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My Dear Brother

The Vampires
von

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Letzte Chance

Es ist vorbei. Endgültig. Das war mein Leben. Es war im Grunde nicht lang. Aber es war erfüllt. Mit Freude, Glück und Liebe. Manchmal auch mit Hass, Trauer und Enttäuschung. Doch wenn ich in meine Vergangenheit blicke, sehe ich nur ihn. Nur meinen geliebten Bruder. Wie er nackt auf mir liegt, im Wald, auf der Lichtung. Wir beide ganz allein, zusammen glücklich; neben uns hätte die Welt untergehen können. Der Moment hätte nicht schöner sein können, das Leben hätte nicht erfüllter sein können.

Doch jeder Moment endet.

Und jedes Leben stirbt.

 

 

 

 

Ich lag in meinem Bett, erschöpft und bis zum Kinn zuge­deckt, obwohl es ziemlich warm war. Der Verband kratzte ein wenig. Ich starrte auf meine weißen Hände, die sachte auf meinem Bauch lagen. Mein Blick schwenkte zu Mamoru. Er packte meine Sachen in den Koffer. Stück für Stück, geordnet und sauber.

»Mamoru, du brauchst das nicht machen …«, murmelte ich ihm zu und versuchte langsam die Decke von mir zu strampeln.

»Nein, Herr Hiroshi, Sie sind immer noch verletzt. Überlassen Sie das mir. Schlimm genug, dass Sie morgen fliegen wollen.«

Ja, es war schon Donnerstag. Eigentlich wollten Kiyoshi und ich heute schwänzen. Nun konnten wir jetzt so oder so nicht in die Schule. Ich seufzte kurz, legte mich sachte wieder unter die Bettdecke und drehte mich auf die Seite. Es schmerzte noch etwas, aber erträglich. Ich schloss die Augen und versuchte noch etwas zu schlafen.

 

Als Kiyoshi mich vor Vincent gerettet hatte, dachte ich für einen kurzen Moment, ich sei mit ihm in Sicherheit, doch ein Hunter wäre keiner, wenn er nicht alles versuchen würde, seine Beute zu erledigen. Er warf seine Stange, Speer, Pfahl oder was auch immer es war auf uns zu. Wir wurden quasi durchbohrt, durch Kiyoshi, durch mich, in die Wand. Der Direktor hatte der Sekretärin anscheinend befohlen, meinen Vater anzurufen. Denn als er kam, sah er Vincent und seine Tat und verlor die Kontrolle. Ich habe nicht ganz verstanden, was genau passiert ist, aber Vincent ergriff wohl die Flucht und ist seitdem verschwunden. Vater und der Direktor riefen sofort Ärzte, die natürlich nur für Vampire zuständig waren. Aus irgendeinem Grund schienen keine wichtigen Organe beschädigt worden zu sein, sodass wir außer Lebensgefahr waren. Glück im Unglück. Kiyoshi schien es jedoch schlimmer getroffen zu haben, da er noch im Krankenhaus liegt. Aber es geht ihm gut, ich durfte schon mit ihm telefonieren. Trotzdem liegt ein großer Stein auf meinem Herzen. Getrennt von ihm zu Hause zu sein, im Gewissen, dass er noch nicht gesund ist. Der Stein füllte sich auch mit anderen Dingen an. Ich hatte mich immer noch nicht verwandelt. Vincent hatte die Verwandlung mit seinem Angriff unterbrochen. Jetzt warte ich immer noch auf mein Ende. Ich durchdachte meine Entscheidung auf dem Weg vom Kranken­haus nach Hause noch einmal ganz genau. Ich kam zu dem Entschluss ein Vampir werden zu wollen. Tod hin oder her, mein Leben zählt. Es ist immer noch ein Unterschied richtig tot zu sein oder ein totes Leben zu führen. Das habe ich durch diesen Vorfall erkannt. Nichts sollte mich von Kiyoshi trennen.

Mein Flug ging morgen wie geplant. Mein Vater rief meine Mutter an, erzählte ihr irgendeine Lüge, um sie nicht zu beunruhigen, wieso ich nicht auf ihre unzäh­ligen Anrufe geantwortet hatte. Ich wollte noch nicht mit ihr sprechen. Auf irgendeine Weise hatte ich verdammt viel Angst, sie zu hören oder zu sehen. Sie würde erkennen, dass ich nicht mehr derselbe bin. Sie würde sehen, dass ich tot bin. Dass ich aussehe wie Vater und Kiyoshi. Zudem hatte ich Angst meine Freunde wiederzusehen. Sie würden es doch auch erkennen. Vor all dem hatte ich fürchterliche Angst. Trotz allem hatte ich das Bedürfnis nach Hause zu gehen, in die kleine Wohnung, in mein knarrendes Bett, in meine alte, abgewrackte Schule. Alles hinter mich lassen, was hier geschehen war und ein neues ‚Leben’ beginnen. Trotzdem wurmte es mich, was jetzt aus Vater und Kiyoshi werden würde. Vincent ist zwar verschwunden, kommt aber sicher wieder. Er war ein Feind der Vampire und suchte meinen Bruder. Mich sucht er sicher auch, aber bis er mich im Süden gefunden hat, wird es sicher noch dauern. Aber Vater und Kiyoshi wohnen noch hier. Er wird sicher wieder kommen, den Tod meines Bruders verlangen.

Ich würde ihn morgen verlassen. Für eine ganze Weile werde ich ihn nicht mehr sehen. Die Angst, wir könnten uns aus den Augen verlieren, stieg in mir von Minute zu Minute. Innerlich, im Traum, sehe ich mich immer auf einer alten Bank im Wald sitzen, alleine, hoffend auf Erlösung, auf jemanden, der mir Beistand leistet. Kiyoshi setzt sich oft zu mir, geht aber auch immer wieder. Ich verliere ihn aus den Augen, wieder und wieder. Gestern dachte ich für immer. Als die Ärzte versuchten ihn mit Blut wieder zu beleben, hatte ich erst Befürchtungen es würde nicht funktionieren. Auch mir hatten sie Blut gegeben, doch ich würgte es wieder aus. Ich bin noch immer ein Mensch … mit vampirischen Zügen. Nur Kiyoshis Blut schien bisher drinnen zu bleiben.

Die ganze Schule blickte uns hinterher, dem Krankenwagen. Dieser Augenblick brannte sich in mein Gedächtnis, ich werde ihn nie vergessen. Meinen nahen Tod. Die Stunden und Tage sind immer noch gezählt.

 

Der Tag neigte sich dem Ende, die letzten Sonnenstrahlen schienen noch in mein Zimmer, hin und wieder klapperten die Rollläden durch den Wind. Mamoru ging, als er mit Packen fertig war. Es roch so nach Abschied. Eine Woche Grauen, eine Woche Angst, Trauer und Wut. Eine Woche lang Schmerzen, so viele Veränderungen durchlebt. Ich habe die Wahl: Leben oder Tod.

Die Tür knarrte ein wenig, als sie zaghaft geöffnet wurde. Langsam blinzelte ich über die Decke hinweg und erblickte ihn. Der Geruch von Krankenhaus zog durch den Raum. Ich lächelte vorsichtig, setzte mich auf. Er kam auf mich zu, setzte sich auf das Bett und sah mich an. Ein trauriges Lächeln fuhr über seine Lippen. Wir beide wussten was jetzt kommen würde. Die letzten Stunden sollten ihm gehören. Sachte legte ich meine Hände auf sein Gesicht und küsste seine Lippen. Ich spürte seine Finger in meinem Nacken, wie sie mich streichelten. Kalt und leblos, wie immer. Es wurde mir egal, ob wir jetzt erwischt werden würden. Der Kuss intensivierte sich, doch hörte abrupt auf.

»Wie geht es dir, Hiro?«, fragte er, meine Hände in seinen haltend.

»Besser. Die Wunde heilt schneller als erwartet.«

Er nickte.

»Und dir? Wie geht’s dir?« Besorgt musterte ich ihn.

»Alles bestens. Ich muss noch ein paar Medikamente nehmen, aber nicht lange. Die Wunde ist so gut wie verheilt, morgen vor dem Flug bekomme ich noch die Fäden gezogen.«

»Hoffentlich dauert es nicht so lange, immerhin will ich mich morgen noch von dir verabschieden, bevor ich fliege.«

Schweigen. Wir beide starrten auf den Boden. Unsere Hände, fest miteinander verbunden, lagen auf der Bettdecke. Es war so traurig, wie lange nicht mehr. Ich hatte geahnt, dass dieser Tag kommen würde. Und er war grausamer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Nach all dem, was jetzt passiert war. Wie oft dachte ich, ich würde sterben. Wie oft war doch nichts passiert. Wie oft kam ich grade so noch mit dem Leben davon. Das alles war ja kein Vergleich. Dieses drückende Gefühl, eine geliebte Person für eine ganz schön lange, unbekannte Zeit zu verlassen, tat mehr weh, als irgendein physischer Schmerz.

Wir beide wussten, dass ich morgen gehen würde. Eine Verlängerung dieses Urlaubes wäre tödlich gewesen. Eigentlich war es vorgesehen, dass, wenn ich mich nicht bis zu meiner Abreise verwandeln sollte, ich länger hiergeblieben wäre, doch aufgrund der Gefahr von Vincent getötet zu werden, war das nicht mehr möglich. Das war klar.

Ich hörte ihn auf einmal schluchzen. Wie er seine Lippen aufeinander presste, um nicht zu weinen. Ich sah ihn an, dieses zarte Gesicht, welches mir seinen inneren Schmerz zeigte, war auf der einen Seite so faszinierend wie immer, aber doch ergreifend zugleich. Sachte legte ich meine Stirn auf seine. Da tropfte die erste Träne auf meine Hand.

»Hör auf zu weinen, sonst muss ich auch …«, flüsterte ich ihm zu. Er lachte kurz auf, formte seine Lippen kurz zu einem Lächeln. Er drückte seine Augen zu, um die Tränen zu stoppen, doch sie flossen unerbittlich weiter.

»Du heulst doch auch …«, murmelte er und sah mich mit einem traurigen Lächeln an. Ich versuchte zurückzulächeln, küsste ihn vorsichtig auf seine Lippen.

Wir hatten nichts. Nur die Erinnerung an den jeweils anderen. Funkstille. Nicht mal der telefonische Kontakt würde uns gelassen sein. Vincent könnte es zu mir zurückverfolgen...

Leidenschaftlich ließen wir uns auf das Bett fallen, verfielen dem Kuss immer weiter. Ich spürte, dass wir beide versuchten die Zeit in irgendeiner Form anhalten zu können. Es ging nicht.

Ich hätte ihn gerne noch ein letztes Mal gehabt. Ich spürte in seinem Kuss, dass er den gleichen Gedanken fasste. Jedoch waren wir verwundet, Vater und Mamoru waren da und umsorgten uns zu jeder Stunde. Es war also so gut wie unmöglich. Also ließen wir es.

 

Nach wenigen Minuten der Hingabe, lösten wir uns vonein­ander. Ich starrte in seine leeren, gequälten Augen. Er in meine. Unsere Hände zusammen in der Mitte von uns. Wir lagen uns gegenüber auf der Seite und sagten nichts. Um uns diese verdammte Stille. Hin und wieder küssten wir uns flüchtig auf den Mund, ließen wieder voneinander ab und starrten uns weiter an. Die Gedanken standen uns im Gesicht geschrieben. Ich wusste woran er dachte und er wusste es von mir. Die Geschehnisse, die unkontrolliert passiert sind, lagen in der Vergangenheit, nicht veränderbar. Der Verdauungsprozess der Gefühle fing langsam an, ich realisierte endlich in was für einer Situation ich mich befand. In welcher er sich befand. Gefangen in einem Käfig, aus dem es kein Entkommen gab.

Wir sind Vampire, Brüder, Zwillinge und zuletzt Männer. Verbotener konnte es eigentlich schon gar nicht mehr werden. Aber Gefühle wären keine Gefühle, wenn sie kontrollierbar wären. Dieses Tabuthema ließ mich einerseits nicht los, doch konnte ich es gut verdrängen. Jedenfalls für diesen einen Moment.

Wir hörten Vater kurz etwas lauter reden, wie eine Tür zufiel und die Stille wieder eintrat. Trotzdem nichts zu hören war, lauschten wir weiter. Er schien mit irgendwem zu reden. Ohne den Augenkontakt zu lösen, sahen wir uns neugierig an. Mit wem er wohl sprach? Vielleicht Mamoru?

»Hörst du ihn auch?«, fragte Kiyoshi plötzlich flüsternd. Jedoch sah ich ihm an, dass es mehr eine rhetorische Frage war, als eine erst gemeinte.

»Ja … mit wem er wohl spricht?«, flüsterte ich zurück. Seine kratzige, dunkle Stimme zu hören war so angenehm. Es erinnerte mich an früher. An unsere erste Begegnung, wo Vater und Kiyoshi mich ziemlich geängstigt haben. An den Ausflug in die Stadt, in der ich nur einmal war, obwohl ich gerne noch einmal hingegangen wäre. An die verhängnisvolle Nacht mit ihm, die mein Schicksal bestimmte. An die Shoppingtour in Chloes Laden, die ich auch gerne noch einmal wiedergesehen hätte. An meinen ersten Schultag, der so aufregend wie auch erschreckend blutig war. An die Erkundungstour durch diese Villa, die mir so einige Informationen über meine Familie brachte und meine geheimen Klavierspielkünste weckte. An diese Nacht danach. An das Gespräch mit Vater und Mutter. Das Gespräch mit ihm. Das Liebesgeständnis, der Sex im Wald, Mamorus Mitwissen, Vaters scheinbare Unwissenheit, der verhängnisvolle Schultag, Vincent, das baldige Ende, meine knappe Verwandlung und so vieles mehr. So viele Dinge verknüpfte ich mit ihm. Gute wie auch Schlechte. Mein Leben: eine 180 Grad Wendung im Schnelldurchlauf. Alles spielte sich in meinem Kopf wie ein Tape ab. Wie ein schlechter Horror­film, ein beschissener Vampirfilm. So eine Vampirsaga, auf die diese Kids immer stehen. Alle wollen Unsterblichkeit, den ganzen Tag sich von Blut ernähren, dunkle und obskure Dinger reißen, nachts auf Friedhöfen spuken und Satan anbeten. Oder so ähnliche Dinge. Früher reizte mich so ein Leben auch. Ein Leben voller Spaß und Fete, nie einen Gedanken an das Notwendigste verschwenden. Schule, Eltern, System, Pflichten, Bestimmungen, Ziele. All das wäre nicht mehr. Verlockend für kleine Erwachsene.

Die Realität sieht anders aus. Erschreckender. Man ist ein Monster, gefangen in seinem eigenen Käfig. Es wäre Mord den Käfig zu verlassen. Wie ein elender Köter an einer Leine gefesselt, muss man vom nötigsten Leben, versteckt unter der dicken Wolkenschicht oder dem leuchtenden Mond. Synthetikblut aus Kapseln, Spritzen, Tabletten oder Plastikflaschen trinken, bevor man stirbt. Blässe, die alle Adern und Venen preisgibt, die alle anatomischen Feinheiten deines Körpers für alle sichtbar macht. Das unkontrollierbare Monster in dir, welches jederzeit zu erwachen droht. Das ist ein Vampir. Das ist die Verdammnis.

 

Kiyoshi schien meinen Gedanken nicht folgen zu können. Ich driftete ab, vergaß, wo ich war.

»Hiro …?«, fragte er vorsichtig und leise dazu. Wie aus der Trance zuckte ich leicht zusammen und sah in seine besorgten Augen, immer noch leicht mit Tränen gefüllt.

»Tut mir Leid … Ich …«, versuchte ich zu erklären.

»Schon okay. Es ist viel mit dir passiert, das muss wirklich hart für dich sein …« Dabei streichelte er mein Gesicht und gab mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich lächelte zurück, während ich eine angenehme Wärme an meinem Herzen spürte. Vorsichtig rutschte ich nähe an ihn, küsste ihn auf seine kalten Lippen.

»Ich liebe dich, Kiyoshi …« Ich sah ihm tief in die Augen. Er schloss seine.

»Ich dich auch, Hiro … mehr als alles andere«, flüsterte er und küsste mich.

Mein Herz machte leichte Sprünge. Wäre nicht dieser Stein, der auf ihm läge, so würde es sich um einiges mehr freuen.

 

Nach einigem Schweigen, dachte ich wieder an das Studio. Es war so wunderschön, wenn die Sonne herein schien. Wahrschein­lich war es nur noch ein fades Licht, trotzdem verspürte ich den Drang noch einmal in dieses Zimmer zu gehen.

»Kiyoshi? Kommst du mit?«

Als ich aufstand und seine Hand hielt, ihn fragend ansah, verstand er wohl erst nicht ganz, was ich meinte. Er nickte zögerlich, stand ebenfalls auf und folgte mir durch den dusteren Gang. Wir hörten wieder Vater, wie er streng mit jemandem sprach. Wer es auch war, es interessierte mich nicht.

»Ins Studio? Wieso willst du da rein?«, fragte Kiyoshi leise, folgte mir aber trotzdem weiter.

»Es hat eine schöne Atmosphäre …«, murmelte ich und betrat mit ihm das leicht erhellte Zimmer. Vorsichtig schloss ich die Tür und ging zum Klavier. Ich öffnete den schwarzen Deckel und setzte mich auf den Samthocker.

»Kannst du spielen?«, fragte Kiyoshi und umarmte mich um meinen Hals.

»Ein bisschen … Also nicht wirklich, ich habe es mir Diens­tag selber beigebracht.«

Er lachte kurz und setzte sich neben mich.

»Dann spiel mal was«, forderte er mich auf. Ich atmete tief ein, streckte meine Hände von mir und dehnte sie  gespielt professionell. Kurz verharrte ich in dieser Position, spähte zu Kiyoshi; wir beide lachten los. Zaghaft und zögerlich, aber von Herzen, als ob nie etwas Schlimmes passiert wäre. Dieser Raum hatte diesen Art von Zauber, alles zu vergessen und nur im Moment des Seins zu leben.

Ich legte meine Finger auf die Tasten und spielte ein kleines Stück. Manchmal verspielte ich mich, suchte eine Taste, verharrte auf einer für viel zu lange Zeit. Als ich nicht mehr spielen konnte, hörte ich auf und lehnte mich zurück. Ich grinste Kiyoshi an, er mich, nickte anerkennend, dann starrten wir beide aus dem Fenster.

 

Plötzlich fing er an zu spielen. Eine summende Melodie durchfuhr den Raum. Ich sah ihm zu, wie seine dünnen Finger über die Tasten huschten, eine warme Melodie produzierten. Der Flügel harmonierte mit der Atmosphäre im Raum, tunkte alles in eine weiche Stimmung. Ein so wunderbares Stück, das er spielte. Ich genoss es bis zur letzten Note. Als er aufhörte, legte er seine Hände auf seinen Schoß.

»Wie lange spielst du schon?«, fragte ich vorsichtig.

»Lange … vielleicht schon zehn Jahre oder länger, ich weiß es nicht mehr …«, nuschelte er mir entgegen. Ich nickte.

»Dieser Raum hier … er hat wirklich etwas zauberhaftes«, sagte er, sich umschauend. »Ich war lange nicht mehr hier.«

»Diese Bilder, sind die von Vater?« Ich deutete auf den Stapel der alten Bilder, von denen auch das eine mit meiner Mutter war.

»Ja, die sind schon ziemlich alt. Vater will sie nicht weg­schmeißen, er hängt sehr an ihnen.«

»Mutter ist zu sehen …«

»Ja, ich weiß …«

»Kann sie eigentlich Harfe spielen?«

»Weiß ich nicht … Du meinst, weil sie auf dem einen Bild mit der Harfe zu sehen ist?«

»Ja, genau.«

Er schwieg. Dann zuckte er die Schultern und wendete seinen Blick wieder gen Flügel. Wusste er wohl auch nicht.

»Wer spielt hier eigentlich Geige?«

Er grinste mich an.

»Ich.«

Meine Augen wurden groß, leuchteten schon fast. Er lächelte mich warm an, stand auf, gab mir einen flüchtigen Kuss und ging zur Kommode, worauf die Violine lag. Er nahm sie in Position und setzte zum Spielen an.

Es klang fast noch schöner, als das Klavier. So zart und ruhig. Aber traurig. Sehr traurig. Es holte uns in die Wirklichkeit zurück. Kiyoshi spielte noch etwas, hörte aber dann abrupt auf. Er ließ die Violine sinken und starrte zu Boden.

»Vater ist sehr traurig darüber, was passiert ist. Er wünschte, du könntest noch ein bisschen bleiben«, murmelte er schließlich. Ich erhob mich und ging langsam auf ihn zu.

»Ich wünschte, ich könnte auch noch etwas bleiben …«

Er sah verwundert auf.

»Ich dachte, du kannst diesen Ort hier nicht leiden?«

»Durch dich schon«, sagte ich lächelnd und strich über seine zarte Wange. Er legte die Violine wieder weg und umarmte mich. Sachte legte ich meine Hände auf seinen Rücken, während seine Finger über meine Schultern strichen.

»Ich werde dich vermissen«, murmelte er.

»Ich dich auch.«

Irgendwann gingen wir dann zurück. Ich verabschiedete mich innerlich von all den Dingen, die in dieser Villa waren. Ich hatte ge­hofft, er würde diese eine Nacht noch bei mir verbringen, aber er wollte anscheinend nicht Vaters Zorn noch kurz vor meiner Abreise unter Beweis stellen. Er verschwand nach einem Gutenachtkuss in sein Zimmer, ich ging noch schnell ins Bad. Ein Toilettengang war nötig, Zähne putzen und schnell frisch machen.

Ich betrachtete mich zum vorletzten Mal in diesem Spiegel. Erinnerte mich an das letzte Spiegelbild, welches mir Vincent gezeigt hatte. Hämisch grinste ich hinein.

»Hübsches Monster bist du geworden, du kannst stolz auf dich sein.«

Damit verließ ich das Bad auch wieder. Langsam trottete ich in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir. Natürlich schloss ich nicht ab, jetzt wusste ich ja, was auf mich zukommen könnte und ich hatte nicht so eine Angst vor Vaters Zorn wie Kiyoshi mich deinem Willen zu widersetzen. War eh die letzte Nacht. War eh das letzte Mal... Ich kuschelte mich in meine Decke und knipste das Licht aus. Es war dunkel geworden. Ich konnte nicht schlafen. Mein Herz war schwer und trübe. Zudem kam noch die Aufregung vor dem morgigen Flug. Die Begegnung mit meiner Mom. Die Begegnung mit meinem alten Leben. Ob das überhaupt funktionieren würde? Ich wusste es nicht, dachte lange darüber nach, bis ich doch einschlief. Die Erschöpfung siegte wohl über mich und meinen Körper. Ich träumte von nichts. Jedenfalls nichts Wichtiges, obwohl ich es mir wünschte. Ganz tief, weit unten in meinem Bewusstsein saß ich wieder auf der Bank im Wald. Dachte nach. Betrachtete die Wolken, wie sie an mir vorbeizogen. Ich hielt Kiyoshi feste an meiner Hand. Hin und wieder lächelten wir uns an, dann betrachtete ich wieder den Himmel. Aus Angst erwischt zu werden, küssten wir uns nicht, aber die Hände waren fest umschlossen, sodass uns niemand trennen konnte. Das war der einzige Beweis, dass er bei mir bleiben würde. Vielleicht sogar für immer. Das konnte ich nun sagen. Für immer.

 

Der Morgen begann mit meinem schrillen Wecker. Ich häm­merte auf ihn ein, knurrte innerlich, weil ich keine Lust hatte nach Hause zu fliegen. Die Begeisterung hielt sich schwer in Grenzen. Die ganze Woche auf diesen Tag hingefiebert und jetzt?

Langsam erhob ich mich und merkte schon: Sowohl mein körperlicher als auch geistiger Enthusiasmus für einen Aufbruch war sehr bescheiden. Trotzdem stand ich auf, ging direkt in Richtung Tür und öffnete sie. Beinahe stolperte ich über meinen Koffer, was mich an meinen ersten Aufbruchsmorgen erinnerte. Da bin ich auch gestolpert und zwar heftig. Mit einem leichten Grinsen stempelte ich das ab.

Wie in Trance begab ich mich auf den Gang, trabte ins Bad. Ich hörte unten Geklapper und Geräusche jeglicher Art. Als ich an Kiyoshis Tür vorbeiging, dachte ich erst kurz darüber nach, mal vorbeizuschauen, doch dann erinnerte ich mich an seine Ankündigung, die Fäden von der Wunde gezogen zu bekommen. Etwas enttäuscht schloss ich die Badezimmertür hinter mir. So schnell verging die Nacht; so schnell verging doch die Woche. Rückblickend vergeht immer alles schneller.

Eine kurze Dusche ließ mich richtig aufwachen. Bevor ich mich anzog, betrachtete ich noch meine Wunde im Spiegel. Bei mir musste zum Glück nicht genäht werden, trotzdem war eine dicke Kruste in der Mitte meiner Brust zu sehen. Sie war etwas aufgeweicht, sah nicht sehr appetitlich aus. Schnell verband ich sie wieder mit einem neuen Verband. Nach den vielen Eskapaden, wusste ich ja jetzt wo das Verbandszeug lag. Jetzt wo ich überhaupt wusste, wo was war, musste ich abreisen. Ich hatte sogar den Föhn gefunden.

Vorsichtig zog ich mich an, warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ich wollte mir keine Gedanken mehr darüber machen, was aus mir geworden war. Ich akzeptierte es einfach. Immerhin hatte ich auch keine andere Wahl, als damit klar zu kommen. Ich zupfte noch einige Haarsträhnen zurecht, kämmte schließlich doch noch einmal drüber und spekulierte über einen baldigen Frisörbesuch. Ich stützte mich auf dem Waschbecken ab.

Hier haben Vampire alles was sie brauchen, wie es wohl bei mir im Süden aussieht? Ob es dort auch Vampire gibt? Solche Gedanken flogen mir wieder durch den Kopf. Ich grinste noch einmal in den Spiegel. Dafür, dass mir sonst alles egal war und ich eigentlich nie nachgedacht hatte, grübelte ich jetzt oft genug hin und her.

Noch einmal richtete ich mein schwarzes Hemd, die ‚neue’ Hose und machte mich innerlich bereit in mein neues, altes Leben zu gehen. Mein Herz klopfte, doch ich freute mich, es noch zu hören. Es wird mir ziemlich fehlen, wenn es erst einmal so weit ist, dachte ich bei mir und ging schließlich aus dem Bad.

 

Die Haustür öffnete sich und herein kamen Kiyoshi und Vater. Ich lächelte den beiden schon zu, da klapperte Mamoru auf dem Gang. Langsam sah ich nach rechts, beobachtete, wie Mamoru mit einem riesigen Koffer aus Kiyoshis Zimmer kam.

»Was zum …?«, murmelte ich, das Spektakel weiter betrachtend.

»Hiro! Hiro!«, rief Kiyoshi und kam die Treppe mit einem so glücklichen Lächeln wie selten hoch gerannt. Er sprang mir in die Arme, hielt irgendetwas in der Hand.

»Wohow! Was ist denn los?«, rief ich ebenfalls, während wir uns einmal um uns selbst drehten.

»Ich fliege mir dir!«

Er hielt mir zwei Tickets vor die Nase und lächelte weiter. Es waren Flugtickets. Ich schwieg. Drehte mich zu Mamoru, der mittlerweile den Koffer auf den Gang befördert hatte. Sah wieder zu Kiyoshi.

»Du kommst mit?«, rief ich nun auch endlich freudestrahlend aus. Er nickte heftig. Sofort fielen wir uns wieder um den Hals, freuten uns wie zwei kleine Mädchen und sprangen und drehten uns im Kreis, hin und her.

»Das ist ja toll! Das ist richtig toll!«, sagte ich noch einmal und konnte mein Glück nicht fassen.

»Ja, das ist es«, wiederholte Kiyoshi. Wir lächelten uns beide an, sahen uns tief in die Augen. Meine Hände lagen noch auf seinen Armen; vorsichtig zog ich ihn an mich heran, setzte zum Kuss an. Wir beide schlossen die Augen.

»Lassen Sie mich mal bitte durch!«, rief Mamoru und drückte sich zwischen uns, sodass wir unsanft nach hinten gedrückt wurden. Erst wollte ich schon zu einem Satz ansetzen, doch dann sah ich Vater unten stehen, wie er uns beobachtete. Seine Miene war unergründlich, sanft ließ er seine Augen nach unten rollen. Damit folgte er Mamoru ins Wohnzimmer.

Fassungslos, dass er nichts gesagt oder getan hatte, sah ich ihm hinterher.

»Hiro?«

Dünne Finger zogen an meinem Hemd. Denen folgend sah ich wieder in das strahlende Gesicht. Wir setzten zum zweiten Mal zu einem Kuss an. Ich vergewisserte mich, dass Vater nicht hinsah und küsste ihn glücklich auf seine weichen Lippen. Die Arme um den jeweils anderen umschlungen, hielt Kiyoshi die zwei Flugtickets in der Hand.

Ich war so glücklich. Zwar hatte ich keine Ahnung, wieso ich ihn mitnehmen durfte, aber es war mir so egal. Nachdem wir beide uns schon auf ein Nimmerwiedersehen eingestellt hatten, konnte er nun mit mir kommen. Ich durfte ihn mitnehmen, er würde bei mir wohnen. Unsere Wohnung war so klein, dass er sicher bei mir schlafen müsste. Das gefiel mir. Das gefiel mir sogar sehr …

Händchenhaltend gingen wir gemeinsam kurz in sein Zimmer. Es war ziemlich leer geräumt, nur einzelne Gegenstände lagen noch verstreut auf dem Boden.

»Sag mal … wie lange bleibst du dann eigentlich?«, fragte ich, um die Stille zu unterbrechen. Der Moment war einfach viel zu schön, um jetzt zu schweigen.

»Keine Ahnung. Ich denke mal eine Woche, oder zwei.«

»Du weißt nicht wie lange zu bleibst?« So was weiß man doch!

»Ist mir ziemlich egal, weißt du«, summte er mir entgegen, gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund und tanzte auf die andere Seite des Zimmers. Er war also auch glücklich, wohl mehr als das.

»Sag mal, hast du deine Okkulten Kerzen und Räucherstäbchen etwa alle mitgenommen?« Ich deutete mit einem Finger auf das leere Regalbrett, auf dem vorher alles stand.

»Nicht alles … aber das meiste.« Er zuckte mit den Schultern und schien wohl darauf zu bestehen, dass diese Dinge mitkamen. Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

»Mom wird das bestimmt nicht erlauben …«

»Bin sowieso mal gespannt, wie sie reagiert, mich zu sehen.« Er packte einige Stifte noch in ein Mäppchen.

Ich stutzte.

»Weiß sie etwa nicht, dass du kommst?«

»Doch, doch. Vater hat sie gestern überredet. Wegen Vincent und die ganze Geschichte.«

»Wohow! Moment!«, rief ich aufgebracht. Er drehte sich zu mir um, während er mit seiner Aktivität innehielt.

»Sie weiß bescheid?«, quietschte ich schon fast vor lauter Aufregung.

»Dass Vincent hinter mir her ist? Ja, das weiß sie.«

»Nein, nein! Das andere!«

»Dass du ein Noneternal bist?«

»Ja, genau!«

»Nein, das weiß sie nicht«, sagte er gelassen und packte weiter die Stifte ein. Ich atmete feste aus und versuchte mich zu beruhigen.

»Echt, und ich dachte schon …«, murmelte ich und strich meine Haare nach hinten.

»Na ja …«, summte Kiyoshi, »Ein Vampir ist ja in ihrem Wissen da. Bin ja mal gespannt, wie viel Knoblauchzehen und Kreuze sie aufgehängt hat.« Dabei grinste er hämisch und schien sich schon richtig auf diese Situation zu freuen.

»Bestimmt eine Menge Kram … Obwohl ich ihr auch zutrauen würde, dass sie dich erst mal in ein Zimmer sperrt und guckt wie lange du darin brauchst, um zu verrecken, damit sie weiß, wie oft sie dir am Tag Essen durch den Türspalt schieben muss.«

Er hielt inne, sah mich geschockt an und hielt den Atem an. Ich zog eine ernste Miene, nickte langsam, um ihm den Ernst der Situation deutlich zu machen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg jedoch weiterhin.

Da lachte ich los. »So ein Quatsch! Als ob sie das machen würde!«

»Du kennst sie besser als ich, wer weiß«, murmelte er und schien trotzdem etwas angespannt zu sein. Nach dem Witz, herrschte wieder glückliche Stille. Plötzlich knurrte mein Magen. Kiyoshi sah mich grinsend an.

»Hunger?«

»Pizza wäre jetzt nicht schlecht …«, spekulierte ich über das Frühstück.

»Pizza zum Frühstück?«, wunderte er sich und packte weiter Sachen in eine Tasche.

»Ich hab auch schon kalte Pizza mit Pommes und Würstchen vom Vorabend zum Frühstück gegessen. Ich glaube, eingelegte Hackbällchen waren auch dabei, schmeckte ein bisschen so.«

»Bah!« Er zog einen angewiderten Gesichtsausdruck und stellte sich die Pampe wohl grade vor.

»War gar nicht so schlecht. Nicht so schlimm, wie abgestandenes, lauwarmes Bier.«

»Hör auf, sonst kotz ich!«, rief er und wedelte mit der Hand vor meiner Nase rum. Ich lachte kurz, hielt sein Handgelenk fest und küsste seinen Handrücken. »Tut mir Leid.«

Er formte seine geraden Lippen zu einem Lächeln und ging an mir vorbei.

»Hiro? Kiyoshi? Seid ihr fertig? Wir müssen los!«, rief Vater von unten.

»Oh!«, brachte ich noch raus, stürmte aus dem Zimmer und rannte noch schnell in meins. Zu meiner Verwunderung hatte Mamoru meinen Koffer wohl schon nach unten getragen, obwohl er wahrscheinlich wieder sehr schwer war. Nur noch meine kleine, schwarze Tasche stand an meinem Schreibtisch. Schnell packte ich meinen Wecker und mein Handy in sie und wollte schon aus meinem Zimmer stürmen, da hielt ich jedoch noch einmal an der Tür an. Langsam drehte ich mich um.

 

Leichte Sonnenstrahlen fuhren durch die Rollläden und tunkten das Zimmer in ein angenehmes Licht. Das Bett war noch nicht gemacht, alles andere stand an seinem Platz. Ich verließ mich einfach darauf, dass Mamoru alles eingepackt hatte. Und selbst wenn nicht, so konnte Vater es, wenn es wichtig war, noch schicken. Jetzt war es nicht mehr allzu schmerzhaft, diesen Ort hier zu verlassen. Natürlich war es schade, in einem so großen Haus wohnen zu können; für eine kleine Zeit hier sein Leben zu verbringen wäre sicherlich nicht schlecht. Aber nun konnte ich meinen größten Schatz, den ich hier gewonnen hatte mitnehmen, wie ein Plüschtier. Bei dem Gedanken Plüschtier musste ich grinsen und verließ endgültig das Zimmer. Leise schloss ich die Tür und ließ den goldenen Schlüssel stecken. Ein letzter Blick auf die geschlossene Tür und ein letzter Blick auf den sonst so gruseligen Gang. Kiyoshi stand schon an seiner Tür, auf mich wartend mit mir nach unten zu gehen.

»Seid ihr fertig?«, rief Vater erneut. Kiyoshi antwortete mit einem »Ja« und stürmte mit mir die Treppe runter. Wie zwei Mädchen stolperten wir schon fast zu Vater, zogen uns die Schuhe an. Er nickte und ging aus der Haustür. Stattlich gekleidet wie immer. Dagegen fühlte ich mich wie bei der Anreise richtig plump, obwohl ich mich schon feiner gekleidet hatte. Kiyoshi war in seinen bekannten schwarzen Klamotten, ungekämmtes Haar, weiße Haut und blau-violette Augen. Mamoru stand in einem schwarzen Anzug und Brille am teuren Mercedes und hielt uns die Türen offen. Wir stiegen ein und ehe ich mich versah, fuhren wir los. Ich kurbelte das Fenster runter und sah der riesigen Villa noch ein letztes Mal hinterher. Ich hatte im Gefühl, dass das nicht mein letzter Besuch war. Ich würde wiederkommen. Ganz sicher. Ob lebend oder nicht. Es war mein zu Hause.

 

Die Fahrt dauerte wieder recht lange. Jeder schwieg. Eigentlich hätte ich mich noch fröhlich mit Kiyoshi weiter unterhalten können, doch ich traute mich nicht. Er sah mich manchmal glücklich an, blickte dann wieder aus dem Fenster. Er scheint sich richtig zu freuen; er kann ja so süß sein, dachte ich bei mir, selber lynchend, dass ich das Wort ‚süß’ benutzte. Der Flughafen kündigte sich schon Kilometer weit vorher an. Die Schilder auf der Autobahn, die Flugzeuge am Himmel. Alles erstrahlte in einer ganz anderen Weise als vorher. Trotzdem alle Insassen am ganzen Körper bedeckt sein mussten. Auch ich.

Wir fuhren in das Parkhaus. Mamoru wollte schon beide Koffer nehmen, doch Kiyoshi und ich nahmen sie lieber selbst. Vater begleitete uns schweigend. Die anfängliche Nettigkeit war also nicht mehr ganz so präsent. Es fiel mir schon gar nicht mehr so auf, aber die Leute, die an uns vorbeigingen, gafften ganz schön. Sie musterten uns von oben bis unten, folgten mit ihren Augen, bis wir nicht mehr für sie sichtbar waren. Es war ein Gefühl der Wichtigkeit, ein Gefühl, das mein Ego steigen ließ. Es war, als wären wir Filmstars gewesen, die auf dem roten Teppich entlang gingen.

Wir waren knapp dran, unser Flug sollte in zehn Minuten zum einchecken bereit sein.

»Habt ihr eine Ahnung, an welches Gate wir müssen?«, fragte ich ganz naiv, immerhin kannte ich den Flughafen nicht und so etwas wie eine Anzeigetafel hatte ich noch nicht gesehen.

»Da hinten, wahrscheinlich …«, murmelte Kiyoshi und zeigte auf mehrere Schalter, an denen unsere Fluggesellschaft stand.

Als wir dann endlich die Koffer losgeworden sind, hieß es Abschied nehmen. Wir standen schon am Schalter, wo es zum durchleuchten ging. Nur wenige Schritte und Kiyoshi und ich wären von hier weg.

»Herr Hiroshi, passen Sie gut auf sich auf. Beehren Sie uns recht bald wieder.« Mamoru verbeugte sich mit einer Hand am Bauch vor mir. Ich grinste verlegen.

»Ja, ich denke doch, dass wir uns wiedersehen werden …«

Kiyoshi drückte sich halb an mir vorbei und umarmte Mamoru feste.

»Mach’s gut, Mamoru!«, sagte er und drückte ihn noch einmal. Mamoru selbst sah etwas verwirrt aus, erwiderte aber die plötzliche Umarmung.

»Passen Sie auch gut auf sich auf, Herr Kiyoshi. Kommen Sie uns heil wieder.«

Kiyoshi nickte abwägend und ließ von ihm ab. Während die beiden beschäftigt waren, wand ich mich zu Vater.

»Dann … sag ich fürs erste mal ‚tschüss’?«, fragte ich schüchtern, da er nichts sagte, sondern mich nur schweigend ansah. Er nickte.

»Achte auf deine Gesundheit, Hiro.«

Ich nickte.

»Und trink genug.«

Ich nickte erneut.

»Mach deiner Mutter nicht allzu viel Kummer.«

Damit spielte er wohl auf die Vampir-Sache an.

»Und halte dich mit Kiyoshi zurück.«

Ich schluckte. Zögerlich nickte ich. Zurückhalten? Daran glaubte er doch wohl selbst nicht!

Er öffnete vorsichtig seine Arme und legte sie um meinen Körper. Zögerlich umarmte ich ihn auch, er klopfte mir ein paar Mal auf den Rücken und ließ wieder von mir ab.

»Wir telefonieren, wenn du angekommen bist.«

Ich lächelte.

»Hiro? Kommst du?«, hörte ich Kiyoshis Stimme. Er stand schon vor dem Schalter, um durch die Lichtkontrolle zu gehen. Verwundert ging ich zu ihm.

»Willst du dich nicht von Vater verabschieden?«, flüsterte ich ihm zu. Er schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht?«

»Nein.«

Ich drehte mich noch einmal um. Vaters Miene war unergründlich, er stand einfach da und sah uns nach. Dann winkte er. Im Augenwinkel sah ich Kiyoshi winken. Sofort drehte er sich um und zeigte sein Ticket. Ich wollte ihm schon folgen, doch er blieb abrupt stehen und drehte sich um.

 

»Hiro! Kiyoshi!«, rief eine Frauenstimme unsere Namen. Man hörte nur Geklapper, Taschen und Anhänger klimpern. Drei Personen kamen auf uns zu gerannt, mit ganzen Armen am winken. Kiyoshi kam noch einmal zurück, lächelte glücklich und wurde schon von Kat umgerannt.

»Ihr fliegt einfach so, ohne uns Tschüss zu sagen?«, fragte Ichiru auffordernd und fiel auch mir um den Hals. Yagate kam als letzter bei uns an, lächelte verlegen und legte seine beiden Arme um uns.

»Da wollen uns die Zwillinge einfach so verlassen!«, gab er seinen Senf schließlich auch noch dazu.

»Woher wusstet ihr, dass wir heute …?«, fragte ich leicht verwirrt. Kat kicherte und deutete auf Kiyoshi. »Er hat mir eine SMS geschrieben.«

»Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr …«, murmelte mein Bruder.

»Es war nicht so leicht aus dem Gebäude zu fliehen … Es fällt sicher auch gleich auf, dass wir nicht da sind.« Ichiru kratzte sich am Kopf.

»Aber«, rief Kat fröhlich, »jetzt können wir uns wenigstens von euch verabschieden!«

Wir legten die Arme um den jeweils anderen, bildeten einen Kreis und steckten unsere Köpfe in die Mitte.

»Also ihr beiden wisst ja: Keine Menschen anfallen und aussaugen. Und wenn: dann geheim halten!«, lachte Yagate.

»Und ihr müsst uns mindestens einmal einen Brief schreiben, wie ihr so zurecht kommt und ob da noch mehr von uns sind!« Zwinkernd deutete Ichiru auf Kiyoshi.

»Und natürlich zuletzt: Passt auf euch auf und macht’s nicht zu offensichtlich!« Alle drei lachten, während Kat Kiyoshi ein Küsschen auf die Wange gab. Ich verstand erst nicht ganz, bekam von Kat auch noch ein Küsschen auf die Wange. Wir drückten uns alle noch einmal, dann mussten Kiyoshi und ich uns wirklich beeilen. Als wir durch die zum Glück nicht allzu volle Lichtschranke waren, winkten wir noch einmal allen zu. Vater und Mamoru, Yagate, Ichiru und Kat. Was eine Woche alles mit sich gebracht hat. Es war ein schönes Gefühl, das ich daließ.

»Was meinte Kat eigentlich mit ‚macht’s nicht zu offensichtlich’?«, fragte ich, während wir eincheckten und den langen Finger zum Flugzeug entlang gingen.

»Ich weiß nicht …«, murmelte Angesprochener.

»Kiyoshi …«, mahnte ich ihn. Er verdrehte nur die Augen. »Woher weiß sie das bitte?«

»Weiß nicht …« Er grinste und stieg ins Flugzeug ein. Ich schüttelte nur den Kopf und folgte ihm. So ein Plappermaul. Dabei sprach er sonst so wenig. Als wir endlich unsere Plätze eingenommen hatten, machten wir es uns gemütlich. Die Leute um uns starrten uns fürchterlich dumm an. Natürlich war es auffällig: Zwillinge, seltsam blass aussehende Kinder in einem Flugzeug in den Süden.

Kiyoshi saß am Fenster und sah schon gespannt aus.

»Bist du überhaupt schon mal geflogen?«, fragte ich zögerlich, immerhin war er ja mehr ein Stubenhocker.

»Ja, aber nur mit Privatmaschinen. Noch nie in einer Touristenmaschine.«

Ich verdrehte die Augen. Kleiner verwöhnter Bengel …

 

Es dauerte nicht lange, da rollte das Flugzeug auf die Startbahn. Die Sonne prallte ganz schön durch das Fenster, aber anscheinend war es aus so dickem Glas, dass die Sonnenstrahlen nicht wehtaten. Kiyoshi ergriff während des Starts meine Hand und drückte sie fest. Er lächelte mich glücklich an, versank dann aber doch wieder in die Welt außerhalb des Flugzeuges. Ich startete in ein neues Leben. Mit ihm. Mit meinem geliebten Bruder. Gott, ich bin ein Sünder, dass ich meinen eigenen Zwillingsbruder liebe. Satan, wenn du mich in der Hölle haben willst, kannst du lange warten, denn ich habe eine Ewigkeit vor mir. Ob sie grausam, schön, lustig, traurig oder ganz anders als erwartet wird, überlasse ich dem Schicksal. Ich schloss meine Augen.

 

Ich liebte mein Leben und alles was damit verbunden war. Doch wo verdammt noch mal blieb meine Rettung?

 

Ich hielt sie fest umschlungen in meiner Hand.


Nachwort zu diesem Kapitel:
⁄(⁄ ⁄ˊૢ⁄ ⌑ ⁄ˋૢ⁄ ⁄)⁄

Ende!

Ja, wirklich! Der Roman ist zu Ende, ihr habt es geschafft! (⺣◡⺣)♡*
Ich freue mich wirklich sehr, dass die Geschichte so einen guten Anklang fand! Und natürlich habe ich jeden Kommentar gelesen und geschätzt! Absoluter Wahnsinn, wie viel Feedback ich erhalten habe!!

Ich danke euch vielmals und bin so froh, dass ich die Geschichte mit euch teilen konnte!

... Falls ihr noch Fragen habt: Schreibt sie in die Kommentare, ich versuche sie zu beantworten! Es war mal vor langer Zeit ein zweiter Teil in Planung, die ersten 40 Seiten habe ich auch geschrieben, aber... Seitdem eben nicht mehr. Zurzeit arbeite ich an einer "Visualisierung" des Romans: Sprich einen Manga. Ich kann zurzeit nicht viel daran arbeiten (Klausuren und Co), aber das ändert sich hoffentlich bald! Dann könnt ihr da die Geschichte "erneut" verfolgen. (Ich ändere sie natürlich ein Stückchen ab!).

Wie gesagt: Fragen in die Kommentare! An einen zweiten Teil werde ich mich wohl vorerst nicht setzen, aber wenn dies geschehen sollte - Ich werde es auf jeden Fall publik machen ˚✧₊⁎˓˓⁽̨̡ ˚͈́꒳​˚͈̀*⁾̧̢˒˒⁎⁺˳✧༚

Ein herzliches Dankeschön für's Lesen! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (11)
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Von:  vorsicht_bissig
2015-12-17T22:40:00+00:00 17.12.2015 23:40
Ich liebe es!! XD Hab die FF in einem Rutsch durchgelesen weil sie so gut war! Und werde sofort mit dem zweiten Teil anfangen. Du hast nen richtigen tollen Schreibstil! Grandios! Es macht seeehr viel Spaß es zu lesen. Die Charaktere sind echt gut dargestellt und ich hab total mitgefiebert. XD
Von:  Taiet-Fiona-Dai
2015-10-13T14:57:59+00:00 13.10.2015 16:57
^^ geschaft. Ich habe jetzt endlich dein FF durch. Er ist echt klasse. Das Lesen hat mir echt Spaß gemacht, konnte manchmal gar nicht aufhören zu lesen so das ich viel zu lange wach war. Ich finde die Idee mit den Zwillinge echt toll auch das der ein ein Mensch war und der andre nicht. Ich hatte auch nicht das Gefühl das es abgehoben war. So wie du es erklärt hast war es sehr verständlich. Ichfreue mich jetzt auf die Fortsetzung.

Lg. Taiet
Von:  Sunai
2015-10-11T12:54:22+00:00 11.10.2015 14:54
Wow. Ich muss sagen das ich echt beeindruckt von deiner Arbeit bin *^* Ich freu mich schon mega die Fortsetzung zu lesen. Ich habe nicht unter jedes Kapitel was geschrieben aber ich hoffe das das auch genügt xD Ich war einfach so gespannt wie es weiter ging und hatte mich dazu entschieden ganz am Ende ein Kommentar da zu lassen.

LG und cookies von sunai :3
Von:  Cari
2015-09-25T01:24:48+00:00 25.09.2015 03:24
Roller Roman, freu mich schon darauf, den zweiten Teul zu lesen.
An der Abstimmung hab ich auch schon Teil genommen ^.~
Den Manga verfolge ich auch und dein Zeichenstil ist echt toll!
Von:  hayamei
2015-08-25T18:49:00+00:00 25.08.2015 20:49
Der Roman war so toll, so gruselig, so romantisch und so liebenswert *ich kann echt nimme, die Gefühle fahren echt auf Hochtouren XD*.
Ich hab mich jetzt echt drei Tage immer nach der Arbeit bis 1 Uhr Nachts vor den PC gehockt und mir ein Kapitel nach dem anderen reingezogen. Und es hat einfach so ein tollen Endeeeee ;) *will noch mehr von den Beiden leseeeen * XD

Das wäre echt ein Buch, das ich nur zu gerne in meiner Sammlung hätte ^^ *hachhh*

Ich Danke echt für diesen Augenschmaus ^^
Von:  Liang_Sixth
2015-08-11T11:29:14+00:00 11.08.2015 13:29
Hab mir alles in zwei Tagen durchgezogen.. Bin voll fertig mit der Welt und mir kullern die Tränen... Ich bin so eine mimose xD
Danke für diesen Roman!! ♡
Von:  Tomanto
2015-07-18T18:34:38+00:00 18.07.2015 20:34
Einfach genial!
Das ganze Kapitel über hatte ich echte Freudenattacken! Ich habe laut in die Welt hinausgeschrien: „ER HAT DEN FÖHN GEFUNDEN!!!" Und das habe ich immer und immer wieder hinausgeschrien und habe mich über das ganze Glück der Welt gefreut!
Oh mein Gott, dieser Föhn! DIESER FÖHN ist ein Symbol geworden, ellenchain!
Ich habe bei diesem - ach was, bei JEDEM - Kapitel so mitgefiebert! Aber bei dem letzten hier ganz besonders! Mein Herz klopft immer noch vor lauter Aufregung! <3
Danke dafür!
Von:  RitualOfTsuru
2015-07-05T10:55:09+00:00 05.07.2015 12:55
Ich schließe mich der der Meinung der anderen drei an (: Besser könnte ich es nicht formulieren. (:
LG Lulu
Von:  San-Jul
2015-07-05T07:23:31+00:00 05.07.2015 09:23
Hey,
also die Geschichte ist/war echt toll. Ich finde deinen Schreibstil echt gut und auch die Story toll.
Ich würde mich über eine Fortsetzung freuen, in der vielleicht die Beziehung von den beiden weiter geht ;)
Das Ende war auch echt gut. Mir persönlich ging es allerdings etwas zu schnell;)
Ganz liebe Grüße
San-Jul
Von:  Annemi91
2015-07-04T19:33:10+00:00 04.07.2015 21:33
Das hat mir wirklich gefallen. :) Großartige Geschichte, tolles Ende. Hatte beim vorherigen Kapitel noch Angst, das du die Zwei sterben lässt, aber SO gefällt es mir natürlich viel besser. :)
Wie schon mal erwähnt, dein Schreibstil gefiel mir von Anfang an. Die Idee der Story war großartig, genauso wie die Umsetzung. Hut ab! Hat Spaß gemacht, dies zu lesen. :)

Ach und über 'n zweiten Teil würde ich mich, wie auch schon erwähnt, freuen. ;)

Und es gibt ein Manga hier von? *_____* Ooooohhhhhh *______* Werde ich mir natürlich anschauen. ;)

Bis hoffentlich bald. :)

Liebe Grüße


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