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Corvus et Vulpes

von

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Eine Eilbotschaft

„Was soll das heißen, ich werde hier in Hogwarts gebraucht? Ich dachte, Sie hätten mir die Aufgabe erteilt, das Mundus mysticus aus dem Irak zu holen! Und jetzt soll ich einfach so hier bleiben und Däumchen drehen?“

Jiang Li war wütend und funkelte abwechselnd Lupin und Dumbledore an, denen sie im Büro des Schulleiters gegenüberstand. Dumbledore selbst saß hinter seinem Schreibtisch und hob mit einer begütigenden Geste beide Hände, während sich Lupin wie gewöhnlich unauffällig in den Schatten zurückgezogen hatte.

„Ich bitte Sie, Jiang Li – diesmal gibt es keine andere Möglichkeit.“

„Wieso nicht, bitteschön?“

Vor Enttäuschung hätte sie am liebsten aufgeschrieen und irgendetwas gegen die Wand geworfen. Natürlich war es kindisch, jetzt so auf ihrem Standpunkt zu beharren, aber trotzdem – so sehr hatte sie sich auf die Suche nach dem Buch gefreut und fest damit gerechnet, zu den Ruinen des Ziqqurrats zu reisen und jetzt – Dumbledore hatte ihre Erwartungen einfach abgewürgt.

„Sie können nicht einfach so für Tage oder gar Wochen aus Hogwarts verschwinden. Ihre Aufgabe war es, den wahrscheinlichsten Aufenthaltsort des Buches zu finden, den Rest erledigen Fachleute.“

Es war klar, dass Dumbledore das Thema für beendet hielt, trotzdem konnte Jiang Li nicht lockerlassen.

„Es ist trotzdem nicht fair. Mir ist es ganz einfach zu wenig, nur die Bibliotheken zu durchforsten und darauf zu bauen, dass sich aus hundert widersprüchlichen Informationen vielleicht ein Körnchen Wahrheit lösen lässt. Ich will aktiv an der Suche beteiligt sein. Ich will –“

Lupin mischte sich mit sanfter Stimme ein.

„Vielleicht könnte man ja einen Kompromiss schließen, mit dem beide Seiten zufrieden sind.“

Dumbledore warf ihm einen raschen Blick zu und lächelte schließlich.

„Also gut – sollte sich eines der gesuchten Werke in Großbritannien befinden, dürfen Sie sich an der Suche beteiligen, Miss Lian, beteiligen habe ich gesagt, also unter der Führung erfahrener Zauberer bewegen“, meinte er schnell, als er das begeisterte Lächeln sah, das sich blitzartig auf ihrer Miene ausgebreitet hatte. „Ich wünsche keinen Alleingang, der unser Vorhaben beeinträchtigen könnte!“

 

Jiang Li schritt etwas besänftigter aus dem Turmzimmer, sogar ein kleines Liedchen lag ihr auf den Lippen. Immerhin, wenigstens innerhalb des Landes durfte sie sich mit auf die Suche machen. Der Orden hatte ihr und Lupin bereits eine ganze Liste verbotener Bücher zukommen lassen, deren Aufenthaltsort sie herausfinden sollten.

Sie schaute aus dem Fenster und betrachtete die eisige Landschaft unter sich. Es war Mitte November und seit Oktober hatte es beinahe pausenlos geschneit.

Seit zwei Wochen schlief sie beinahe jeden Tag mit Severus Snape. Es war jedes Mal ein Genuss, trotzdem war sie sich nicht sicher, was sie davon halten sollte.

Körperlich war er anziehend. Sie liebte jede Sekunde, die sie miteinander verbrachten, doch ob sie mehr wollte, wusste sie nicht.

Eigentlich reichte ihr Sex vollkommen. Sie wollte keine Beziehung, jetzt nicht mehr, seit dem Desaster mit Kuan-yin war ihr die Lust darauf gründlich vergangen. Aber dennoch suchte sie irgendwie nach Halt, sie wollte geliebt werden, sie wollte jemandem wichtig sein – aber eine Beziehung? Konnte es nicht einfacher gehen, man verbrachte ganz einfach die Nächte zusammen und am Tage lebte jeder sein eigenes Leben?

Sie wusste ja nicht einmal, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollte. Zaubertränke vielleicht?

Jiang Li seufzte und massierte gedankenverloren ihre verspannte Schulter. Jetzt war sie ungerecht. Severus Snape war gewiss ein interessanter Mann, er kannte sich in vielen Dingen aus.

Aber eine Beziehung …

„Hättest du vielleicht kurz Zeit?“

Remus Lupin war leise neben sie getreten und lehnte sich müde gegen das Fensterbrett. Die Furchen in seinem Gesicht waren noch tiefer als sonst. Der Vollmond stand kurz bevor.

„Natürlich. Sollen wir in mein Büro gehen?“

„Mir wäre Hogsmeade lieber.“

Jiang Li zuckte mit den Achseln und nickte zustimmend. Sie hatte nichts zu tun, es war ein Sonntag und mit Snape würde sie sich nicht vor dem späteren Abend treffen. Allein der Gedanke an seine weichen Lippen ließ ihren Nacken vor Vorfreude prickeln.

 

Im Drei Besen ging es hoch her; nur mit Mühe konnten sie einen ruhigen Eckplatz erwischen. Jiang Li bestellte eine White Lady und stützte erwartungsvoll die Arme auf.

„Also, Remus?“

Sie musste sich konzentrieren. Nicht an Snape denken, seine sinnlichen Berührungen, die schönen Hände mit dem festen Griff …

Lupin riss sie aus ihren lustvollen Gedanken.

„Kennst du dich mit Geomantie aus?“

Im ersten Moment war sie verwirrt und starrte ihn verblüfft an.

„Du meinst die Wasseradern und das ganze Zeug? Keine Ahnung.“

Er runzelte die Stirn und schnalzte missmutig.

„Du bist doch sonst so ein kluges Mädchen, Jiang Li. Tu es nicht mit einem Achselzucken ab.“

„Was willst du mir damit eigentlich sagen?“

Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.

„Nichts. Eigentlich gar nichts. Ich denke nur, du solltest dich vielleicht ein bisschen mit dem Thema auseinandersetzen.“

„Warum?“

Madam Rosmerta kam mit der White Lady für Jiang Li und dem Ale für Lupin an und lud beides schwungvoll auf ihrem Tisch ab.

„Unglaublich, was heute für ein Betrieb ist! Wie geht es Ihnen beiden denn?“

Nach einem kurzen belanglosen Geplänkel wandte sich Jiang Li wieder ihrem Gegenüber zu.

„Also?“

„Es gibt kein „Also“. Denk einfach an meine Worte, wenn es soweit ist.“

„Sind wir hier beim Rätselraten oder was ist los?“ Sie war sauer und schnippte ärgerlich gegen das Glas. „Würdest du dich bitte etwas klarer ausdrücken?“

„Ich kann nicht, Jiang Li. Bitte stell’ mir keine Fragen. Ich kann und darf sie dir nicht beantworten. Versprich mir nur, dass du es im Hinterkopf behältst.“

Sie war völlig ratlos und nippte verstört an ihrem Cocktail.

„Du kannst mir nicht einfach „Geomantie“ hinwerfen und erwarten, ich würde mich nicht darüber wundern. Remus, was ist los?“

Er sah sie eine lange Weile schweigend an, dann nahm er plötzlich ihre Hand und öffnete den Mund, doch es reicht nur für ein gequältes Aufseufzen.

„Weißt du, ich möchte dich nicht beunruhigen …“ Mit einer müden Geste brach er ab und schüttelte den Kopf.

„Es sind Dinge im Gange, von denen du keine Ahnung hast. Du bist eine schöne, kluge Frau und ich möchte nicht, dass du – dass dir etwas passiert. Gib gut auf dich Acht. Mehr kann ich nicht sagen.“

Damit war das Thema beendet. Es hatte keinen Sinn mehr, darüber reden zu wollen, denn sooft Jiang Li im Laufe des Nachmittags auch danach fragte, es war nichts mehr aus ihm herauszulocken.

 

„Wo bist du gewesen?“

Severus Snape stellte diese Frage scheinbar gleichgültig, während er unaufhörlich wie ein ruheloser Löwe im Käfig in seinem Büro hin- und herwanderte. Jiang Li lehnte mit verschränkten Armen in der Tür und musterte ihn aufmerksam.

„Ich war mit Remus im Drei Besen. Ist das so wichtig?“

Sie sah, wie Severus zusammenfuhr und die schmalen Lippen noch fester aufeinander presste, ehe er sich zu einer halbwegs ruhigen Antwort durchringen konnte. Nur die Stimme zitterte ihm ein ganz kleines bisschen.

„Ich dachte nur, dass dir möglicherweise Dumbledore einen neuen Auftrag erteilt hat … das wäre ja nicht so abwegig gewesen.“

Lügen kann er nicht gut, dachte Jiang Li und unterdrückte ein leichtes Grinsen. Die White Lady rumorte immer noch in ihrem Blut und löste ihr die Zunge.

„Was weißt du über Geomantie, Severus?“

Wieder ein leichtes Zusammenzucken, doch diesmal hatte sich der Zaubertrankmeister besser im Griff. Als er ihr nach einer kurzen Denkpause antwortete, sah sich Jiang Li einem undurchschaubaren Pokerface gegenüber.

„Was soll ich schon darüber wissen? Heilige Bäume, Flüsse und so weiter. Vielleicht solltest du in der Sache lieber Hagrid befragen, der ist da bei Weitem naturverbundener.“

„Ich mache keine Scherze, Severus.“

„Habe ich auch nicht erwartet. Wenn du jemals eine Frage in Hinsicht auf Zaubertränke haben solltest, stehe ich dir gerne zur Verfügung. Obwohl mich da wahrscheinlich noch eher deine Schwester aufsucht.“

„Du bist so ein Schwein, mein Lieber“, gab Jiang Li kühl, mit verächtlich hochgezogener Oberlippe zurück und warf den Kopf in den Nacken, „da wünsche ich dir mal viel Vergnügen! Ich wusste ja nicht, dass es für dich so schlimm ist, mit jemandem zu tun zu haben, der ausnahmsweise mal ehrlich ist und zugibt, sich nicht übermäßig für deine Gebräue zu interessieren …“

Snape sah am Ausdruck in ihren Augen, dass er zu weit gegangen war, und lenkte reumütig ein.

„Das war nicht so gemeint. Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht kränken.“

Sie sah ihn an und fühlte, wie ihre Wut langsam verrauchte und sich ein zärtliches Lächeln auf ihre Lippen schlich. Sie würde schon noch auf eigene Faust herausfinden, was Lupin mit seiner rätselhaften Anspielung gemeint hatte; in diesem Moment aber interessierten sie Snape und vor allem sein Körper am meisten und ließen alles andere nebensächlich erscheinen.

„Du solltest vielleicht besser die Tür schließen, mein Liebling“, hauchte sie ihm noch sanft ins Ohr, während ihre Finger bereits langsam unter seine schwarze Robe glitten.

 

***

 

„Jiang Li?“

Minerva McGonagall stand in der Tür des Lehrerzimmers und flocht nervös die Hände ineinander. Jiang Li hob den Kopf vom letzten Pergamentstapel, der die Hausaufgaben des zweiten Jahrgangs darstellte, und hob erstaunt die Augenbrauen.

„Kommen Sie bitte unverzüglich mit mir mit. Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit“, meinte McGonagall mit barscher Stimme und wedelte ungeduldig. Jiang Li fühlte plötzlich ein unbestimmtes Gefühl der Angst in ihrer Magengegend. Um die Sache noch ein wenig aufzuschieben, schüttelte sie ablehnend den Kopf.

„Tut mir leid, Minerva, aber bis elf Uhr muss ich die Hausarbeiten der Ravenclaws korrigiert haben. Vorige Woche konnte ich …“

McGonagall sah sie eine kurze Weile stumm an und setzte dann ein gezwungenes Lächeln auf, das sie wohl beruhigen sollte. In ihre Augen dagegen standen Sorge und Mitleid geschrieben.

„Bitte, Jiang Li. Es ist sehr wichtig. Ob die Schüler ihre Arbeiten heute oder mit etwas Verspätung erhalten, ist wirklich egal.“

Offensichtlich wirklich ernst. Ohne weitere Einwände folgte sie der resoluten Dame aus dem Zimmer und ging mit immer weicheren Knien durch die Gänge, hörte im Vorbeigehen das Flüstern der Gemälde, sah die Graue Dame, die sie mit ruhiger, ungerührter Miene musterte, und fühlte, wie sich die Angst wie ein loderndes Buschfeuer immer weiter in ihr ausbreitete.

Wieder gingen sie den düsteren Korridor entlang, der zu Dumbledores Turmzimmer führte, einen Weg, den Jiang Li nun schon unzählige Male gegangen war, doch heute schien er wie verwandelt, dunkler, bedrohlicher, selbst der hässliche Wasserspeier schien sie grimmig anzublicken …

Mach dich nicht lächerlich, sagte sie sich selbst und atmete tief ein, während sich die Wendeltreppe langsam nach unten in ihre Richtung bewegte. Nichts hat sich verändert, das bildest du dir bloß ein. Vielleicht übertreibt McGonagall ja auch nur und in Wirklichkeit ist alles nur halb so schlimm –

Aber McGonagall hatte im Gegensatz zu Sibyll Trelawney leider nicht die Angewohnheit, unwichtige Dinge übermäßig aufzubauschen.

Dumbledore stand groß und ernst hinter seinem Schreibtisch. Das fröhliche Funkeln in seinen strahlendblauen Augen war verschwunden; eine steile Falte hatte sich tief zwischen beide Augenbrauen eingegraben.

Sie blieb mitten auf der Schwelle stehen und starrte ihn mit großen Augen an.

„Es tut mir sehr leid, Jiang Li –“

Ihre Lippen bewegten sich zwar, doch aus der plötzlich eingetrockneten Kehle löste sich kein Ton.

„Die Nachricht ist soeben eingetroffen“, meinte Dumbledore rasch und streckte ihr eine schmale Pergamentrolle hin. Einen kurzen Moment lang fragte sich Jiang Li, warum gerade Dumbledore und nicht sie dieses Dokument zuerst erhalten hatte, als die wenigen Zeilen jeden anderen Gedanken aus ihrem Kopf vertrieben.

 

Deinem Urgroßvater geht es sehr schlecht. Jede Sekunde zählt. Komm so schnell du kannst.

Mutter

 

Im ersten Moment konnte sie es gar nicht glauben. Verstört drehte sie das Pergament zwischen ihren Fingern hin und her, entdeckte außer Absender und Adresse aber nichts weiter. Ihre Mutter hatte es offensichtlich nicht für nötig befunden, irgendwelche erklärenden Worte hinzuzufügen.

„Das hier wurde per Eilkurier weitergeschickt. In den Postämtern kann man Nachrichten per Feuer hin- und hersenden, eine Eule würde das in der Geschwindigkeit ja gar nicht schaffen“, sagte Dumbledore, der anscheinend ihre Gedanken erraten hatte.

„Ich werde Ihnen helfen, Ihre Sachen zu packen“, warf Minerva McGonagall diskret ein und nickte Dumbledore über Jiang Li hinweg zu.

„Mmmh …“

Jiang Li war völlig ratlos und rührte sich erst von der Stelle, als McGonagall sie mit sanfter Gewalt an der Schulter packte und aus dem Zimmer führte.

Urgroßväterchen? Unmöglich. Er hat doch die Konstitution einer Schildkröte …selbst Shou-xing würde da neidisch werden –

Sie begriff nicht. Es war fast, als würde eine andere Person über die Treppe nach unten steigen, die dunklen Korridore entlang bis zum Ravenclaw-Turm und dann hinauf in den sechsten Stock, wo ihre Wohnung lag.

Das kann doch nicht sein. Im Sommer war er noch frisch und munter. Mutter hat sich sicher geirrt. Sie neigt sowieso dazu, immer alles schwärzer zu sehen, als es dann im Endeffekt ist.

„… Jiang Li?“

Sie hatte die Frage, die McGonagall ihr mit milder Stimme gestellt hatte, nicht einmal verstanden, trotzdem nickte sie zustimmend. McGonagall seufzte leise auf und fuhr fort, ihr einige Kleider in den kleineren der beiden Koffer zu packen.

 

Die resolute alte Dame begleitete Jiang Li schließlich noch nach Hogsmeade und klopfte ihr vor dem Postamt in Ermangelung tröstender Worte derb auf den Rücken.

„Wird schon wieder, Jiang Li. Bitte melden Sie sich sobald wie möglich. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“

Jiang Li nickte stumm und zog den warmen Umhang enger über der Brust zusammen. Sie fühlte sich matt und leer, die Müdigkeit steckte in ihrem Kopf und schien sie zu lähmen. Noch immer konnte sie sich nicht vorstellen, dass es ihrem Urgroßvater wirklich schlecht ging. Dass er möglicherweise wirklich sterben musste.

„Zauberstabkontrolle!“

Wortlos händigte sie dem Diensthabenden ihren Zauberstab aus und ließ ohne jede Widerrede auch noch das Gepäck kontrollieren.

„Verdammt anstrengende Strecke haben Sie da vor sich, mein Fräulein“, knurrte der Postbeamte und kniff abschätzig das rechte Auge zu. „Da werden Sie sicher um die zehn, zwölf Stunden unterwegs sein!“

„Schon recht“, gab sie teilnahmslos zurück und zahlte die 27 Galleonen Reisegebühr für die Expressverbindung. Der Beamte nickte beifällig.

„Da lohnt sich jeder Sickle! Ein Glück, dass das Netzwerk schon so gut ausgebaut ist.“

„Wiedersehen.“

Jiang Li wandte sich ab und marschierte zum nächsten freien Kamin. Beinahe hätte sie ihren Zauberstab auf der Theke liegenlassen.

Von Schottland aus benutzte sie die Hauptverbindungen des Floo-Netzwerkes über Berlin, Kiew und Wolgodonsk, fühlte die Kälte in Russland kaum, vergaß zu essen oder zu trinken, obwohl sie über drei Stunden in einer zugigen Halle warten musste und erst Mitte des Nachmittags weiter nach Orsk, Urumchi und Yumen reisen konnte.

In der Mongolei schließlich saß sie wieder fest. Das Netzwerk sei hoffnungslos überlastet, erklärte ihr der zuständige Beamte, der ihr nervöses Gesicht mitleidig musterte; er riet ihr, es in ein bis zwei Stunden wieder zu versuchen. Jiang Li hatte Mühe, sein breites Chinesisch zu verstehen.

In Baotou herrschte eine trockene Kälte, wie sie Jiang Li am Huashan noch nie erlebt hatte. Als sie nach draußen trat, schien es ihr die Luft geradezu aus der Kehle zu pressen; es war, als würde sie gefrorene Glassplitter atmen. Das Barometer an der Außenwand zeigte minus 25 Grad Celsius an.

„Bei Merlin!“ Hastig trat sie wieder ins Innere des Gebäudes zurück.

Hinter ihr schlug die Tür mit einem heftigen Knall zu und ließ eine Woge der eisigen Luft nach drinnen schwappen. Der Beamte hinter seinem Tisch lachte und rief ihr auf Mongolisch etwas zu, wovon sie kein Wort verstand. Die anderen Bediensteten stimmten in sein Lachen ein.

Sie hatten es sicher nicht böse gemeint, trotzdem fühlte Jiang Li mit Schrecken, wie sich in ihrer Kehle plötzlich ein dicker Kloß bildete. Sie schaffte es gerade noch bis zu den Toiletten, sperrte sich in eine der kleinen Kabinen ein und begann krampfartig zu schluchzen.

Nach einer Weile klopfte es kräftig an der Tür.

„Kosto chhaa?“

Jiang Li verstand zwar kein Wort, hielt es aber trotzdem für das Beste, sich erst einmal die Nase zu putzen und aus der Hocke aufzustehen. Hier in Baotou gab es keine Sitztoiletten.

Eine zweite Stimme ertönte kurz darauf gedämpft aus dem Hintergrund.

„Látriin kaháan hai?“

Verdammt. Man konnte wirklich nicht einmal zehn Minuten in Ruhe auf dem Klo sitzen und heulen. Wenigstens hatte Jiang Li durch die Unterbrechung ihre Fassung so halbwegs wieder gefunden. Sie schniefte noch einmal, straffte die Schultern und trat aus der Kabine.

Vor sich sah sie eine zierliche Frau stehen, kleiner noch als sie selbst, die gerade die Faust erhoben hatte um vermutlich noch einmal mit mehr Nachdruck gegen die Tür zu schlagen.

Die Frau grinste sie frech an und rollte gespielt entnervt die Augen.

„Dhaanyaabaad!“

„Dumme Nuss“, murmelte Jiang Li unhörbar, während das fragile Persönchen mit einem lässigen Winken in der Toilettenkabine verschwand und trat mit gerunzelter Stirn zu den Waschbecken. Ihre Augen waren stark gerötet und geschwollen; sie verfluchte sich selbst wegen ihrer Schwäche. Peinlich war das alles, gut, dass sie nur die Kleine da gesehen hatte.

WAMM. Mit voller Wucht knallte ihr die Türklinke in den Rücken und ließ sie für einen Moment heftig nach Atem ringen. Offensichtlich hatte nun auch die Besitzerin der zweiten Stimme den Weg zum stillen Örtchen gefunden.

Ein verwirrtes Gesicht schaute zu ihr herein.

„Maaf kíijiye!“

„Schon gut“, knurrte Jiang Li zurück. Das Gesicht der jungen Inderin hellte sich trotz des missmutigen Tonfalls auf.

„Ah! Chinese!“

„Genau.“ Jiang Li warf der jungen Frau noch einen versteckten, vorwurfsvollen Seitenblick zu und glättete notdürftig mit den Fingern ihr zerzaustes Haar. Hinter ihr erklang ein respektloses Kichern. Die zierliche Frau stand wieder hinter ihr.

„Mero naam Putaali ho.“ Mit der rechten Hand wies sie zuerst auf sich und dann auf das andere Mädchen.

„Und sie hier heißt Sáahsii.“

Jiang Li stellte sich ebenfalls vor und zwang sich zu einem Lächeln. Die beiden Frauen erzählten ihr auf Englisch, dass sie sich gerade auf der Durchreise nach Sibirien befanden.

„Dort soll es Schamanenpriester geben, die bei Weitem mächtiger sind als alle Magier Asiens zusammen, stell dir vor!“ Putaali und Sáahsii strahlten und waren sichtlich in ihrem Element. Jiang Li grunzte nur zustimmend und stöhnte unterdrückt auf. Sie fühlte sich eigenartig.

Sáahsii bemerkte es als Erste.

„Fehlt dir etwas? Du bist ja ganz blass!“

„Hast du denn schon was gegessen?“, erkundigte sich Putaali besorgt und drückte ihr zuvorkommend eine Scheibe Fladenbrot in die Hand. Von Sáahsii bekam sie einen mit dampfender, würzig riechender Flüssigkeit gefüllten Becher.

„Was ist das?“

„Masáalaa tschaaii. Tee mit Ingwer, Kardamom und so weiter. Kaum etwas stillt Durst besser, obwohl Putaali nichts über ihr eigenartiges Hirsebier kommen lässt.“

 

Sie unterhielt sich über zwei Stunden mit der Nepalesin und ihrer indischen Freundin; die beiden sprachen begeistert über ihre Erwartungen an Sibirien und die erhofften Lektionen bei den ansässigen Zauberern.

Jiang Li war froh über das locker dahinplätschernde Gespräch; sie brauchte nur hie und da ein paar zustimmende Laute von sich zu geben. Glücklicherweise hatten sich die beiden mit ihrer Erklärung, sie wolle sich für ein paar Tage zu Hause erholen, ohne weitere Fragen zufriedengegeben.

„… umso erstaunlicher, weil es in Russland doch gar keine richtigen Stupas gibt, oder? Können die Kraftorte dort denn überhaupt optimal genutzt werden?“, drang es plötzlich an ihr Ohr. Jiang Li brauchte eine Weile, bis ihr die Worte voll zu Bewusstsein kamen.

Kraftorte. Lupin hatte doch –

Noch ehe sie eine Frage stellen konnte, fuhr Putaali hitzköpfig hoch und warf ihrer Freundin einen strafenden Blick zu.

 „Sei doch nicht so dumm, verflixt noch mal! Es muss nicht immer ein Tempel sein, damit die Erdenergie gebündelt werden kann!“

„Wovon redet ihr zwei da eigentlich?“

„Angewandte Geomantie, Jiang Li. Hast du dich denn noch nie damit beschäftigt?“

„Das sind doch bloß Kindereien, oder etwa nicht?“

Putaali warf den Kopf in den Nacken und lachte laut und ungebremst los.

„Entschuldige bitte, aber wie einfältig du doch bist! Verfügst du über die Kenntnisse der geodätischen Eigenschaften eines Landes, so steht dir der Weg zur Beherrschung der unterirdischen Energieströme bereits offen. Du solltest dich wirklich mehr mit Feng-Shui befassen! Kaum zu glauben, dass du dich noch nie damit beschäftigt hast, noch dazu, wo du doch aus einem Land kommst, in dem es mehr als genug Material zu dem Thema zu finden gibt! „Kindereien“ sagt sie, haha!“

Jiang Li kam sich sehr dumm vor, als nun auch Sáahsii in das schallende Gelächter einfiel.

   

Ehe sie das Thema allerdings weiter vertiefen konnten, schollen magisch verstärkte Stimmen in verschiedenen Sprachen durch den Wartesaal.

„Verbindungen nach Beijing, Ulan Bator, Nerjungri, Xining und Taiyuan werden in wenigen Minuten frei. Bitte begeben Sie sich mit Ihrem Gepäck unverzüglich zu den gekennzeichneten Kaminen.“

Putaali und Sáahsii sprangen eilig auf und schlangen aufgeregt die Arme um Jiang Li.

„Namasté!“

„Bye bye, Jiang Li. Willst du nicht doch mit uns nach Jakutsk kommen? Wir würden uns freuen.“

„Ja, genau!“, fiel die junge Inderin ihrer Freundin ins Wort. „Dann könnten wir auch alle drei gemeinsam bei den Schamanen in die Lehre gehen!“

Jiang Li erwog für einen Moment wirklich ernsthaft die Möglichkeit, einfach alles hinter sich zu lassen und spurlos in den Weiten der Taiga zu verschwinden. Kein Nachdenken mehr, keine Verpflichtungen – Dann allerdings schüttelte sie trotz allem mit leichtem Bedauern den Kopf.

„Lebt wohl und macht es gut, ihr zwei. Sibirien ist mir da doch zu kalt.“

„Vielleicht überlegst du es dir ja trotzdem irgendwann noch mal“, grinste Putaali keck. „Dort könntest du sicher auch deine Wissenslücken füllen …“ Sie lachte und winkte Jiang Li zum Abschied noch einmal übermütig zu, ehe sie ihr Gepäck mit dem Zauberstab antippte und die Weiterreise nach Ulan Bator antrat.



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