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Anyone's Ghost

You’re under the weight of living
von

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I had a hole in the middle where the lightning went through it

I. The more I know, the less I'm knowing
 

Das Feuerwerk ist grandios.
 

Laut knallt es in der Sommernacht wieder, übertönt für einige Sekunden die Geräusche der restlichen Welt. Strahlt in verschiedensten Formen und Farben gegen die schwarze Leinwand; ein goldener Trauerregen, grüne Sternschnuppe, blaue Pusteblumen, ein vergängliches Lichtbild nach dem Nächsten.
 

Energielos lehnt Mayuzumi an seiner Schlafzimmerwand, schaut aus dem Fenster und beobachtet das seltene Spektakel im Himmel. Irgendwo unterhalb in der Gasse hört er lautes Gelächter, Gäste der Kneipe von der Ecke, welche die noch immer vorhandene Wärme genießen.
 

Die letzte Rakete explodiert und erlischt in einem feuerroten Sturm, lässt ihn zurück in der Dunkelheit seiner eigenen vier Wände. Kurz lungert das eingebrannte Foto noch hinter seinen Lidern, bis es auch dort ohne weiteres verschwindet.

Kein Abschied auf eine bedeutungslose Begegnung.
 

Das Feuerwerk war grandios gewesen.

Aber viel zu schnell vorbei, um sich damit lange aufzuhalten.
 

Zumindest sagte Mayuzumi, dass zu sich selbst.
 

II. I asked what I was looking for
 

Bücher waren eine pure Faszination für sich. Schon seit Mayuzumi zurückdenken konnte, war er über ihre unendlichen Möglichkeiten verzaubert gewesen. Was ein Wunder war, denn es gab kaum irgendwas in seinem Leben, was ihn dermaßen mitriss.

In einem einfachen Einband, fest oder weich, ruhte eine eigene Welt. Manchmal erstreckte sie sich über hunderte Seiten, über mehrere Einbanduniversen hinweg oder war gar von Zeit zur Zeit dünner als ein Bleistift. Wurde allein von einer einzigen Hüllen beschützt und gehütet, geschaffen um die Welt auf ewig zu bewahren.
 

Einbände waren die Götter ihrer zugeordneten Welt.
 

Seine Eltern wollten sein ehemaliges Zimmer zu einem Gästezimmer umdekorieren. Somit war es seine Aufgabe auch die letzten Reste seines Lebens in diesen Raum vollständig einzupacken. Dazu zählte auch, dass Regal auszuräumen und die vergessenen Welten endgültig verschwinden zu lassen.

Zaghaft griff er nach einem der letzten Einbände aus dem Regal, hellblau, wie der Himmel an einem Tag, wo alles möglich und unendlich erscheint.

Er war kein zögerliche Mensch, wenn es sich um Leselektüre drehte. Aber darüber handelte es auch nicht. Tat es nie, wann immer er den Einband musterte. Es konzentrierte sich alles um das, was der Einband enthielt.
 

Mayuzumi hatte den Einband noch nie geöffnet. Zu schwer in den Händen.

(Zu schwer im Herzen.)

Hatte zuvor auch noch nie den Drang danach verspürt. Immerhin hatte er längst mit diesem Kapitel in seinem Leben abgeschlossen.

(Obwohl er nie das Ende gelesen hatte.)

Überhaupt entsann er sich nicht mehr daran, wann er das Buch ins Regal gestellt hatte. Wahrscheinlich war es auch nicht weiter von Bedeutung, weswegen es höchstwahrscheinlich in der hintersten Ecke Einzug gefunden hatte.

(Die Sonne hatte beim Untergehen die Wolken tiefrot gefärbt. Tiefrot wie das Haar des Jungen, der es ihm geschenkt hatte.)
 

Mit einer plötzlichen Wut auf sich selbst und insbesondere auf den Gegenstand vor ihm, zog er mit einem groben Ruck den Einband heraus.

Zuerst erstaunt über das fehlende Gewicht, blinzelte er einige Male. Nach einigen Sekunden realisierte er den Grund dafür. Beinahe wäre ihm nach Lachen zumute gewesen.
 

Der Einband war hellblau. Die Schrift tiefschwarz.

Rakuzan Fotoalbum.

Und jede einzelne Seite herausgerissen.
 

Mayuzumi hatte den Gott dieser Welt schon vor Jahren ausgetrickst.

(Und ihn und sich selbst, damit um die einzig wichtige Geschichte betrogen.)
 


 

III. Please say you can't help me
 

Wann immer er rotes Haar erblickte, war er zwischen kaltem Grauen und traumhaften Wunschdenken gefangen.
 

Wobei Mayuzumi schwankte, was die wohl personifiziertere Hölle war.

Vielleicht war es auch ein unsagbarer Fluch.

Eine stumme Verschimpfung, die nie wirklich Form faste.

Oder Musik aus einer Untergrunddisco, deren Spur man nur vage erahnen konnte.

Ein Windstoß, der einen unvorbereitet in einem weitem Gang erfasste.

Erste Tropfen eines Schauers an einem sonst wolkenlosen Tag.
 

Womöglich war es aber auch nur ein simples, unvollendetes Puzzle, von dem man das letzte Stück verloren hatte.

(Oder absichtlich weggeworfen, da man die Vollendung dessen nicht tragen konnte.)
 

IV. I'm not coming home, I'm staying with the wolves
 

Leben ist nicht ein Richtig oder Falsch.
 

Es ist ein Wählen von Wegen und dann musste man mit dem leben, welchen man gewählt hat. Aber vor allem musste man mit dem Weg leben, den man nicht gewählt hatte – und wenn man das nicht konnte, sollte man es lassen.
 

Mayuzumi hatte vor einer langen Zeit seinen Weg gewählt.

Hatte nicht gezögert und auch nicht bereut.

Es war nie der optimale Weg gewesen. Keiner, der ihn vor Demütigungen, Enttäuschungen und Verlusten geschützt hatte.

(Es gab solch einen Weg auch nicht. Konnte es nicht. Denn sonst gebe es keine Gerechtigkeit des Universums – und an irgendwas musste sogar ein Zyniker wie er glauben.)

Trotzdem war es sein Weg gewesen und er war zufrieden damit gewesen.
 

Dann tauchte ein gewisser rothaariger Kapitän einer gewissen Basketballmannschaft auf und erdreiste sich, seinen Weg zu verunglimpfen.
 

Ihn mit Marmor zu pflastern und ihn nach und nach mit Blumen zu säumen. Zuerst Alpenveilchen und Akelei. Dann mit Blaustern und Ackermenning. Und zum Schluss das Ganze mit einer einzigen Schlüsselblume abzurunden, die ihm seitdem verfolgte, egal welche Abzweigung er nahm. Spürte wie sich bei jedem weiteren Schritt Winden, um seine Knöcheln rankten und Tollkirschen ein omnipotenten Tunnel über seinen Weg bildeten, worin er mehr als einmal schattenhafte Konturen einer bestimmten Person wahrnahm.
 

Egal wie oft Mayuzumi versuchte den Weg zu trimmen, alles herauszureißen, bis seine Hände blutig (rot, Rot, RoT, ROT, R O T) waren, alles kehrte wieder. Unkraut, welches sich einfach niemals vollständig vernichten ließ. Ein Wettrennen gegen einen Gärtner, der Perfektion nicht nur als Beispiel diente, sondern sie zu Leben brachte.
 

Mayuzumi hatte gewählt.

Und während er den Schierling musterte, fragte er sich, inwieweit seine Entscheidung zählte, wenn die eines Anderen so viel mehr Gewicht trug.
 

V. You lost control to the mood, my friend
 

Laut hallen seine Schritte in den leeren Gängen der Schule wieder. Fahles Licht fällt durch die schmutzigen Fenster, vermischt sich mit den verblassenden Farben der Wände und anstatt wie einst, weiß zu sein, erscheinen sie kränklich gelb mit einem Stich von Moos. Die Luft ist stickig von der Sommerhitze, dem überfälligen Lüften und gefüllt mit schweren Staub, der wie kleine Mininaturtornados wütet.
 

Sein Weg führt ihn vorbei an verlassenen Klassenräume, wo noch immer Stühle und Tische aufbereitet stehen, so als ob sie einfach vergessen hätten, dass niemand mehr sie benutzen würde. Vorbei an den Überresten von Plakaten von Clubs, an toten Daten für wichtige Geschehnisse, an zertrümmerten Vitrinen, vergangenen Regeln, leeren Spinden und liegengelassenen Zeugnissen aus der Gegenwart, wie Bierdosen, Zigarettenstümmel und Nachrichten aus Graffiti.
 

Je weiter er sich vorwärts wagt, desto schwerer werden seine Schultern. Erst das schwache Schattenspiel eines Baumes lässt ihn inne halten. Stumpf schaut er dem Tänzeln des Lichtspiels zu, welches grotesk wirkte in dem verfallenem Gemäuer. Ein kalter Schaue läuft seinen Rücken hinab. Rasch schaut er weg und zu der eigentlichen Quelle. Im seichten Sommerwind wankte der große Kirschbaum hin und her, fast so, als würde er sich darüber freuen, der einzig Überlebende zu sein.
 

Einige Sekunden betrachtet er ihn sentimental, bevor er sich wieder in Bewegung setzt. Den Überlebende, seine tänzelnden Begleiter und all seine aufdrückenden Erinnerungen hinter sich lassend. Sein Weg führt ihn weiter ins Herz des Gebäudes, in die dunkleren Ecken, in die Gänge, an denen die Farbe abgeblättert und die Fliesen zersprungen sind. Die Sommerhitze weicht und eine stechende Kälte nimmt ihren Platz ein. Fröstelnd verschränkt er die Arme vor der Brust und zieht die Schultern hoch. An einer bestimmten Treppe hält er erneut inne.
 

Das Treppengeländer ist an vielen Stellen brüchig, spitze Holzstücke ragen wie die Zähne einer Bestie bedrohlich hervor. Die Stufen sind rissig und unförmig wie eine leise Warnung. Ab der Mitte hängt ein verblichenes Band, wo in kaum noch leserlicher Schrift „Betreten verboten“ steht. Kurz überlegt er, ob er sich trotz der offensichtlichen Hinweise ins obere Stockwerk und hinauf auf das Dach wagen soll. Schließlich entscheidet er sich dagegen. Sein eigentliches Ziel liegt nicht dort, es wäre nur ein unnötiger Umweg. Mit einem letzten Blick nach oben, setzt er seinen Weg fort - mit einem irritierenden Kribbeln in den Fingerspitzen.
 

Schließlich erreicht er eine weite Doppeltür. Das Fensterglas der Tür ist eingeschlagen und einer der Griffe hängt lose, sich nur noch kläglich an einer Stelle haltend. Unter lautem Quietschen, welches ohrenbetäubend in der Stille widerhallt, schiebt er sie auf. Sofort begrüßt ihn das Summen des Sommers. Der steinerne Weg vor ihm ist ab dem letzten Drittel vom Geröll des Überdaches verschüttet, dennoch weist er klar zu dem Nachbargebäude hinüber. Seine Job auch nach all den Jahren nicht vergessend haben. Kurz atmet er tief ein und aus, lässt seine Augen nach links und rechts über die offenen Stellen schweifen, die in Einblicke auf einen überwucherten Innenhof gewähren.
 

Obwohl die Hitze ihn erschlagen sollte, spürt er weiterhin den kalten Griff des Gebäudes hinter sich. Mit zittrigen Beinen marschiert er weiter, umrundet den Geröllhaufen und steuert direkt auf die gegenüberliegende Doppeltür zu. Im Gegensatz zu ihrer Partnerin, sind ihre Fenster und Griffe heile, jedoch hängt ein schweres Schloss vor ihr. Fluchend greift er danach, rüttelt an den rostigen Kette ohne ersichtlichen Erfolg.

Sein Herz beginnt sich zu beschleunigen, fast so, als würde es aus seinem Mund hinausspringen wollen. Seine Kopf fängt an zu schwirren und seine Hände fangen an zu schwitzen. Panisch zerrt er an den Ketten, versucht die Tür einzutreten, bevor er seinen ganzen Körper dagegen schmeißt. Doch die Tür steht ihren Mann und weicht keinen Zentimeter.
 

Rasch atmend starrt er das Schloss vor sich an und erst dann bemerkt er, dass plötzlich etwas fehlt – das Summen um ihn herum hat aufgehört. Entsetzten breitet sich in ihm aus, frisst sich durch seine Knochen wie ein Parasit. Er hört die Tür, durch die er wenige Augenblicke zuvor gekommen ist, sich öffnen und wieder ins Schloss fallen. Augenblicklich erstarrt er. Leichte Schritte ertönen. Er schließt die Augen. Es dauert nicht lange und er spürt, wie jemand dicht hinter ihm steht. Warme Luft in seinem Nacken, die jedes Härchen auf seinen Körper aufstellt.
 

„Hab dich gefunden“, flüstert die Person süßlich in sein Ohr. Er schluckt schwer. Arme, die sich um ihn legen, ihn so fest umklammern, als wollen sie ihn erdrücken.

Wenn er nur die Tür öffnen könnte, dann könnte er der Gestalt entkommen. Könnte all dem hinter sich entkommen und aus den Trümmern endlich in die Freiheit treten. Doch er kann nicht und das Monster hinter ihm lacht leise.

„Lass uns weiter spielen.“
 

Ein Schmerz durchfährt seinen Körper und er reißt die Augen auf. Im schwachem Spiegelbild des Türfensters sieht er sein eigenes verzerrtes Gesicht und hinter sich, dass von seinem Verfolger, der ihn breit angrinst. Betäubt stolpert er nach vorne, aus der Umklammerung entlassen, knallt zuerst mit seiner Stirn gegen das harte Eisen und sackt schließlich auf seine Knie zusammen. Zittrig fährt er zu der Stelle, wo die Schmerzen herrühren, nur um eine klebrige Flüssigkeit zu ertasten. Als er seine Hände mustert, ist sein erster Gedanke wie seltsam warm sein Blut ist. Ab da driftet jeder klare Gedanken weg, wird weggetragen wie bei einem rasendem Fluss.

Weiche Händen umgreifen sein Gesicht, kalte Lippen küssen seinen Nacken.

„Gute Nacht, Chihiro“, säuselt die Gestalt in sein Ohr - und dann stirbt er.
 

Schweißgebadet schreckt Mayuzumi auf. Sein Herz pocht wie wild in seiner Brust und perplex schaut er sich in dem dunklen Raum um. Nach und nach greift sein System ineinander über, bis ihm klar wird, wo er sich befindet. Mit einem Blick auf seinen Wecker, verhöhnen ihn die digitalen Zeichen mit einer unmenschlichen Zeit. Von draußen fällt das Licht der Straßenlaterne durch seine Schalosienen in sein Schlafzimmer und lassen alles in dem Raum in einem unwirklichen Grau erscheinen. Langsam sinkt er zurück in die weichen Kissen seiner Schlafcouch, wobei er es nicht wagt seine Augen zu schließen. Seine Kehle fühlt sich rau und trocken an, was ihn vermuten lässt, dass er womöglich geschrien hat.
 

Einige Zeit liegt er so regungslos dar, bevor der Drang nach Wasser zu groß wird und er sich erhebt. Im Halbdunkeln tapst er hinüber ins Nebenzimmer, welches als Küche und Wohnzimmer zugleich fungiert. Das grelle Licht des Kühlschranks blendet ihn und die heraus sickernde Kälte lässt ihn frösteln. Nach einigen tiefen Schlücken stellt er die Flasche zurück und als er den Kühlschrank schließt, befindet er sich wieder in der Umarmung der Nacht. Trotzdem bleibt er auf der Stelle stehen und lehnt sich nur erschöpft gegen die Küchentheke. Seufzend vergräbt er sein Gesicht in seinen Händen, bevor er sich durch sein verschwitztes Haar fährt.
 

Erschöpft sinkt er auf den Fußboden, zieht seine Beine an, um seinen Kopf auf ihnen zu betten.

„Manche Dinge holen einen immer wieder ein, hm?“

Abermals antwortete ihm nur das Schweigen der Nacht und lässt ihn allein mit den Gespenster seiner Vergangenheit.
 

Allein mit einer rothaarigen Person, die ihn in seinen Träumen verfolgte.

Verfolgte und umbrachte.

Ihn in das vom Blut geküssten Rot tauchte.
 

VI. I'm a wrecking ball, I've run the guillotine
 

Die Flasche (Glas oder Plastik) ist auf unbekannten Weg auf das Dach gelangt.
 

Gehalten wird sie von einem wackeligen Gitter, welches seine besten Tage hinter sich hat. Sie trotzt seit Wochen jeder Laune des Wetters und niemand scheint sich soweit um sie zu kümmern, dass sie weiterhin unberührt dort liegen bleibt.
 

Mayuzumi stellt sich vor, wie es wäre, wenn er eine Leiter hätte und zu ihr hinauf klettern könnte. Wie es sich anfühlen musste, sie hochzuheben. Würde sie kalt sein? Rau? Vom Wetter abgetragen? Oder würde sie sich wie jede andere Flasche anfühlen? Und wenn er sie wegnehmen würde, würde es einen Unterschied machen? Würde etwas fehlen? Würde alles bleiben, einfach nur mit einem leeren Platz, den sowieso niemand Beachtung schenkte?
 

Was würde passieren, wenn er die Flasche auf die Erde schmettern würde?
 

Würde sie wie in Zeitlupe fallen? Würde sie den Sturz überleben, wenn sie aus billigen Plastik wäre? Würde sie in tausende Scherben zersplittern, wenn sie aus Glas wäre? Zersplittern wie die Knochen eines Menschen, wenn er fiel?
 

Würde der Junge mit dem roten Haar zerbrechen, wenn er menschlich wäre? Würden seine Knochen durch sein Fleisch bohren, ihn in der selben Farbe wie sein Haar bluten lassen? Oder würde er wie das billige Plastik den Sturz überleben? Einfach eine Delle mehr aufweisen und sonst so tun, als wäre nichts geschehen.
 

Die Flasche (Glas oder Plastik) verschwand auf unbekannten Weg vom Dach.
 

VII. Pushing down the pain like it's a quarantine
 

Vorsichtig rasierte Mayuzumi sich sein Gesicht. Währenddessen vollführte die Sonne einen geschickten Trick und ihre Strahlen brachen sich ungünstig zuerst in seiner gläsernen Badezimmertür, um dann ihn in seinen Spiegel zu blenden.
 

Er kniff die Augen zusammen, goldene und rote Funken hüpften freudig in der Schwärze umher und als er sie wieder öffnete, war für einen Bruchteil einer Sekunde sein linkes Auge golden.
 

Stockend hielt er inne in seiner Bewegung.

Das Entsetzen starrte zurück, genauso gefangen wie er selbst.
 

Gold war es gewesen, was ihn ruiniert hatte. Rot war es, was ihn weiterhin ruinierte.
 

Sein Abbild verzog eine Grimasse, die voller Abscheu und unbändigen Zorn war.

Wenn er das Gold zerstört hätte, bevor es in jede einzelne Pore seines Daseins sickern konnte, würde er vielleicht nicht so von Dingen geplagt werden, die außerhalb seiner Reichweite waren.
 

Vielleicht war es noch nicht zu spät, genau das zu tun.
 

Die scharfe Rasierklinge zu nehmen, sie durch das Rot zu treiben, was einst Gold gewesen war. Immer wieder zu schneiden und zu schneiden und zu schneiden und zu schneiden und zu scheiden, schneiden, schneiden, schneiden, bis zum Fleisch, bis zum Kern, viel weiter, weiter, weiter-
 

Mayuzumis Finger zuckten.
 

Langsam ließ er die Rasierklinge sinken, die ihn unterhalb seines linken Auges geschnitten hatte.

Fahrig wischte er sich mit der Hand das Blut weg, betrachtete es schweigend, wie es trocken und klumpig auf seiner Haut wurde.
 

Womöglich hatte er sich selbst ruiniert mit seiner Gier nach dem Gold und der Flucht vor dem Rot.
 

VIII. You speak Poltergeist, so do I
 

Ethos.
 

Niemals hatte Mayuzumi die Autorität des Jungen mit den roten Haaren in Frage gestellt. Hatte sich von ihn führen und schubsen lassen. Ihn zugehört und akzeptiert, dass er nur ein Shogistein auf dem weiten Brett war. Solange er sich gut dabei fühlte, war es ihm recht gewesen.

(Hatte er sich gut gefühlt? Oder hatte er sich zum Selbstschutz belügt?)
 

Pathos.
 

Die Aussicht auf Sieg, auf Erfolg, die Vorstellung, dass eine der fiktiven Geschichte seiner geliebten Light Novels zu seiner eigenen Realität werden könnte, hatte ihn zustimmen lassen. Hatten jedes Wort des Rothaarigen aufgesogen und in ihn verankert.

(Wünsche. Es waren Wünsche gewesen, von denen er selbst nichts geahnt hatte.)
 

Logos.
 

Niemals war die Sprache darüber, dass Gewinn doch keine Absolute war. Es war niemals eine falsche Information gewesen. Nein. Es war nur niemals als eine Möglichkeit in Betracht gezogen wurden. Nicht, wenn das strahlende Rot so voller Siege, so voller Verluste von Anderen ausgemalt war.

(Wer hätte gedacht, dass man nicht nur ein Spiel, sondern auch sein Herz verlieren konnte. Er nicht. Nein, er ganz und gar nicht.)
 

Was blieb?

Worte.

Viele Worte.

Mehr unausgesprochen, als gesprochen.

Ein Nachmittag, an dem jede Rhetorik versagte.

Nur ein bares Wesen blieb, was seine Hand zum ersten Mal ausstreckte, nicht um zu nehmen, sondern um zu bitten.
 

Mayuzumi hatte die Hand von sich geschlagen.

(Warum wusste er selbst nicht mehr.)

Lüge.

(Aus purer, reiner Angst.)

Exakt.

(Die Worte hatten ihn einmal verraten und verletzt, warum sollten sie dieses Mal ehrlich sein und ihr Versprechen halten?)

Es hatte keine Garantie gegeben.

(Das Leben stellte keine Garantien für irgendwas aus.)
 

Mayuzumi hatte die Hand von sich geschlagen.

(Was würde passieren, wenn er seine eigene ausstrecken würde?)
 

Ja, was würde passieren nach all den langen Jahren, in denen er es nicht getan hatte?
 

IX. Let come what may come and let go of what goes
 

Die U-Bahn war von unten bis oben mit Menschen gefüllt. Das Odeur der Woche lautete verschiedener Schweiß von zig tausend Kreaturen auf zwei Beine und eine gestresster als die Andere.
 

Eingeklemmt zwischen einem Muskelpaket mit Lederjacke und einer Hausfrau mit zu viel Parfüm, versuchte Mayuzumi sich auf seine Light Novel zu konzentrieren. Dabei stach ihm von hinten, irgendwo ein Ellbogen unsanft in den Rücken.
 

Ein wenig melancholisch stellte er fest, wie er, obwohl er unter unzähligen Menschen war, sich trotzdem isoliert und ausgeschlossen fühlte. Rasch verdrängte er dieses Gefühl jedoch in die tiefe Grube, in der all seine Empfindungen irgendwann ihr klägliches Ende fanden.
 

Konzentriert auf die Buchstaben vor sich, sickerten sie dennoch nicht in seinen Kopf. Stattdessen führten seine Ohren ein Eigenleben und er lauschte unwillkürlich dem Gespräch von zwei Männern in ihren besten Jahren.

Zuerst war es nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Lauten, bis sie nach und nach einem für sein Gehirn verständlichen Kontext bildeten.
 

Sie unterhielten sich über die Quadratur des Kreises.

Die unlösbare Aufgabe der Mathematik.
 

Still fragte Mayuzumi sich, weshalb es für alles immer eine Lösung geben musste.

Weshalb die Menschheit so verhärmt versuchte, alles einem Sinn zu geben.

Warum konnte es nicht Sachen geben, die man offen stehen ließ?

Wo blieb da die Freiheit? Die Interpretation? Der Spielraum?
 

Die U-Bahn hielt an seiner Station. Er stieg aus und ließ sich vom allgemeinen Strom mitreißen.

Vorbei an den hässlichen Tunnelwänden, in der stickigen Hitze der Unterwelt, belegt von den verschiedenen Klängen von Straßenkünstler, beworfen mit Gesprächsfetzen und Werbeanzeigen.

Erst als er den letzten Schritt hinter die Absperrung setzte, kam ihn ein weitere, völlig loser Gedankengang.
 

Wenn Mayuzumi ein Quadrat war, dann konnte der rothaarige Junge nur ein Kreis sein.
 

Er blieb abrupt stehen. Jemand rannte in ihn, beschwerte sich und setzte dann den Weg fort, ohne ihm einen weiteren Blick zu würdigen.

Um Mayuzumi herum brannten die Lichter der Stadt und sie lebte lauthals.

Doch in seinem Inneren kam seit Jahren zum ersten Mal wieder alles zur Ruhe.
 

Stillstand.
 

Das Hupen von Autos. Die Ausrufe eines verärgerten Passanten. Die Gerüche von verschiedensten Fast Food Imbissen. Das leichte Ziehen des Windes. Schritte über harten Asphalt.

Es gab keine einheitliche Lösung für das Problem mit dem Quadrat und dem Kreis.

Und das brauchte es vielleicht auch gar nicht.
 

Mayuzumi kehrte um und ging zurück in die U-Bahn.
 

X. You're always close to it
 

Je älter man wurde, desto schneller schien die Zeit zu vergehen.

Tage flossen ineinander über, genauso wie Wochen und Monate. Bevor man sich versah, stellte man überrascht fest, dass von dem Jahr so gut wie nichts mehr übrig war.
 

Mayuzumis langjährige Theorie war gewesen, dass es einem so vorkam, weil man viel weniger Zeit übrig hatte. Je schneller sie für einen verging, desto weniger hatte man noch zu leben. So als würde man einem Stundenglas zuschauen oder feststellen, dass nur noch ein Stück von der Schokolade übrig war.
 

Jedoch redefinierte er diese Theorie.
 

„Ich habe eine Idee“, sagte der Junge mit den roten Haaren, wobei er leicht die Augenbrauen zusammenzog.

Mayuzumi seufzte schwer und ließ seine Light Novel sinken.

„Ich werde mich nicht deiner Konspiration anschließen, die Welt durch Basketball zu erobern.“

Der Rothaarige warf ihm aus seinen genauso roten Augen einen langen Blick zu.

„Das würde ich niemals in Erwägung ziehen.“

Mayuzumi schnaubte nur.

„Natürlich nicht.“

Danach konzentrierte er sich wieder auf seine Lektüre und ignorierte seinen Partner. Zumindest hatte er das vor.

„Wir sollten zusammenziehen.“

Mayuzumi stockte in seiner Bewegung. Dann spürte er warmen Atem in seinem Nacken, dem der Hauch eines Kusses folgte.

„Denkst du nicht auch?“, fragte der Kleinere mit sanfter Stimme.

Mayuzumis Finger zuckten und er ließ die Light Novel sinken, nur um sich dann zu dem Jüngeren umzudrehen.

Lange schaute er in das Gesicht, in das Rot, welches ihn stets verfolgte, egal wie weit er rannte und wie viele Fehler er begann. Es gab nur eine Antwort, die er geben wollte.

„Ja.“
 

Mayuzumis Theorie war, dass die Zeit nur dann schnell verging, wenn man mit sich und seinem Leben im Einklang war. Denn je schneller sie verging, desto mehr schien man sie zu vergessen. Und das wiederum passierte nur, wenn man nicht an sie dachte, da die Gedanken viel zu sehr mit dem beschäftigt waren, was einem mit Freude und Spaß erfüllte.
 

Erst nachdem er Akashi Seijuurou wieder in sein Leben gelassen hatte, war ihm aufgefallen, wie mühselig sich die Welt zuvor gedreht hatte.

Jetzt schien sie nicht mehr stillstehen zu wollen.
 

Ein geisterhaftes Lächeln umspielte Mayuzumis Lippen.



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