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Caelwards Stille

von

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Caelwards Stille

Trystan schlug die Augen auf. Die Rufe von Händlern, das Quengeln kleiner Kinder und das Bersten eines Tonkrugs drangen zu ihm empor — das rege Markttreiben weckte ihn wie jeden Morgen bei Sonnenaufgang, zuverlässig wie ein Uhrwerk.

Er rieb sich den Sand aus den Augen. Das laute Knurren seines Magens erinnerte ihn daran, dass er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Mit raschen Schritten verließ er sein Zimmer und lief die schiefe Treppe hinunter, auf deren Stufen schummriges Tageslicht durch das staubige Fensterglas fiel.

Trotz der frühen Morgenstunde war die Taverne gut besucht. Die stämmige Wirtin trug Tonkrüge mit goldgelbem Bier zu den Tischen, lachte mit den Gästen und rief dem Küchenjungen neue Bestellungen zu. Trystan schlich an ihnen vorbei, um nicht berührt zu werden. Allein der Gedanke jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.

Er ließ das schallende Gelächter und das Klirren von Glas hinter sich und trat ins Freie. Wäscheleinen verbanden die Fenster der windschiefen Häuser wie bunt behangene Spinnenweben. Weit entfernt, an der Spitze der Caelingklippe, ragte der Sturmpalast in die Höhe, weiß gesprenkelt mit Vogelkot.

Trystan presste sich eng an die Hausfassaden der steil abfallenden Straßenflucht, um dem Strom der Passanten zu entgehen. Beißend kalter Wind trieb ihn voran. Er war auf halbem Wege zum Stadttor, da öffnete sich plötzlich die Tür des Hauses zu seiner linken und eine junge Frau trat auf die Straße — direkt vor ihn. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke in geteiltem Schock. Mit einem unterdrückten Fluchen sprang Trystan zur Seite, stolperte und griff reflexartig nach Halt.

Warme Finger schlossen sich um seinen Arm und zogen ihn hoch.

Sein Atem stockte, als er sie ansah. Strohblondes Haar fiel ihr in wilden Strähnen in Stirn und Nacken und Sommersprossen bedeckten ihre rosigen Wangen wie die Sprenkel auf einem Ei. Ihr Kleid schien selbstgenäht; der grobe Stoff wies zahllose Flicken auf und der Saum war ausgefranst. Als sie sprach, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich dachte, ich wäre die einzige.“ Grenzenloses Erstaunen lag in ihrem Blick.

„Ja.“ Trystan schluckte. „Ich auch.“

„Möchtest du… möchtest du reden?“, fragte sie und hielt ihr Haar gegen den anschwellenden Wind fest. „Ich habe noch Trockenobst da, wenn du Hunger hast.“ Trystan starrte sie ausdruckslos an. Sie versuchte sich an einem Lächeln. „Na los, komm rein.“

Immer noch unter Schock folgte Trystan ihr ins Haus. Eine alte Frau wuselte gebückt durch den niedrigen Raum und legte Holzscheite in dem Kamin nach. Trotz des prasselnden Feuers spürte Trystan keinerlei Wärme. Den dampfenden Inhalt des Kochtopfs ignorierte er standhaft, stattdessen folgte er dem Mädchen die Treppe hinauf in eine kleine Kammer.

Er sah sich um. Außer einer Strohmatte und einer kleinen Holzkiste war der Raum leer.

„Ich bin Amira“, sagte sie und holte eine Handvoll schrumpeliger Früchte aus der Kiste. Sie reichte ihm die Hälfte und ließ sich auf der Matte nieder.

Das Trockenobst war zäh und klebrig. Trystan schielte unentwegt zu Amira, die genauso nervös aussah, wie er sich fühlte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal mit jemandem unterhalten hatte. Einige Minuten begleitete nur ihr Kauen die gedämpften Rufe von draußen.

„Tut mir leid“, sagte Trystan und räusperte sich verlegen. „Ich bin nie jemandem wie dir begegnet. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.“ Amira schaute ihn von der Seite her an und kicherte, als sie seinen verwirrten Gesichtsausdruck sah.

„Wie wäre es für den Anfang mit deinem Namen?“

„Trystan“, sagte er und wurde augenblicklich rot. „Ich bin Trystan.“

 

„Kannst du dich noch erinnern?“, fragte Amira später am Abend. „Wie es vorher war, meine ich.“ Sie lag auf der Strohmatte und starrte an die Decke, die Hände auf ihrem Bauch gefaltet. Trystan hatte den Kopf auf seine Arme gebettet.

„Nur schwach.“ Er runzelte die Stirn, versuchte, die Erinnerungen wieder zum Leben zu erwecken. „Anfangs hatte ich noch Unterstützung von meinen Nachbarn, aber sie sind schon seit Jahren verschwunden. Was ist mit dir?“

„Ich habe mit meiner Mutter zusammengelebt“, sagte sie leise. „Weiter oben, beim Palast. Eines Tages wollte ich sie umarmen und sie war ganz kalt. Sie konnte mich nicht mehr sehen oder meine Stimme hören.“ Sie holte zittrig Luft. „Deswegen bin ich fortgegangen. Ich konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen.“

Trystan tastete nach ihren Fingern und war erleichtert, als Amira seinen Händedruck erwiderte. „Es wird uns auch treffen, oder?“, fragte er.

„Meine Mutter glaubte, es sei ein Fluch“, flüsterte Amira und drehte sich zur Seite, um ihn ansehen zu können. „Sie sagte, er würde nicht haltmachen, ehe die ganze Stadt verwandelt ist.“

Kurzentschlossen stand Trystan auf, ergriff ihre Hände und zog sie zum Fenster. Als sie es öffneten, sogen sie die klare Winterluft ein und genossen das Gefühl der Gänsehaut auf ihren Armen. Gemeinsam betrachteten sie das rege Treiben der Stadtbewohner, die durch die Straßen liefen, Körbe trugen, lachten und feilschten.

„Es ist soweit“, sagte Amira tonlos.

Er folgte ihrem Blick zur untergehenden Sonne, die nur noch als orangeroter Punkt am Horizont zu erkennen war. Ihre letzten Strahlen verblassten. Amira und Trystan sahen hinab auf die Straße.

Sie war wie ausgestorben. Kein Mensch war zu sehen. Der eben noch heulende Wind war verstummt, die Marktstände verschwunden und die Häuser zeigten ihre heruntergekommenen Fassaden. Der Palast in der Ferne war nur noch ein steinernes Gerippe.

Caelwards Stille war vollkommen.

Trystan legte einen Arm um Amiras Schulter und zog sie an sich. Sie waren, was der Fluch übrig gelassen hatte.

Zwei Lebende in einer Stadt voller Geister.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  MissLunatic
2016-12-22T20:04:50+00:00 22.12.2016 21:04
Ich war erst etwas überrascht über dieses mittelalterliche Fantasysetting, irgendwie hatte ich eher mit Urban und heute gerechnet. Aber das war eine sehr positive Überraschung. Wie sehr viele dir hier schon geschrieben haben: Deine Beschreibungen sind sehr toll und lesen sich definitiv mindestens genauso gut und flüssig wie in den meisten Fantasyromanen. Es wirkt alles sehr lebendig und emotional und dass, obwohl die Stadt ja eigentlich tot ist. Ich muss aber ehrlich sagen, ich hatte mit dieser Wende oder etwas ähnlichem (ich war nicht sicher, ob Geister oder Zombies) ab dem Zeitpunkt gerechnet, als Trystan dachte, er wolle die Menschen nicht berühren. Trotzdem war die Geschichte toll, genau auf den Punkt und auch wenn man (wegen deines Stils und der reinen Neugier) gerne mehr lesen würde, finde ich es so genau gut. Manche Geschichten brauchen keine 10000 Worte, um rund und mitreißend zu sein. Und das ist eine Kunst, die nicht vielen gelingt. Trotzdem frage ich mich, ob sie der Fluch ereilen wird und wie sie dann in der Zeit eingefroren wären, passen sie doch in ihrer Stimmung und Aufmachung nicht in das Geisterbild der Stadt. Sind die zwei vielleicht eine letzte Hoffnung? Sie könnten ja eigentlich auch die Stadt verlassen. Aber vielleicht kommt ihnen das, dort aufgewachsen gar nicht in den Sinn und sie sehen keine Alternative. Sehr interessant auf jeden Fall und sehr sympathisch. Also diese Geschichte, die ich wie einen Film vor mir sehen konnte, hat das YUAL meiner Meinung nach wirklich verdient und ich bin froh, dass ich doch mal reingeschaut habe und über sie gestolpert bin.
Antwort von:  yazumi-chan
23.12.2016 01:37
In ihrer Originalfassung war die Geschichte gut doppelt so lang :D Erst beim Überarbeiten merkt man dann, wie viel eigentlich überflüssig ist oder raus kann und dass es die Geschichte dadurch nur stärker macht und nicht schwächer. Danke auf jeden Fall für dein Feedback! ;)
Von:  KageyamaTobio
2016-12-22T18:23:08+00:00 22.12.2016 19:23
Liebe yazumi-chan,
das ist eine wundervolle, lebendige Geschichte, die mich mit Titel und Cover bereits in ihren Bann geschlagen hatte. Die Kurzbeschreibung finde ich passend, ohne das sie zu viel verrät. Schon im kleinen Kämmerlein schaffst du eine liebevolle Atmosphäre und deutest bereits das Unbehagens Trystans an. Ich hatte mich gefragt, ob er nicht ein kleiner Phobiker ist, tatsächlich ist das Geheimnis der Stadt aber Schuld an seinem Verhalten. Die Begegnung mit Amira hat mir von der Dynamik her sehr gut gefallen und war absolut nachvollziehbar. Mir ist sofort der Hinweis auf die warme Berührung im Gedächtnis geblieben, was für mich die 'Geister-Theorie' entkräftet hatte. Das Ende hat einen wunderbar runden Abschluss gebildet. Mir hat die beschriebene Szenerie sehr gefallen und noch mehr die ungewöhnliche Situation, dass die Geisterstadt nur bei Tageslicht zum Leben erwacht ist. Das macht es irgendwie authentischer für das viele Treiben und lässt die Nacht noch viel gespenstischer wirken.
Alles in allem, eine hinreißende Geschichte, die mich vor allem durch ihre wunderbaren Beschreibungen hat eintauchen lassen.
Antwort von:  yazumi-chan
23.12.2016 01:35
Danke für das Kompliment :) Freut mich, dass es dir gefallen hat.
Von:  Kerstin-san
2016-12-22T18:18:08+00:00 22.12.2016 19:18
Hallo,
 
uhh, wirklich eine überraschende Wende am Ende. Ich geb zu, dass ich bis zum Schluss recht planlos war, weswegen Trystan sich solche Sorgen macht die Menschen um ihn herum zu berühren, aber dass alle (bis auf Amira) Geister sind, darauf bin ich nicht gekommen.
 
Fand es beim zweiten Mal lesen dann auch überraschend, dass die Geister sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in der Stadt tummeln. Normalerweise würde man ja erwarten, dass sie in der Nacht auftauchen. Eine geschickte Irreführung und mal ein ganz anderer Ansatz zu dem, was man sonst so kennt.
 
Ich fand es wirklich traurig, dass Trystan und Amira offenbar schon jahrelang unter diesen Umständen leben. Gleichzeitig frage ich mich dann aber auch, wie sie bisher in der Stadt überlebt haben. Es dürfte ja schwierig sein an Essen heranzukommen, wenn dort niemand lebt und alles so heruntergekommen ist und überhaupt: Warum bleiben sie an diesem Ort? Warum ziehen sie nicht weiter? Hmm, das interessiert mich wirklich jetzt brennend, aber abgesehen von diesen offenen Fragen, hab ich nichts anzumerken. Die vorsichtige Annäherung zwischen Trystan und Amira und die Erleichterung der beiden, noch jemand anderen lebendigen gefunden zu haben, war wirklich sehr gut umgesetzt.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  yazumi-chan
23.12.2016 01:35
Vielen Dank für deinen Kommentar :D Ich wollte das gesamte Geisterkonzept mal auf den Kopf drehen, weil es typischerweise wie du sagst genau anders herum ist.
Von:  DJ-chan
2016-11-03T14:54:58+00:00 03.11.2016 15:54
Mir gefällt diese Kurzgeschichte sehr gut.
Ich mag die zahlreichen Beschreibungen mit denen die Umgebung richtig lebendig wird. Dass das alles nur Trug ist, wär mir beim ersten Durchlesen gar nicht eingefallen.
Deswegen musste ich die Geschichte gleich ein zweites Mal lesen xD Ich finde die kleinen Hinweise gut, die schon in der Geschichte darauf hindeuten dass die beiden die Menschen sind.
Antwort von:  yazumi-chan
03.11.2016 16:12
Danke für dein Feedback :D Ich habe mich bemüht, die Hinweise genau dafür einzustreuen.
Von:  Yamasha
2016-04-30T17:29:29+00:00 30.04.2016 19:29
Ich hab mit Geistern gar nicht gerechnet. Aber es gefällt mir wirklich sehr sehr gut! :)
Antwort von:  yazumi-chan
01.05.2016 01:04
Danke für die Rückmeldung! :D
Von:  Flordelis
2015-09-10T23:38:01+00:00 11.09.2015 01:38
Ich war echt überrascht, mit dem Ende hatte ich nicht gerechnet. Ich ging eigentlich von dem Standard aus, also, dass sie die Geister sind und der Rest nicht. XD
Insofern hat mir das Ende dann erst recht gefallen, weil es wirklich mal was anderes war. Noch dazu kam diese Offenbarung dann ganz natürlich daher und nicht im Mindesten mit einem Vorschlaghammer.
Aber ich fand auch den Rest echt gelungen. Von deiner Wortwahl über deine Grammatik, die Auswahl der Namen deiner Figuren und auch deren Charakterisierung. Auch die Kurzbeschreibung und das Cover finde ich sehr gut gemacht bzw. ausgewählt.
Das war ein schönes rundes Gesamtpaket, das mich diese kleine Story hat richtig genießen lassen. Großes Lob dafür. =D
Antwort von:  yazumi-chan
11.09.2015 01:40
Wow, vielen Dank :D Ich hatte nicht gedacht, so schnell schon eine Rückmeldung zu bekommen. Freut mich sehr, dass es dir zugesagt hat und der Twist am Ende gut rüberkam^^


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