ein Loch in sein Portemonnaie und billig war eindeutig anders; sein Mangaregal musste darunter leiden, denn kurze 350 Kilometer kosteten so viel wie sieben Bände. Früher hatte er noch in Zigarettenschachteln gerechnet, doch sei einigen Jahren gewöhnte er sich das Rauchen ab. Obwohl er bei diesem hohen Frustrationslevel am liebsten eine Zigarette nach der anderen qualmen würde, ungeachtet der Schachteln und Euros, die solch ein Verhalten verschlang. Das ständige Warten auf Lebenszeichen und auf Zustimmung zu ihrem Status, der für ihn stets unsicher in der Luft hing, zermürbte seine Lungen längst ohne Qualm und Teer. Jahrelange Konditionierung gewann auf ganzer Linie.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Wieder sah er auf die Uhr, alle drei, doch keine Veränderung an der Zeit. War er hier in einem Loch der Relativitätstheorie gefangen? Die Physiker seiner Universität müssten vor Freude Purzelbäume schlagen und nachts aufgeregt wachliegen vor dem nächsten Experiment am Bahnhof. Heureka und Bazinga. Bei dem Gedanken überkam ihn glatt ein Gähnen. Natürlich hatte er in der vergangenen Nacht wenig geschlafen, bloß nicht übertreiben: kein Auge hatte er zugetan. Aufregung, Unsicherheit, Freude, Angst, Abenteuerlust und Beklemmung sangen schlechte Schlaflieder. Wieder Momente, wo er seinen Kopf nur wenig mochte, malte sich dieser doch ständig ungefragt die schrecklichsten Augenblicke und Reaktionen aus. Eigentlich war seine Einstellung zum Leben naiv-optimistisch, nur mit Menschen hatte er seine Probleme. Sollte er mit einem anderen Mann in Kontakt treten, brach in ihm komplett verwirrtes Urchaos aus. Was sollte er sagen? Wo sollte er seine Hände hinstecken? Musste er hin- oder wegsehen? Wie bekundete er Zuneigung, ohne sich vollständig als Idiot zu entblößen? Woran erkannte er, ob der andere ihm auch zugetan war? Oder eben auch nicht? Warum war Zwischenmenschlichkeit nur so schwer? Und wie zur Hölle und in Gottes Namen schafften andere Menschen erfolgreich in Beziehungen miteinander zu treten? Das war ihm ein Buch mit sieben mal sieben Siegeln. Die Antwort auf alles war 42, nur nicht mathematisch.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Für seinen Alltag war dieses Rätsel nicht weiter von Bedeutung, immerhin kannten und akzeptierten seine Freunde ihn mit all seinen Macken und manch liebevollem Necken. Alle möglichen Bekanntschaften über dieses Level hinweg, gar romantisch, waren ihm nicht weiter wichtig. Alles kam genau so, wie es sein musste, glaubte er fest.[/JUSTIFY][JUSTIFY]War dies nun besagter Moment? Die Unwissenheit war noch schlimmer als das Warten, nur nicht so laut. Er war aus idealistischen Motiven Student, weil er mehr über die Welt wissen, seine Umwelt bis in jedes Detail verstehen wollte. Akute Unwissenheit tat ihm körperlich weh.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Lautsprecher knarzte, hoffnungsvoll lauschte er der Stimme – sagte sie endlich an, dass sein Zug einfuhr? „Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt am Bahngleis stehen.“ Würde sein Zug endlich kommen, müsste weder sein Gepäck noch er am Bahngleis stehen. Warten. Die Fahrt selbst wäre noch lang genug und voll mit Warten. Fünf Stunden würde er mit drei verschiedenen Zügen fahren, also mehr als genug Zeit für die ein oder andere Nervenkrise. In der Verteilung lag die Kraft. Wie hieß das physikalische Gesetz noch gleich? Unwichtig. Fünf Stunden fuhr er, um jemanden zu treffen, den er nicht kannte und dennoch mochte. Sein Kopf sagte ihm, was für eine ungeheuer blöde Idee das eigentlich war, doch sein Gefühl freute sich einfach von jedem Einwand befreit. In fünf Stunden, er konnte es nicht deutlich genug betonen, würden sie sich endlich sehen und seine größte Angst war, dass die Sympathie, die in seinen Fingern kribbelte, an der Realität scheitern würde. Was sagten ein Dutzend SMS schon aus? Er selbst mochte schriftliche Kommunikation, denn sie erlaubte Nachdenken und Abwägen, erlaubte Formulierungsalternativen auszuprobieren und milderte die spontane Äußerung ab. Auf der anderen Seite mussten viele Signale wie Lachen, Betonung und Mimik anders ausgedrückt werden und das konnte zu Problemen führen. Am Ende war auch er ein Fan von langen, vielfältige Themen berührenden Gesprächen auf einem gemütlichen Sofa. Lagen 350 Kilometer zwischen einem, stieß man – im Moment er und sein durchgewühltes Inneres – auf gewisse Schwierigkeiten. Entweder man nutzte die modernen Formen von Kommunikation voll aus oder dieses andauernde Nicht-Sagen machte ihn noch wahnsinnig. Wenn es ganz heftig an ihm zehrte, lenkte er sich mit Musik ab, denn vollkommen verzweifelte oder nach Klette klingende Nachrichten wollte er nicht senden. Er hatte auch so etwas wie Stolz.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Manchmal fragte er sich, ob er der einzige Mensch mit solchen Gedanken war? Vermutlich nicht, immerhin hielt er sich nicht für so unglaublich besonders unter den sieben Milliarden – eine Zahl mit neun Nullen – Menschen, dass alles an ihm singulär und einzigartig wäre. Vielleicht war die Kombination ausgesprochen selten, würde erklären, dass er noch nicht jemanden wie sich selbst getroffen hatte, aber die Einzelteile mussten auch in anderen Menschen vorkommen. Irgendjemand auf dieser weiten Welt kannte die Bürde dieser Gedanken auch. Er bezweifelte jedoch, dass es Kyle in diesem Moment ähnlich erging wie ihm, dann würde sich dieser sicher anders verhalten. Ob Kyle vielleicht bereute, ihn eingeladen zu haben? Auch ihm musste doch offensichtlich sein, was für eine bodenlos dumme Idee ihr Treffen werden konnte, immerhin hatte er drei Tage lang eine fremde Person in seiner Wohnung – laut einer SMS sogar im gleichen Bett! – das konnte bloß schiefgehen. Von dem wenigen Austausch zwischen ihnen jedoch glaubte er das eigentlich nicht, Kyle machte nicht den Eindruck, als wäre er eine Person, die leicht bereute. Er schien sicher und selbstbewusst. Ob er öfter einfach Fremde zu sich einlud? Hoffentlich erkannte er Kyle überhaupt, kannte er ihn doch bloß im Cosplay. Das Whatsapp-Foto von Kyle in der Badewanne zählt nur bedingt, so viel Schaum machte jede Identifizierung durch Laien unmöglich. Ein FBI- oder Facebook-Programm zur Gesichtserkennung war kein Maßstab.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Überhaupt: In einem Bett schlafen? Hatte er das wirklich richtig gelesen? Er hasste es, sich ein Bett mit jemand anderem teilen zu müssen. Er wusste nie, wie er liegen sollte, ob er sich bewegen konnte und an Schlaf war sowieso nicht zu denken. Dabei half es ihm nicht ein Stück weiter, dass er alles andere als kuschelig war. Er war seinen Freiraum gewohnt, nicht nur im übertragenen Sinne. Kuscheln war ihm ein Graus; viel zu aufdringlich und zu viele unnötige Berührungen. Er wusste, dass dies nicht gerade für Pluspunkte auf seinem Konto Wie geeignet für eine Beziehung bin ich? sorgte. Das würden anstrengende drei Tage werden … Trotzdem freute er sich. Er freute sich wirklich.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Leise seufzend schloss er die Augen und konzentrierte sich auf die Hip Hop-Musik in seinen Kopfhörern. Es würde schon schief gehen, redete er sich zuversichtlich ein. Wenn er sich jetzt verrückt machte, war das auch nicht sinnvoll, immerhin lagen noch fünf Stunden Reise vor ihm. Mit dezenter Hoffnung sah er auf die Uhr: 7 Uhr 4. Immer noch. Das konnte doch gar nicht sein! Zeit war also nicht nur relativ, manchmal zog sie sich wie ein alter Kaugummi. Oder war das sogar das Gleiche? Er streckte der Zeit einfach wie Einstein die Zunge raus. In seinen Fingerspitzen juckte die Frustration nach einer Zigarette. Standhaft bleiben; leichter gesagt. Missmutig wanderte er ein paar Runden um die Bank und sein Gepäck, manchmal soll Bewegung helfen. Wieder knarzte es in den Lautsprechern, noch so eine dämliche Ansage? „Vorsicht an Gleis Eins, der Zug nach R fährt ein.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Überrascht, richtiggehend geschockt, sah er auf. Das konnte gar nicht sein, es war doch erst … Es war soweit, sah er auf seiner Uhr: 7 Uhr 10, seine Abfahrtzeit. Endlich war es soweit! Bald würde er ihn endlich wiedersehen, nur noch fünf Stunden. Er schulterte seine Reisetasche und, nachdem der Zug eingefahren war, stieg er ein. In dieser Herrgottsfrühe fuhr fast niemand und er sicherte sich einen schönen Platz am Fenster. Die Sonne schien fröhlich über den Bahnhof und er fühlte das Grinsen auf seinen Lippen. Nur noch fünf Stunden; eigentlich fünf Stunden und dreißig Minuten, aber positives Denken war derzeit en vogue und gut waren nicht einmal fünf Stunden.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Der Zug fuhr ab.[/JUSTIFY]

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Stille

lass los und ich schweb' so leicht, von der erde gelöst und frei | steig' weit über tausend meilen, tauch' ein zwischen raum und zeit | licht scheint, alles rauscht vorbei, wie ein hauch von unendlichkeit | alle sterne für mich allein

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[JUSTIFY]Seit zwei Stunden saß er in seinem Zug – in seinem ersten von drei Zügen – auf dem Weg zu Kyle und seit mehr als anderthalb Stunden hatte er dieses nervöse und nervige Zucken in seinem Bein. Es wollte einfach nicht ruhig stehen bleiben. Jetzt gab es kein Zurück mehr, er war unaufhaltsam auf dem Weg immer Richtung Kyle. Vor dem Fenster flog die Landschaft in grünen Schlieren, die sonst Felder, Büsche und Bäume waren, dahin und zwischendrin immer wieder ein paar Häuser, manchmal auch ein Halt in einer Stadt; dann waren sie wieder auf dem Weg. Der Zug fuhr immer weiter und zwang die Zeit aus ihrem Stillstand, sie musste fließen, wenn auch zäh und widerwillig. Das Ende dieser elenden Warterei war in Sicht. Keine fünf Stunden mehr, nur noch drei. Das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand nicht mehr, es war wie festgewachsen. Sie würden sich treffen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Ob sie immer noch so sympathisch einander gegenüber waren wie bei ihrem ersten Treffen, oder würde sie die Realität einholen? Realität konnte so ein hässliches Wort sein.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Vor drei Monaten hatten sie einander auf einer Convention gesehen, Kyle in einem guten und glaubwürdigen Zoro-Cosplay, das er einfach hatte fotografieren müssen. Wie der Zufall es wollte, verbrachten sie ihre Pause zusammen, teilten Reiskekse, redeten über Conventions und Cosplays und Animes – worüber man sich in diesem Umfeld eben unterhielt. Er konnte diese Szene nur mit einem Ausdruck beschreiben: unheimlich sympathisch. Nach der Convention fand er Kyle und sein Cosplay auf Animexx und schrieb ihn witzig sowie ungezwungen an. Mittlerweile war er zu der festen Überzeugung gelangt, Kyle hatte diesen Eintrag nie gelesen. Sich für diesen Kerl Mühe zu machen, schien vergebene Liebesmüh zu sein. Er konnte dennoch nicht anders. Die folgenden sieben Tage waren der Horror gewesen, Warten auf eine Antwort. In dieser Zeit hatte er gelernt, Warten mit aller Inbrunst zu hassen. Fast hätte er aufgegeben, dann allerdings brachte ein verhängnisvoller Sonntagabend Erleichterung, nämlich die Antwort: Achso, ja, du bist das! Klar daran erinner ich mich, kamen gut ins Gespräch. Cool dass du schreibst.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er wünschte sich, die Geschichte würde seit jenem Sonntag wie eine billige Fanfiction verlaufen: mit häufigen ENSen, ausgedehnten Skypechats und so manchem Telefonat voll pubertärem Anschmachten. Leider – oder gottlob? – war sein Leben keine Fanfiction und er war auch kein pubertärer Teenager mehr, obwohl er sich Kyle gegenüber meist so fühlte. Nie wusste er, was er ihm schreiben sollte oder wie er Kyles Antworten zu interpretieren hatte. Ob sie das Wochenende wohl schweigend verbrächten? Wie ging Flirten? Konnte man diese Absichten subtil aber deutlich in einer SMS schreiben? Wie brachte man jemanden dazu, einen zu mögen? Besonders wenn man sich selbst für recht langweilig hielt. Wie oft durfte man jemanden anschreiben, bevor man wie eine Klette aussah? Ab wann musste man aufhören nachzulaufen? Wie oft sollte man sich zwischen schweigender Gleichgültigkeit und lautem SMS-Leuchtfeuer hin- und herwerfen lassen? Kam es ihm nur derart schwierig vor oder war es das mit Kyle tatsächlich? Er wusste bereits seit zu vielen Wochen nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Mal schrieben sie einander intime Wünsche und dann schwieg Kyle abrupt für eine gefühlte Ewigkeit. War er zu früh zu tief ins Detail gegangen? Was erwartete Kyle von ihrer Bekanntschaft? Selbst mit ihm zu schreiben fühlte sich anders an: vertraut, verständnisvoll, verlässlich. Bildete er sich das nur ein? Einbildung gehörte zu seinen besonders ausgeprägten Stärken.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Eigentlich gingen einem Treffen mit einer Bekanntschaft aus dem Internet bei ihm für gewöhnlich mehrere Jahre praktisch täglicher Kommunikation voraus. Spontan in den Zug zu steigen und einfach zu jemandem zu fahren, den er im Prinzip nicht kannte, fiel ihm gar nicht ein. Eigentlich. Bei seinem letzten Einkauf hatte er wohl nur die schlechten Ideen erwischt. Allerdings waren diese normalen Freundschaften nicht derart von einem Treffen abhängig wie ihre nur zäh wachsende Bekanntschaft. Für Kyle war nur Kommunikation von Angesicht zu Angesicht wertvoll, alles andere blieb in seinen Augen eine schlechte und störanfällige Kopie. Natürlich verständlich und ein bisschen richtig, trotzdem standen 350 Kilometer zwischen ihnen – sie waren auf digitale Gespräche angewiesen. Manchmal starrte er wartend und zunehmend frustriert sein Handy an, doch es klingelte nie. Plötzlich erschien es schwierig seine Wünsche auszusprechen. Wie würde der andere auf seine sonst direkte und manchmal brüske Art reagieren? Er wollte ihn nicht vergraulen. Obwohl Kyle nicht gerade den Eindruck machte, als ließe er sich leicht verschrecken. Nach nur drei ENSen gab er seine Handynummer heraus und zwar an einen praktisch Fremden. Noch so eine Idee mit Vollmeise.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er brauchte so dringend wie seit Jahren nicht mehr eine Zigarette. Ob sein Bein dann endlich wieder stillstünde? Daran hegte er erhebliche Zweifel und außerdem übte er sich in Abstinenz, auch daran hegte er langsam erhebliche Zweifel. Ablenken, das könnte vielleicht helfen. Er holte sein Handy aus der Hosentasche und wollte bereits seiner besten Freundin eine Nachricht schreiben. In den letzten Monaten hatte sie seinem Frust und seinen Klagen zuhören müssen und hätte sicher auch jetzt ihren altklugen und unhilfreichen Ratschlag zur Hand: Geduld. Dieses Worte konnte er nicht mehr hören, jetzt jedoch wünschte er sich solche Unterstützung und würde sie nicht bekommen: kein Netz. Verflucht sei Technik![/JUSTIFY][JUSTIFY]Jetzt fing das andere Bein ebenfalls an zu zittern.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Die Uhr sagte 9:32. Halb zehn in Deutschland, natürlich gehörte Knoppers dieses Mal nicht zu seinem Reiseproviant. Normalerweise fuhr er wesentlich später am Tag, wenn es zu Weihnachten wieder einmal nach Hause ging, und hatte entsprechend schon lange kein Frühstück mehr zur Verköstigung bei sich. Wäre sowieso vergebens, zum Essen war er viel zu aufgeregt. Leider stellte sich die Strecke von ihm nach Kyle für die Bahn als ein mittelschweres Desaster heraus, sodass die beste Verbindung drei Züge benötigte und über eine Stunde länger als die Autofahrt dauerte. Fast wäre es günstiger, wenn er sich ein Auto mietete. Aber kein Hemmnis war groß genug, als dass er es nicht überwinden würde, auch keines namens viel Zeit. Wozu waren Bücher erfunden?[/JUSTIFY][JUSTIFY]Trotzdem starrte er nur aus dem Fenster, sah den grünen Schlieren nach, wie sie am Zug vorbeirasten, und hörte dem Hip Hop in seinen Kopfhörern nicht zu. Noch drei Stunden und acht Minuten.[/JUSTIFY]

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* * *

 

aber wie soll ich nur daran denken | nie wieder an dich zu denken | bin so hoch geflogen, hab' alles von oben gesehen | und geglaubt, dass es ohne dich geht | doch die stille hat deine stimme, deine stimme | doch die stille hat deine stimme, deine stimme

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[JUSTIFY]Heiß schien die Sonne auf den Bahnhof, das Dach über dem Gleis spendete zwar Schatten, änderte dennoch nichts an der viel zu warmen Luft. Endlich wartete er auf seinen letzten Zug, bisher hatten alle Anschlüsse reibungslos geklappt. Es war bereits 12 Uhr 3, also dauerte es nur noch eine gute halbe Stunde, bis sie sich endlich wiedersähen. Noch immer stand das Lächeln auf seinen Lippen und er summte leise das Lied mit, welches in seinen Kopfhörern spielte. Bald. „Vorsicht an Gleis Fünf, der Zug nach H fährt ein.“ Es tat unsagbar gut, endlich den Namen von Kyles Heimatstadt zu hören.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Mit leichtem Herzen schulterte er seine Reisetasche und stieg mit den anderen Fahrgästen in den Zug ein. Unweit von der Tür suchte er sich einen Sitzplatz, er würde sowieso bald wieder aussteigen. Bald.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Eine dunkle Stimme unterbrach das laufende Programm in seinen Kopfhörern und sang mit Pathos: I belsoli-ui soli, belsoli-ui soli-ibnida. Seodulleo jeonhwa-e eungdabhabnida. Sein Klingelton für Anrufe aller Art forderte dazu auf, endlich ans Telefon zu gehen. Er fand es ziemlich witzig, im Moment jedoch überforderte es ihn. Konnte er mit Kopfhörern an sein Telefon gehen? Oder sie vielleicht noch ausstecken? Das Handy war neu in seinem Besitz und sowas war ihm bisher mit noch keinem seiner Handys passiert. Eilig holte er das Gerät aus seiner Hosentasche, nahm die Kopfhörer ab und löste ihre Kabel aus der Klinkenbuchse. Er hob ab: „Ja?“ Hatte er wirklich Kyles Namen auf dem Display gelesen? Stille. Hätte er die Kopfhörer eingesteckt lassen sollen? Er sah sich sein Display an, aber es war schwarz. Er hielt das Telefon wieder an sein Ohr: „Ja, hallo?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Yohan, Hörst du mich?“, kam es von der anderen Seite.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Er nickte: „Ja, ich hör' dich.“ Er hörte ihn sehr gut. Diese Stimme war wie Schokolade fürs Ohr: dunkel und süß-herb.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Wann kommst du an? Wo bist du gerade?“, fragte Kyle.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich sitz' im letzten Zug.“ Er hasste Telefonieren, antworten fiel ihm grundsätzlich schwer. War die Pause sein Einsatz oder nur die Atmung des anderen? Hörte er die Worte richtig? Er war ein sehr visueller Hörer, gerade bei Stimmen, die er nicht kannte. Kyle gehört leider dazu.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Also bist du um 12:40 hier?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ja.“ Noch ein Problem für das Telefon: Er fasste sich gerne kurz und für ihn konnte auch ein Wort einen ordentlichen Satz bilden. Aber ohne Mimik schien es anderen schwer zu fallen, seine Kürze nicht als Desinteresse oder geheime Ablehnung zu verstehen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Hast du Hunger?“, fragte Kyle weiter.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Diese Worte würde er immer heraushören und erkennen. „Oh ja. Ich hab noch nicht gefrühstückt.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Gut, willst du auf dem Weg was essen oder soll ich Zuhause was kochen?“[/JUSTIFY][JUSTIFY]Kyle konnte kochen? Oder wäre das die berühmte Pizza im Backofen? „Was schneller geht“, schlug er vor, um die andere Frage nicht stellen zu müssen. Das erschien ihm unpassend.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Dann essen wir was auf dem Weg zu mir und kaufen danach fürs Wochenende ein“, plante Kyle.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Okay“, stimmte er zu. Kyle schien offenbar einen Kopf fürs Praktische zu haben. Eine gute Eigenschaft.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Ich hol' dich dann am Bahnhof ab. Bis gleich.“[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Bis gleich“, verabschiedete er sich. Stille. Er nahm sein Handy vom Ohr und blickte auf das Display, welches jetzt anzeigte, dass sein Gespräch mit Kyle eine Minute und neunzehn Sekunden gedauert hatte. So viel Zeit musste man sich wohl nehmen, selbst in ihrer schnelllebigen Gesellschaft heutzutage.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Zeit war eine merkwürdige Naturgewalt, empfand er, denn die letzten dreißig Minuten flogen mit den grünen Schlieren der Bäume und Büsche nur so dahin. Deutschland war ein wunderbar grünes Land. Pünktlich erreichte der Zug seinen Zielbahnhof, Stadt H. Er stieg aus, ging über das Gleis zur Treppe, welche hinunter in die Bahnhofshalle führte. Kein Kyle in Sicht, schaute er sich um. Oder erkannte er ihn einfach nicht? Die Bahnhofshalle war klein, beherbergte trotzdem einen kleinen Buchladen. Er liebte Buchläden und in jedem Bahnhof musste er sich etwas kaufen und manchmal lagen dort wahrlich Schätze. Einmal auf dem Bremer Bahnhof war er über einen Comic mit seinem Lieblingsmusiker gestolpert. Er hatte nicht einmal gewusst, dass über diesen ein Comic existierte! Dieser Buchladen in H jedoch wartete nicht mit solch einer Überraschung auf und im Grunde hatte er dafür weder den Kopf noch das Geld. In der kleinen Halle stand ebenfalls kein Kyle. Er verließ die Halle und stand draußen vor den Türen, gegenüber breitete sich ein Busbahnhof aus und neben dem Eingang verschwendete eine Gruppe Jugendlicher ihre Zeit. Kein Kyle. Nun stutzte er wahrlich. Hatte er ihn verpasst? Aber dieser Bahnhof war klein und besaß nur diesen einen Ausgang.[/JUSTIFY][JUSTIFY]Wie sich herausstellte kam Kyle sechs Minuten zu spät. Natürlich erkannte er den anderen sofort. Es war merkwürdig, wie leicht man einen fremden Menschen erkannte, wenn eine Verabredung stand. Gemütlich schlenderte Kyle von den Bussen zum Bahnhof herüber. „Hi“, begrüßte er Kyle, als sie voreinander standen.[/JUSTIFY][JUSTIFY]„Yohan, hi“, nickte dieser zustimmend. „Wie war die Fahrt?“[/JUSTIFY]


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es ist wundervoll, Dich als Leser hier zu haben. Dankeschön!
Hat die Geschichte etwas in Dir ausgelöst? Dann schreibe mir kurz oder lang, was Du denkst.
Außerdem: Wenn Du mein Autor-Abo nimmst, verpasst Du nie mehr einen Jae'schen Geniestreich.

Hast Du auch schonmal eine Internetbekanntschaft getroffen? Warst Du aufgeregt oder ruhig? Habt ihr euch gleich erkannt oder seid ihr erst noch aneinander vorbeigelaufen? Wie versuchst Du, Deinem Schwarm näher zu kommen, wenn euch nur Wifi verbindet? Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2016-02-29T21:04:29+00:00 29.02.2016 22:04
Oh, was für ein wunderbarer Text!

Ich selbst kann das alles sehr gut nachvollziehen, vor allem als Bahnfahrer - manchmal können die Sekunden einfach zu schrecklichen Ewigkeiten werden, vor allem, wenn man einen Termin hat - oder es kalt ist. Oder man einen Termin an einem kalten Tag hat. Brrr.
Wirklich lachen musste ich bei der Durchsage x'D Diese Hoffnung, wenn man das knacken der Lautsprecher hörte und dann diese....dumme Durchsage (bei der übrigens eine Freundin als Kind immer dachte, dass es daran läge, weil in den Koffern Schlangenmenschen drin sind und man die ja nicht klauen soll).  Ich kann es nachvollziehen!
 
Ich finde deinen Text nicht nur nachvollziehbar, sondern vor allem wunderbar geschrieben. Du hast den richtigen Dreh raus, um mit Schachtelsätzen nicht den Leser zu überfordern und durch kurze Ellipsen das Warten darzustellen. Allgemein wirkt dein Text wunderbar auf den Leser, man fieber mit, ja, wartet mit, ohne dass es zu langatmig wirkt. Dabei hast du dann einfach traumhafte Konstruktionen wie z.B. diese hier:
 
Die Zeit stand wie in die Bahnhofsuhr gemeißelt fest, das Gleis war eine Zone klebriger Trägheit, der keine Uhr entkam.
 
Die Fahrt selbst wäre noch lang genug und voll mit Warten.
 
Daneben schaffst du es, durch Nebensätze wunderbar den Charakter eine Tiefe zu verleihen, ohne das es aufgesetzt wirkt, bspw., dass er früher Raucher war, - und das seit "einigen Jahren" (!) sich abgewöhnt -  dass er mit dem Geld aufpassen muss, dass er Manga liest, die soziale Unsicherheit... ich finde es interessant, wie du einen zunächst blassen Charakter (der nur durch das "warten" charakterisiert wurde) nach und nach eine Form gibst.
 
Ich finde es etwas merkwürdig, dass, kaum war der Name des anderen genannt (Kyle) er ständig genannt wurde, als wäre eine Barriere durchbrochen. Gleichzeitig nahm ich es als nette Methode, um die Aufgeregtheit darzustellen, Kyle hier, Kyle da... das war i sofern auch für den Text gut gemacht!
Ich dachte am Ende, als der Zug einfuhr, dass er sicher dasitzt und sich denkt: "Nur noch fünf Stunden!... Oh gott, NUR noch fünf Stunden!" und ich musste grinsen, als es im zweiten Abschnitt wirklich so war.
 
Ich musste auch grinsen, als das Ganze mit Animexx eine sehr realitische Note erhielt. Tatsächlich war ich gerade am Anfang skeptisch, dass man zu jemanden fährt, den man nur online kennt, aber man erfuhr ja, dass sie sich so gesehen sogar "offline" kennen gelernt hatten.
Bislang war der Text ja sehr allgemein gehalten und konnte schlussendlich für alles gelten (und auch für das Kennen lernen im gesamten Internet), auch wenn sicherlich Animexx in den Gedanken schnell aufkam (auch bei mir, zugegeben). Dass es aber explizit benannt wird, ließ mich grinsen. Mit einem Mal wurde es in meinem Kopf auch von der Geschichte zu einer "wahren Begebenheit" hochgestuft. Allerdings wurde mir recht schnell klar, dass es sich dennoch nur um eine Geschichte handeln konnte: Die Züge waren alle pünktlich und es gab keine Vorkomnisse auf der Reise. Völlig unmöglich! ;)

Ich mag auch das offene Ende sehr, wobei ich es schön finde, dass durch den Anruf es ja schon in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Es zeigte wunderbar, dass es dem anderen ja auch wichtig ist - gerade von Kyle las man ja nur das, was gedacht oder interpretiert wurde - und das zeigt ja schon in eine bestimmte Richtung, was ich sehr gut finde, da der Leser so nicht ganz ohne Andeutung entlassen wurde ;)

Allgemein hat die Geschichte mir unheimlich toll gefallen, sowohl vom Stil (wunderbar), als auch vom Inhalt. Ich bin begeistert!
 
(und was privates zum Schluss:
"Er wusste nie, wie er liegen sollte, ob er sich bewegen konnte und an Schlaf war sowieso nicht zu denken."
 
I feel with you! xD)
Antwort von:  In-Genius
01.03.2016 07:34
Oh, was für ein wunderbarer Kommentar!

Danke schön, dass du deine Gedanken mit mir teilst. Ich hoffe ja immer, dass es irgendwo da draußen mindestens einen Menschen gibt, der solche Beklemmungen auch denkt: dieses Warten, diese Aufgeregtheit und dieses Befürchten von Dingen, von denen man gar nicht weiß, ob sie überhaupt passieren.

Vor allem freut mich, wie und das du meinen Stil beschreibst. Ich höre oft, ich hätte einen guten Schreibstil – und das weiß ich auch – aber selten schaffen es andere, dieses in erklärende Worte zu fassen. Ich persönlich finde das auch schwer, wenn ich mal den Stil meines Lieblingsautors erklären sollte. Danke dafür!

Ein paar direkte Anmerkungen:
- Auf Konstruktionen wie "eine Zone klebriger Trägheit" bin ich auch selbst stolz. Das sind meine eigenen Lieblingssätze.
- Wenn die beiden aufeinandertreffen, kommen die Namen noch ein bisschen häufiger. Wenn mein zwei verschiedene Er's hat, kommt man – Autor und Leser – sonst schnell durcheinander, welcher er wer ist. Und ja, natürlich ist er aufgeregt.
- Wenn ich Bahn fahre sind meine Züge in der Hälfte der Fälle alle pünktlich. Außer wenn Schnee liegt oder wenn's über 30 Grad warm ist, dann ist immer was. Aber sonst habe ich ziemliches Glück beim Bahnfahren. *drückt sich weiterhin die Daumen dafür*
- Jaah! Noch jemand, dem das auch so geht *__* Endlich!

Es freut mich ungemein, dass dir der Text gefallen hat und vielen Dank für deinen wundervollen Kommentar.


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