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Bitterkeit

von

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Prolog

Der Himmel hängt im tristen grau.

Die Straßen der Stadt, überflutet von den Tränen der Wolken, wie ihre Mutter den Regen nannte.

Noch heute fragt sich das einsame, blonde Mädchen, was denn den Himmel so sehr zum Weinen bringen kann, das seine nassen Perlen oft tagelang nicht versiegten.
 

Verloren in Gedanken und Erinnerungen an die bunten Kindertage, richtet sie ihr Haar und streicht das graue Kleid faltenfrei. Sie zieht sich die einfachen, schwarzen Schuhe über die Füße,

den roten Regenschirm hinterlässt sie bewusst an der Garderobe. Er ist in seiner Farbe viel zu regierend in ihrem unscheinbaren Leben.
 

Leise, um nicht die Aufmerksamkeit der nebenan Wohnenden zu wecken, zieht sie die Tür in das Schloss und fliegt still und leichtfüßig die Treppen hinunter, um sich schlussendlich in einer Pfütze stehend, auf dem Gehsteig wieder zu finden.
 

Sie beobachtet den schillernden Regenbogenfilm im trüben Wasser, auf dem schwarzen Asphalt. Als Kind war sie fest davon überzeugt, es wäre das Werk von Feen, Elfen oder Kobolden. Erst ihr Vater klärte sie auf, dass es sich nur um die Überreste von Benzin auf der Fahrbahn handelt.
 

Wehmütig setzt sie ihren Weg fort. Treibt sich selbst vorbei an Ladenzeilen und Verkaufsständen. Der Gang zum Stadtarchiv ist nicht weit und ihre Arbeit dort ist nicht aufregend, das muss es auch nicht. Es reicht aber um sie am Leben zu halten. Sie ist beschäftigt, das reicht.

Somit kommt sie immerhin nicht in den Zweifel beladenen Genuss sich wieder und wieder zu fragen, wo denn ihr Platz ist. Hat sie überhaupt irgendwo Platz?
 

Hin und wieder, wenn sie eines der Mädchen trifft, mit denen sie einst die Schule besuchte, glaubt sie so etwas wie Neid fühlen zu müssen. Die meisten von ihnen waren doch bereits die Karriereleiter empor gestiegen oder konnten mit Familien und Häusern am Stadtrand prahlen.
 

Aber sie? Wo steht sie?
 

Das blonde Mädchen von vierundzwanzig Jahren bewohnt nur eine Einzimmerdachgeschosswohnung in der es im Sommer viel zu heiß und im Winter viel zu kalt ist. Sie arbeitet in dem kleinen, stickigen Archiv im Gewölbe des Rathauses, umringt von Papierbergen aus Zeitungen und Akten bestehend. Die Staubschicht auf manch einem Regal ist sicherlich im Abstand um viele Jahre älter als sie selbst. Das Tageslicht schaffte es nur selten durch die kleinen Kellerfenster.
 

Immerhin, sie muss sich nicht mit den Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe auseinandersetzten. Sie muss keine Inhaltslosen und nichtssagenden Konversationen führen und muss auch nicht in geheuchelten Floskeln über ihre nicht vorhandene Bewunderung zum Erfolg ihres Gegenübers sinnieren.
 

Nein, sie kann in dem großen, fast vergessenen Räumen für sich sein.

Allein.

Wie immer.

Und doch, tief in ihrem Inneren schlug die Sehnsucht nach Veränderung Purzelbäume.

Die Sehnsucht auszubrechen, etwas anderes zu tun.
 

Allein, nicht den gewohnten Heimweg einzuschlagen, sondern einen Umweg zu gehen, bedeutete Chaos.

Schon der Gedanke, nicht Punkt Zwölf Uhr ihr Mittagsmahl am Brunnen vor dem Rathaus zu sich zu nehmen, löste Panik in der jungen Frau aus.
 

Sie hat sich selbst fest gefahren. Weiß sich selbst kaum zu retten. Sieht die Möglichkeit nicht, die sie aus ihrem Trott holen kann. Ihr eigenes, vor sich hin fristendes Leben, langweilt sie.

Aber sie hat einen Entschluss gefasst, sie wird ihr Leben ändern.
 

Morgen schon, wird alles anders sein!

Sie wird anders sein!

Das junge Mädchen wird tot sein!

Sie wird aufhören langweilig zu sein! Sie wird aufhören zu existieren!
 

Usagi Tsukino hat mit jungen vierundzwanzig Jahren, für sich ganz alleine entschieden ihr trist-graues Leben zu beenden.

Mit einem Lächeln auf den zarten Lippen blickt sie auf die staubigen Papierreihen.
 

Morgen schon wird alles anders sein...

Das Mädchen im geblümten Nachtkleid

Sie weiß, wie man über das altehrwürdige Gebäude spricht.
 

´Amertume...Das Haus der Verwirrten!´

´Amertume...Der Tempel der Verrückten!´
 

Usagi sieht in den Verrückten nie solche. Mehr sieht sie Seelen, die sich selbst verrückt haben. So wie andere einen Stuhl oder einen Tisch verrücken, haben diese Menschen ihr eigenes Leben verrückt.

Sie haben sich selbst einfach an einen anderen Ort gestellt. Fern ab von Leid und Unwesen. Man mag es Flucht vor der Realität nennen, Usagi nennt es: sich selbst retten.

Sich retten, vor Unheil und dem eigenen Verderben, welches dem Alltagsgrau entspringt.
 

Oft wünscht sich die zierliche Blonde selbst in der Lage zu sein, sich in eine solch heile Welt zu retten.

Niemals hatte sie den Versuch gewagt, ein Reich zu schaffen, nur für sich. Ein Hoheitsgebiet, in dem sie allein die Regentschaft für ihr Leben führt. Dagegen beschleicht sie das Gefühl mit der Tatsache nie etwas getan zu haben. Ihre Signatur unter ein Leben im Schatten gesetzt zu haben.
 

Ihren eigenen wirren Gedanken folgend, steht das Mädchen mit dem Haar wie flüssiges Gold am Fenster und blickt den mit Wolken behangenen Himmel an. Bewundert ihn für seine Weite, ehrt ihn für seine Freiheit.

Seid sie in dem kleinen Zimmer aus ihrem Schlaf erwacht ist, hat sie nichts anderes getan als den Tränen beim Fallen zuzusehen. Sie beobachtet wie die kleinen flüssigen Perlen leise gegen das Glas des Fensters schlagen und um Einlass bitten. Mit dem Finger folgt sie den Bahnen, die sie auf der schmutzigen Scheibe hinterlassen.
 

Ein paar Mal schon hatte sich in den letzten Stunden die Tür geöffnet, aber Usagi hat sich bisher geweigert auf Besuche durch das Personal zu reagieren.

Sie nimmt kaum das Klappern, die Schritte oder die Stimmen auf dem Flur vor ihrem Zimmer wahr und letztendlich ist sie hier, weil man sie für geistig gestört hält, damit hat man ihr das Recht gegeben anders zu sein. Sich abzuheben von der Masse.
 

Sie hört das leise Knacken der Tür.

Sie rührt sich nicht, widmet sich weiter dem Tanz der Tropfen auf dem Glas, das sie trocken hält.

Sanfte Schritte klingen auf dem dunklen Parkett des Raumes, doch Usagi blickt weiter träumend in die Ferne. Hinter den hohen Mauern, welche das alte Gemäuer umgeben, kann sie im farblosen Schleier des Regens, die Berge erkennen. Die Erhebungen der Landschaft, die sie immer schon besuchen wollte, es aber nie tat.
 

Sie versucht, so gut es ihr gelingt, die hinter ihr stehende Person zu ignorieren. Zwingt sich, sich ihren Träumen hinzugeben, bemüht sich nicht auf ihre Umgebung zu achten.

Vergebens!

Usagi ist nicht in der Lage zu flüchten, so sehr sie es auch versucht. Die Anwesenheit des Wesens hält sie davon ab.

Aufgebend seufzt sie vor sich hin. Ihr warmer Atem legt sich für einen kurzen Augenblick wie Nebel über das Glas vor ihr.

Bewusst darüber, das sie um ein Gespräch mit den Pflegern oder Doktoren nicht herum kommen wird, versucht sie sich ein Lächeln auf die Lippen zu pressen.
 

Nur vorsichtig wendet sie ihren blonden Kopf zu der Person, die dort ihre Ruhe stört.

Muss aber, verwirrt feststellen das es sich bei dem jungen Ding weder um eine Schwester noch um eine Ärztin handelt. Sie mustert das zaghafte Geschöpf vor sich.
 

Mit unbeschuhten, nackten Füßen, in einem weißem, mit zarten Rosen bedrucktem Nachtkleid steht sie vor ihr. Die Arme hängen an ihrem schlanken Körper herab, gerade so, als wüssten sie nicht wohin. Das lange blonde Haar fällt ihr über die Schultern, die schmalen blassen Lippen bilden den Hauch eines Lächeln.

Aus großen, klaren, enzianblauen Augen blickt sie zu ihr.
 

Usagi legt ihren Kopf schief, das Mädchen vor ihr tut es ihr gleich. Es entlockt der Goldblonden ein liebevolles Schmunzeln, doch ihre Gegenüber scheint dies nicht zu bemerken. Unvermittelt greift sie nach der Hand Usagi´s und zieht sie mit sich auf den Flur.
 

Wortlos, einer Fee gleich, läuft sie an den Zimmern mit den offen stehenden Türen vorbei bis zum Ende des langen Ganges. Dort stößt sie die großen Flügeltüren auf und will mit Usagi den Raum betreten, doch diese verneint Kopfschüttelnd die Einladung.
 

Die Blondine im Nachthemd lässt nicht locker und festigt ihren Griff um ihre Hand. Flehend bitten ihre blauen Augen ihr zu folgen.

Das Mädchen, das noch immer Usagi´s Hand hält, strahlt sie mit einem zauberhaften Lächeln an und zieht sie weiter zurück auf den Flur.
 

Vor einer weißen Tür mit einem Fenster stoppt sie ihren lauf und deutet auf ein Namensschild.

„Aino, Minako...“ liest Usagi ab und bemerkt wie das Mädchen aufgeregt auf sich selbst deutet.

Die goldblonde Patientin, die sich zu ihrem Bedauern, für nicht mal halb so verrückt hält wie das Mädchen vor sich, versucht sich abermals an einem Lächeln.
 

„Ist das dein Name? Bist du Minako?“
 

Das blonde Mädchen im Nachthemd nickt eifrig freudestrahlend und nimmt Usagi mit in das Zimmer.

Es wirkt größer als ihr eigenes, auch heller und freundlicher. Zwei Betten stehen nebeneinander, allein getrennt durch die kleinen Nachtschränkchen zwischen Ihnen.
 

„Wohnst du hier allein?“ will Usagi wissen und begutachtet wieder die verschleierten Berge durch das große Fenster. Weil sie keine Antwort erhält, dreht sie dem Mädchen ihr Antlitz zu und steht sie Angesicht in Angesicht einem Stoffbären gegenüber.
 

„Für mich?“ flüstern ihr Lippen leise und ihre Augen sehen das Nicken der jungen Frau.
 

Usagi nimmt das kleine Geschenk an sich und bedankt sich höflich, wie es ihr von ihrer Mutter anerzogen wurde, mit einem Lächeln.

Beide Frauen stehen nur da und blicken sich in die blauen Seen ihrer Augen.
 

Sanft und wieder wortlos, greift das Mädchen im Nachthemd nach ihrer Hand und nimmt sie mit sich. Fast als würden sie schweben zieht die blonde Minako, Usagi hinter sich her.

Aufgeregt und doch so schweigsam deutet sie auf Menschen und Räumlichkeiten, ganz so als wurde sie Usagi die neue, unbekannte Umgebung erklären.

Ein Speisesaal mit eckigen Tischen, ein Musikzimmer mit einem Piano an dem eine Frau mit blondem kurzem Haar sitzt und noch nach der Melodie zu suchen scheint, eine Pflegerin im weißen Kittel mit schwarzem Haar und einem sanftmütigen Lächeln im Gesicht, die der Schülerin versucht die Notwendigkeit ihrer Arbeit zu erklären.

Die weißen Flure ziehen an Usagi vorbei. Stimmen und die umher stehenden nimmt sie kaum wahr, nur die Gesten des stillen Mädchens. Immer wieder tröpfelt ihr ein Lachen auf die Lippen, wenn die Goldblonde in die unermüdlich glänzenden, enzianblauen Augen von Minako sieht.

Vor einer braunen, reich verzierten Holztür stoppt das barfüßige Mädchen und klopft höflich, erwartet die Erlaubnis eintreten zu dürfen.
 

´Mitamura, Yakko – Anstaltsleitung´ liest die neue Patientin auf dem kleinen Messing beschlagenen Schild neben der Tür.

Die warme Stimme aus dem Inneren des Zimmers nimmt Usagi nur gedämpft wahr, fühlt nur wie sie in das Büro geschoben wird.

Die blonde Minako hält Usagi an den Schultern, blickt in das liebreizende Antlitz ihrer neuen Freundin, sodass Usagi beinah schon das Gefühl beschleicht dieses junge Ding könne ihr geradewegs in die eigene Seele blicken.

Ihre Seele die Usagi selbst, wenn sie es müsse, als ein kleines, einsames Mädchen, welches in einem roten Festtagskleid, allein in einer dunklen Ecke sitzt und leise, nur ganz leise einen Kinderreim vor sich hin summt, beschreiben würde.
 

Minako legt, bewusst liebevoll, ihrer neu gewonnenen Freundin die Arme um den Hals und zieht sie in eine herzliche Umarmung, nur um schnellstmöglich wieder von ihr ab - und sie allein stehen zu lassen.

Die Wärme die der Körper des Mädchens hinterlassen hat, entschwindet nur langsam von Usagi´s kalter Haut und auch aus ihrem leeren Inneren.

Ein leises Räuspern holt die Goldblonde aus ihrer tiefen Müßigkeit und sie blickt auf die brünette Frau vor sich.
 

Das Haselnussbraune Haar fällt ihr in Locken gewellt auf die Schultern. Die zart rosa Lippen sind geschmückt durch ein einladendes Lächeln. Sie strahlt liebevolle Autorität aus und Usagi fühlt sich erinnert an das wärmende Wesen einer liebenden Mutter.

Die brünette Frau sitzt an ihrem Schreibtisch, umzingelt von Akten und Papieren und lädt Usagi, mit einer einzelnen Geste ein sich zu setzen.
 

Eine Weile schweigen beide Frauen. Usagi lässt die klaren Augen durch das Büro streifen. Es ist voll gestellt mit Regalen. Jedes davon gefüllt mit Büchern. Es müssen Hunderte sein, schätzt sie und lässt ihren Blicken weiter freien Lauf, erspäht Bilderrahmen, Urkunden und Diplome. Ein gerahmtes Foto mit der Frau Direktorin und ihren Angestellten vor dem Toren zu ´Amertume'.
 

Ernsthafte Bewunderung, vielleicht zum ersten Mal seid sie sich erinnern kann, breitet sich in der zierlichen Frau aus. Sie ist sich sicher, dass die recht jung wirkende Frau vor ihr viele Opfer bringen musste, um an diesem Schreibtisch sitzen zu dürfen.
 

„Sie sind Minako bereits begegnet?“ holt die lieblich warm klingende Stimme der Professorin sie aus ihrem inneren Monolog.

Usagi nickt und der Gedanke an das Mädchen mit den nackten Füßen treibt ihr wieder ein Lächeln in die Augen.

Wann hatte sie zu Letzt an nur einem Tag, in nur so wenigen Stunden so oft gelächelt? Sie kann sich selbst kaum daran erinnern.

Mit den Fingern zeichnet sie vorsichtig die Konturen des Stoffbären nach, den Minako ihr so unvermittelt in die Hände drückte.
 

„Sie will nicht, das sie sich einsam fühlen!“ erklärt die Doktorin mit sanftem Ton und deutet auf das Tierchen mit dem quietschend bunten Pullover.

„Minako, weiß wie es ist einsam zu sein, das will sie anderen nicht zumuten. Auf ihre ganz persönliche Art und Weise, hat sie einen Kampf gegen die eisige Stille in jedem von uns aufgenommen.“ die brünette, gebildete Frau zieht eine Schublade an dem tonnenschwer wirkenden Tisch auf und setzt der Patientin einen rosafarbenen Hasen vor die Nase.

Beide Frauen lächeln wieder und versinken einen Augenblick in den Gedanken an das Mädchen mit den enzianblauen Augen, welches vor der Tür, auf einem Stuhl sitzend, darauf wartet das Usagi das Büro verlässt und mit ihr in den Garten geht.
 

„Wissen sie, warum sie bei uns sind, Miss Tsukino?“ unterbricht die junge Ärztin die Stille wieder.
 

Sie weiß warum sie an diesem Ort ist, traut sich nur selbst nicht mehr es auszusprechen. Sie hat es noch nie angesprochen, immer nur in den stillen Ecken ihres Seins mit ihrer Seele, dem kleinen  Mädchen im roten Festtagskleid, darüber debattiert. Ihr Blick fällt auf ihre, in Verbänden versteckten Handgelenke. Der Blütenweiße Mull fühlt sich, ganz plötzlich, wie Fesseln an, die ihr ihren Freiraum nahmen. 

Es war eine einfache Frage, aber doch ist Usagi nicht in der Lage sie zu beantworten also schweigt sie. Sie muss wieder an die wortlose Minako denken. 
 

Spricht sie nicht, weil sie auch nicht weiß, was sie sagen soll? Weil auch sie keine Antworten hat?

Kapitel 2: Der Duft nach Lilien und Rosen

Der Regen fällt wie eisige Nadelstiche auf das zarte Gesicht. Sie spürt ihn nicht. Seid der Nacht, in der Ihr Leben sich gewandelt hat, spürt sie rein gar nichts mehr.
 

Eine leblose Hülle. Eine in Fetzen gerissene Seele. Nur das blieb von ihr übrig.

Gezeichnet. Gebrandmarkt.

Aber das Schlimmste, was dort an den zertrümmerten Resten ihrer Seele nagt, ist der eine Gedanke.
 

Der unaufhörliche, erbarmungslose und immer fortwährend quälende Gedanke, der auch noch die letzten Ruinen zum Einsturz bringt.

Er regiert seid jenem Tag ihr Denken, ihr Handeln, er lässt sie Nachts nicht Schlafen und er lässt sie Tags rastlos durch die Gänge 'Amertume´s' ziehen.
 

Das Wissen, sie mit in das Verderben gezogen zu haben, wiegt schwerer in ihrer Brust, als die Erinnerung an diese eine, alles zerstörende Nacht vor fast vier Wochen.
 

~Abwesend hockte sie da, ihre Knie umklammert. Wispernd, wimmernd wie ein geschundenes Tier.

Wie durch Watte nahm sie wahr, was in diesem Moment geschah. Sie sah, wie sie auf ihn einschlugen, ihn beschimpften, einfach nicht von ihm abließen. In Trance erhob sie sich auf die langen Beine, trat zitternd auf die drei Menschen zu und blickte in beschmutze Gesichter. Ignorierte, das ihr die Kleider nur noch halbherzig am Körper hingen. Sie wollte nach Hause. Sie wollte diese quälenden Momente vergessen, verdrängen, ausmergeln.
 

Es brauchte keine Worte. Sie erkannten die Bitte in den starren Augen. Sie wischten sich den feinen, roten Lebenssaft von ihrer makellosen Haut und ließen ihn einfach liegen. Würdigten ihn keines Blickes mehr. Es war unwichtig, was mit ihm passierte. Er hatte über das Schicksal der jungen Frau entschieden und nun würde das Schicksal über ihn entscheiden.~
 

Das Bedürfnis sich übergeben zu wollen, drängt sich ihr auf. Noch immer kann sie seinen fauligen Atem riechen, fühlt noch immer die schweren, rauen Hände auf ihrer Haut, hört noch immer seine bissige Stimme, die nach ihr verlangte.
 

Schuld ruht auf ihren Schultern. Schwer und erdrückend liegt die Last auf ihr. Sie weiß, ist überzeugt davon, dass all das nur ihr zu geschoben werden kann.

Die Bürde, die sie von nun an mit sich tragen wird.
 

~“Seid ihr Verrückt geworden?“ er schrie, war außer sich. So hatte sie ihn vorher nie erlebt. Er, der besonnene, der liebevolle, der sanfte, der große Bruder. Er, der sie alle immer beschützte, für sie da war und für sie Sorgte.
 

Sie selbst saß nur auf dem großen Kissen vor dem Fenster und starrte wortlos in die Nacht. Bemühte sich zu vergessen, zu verdrängen.
 

Das plötzliche Klingeln an der Türe riss die vier Geschwister aus ihrer Apathie. Ahnend, wer zu nachtschlafender Zeit vor der Tür warten würde, wankte Mamoru zur Tür. Sie vernahmen seine Stimme bis in die große Stube.
 

Sie hob den Blick vom Fenster, besah ihre Schwestern mit den noch immer blutbefleckten Gesichtern. Stur saßen beide noch auf dem ledernen Sofa. Sagten kein Wort. Leise zog sie sich selbst auf die schlanken Beine und schritt zu ihnen. Ihr war schmerzlich bewusst was folgen würde. Vor ihren Schwestern sank sie auf die Knie, bettete ihren Kopf auf dem Schoß der Schwarzhaarigen, die ihrem Bruder fast bis aufs Haar ähnelte.
 

Sie spürte, wie sanfte Finger ihr durch das schimmernde Haar fuhren. Wärme ging ihr durch die frierenden Knochen. Sicherheit breitete sich in ihr aus. Sie wusste, sie hatten alles nur für sie getan.

Sie schloss die Augen, genoss die Nähe der Menschen, die ihr das Wichtigste waren. Ihr inneres Treiben ruhte langsam. Nur hier war sie noch immer das kleine Mädchen, das nach dem Schutz ihrer Familie suchte.
 

„Wir werden niemals zulassen das jemand zwischen uns steht!“ wispernd verließen die Worte den zart roten Mund der Brünetten.

Die grünen Augen öffneten sich zaghaft und erblickten ein ausdrucksloses Gesicht mit auberginefarbenen Fenstern.
 

„Wir werden niemals zulassen das jemand zwischen uns steht!“ immer wieder flüsterten die lieblichen Lippen diesen Satz.~
 

Mit trüben Blick starrt sie unbefangen gegen den grauen Beton. Eingesperrt, festgehalten.

Wohin waren ihr Träume verschwunden?

Reisen, Leben, durch die Welt tanzen, Leidenschaften finden und wieder aufgeben.

Und nun? Sie sitzt fest. Allein gelassen. Sieht ihre Schwestern selbst nur zu Besuchszeiten oder wenn sie, wie jetzt, im Garten steht und zu den Fenstern im zweiten Stockwerk des alten Sanatorium's blickte. Wehmütig und sehnsüchtig suchen die so oft beneideten grünen Augen haltlos jedes Fenster ab. Aber sie finden die bekannten Gesichter nicht. Wie lang steht sie schon da und hofft? Nur ein kurzer Blick, in die Gesichter, die ihr Halt und Schutz versprochen hatten sie erbeten, aber nichts.

Nicht einmal eine Silhouette, die sie für eine ihrer Schwestern hätte halten können.
 

Aufgebend wendet sie ihren Blick ab, dabei stolpern die giftig grünen Seen über das junge Mädchen das dort im Regen vor ihr steht.

Noch immer trägt sie das zarte Hemdchen mit dem filigranem Rosendruck, wie schon am Morgen. Ihre nackten Füße stehen in Mitten der schlammigen Pfütze. Über den, vor ihrem Bauch verschränkten, Armen hängt ein quietschgelber Regenmantel.

Minako. Das Mädchen mit dem herzlichen Lächeln auf den kirschroten Lippen.
 

Anstandslos dreht sie von ihr weg. Sie erträgt den Anblick des Mädchens kaum. Die Güte, die ihr immer wieder aus den enzianblauen Augen entgegenschlägt hat sie nicht verdient. Bemüht darum, das innere Treiben zu beruhigen, bemerkt sie ihr eigenes Zittern kaum.
 

Erst eine plötzliche Berührung lässt sie aus ihrem Gedankenkreisen aufschrecken. Schwer atmend blickt sie auf die Blondine hinab, wird eingebunden von den großen, glücklichen Augen und registriert daher nur beiläufig wie die Kleinere ihr den gelben Mantel um die Schultern legt.

In großen, ovalen Runden dreht sich in ihrem Kopf immer wieder die Frage, warum sie ihren Blick nicht abwenden kann von dem Mädchen, dass sie immer und immer wieder anstarrt.

Wenn sie lächelnd auf dem Gang steht, wenn sie träumend aus dem Fenster blickt, nicht mal in der Nacht, wenn Minako im Bett nebenan liegt und selig in ihrer Traumwelt wandelt.
 

Kaum kann sie sich rühren unter dem Anblick des zarten Wesens. Die Angst, sie könnte sie wie ein Reh mit jeder Bewegung erschrecken, lässt sie stocksteif einfach da stehen.

Minako hingegen, streicht ihr behutsam, als könne sie unter der Berührung zerbrechen, die regennassen Silbersträhnen aus dem Gesicht um der Älteren anschließend die Kapuze über den bereits durchtränkten Schopf zu ziehen.

Aber nicht einmal diese Geste scheint die Grünäugige wirklich zu realisieren, viel zu versunken ist sie bereits in dem zarten Antlitz ihrer Gegenüber. Bemerkt weder den Regen noch den Wind, der um sie herum pfeift.
 

Die Kälte die der Herbsttag mit sich trägt wird ihr erst bewusst, als die feinen, schmalen Finger der Blonden ihre schon blaugefärbten Lippen berühren. Als wäre es eine Konversation unter alten Freunden, wird ihr klar, was das Mädchen ihr damit sagen will. Sie sorgt sich.
 

Im Taumel ihrer Gedanken beobachtet sie, wie Minako sich, wie immer mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, von ihr entfernt. Sieht ihr zu, wie sie fast schon spielerisch und kindlich durch die Pfützen tanzt, nur um sich, an der großen Glastür angekommen noch einmal umzudrehen und ihr einen vorerst letzten Blick auf die blauen Augen zu gewähren.
 

° ° ° °
 

Das Gewitter, welches sich bereits den ganzen Tag angekündigt hatte, bricht in diese Nacht über 'Amertume' ein.

Die Frau mit dem schimmernden Haar liegt mit wachem Verstand auf ihrem Bett und lauscht zwischen dem Grollen des Donners, dem gleichmäßigen Atem der Honigblonden neben sich. Nie hatte sie etwas mehr zur Ruhe rufen können als das stetige, leise Geräusch das in kleinen Wellen aus dem anderen Bett zu ihr hinüber schwappt. Es wirkt beinah schon hypnotisierend auf die Sechsundzwanzigjährige und verhalf ihr in den letzten Wochen doch schon ein ums andere Mal wenigstens in einen flachen Sekundenschlaf zu fallen.
 

Yaten bemüht sich angestrengt, ihren Blick an der Decke zu halten, irgendeinen imaginären Punkt zu fixieren. Will sich zwingen, nicht zu ihr zu sehen. Doch jedes Mal, wenn ein Blitz das Zimmer für Bruchteile der Zeit erhellt, wandern die grünen Augen im Winkel zu dem zweiten Bett in ihrem Zimmer. Sie kommt nicht umhin, zu erkennen, das sich das feine Haar wie ein Wasserfall voller Glück über das große Kissen ergießt.
 

Nur für einen Augenblick will sie die Augen schließen und sich vorstellen, wie es wäre mit den Fingern durch das dichte Haar zu streichen. Doch schon das nächste Grollen der Naturgewalt lässt sie wieder aufsehen und bemerken das, das Mädchen, welches sie nicht kennt, mit dem sie nicht einmal gesprochen hat in den letzten WochenWochen, das Bett verlassen hat.

Haltlos blickt sie durch den Raum. Doch, nur das zerknitterte Laken zeugt davon das Minako, eben noch in ihrem Bett lag.
 

Die angelehnte Zimmertür wirft einen schwachen Spalt Licht auf den dunklen Boden. Schleichend und selbst nicht wissend warum, nimmt sie den Weg auf sich um dem blonden Mädchen zu folgen. In der geflügelten Tür zum Musikzimmer stoppt sie und betrachtet das junge Mädchen von hinten.

In die ferne träumend steht sie am Fenster und bewundert den Nachthimmel voller Wolken.

Mechanisch tragen ihre Füße sie zu ihr, stellen sich von ganz allein neben das blonde Ding.
 

„Hast du schlecht geträumt?“ es ist nur ein Flüstern, doch in der Stille der Nacht klingt ihre Stimme schreiend. Ihr wird schwer ums Herz, wenn sie bedenkt das dies nun die ersten Worte sind, die sie mit ihr wechselt und sie wünscht sich in diesem Moment, das es ein glanzvolles Thema gewesen wäre, das sie gewählt hätte. Doch sie konnte ihre Worte nun nicht mehr zurück nehmen.
 

Minako schweigt.

Keine Silbe schafft es über ihre Lippen. Die schönen blauen Augen starren nur weiter in das dunkle der Nacht. Scheint versunken in dem tristen Licht, das hin und wieder durch die ziehenden Wolken bricht.
 

„Sprichst du nicht mit mir?“ versucht das flüstern es erneut, auch diesmal soll ihre Frage unbeantwortet bleiben.

Beide Frauen stehen wieder schweigend da. Eine sieht stur durch das Glas, während die Andere das zauberhafte Profil der Ersten mustert.

Erst das leise Stimmengewirr der Nachtschwestern reißt sie aus ihren Gedanken und eher Yaten überhaupt reagieren kann, greift Minako nach ihrer Hand und zieht sie mit weichem Griff hinter sich her. Durch das große Zimmer auf den Flur, weg von dem Gebrabbel, entlang an verschlossenen Zimmern bis in das einladende Foyer, vorbei an der großen Marmortreppe, bis hinter eine der versteinerten Säulen, die bis hinauf zu dem gläsernen Dach reichen.
 

Grinsend wie ein Kind, zieht Minako die Ältere näher an sich um zu verhindern dass sie hinter dem Gestein entdeckt werden.

Mit den Finger auf den Kirschroten Lippen bedeutet sie der Älteren auf keinen Fall und unter keinen Umständen einen Laut von sich zu geben. Der jedoch, entlockt das kleine Versteckspiel nur ein vorsichtiges Lächeln.
 

In dem Moment, in dem die zwei schönen Schwestern an dem ungleichen Frauenpaar vorbeiziehen, schiebt Minako die Grünäugige in die gegenüberliegende Richtung, nur um unvermittelt wieder ihre Hand zu ergreifen und den Sprint geradewegs zurück in ihr gemeinsames Zimmer anzutreten.
 

Tonlos lacht die Blondine als sie sich von innen gegen die leichte Tür lehnt und kitzelt damit auch der Silberhaarigen ein Lächeln auf die Lippen.

Das tanzende Licht, der in die Weite gerückten Blitze ist die einzige Bewegung in der Dunkelheit des sonst so hellen Zimmers.
 

Yaten lässt sich in das weiche Kissen fallen und schafft es einfach nicht sich das kindlich wirkende Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.

„Also?“ startet sie einen erneuten Versuch, der Blonden zu entlocken warum sie das Bett verlassen hat. Doch die Angesprochene antwortet auch diesmal nicht, was die älter dazu veranlasst die Stirn kraus zu ziehen.

„Soll ich dich erst auf einen Drink einladen, das du mit mir redest?“ es soll ein Scherz sein, bewirkt lediglich aber nur das Minako sie wieder nur mit großen Augen ansieht.
 

Mit einer Geste deutet sie an, wie sie ihre Lippen versiegelt und den Schlüssel zu dem passenden, nicht vorhandenen Vorhängeschloss über die rechte Schulter wirft.

Ohne weiter darauf einzugehen oder auf eine Reaktion der älteren zu warten, steigt Minako in ihr Bett zurück und kehrt der Welt den Rücken zu.
 

Einige Momente beäugt Yaten den zarten Rücken des Mädchens, eher ihr die kleinen, wellen artigen Erschütterungen auffallen, die den zierlichen Körper im Schleier der Nacht erbeben lassen.

Ohne weiter über ihr Handeln Nachzudenken, legt sich Yaten neben das Mädchen das Tag ein, Tag aus im seichten Hemdchen durch die Gegend zieht. Sie zieht den warmen, weichen Körper an sich und nimmt das Bouquet aus einer wagen Mischung von Lilien und Rosen wahr.
 

Still liegen die Frauen auf dem schmalen Bett und ohne es zu wissen ziehen beide aus diesem vertrautem Moment Kraft für neue Stunden und für ihren eigenen inneren Kampf; den die eine schon seit Jahren auf sich nimmt und dem die andere erst seid wenigen Wochen zu erliegen droht.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  fahnm
2015-10-06T16:02:09+00:00 06.10.2015 18:02
Tolles Kapitel
Mach weiter so
Antwort von:  SchattenWeltxX
06.10.2015 19:02
Arigatoh!!
Vielen dank...Ich bin steht bemüht ;)
Von:  andromeda24
2015-09-16T22:26:26+00:00 17.09.2015 00:26
Was für ein Kapi, etwas befremdlich anfangs und doch so vertraut die Einsamkeit die einige soo sehr ergreift und nicht aus ihren Fittichen befreien möchte.. Oh man, so gut , ich finde es wirklich wunderschön geschrieben <3

herzlichst deine romi<<3<3<3<3<3
Antwort von:  SchattenWeltxX
17.09.2015 00:31
Meine Liebe romi,
ich bedanke mich herzlichst für deine Rückmeldung!
Es freut mich natürlich wenn es dir gefällt, ich wollte so gern eine etwas sehnsüchtige, melancholische Geschichte aufbauen und ich denke das es ganz gut gelingt ;)
Liebste grüße,
Anne :)
Von:  fahnm
2015-09-16T08:41:26+00:00 16.09.2015 10:41
Spitzen Kapitel
Mach weiter so
Antwort von:  SchattenWeltxX
16.09.2015 16:24
Vielen Dank für das Kompliment, ich bemühe mich nach zu legen....
Lg
Von:  fahnm
2015-09-16T08:33:25+00:00 16.09.2015 10:33
Der Anfang ist sehr Interessant.

Antwort von:  SchattenWeltxX
16.09.2015 16:23
Vielen Dank, mich Platten am Anfang arge Zweifel, ob das Thema Anklang finden wird :)
Ich freue mich sehr wenn es gefällt...
Von:  andromeda24
2015-09-16T00:50:09+00:00 16.09.2015 02:50
Was für ein Auftakt zu einer herrlich geschriebenen Geschichte, ich liebe deinen Schreibstil <3
Sehr Traurig und wirklich festgefahren ist ihr Leben, hoffe das sie es auch ändern kann, und auch wird.
Wieder eine wunderbare Geschichte von dir <3

ganz lieb grüßend deine romi <3<3<3
Antwort von:  SchattenWeltxX
16.09.2015 16:23
Ich danke dir meine süße....Ich freue mich wenn es dir gefällt
<3


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