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My Dear Brother

The Vampires
von

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Verrückt

Mein Wecker schrillte heftig in meinen Ohren. Noch halb im Schlaf drehte ich mich zur Seite und haute auf den schwarzen Knopf. Sofort hörte das Gebimmel auf und ich kuschelte mich wieder in die Decke. Zwei feine Hände strichen über meinen nackten Oberkörper, ließen aber von mir ab und griffen die Uhr. Noch etwas verwirrt, wessen Hände das waren, starrte ich auf die Uhrzeit. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Mein Blick fiel auf das Fenster. Kleine Sonnenstrahlen kamen durch die geöffneten Scheiben. Da stellte eine Hand die Uhr wieder hin.

»Wir müssen aufstehen …«, murmelte die bekannte Stimme hinter meinem Rücken und kroch langsam auf meine Seite, um aus dem Bett zu steigen. Sofort drehte ich mich um und riss die Augen auf. Kiyoshi sah mich sofort an, fragte sich wahrschein­lich, warum ich so einen Gesichtsausdruck machte.

»K-Kiyoshi?«, fragte ich perplex und starrte in seine glänzen­den Augen, vor denen das verwuschelte fast weiße Haar lag. Sein Oberkörper war ebenfalls nackt, jedoch stellte ich in meiner Panik sofort fest, dass wir wenigstens noch Boxershorts trugen. Doch dann erblickte ich die Knutschflecke an seinem Hals und seiner Brust. Es waren verdammt viele. Die ersten Gedanken, die mir durch meinen Kopf schossen, waren, wieso er in meinem Bett war, wieso er halb nackt war, wieso er sich nicht wunderte und was wir zur Hölle getan hatten. Und dann klickte es.

»Kommst du heute nicht mit in die Schule?«, fragte er sofort etwas enttäuscht, ließ sich wohl nicht weiter von meinem verwirrten Blick beirren. Als meine Gesichtsfarbe schlagartig rosafarben wurde und allmählich ins rot überging, legte er sachte seinen zarten Körper auf meinen.

»Was ist los?« Besorgt war gar kein Ausdruck in seinem Unterton.

»Ich … Wir … Du und ich, wir …«, versuchte ich nach Worten zu suchen, bekam aber nichts zu Stande.

»Langsam, Hiro. Eins nach dem anderen«, sagte er sachte und küsste mich kurz auf den Mund. Als er sich löste und mich erwartungsvoll ansah, sprudelte es aus mir raus:

»Wir hatten Sex!«

Sofort schoss das Blut in Kiyoshis Kopf und er wich einige Zentimeter von mir ab.

»M … Musst du das so sagen?« Dabei sah er etwas verschämt zur Seite. Aber anstatt, dass ich mich über meine Worte schämte, freute ich mich umso mehr.

»Du liebst mich! Wir hatten Sex; wir sind zusammen!«, rief ich freudestrahlend und umarmte ihn feste. Sofort schmiss ich ihn auf den Rücken und küsste ihn immer wieder auf die Lippen. Er schien sich wehren zu wollen, machte Widerstand­geräusche und fuchtelte etwas mit Armen und Beinen. Hin und wieder, wenn seine Lippen frei waren, rief er meinen Namen und ‚Halt!’. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, hörte ich abrupt auf. Ich lächelte ihn glücklich an.

»Ich kann’s kaum fassen …«, murmelte ich. Kiyoshi sah sehr überrumpelt aus, fasste sich dann aber doch und setzte wieder eines seiner perfekten Lächeln auf. Seine schmalen Finger lagen sanft auf meinem Rücken, strichen ein wenig über meine Haut. Etwas zarter küsste ich ihn erneut, diesmal erwiderte er ihn. Es war wie in einem Traum, aus dem ich nie erwachen wollte.

Nach unserem Kuss konnte ich ein geflüstertes ‚Ich liebe dich’ nicht unterdrücken und küsste ihn dabei sachte auf seine Wange. Er lächelte mich immer noch an und antwortete mit ‚Ich dich auch’. Ich sagte ja bereits, wie in einem Traum. Nur das Beste: Es war keiner.

 

Dann kamen Schritte. Sofort sprang Kiyoshi über mich aus dem Bett, zog sich in Windeseile seine Hose an und streifte sich sein schwarzes Hemd von gestern über. In der Zeit, wo er das alles tätigte, setzte ich mich nur auf und wartete, dass jemand das Zimmer betrat. Dann öffnete sich die Tür.

»Guten Morgen ihr beiden«, sagte Vater. Er lächelte zwar etwas, trotzdem war es mehr ein verkrampftes Lächeln. Ob er roch, dass hier etwas mächtig falsch ging?

Kiyoshi saß lässig auf meinem Stuhl am Schreibtisch und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Als säße er dort schon die ganze Zeit. Er setzte seinen arroganten Blick auf und starrte Vater missbilligend an. Wie schnell er seine Miene abändern konnte. Mein Ausdruck blieb wohl etwas verwirrt, da Vaters Blick genau auf mir lag.

»Hiro, was hast du an deinen Armen gemacht?«, fragte er; kam einige Schritte auf mich zu. Die Wunden, die mein lieber Bruder mir zugefügt hatte. Oh je, oh je. Dass mich ein Tier angefallen hatte, konnte ich schlecht sagen. Als er an meinem Bett stand, sah ich kurz zu Kiyoshi, der leicht entsetzt zu uns blickte. Anscheinend war wieder einer dieser Momente, wo wir beide in der Zwickmühle saßen.

Ich sah auf mein Bett und legte meine rechte Hand auf die Wunde am linken Arm. Vorsichtig strich ich über die Kruste. Etwas verschämt blickte ich zur Seite, holte tief Luft.

» … Ich war wütend …«

»Du warst wütend? Hast du dir das etwa selber zugefügt?« Schlagartig rutschte ein besorgter Unterton in Vaters Stimme. Ich blickte verärgert auf und presste Tränen in meine Augen.

»Hier kann man ja nicht anders werden als depressiv!«, schrie ich ihm entgegen, sprang aus dem Bett und verschwand in Windeseile aus dem Zimmer. So schnell ich lief, kam mir keiner hinterher. Ich rannte ins Bad und drückte die Tür zu. Es wurde so still, nichts war zu hören. Hoffentlich kaufte er mir das ab, dachte ich sofort und ließ aufgestaute Luft aus meinem Mund.

 

Vor meinen Augen fing es plötzlich an zu flimmern. Stern­chen kamen, dann wurde alles schwarz. Ich fühlte den kalten Marmor unter meinem Bauch; wie ich versuchte wieder aufzustehen. Mein Kopf brummte heftig, ich hörte mein Herz pochen. Wie schnell es klopfte. Mein Atem wurde immer schneller, als wäre ich einen Marathon gerannt. Ich legte meinen Kopf in meine Hände, schloss die Augen und wartete, ob es besser wurde. Sicher der Kreislauf, zu schnell aufgestanden. Doch alles wurde nur noch schlimmer. Plötzlich ergriff mich ein heftiger Schmerz in meiner Brust. Ich hörte meine Stimme laut ertönen, wie sie schrie. Dieser Schmerz war unbeschreiblich groß, wie tausend glühende Messerstiche. Ich fasste mir an die Stelle, drückte heftig zu, hoffte damit den Schmerz zu dämpfen, krallte meine Nägel in meine Haut. Vereinzelte Stellen wurden vor meinen Augen zwar wieder sichtbar, jedoch blieb der meiste Teil schwarz. Ich wusste nicht was los war. Dann hörte ich Vaters Stimme, Kiyoshis und Mamorus von weitem. Wie die Tür aufgeschlagen wurde, wie mich viele Hände berührten, mich umsorgten und Stimmen auf mich einredeten.

»Es ist soweit!«, rief Vater. Dann kapierte ich, was los war. Der Moment war gekommen. Ich wollte nicht, ich wollte einfach nicht. Jetzt, da ich doch so glücklich mit ihm war. Jetzt sollte doch nicht alles einfach so enden? Einfach im schwarzen Loch enden, welches mich in die Ewigkeit saugen würde …

»Nein …«, hörte ich mich flüstern. Dann wieder und wieder. Bis ich es schrie. Sofort hörten die Geräusche auf. Es wurde schlagartig leise. Die Personen um mich herum schwiegen. Meine Sicht wurde sofort klar, mein Atem wurde normal und das Pochen schlagartig leise. Vorsichtig tastete ich mich ab, merkte, dass ich auf dem Rücken lag und mein Kopf erhöht war. Ich blickte in seine Augen, wie sie mich entsetzt ansahen. Diese blau-violetten Augen, wie sich in ihnen wieder Tränen füllten. Ich war so glücklich. Ich lebte noch, ich hörte mein Herz schlagen. Was auch immer das gewesen war, es war vorbei. Ich lächelte wie aus dem Nichts. Mein Lächeln steigerte sich in ein zögerliches Lachen. Vorsichtig erhob ich mich, blieb starr sitzen.

»Ich dachte, jetzt wär’s vorbei …«, flüsterte ich und lockerte den Griff an meiner Brust. Meine Haut war stark errötet, blutete aber noch nicht. Trotzdem ich langsam die Fassung fand, zitterte ich am ganzen Körper.

»Ist alles in Ordnung, Hiro?«, hörte ich die tiefe Stimme meines Vaters. Ich drehte mich leicht zu ihm um, nickte und versuchte zu lächeln.

»Wahrscheinlich der Kreislauf. Bin zu schnell aufgestanden.« Das war es wohl definitiv nicht, aber eine andere Erklärung fiel mir im Moment nicht ein.

Trotzdem ich jetzt noch am Leben war: Diese Schmerzen, die mich überkamen, waren unerträglich. Jetzt hatte ich noch mehr Angst vor meinem Tod als vorher, da ich nun das Ausmaß dieser Umstände kannte. Und sie würden vielleicht noch stärker werden, immerhin war ich jetzt noch nicht tot. Ich spürte zarte Finger an meiner Hand, die zum Abstützen auf dem kalten Marmor lag. Sofort blickte ich auf die andere Seite und sah in Kiyoshis Augen, die mich traurig anstarrten. Seine Lippen formten eine strenge Linie, während sein perfektes Gesicht unergründlich blieb. Er hatte sich Sorgen gemacht. Am liebsten hätte ich ihn geküsst, in den Arm genommen und mich entschuldigt. Ich erwischte mich schon dabei, wie ich versuchte durch Vorbeugen näher an ihn ranzukommen, wich aber sofort wieder zurück, als sich seine Augen etwas weiteten. Klar, Vater saß hinter mir.

»Hiro … Du solltest heute lieber wieder zu Hause bleiben«, sagte Vater und stand auf.

»Nein, nein. Das ist schon okay. Ich fühl mich wieder gut und falls -«

»Du bleibst hier.«

»Vater …«, nörgelte ich. »Falls ich wieder zusammen­kollabiere, kann Kiyoshi mich immer noch beißen, oder?« Ich sah zu meinem Bruder, hoffte er würde nicken. Er schien etwas aus der Rolle gebracht worden zu sein, blickte mich verwirrt an, öffnete seinen Mund, nickte schnell und fügte dem sein Zustimmen zu.

»Klar. Also, im Grunde würde ich das machen können, doch, ja …«

»Ein Nein, bleibt ein Nein. Hiro, wenn es wirklich soweit kommen sollte, hat Kiyoshi nichts an deinem Hals verloren. Er könnte sich vielleicht nicht derart beherrschen, dass er dich verwandeln könnte. Also leg dich jetzt wieder hin.«

Damit verschwand er aus dem Bad, während Mamoru noch am Türrahmen stehen blieb und uns beobachtete. Kiyoshi wartete noch einen Moment, dann fiel er mir um den Hals.

»Oh Gott, ich hab mir so Sorgen gemacht, Hiro! Ich dachte, ich würde dich hier und jetzt verlieren!« Dabei rief er etwas zu laut in mein Ohr, klammerte immer fester, wollte mich gar nicht loslassen. Doch mein entsetzter Blick wanderte zwischen Kiyoshi und Mamoru. Immerhin wusste der doch davon gar nichts und es wäre vielleicht auch besser gewesen, wenn es so geblieben wäre. Ich schätzte ihn ja so ein, dass er Vater schön alles erzählte. Doch der grinste nur zu meiner Verwunderung und blieb schön brav an der Tür stehen.

Ich griff Kiyoshi vorsichtig an die Schultern und drückte ihn leicht von mir. Ich suchte verzweifelt nach Worten, versuchte das irgendwie zu erklären. Doch mir fiel nichts ein. Immerhin waren diese Worte mehr als deutlich gewesen.

»K-Kiyoshi … Äh, also …« Mein Blick fiel zu Mamoru. Kiyoshi folgte meinem Blick, musste grinsen und sah zu Boden.

»Er … weiß Bescheid …«, murmelte er kaum verständlich. Doch für mich klar genug. Schlagartig färbte sich meine Gesichtsfarbe rot.

»Bitte was?«, prustete ich los und sah entsetzt zur besagten Person.

»Entschuldigen Sie das, Herr Hiroshi. Ihr Bruder erzählte mir von Ihren Problemen.« Dabei verbeugte er sich etwas, als Entschuldigung. Mein Blick schweifte zu Kiyoshi.

»Er hatte uns ja schon öfters erwischt … und na ja, ich hatte Angst, er würde alles Vater erzählen. Da wollte ich mich versichern und bat ihn um diesen Gefallen, es nicht zu erzählen. Dabei rutschte mir wohl mehr raus, als gewollt …«

Ich seufzte laut auf. Dann grinste ich ihn mit roten Wangen an.

»So lange Vater nichts weiß, ist’s doch okay.«

Kiyoshi lächelte mich so perfekt an, legte seine Hände auf meine Schultern und lehnte sich an meinen Oberkörper. Vorsichtig berührten sich unsere Lippen, während ich meine Hände an seine Hüfte legte. Wir wollten den Kuss schon intensivieren, da räusperte sich Mamoru.

»Der Herr Kiyoshi sollte sich bereit für die Schule machen«, sagte er in seinem höflichen Ton und wartete wohl darauf, dass ich das Bad verließ und wie befohlen in mein Zimmer zurück­kehrte.

»Ich will aber mit in die Schule!«, motzte ich rum und drückte Kiyoshi an mich. Ich hätte nie gedachte, dass ich diesen Satz mal aussprechen würde. Okay, ich tat so viele Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, ich würde sie tun. Kiyoshi schien die feste Umarmung sehr zu genießen und drückte sein grinsendes Gesicht an meine Brust.

»Überlassen Sie das mir.« Damit verschwand Mamoru von der Tür. Verblüfft über die schnelle Umstimmung starrte ich noch auf die leere Stelle. Kiyoshi löste sich von mir und grinste mich noch weiter an. Ich wurde etwas rot, kratzte mich am Nacken.

»Sehr liberal, euer Butler …«, murmelte ich. Immerhin ging es hier um eine nicht ganz erlaubte Beziehung.

»Na ja … Was soll er schon machen? Er steht immerhin im Dienste unserer Familie.« Sein Lächeln versiegte allmählich. Ich nickte schnell, sah in seine Augen. Sie waren etwas matter als sonst, und als würden sie immer mehr ihren Glanz verlieren, rieb sich Kiyoshi etwas an ihnen. Sofort wurden die Augenringe rot und er sah verschlafen aus. Verträumt starrte er auf den Boden, legte seinen Kopf etwas schief und zwinkerte immer mal wieder mit den Augen. Sein langer, schlanker Hals endete in seinem Hemd, das wie Seide auf seinen Schultern lag. Sein ganzes Antlitz ließ meine Sehnsüchte erwachen. Wie unschuldig er da vor mir saß, als wäre die Bestie von gestern Nacht wie ausge­storben. Dieses erregte Gesicht mit diesem wunder­schönen Mund, welcher immer wieder meinen Namen gerufen hat, war nur gering an dieser Person vorstellbar, die vor mir saß. Diese samtweiche Haut, welche ich gestern Nacht für mich bean­spruchen durfte, hatte wieder ihren elfenbeinfarbenen Glanz, welcher mich so faszinierte. Wie gerne hätte ich ihn wieder für mich gehabt, aber so früh am morgen und ausge­rechnet im Bad, mit offener Tür, wobei die ganze Familie im Haus versammelt war, wäre nicht so optimal gewesen. Das Verbot, das für Kiyoshi und mich galt, war noch immer aktuell, obwohl mich die Spekulation über das Wissen unseres Vaters nicht loslassen wollte. Als würde er von allem nichts mitbe­kommen, stand außer Frage.

Kiyoshi seufzte kaum hörbar und stand auf. Leise ging er zur Tür.

»Du kannst dich als erstes fertig machen, okay?«, fragte er noch etwas neben der Rolle. Er griff zur Klinke, wollte schon rausgehen, da hielt ich ihn am Handgelenk zurück. Sachte drückte ich die Tür vor ihm zu und lehnte mich gegen ihn. Er selbst wurde mit der Brust gegen die Tür gedrückt. Zärtlich küsste ich seinen Hals, strich seinen Kragen beiseite und küsste seine Schulter. Er hob schon seine Hände, wollte sich anschei­nend nach seinem etwas leidigen Gesichtsausdruck zu urteilen wehren. Doch ich umfasste seine beiden Handgelenke und drückte sie gegen die Tür.

»Hiro …«, flüsterte er meinen Namen. Es klang wie gestern Nacht. Vorsichtig, aber doch in einer Weise rau. Langsam knabberte ich an seinem Ohr und beglückte seinen Kiefer mit meiner Zunge. Sein Atem hörte sich aufgrund der nahe stehenden Tür noch viel intensiver an, erregte mich und meine Gedanken. Ein überwältigendes Gefühl durchzog mich, als ich seine Adern unter meiner Zunge spürte, er meinen Namen erneut sagte und ich dabei seinen freigelegten Rücken auf meiner Haut spüren konnte. Sein schwarzes Hemd hing nur noch in seinen Armbeugen, da die Knöpfe schon fast von allein aufgingen. Vorsichtig ließ ich seine Arme los, strich über seine zarte Brust und öffnete seinen Hosenknopf. Ich spürte seine dünnen und kalten Finger auf meiner Hand, wie sie etwas widerstand leisteten.

»Hiro … Lass das …«, sagte er nun etwas kräftiger. Doch ich wollte nicht aufhören, rutschte mit meiner rechten Hand unter seinen Bund. Doch bevor ich auch nur ein Stückchen seiner empfindlichen Stelle erreichen konnte, rammte er mir seine Nägel in meine Haut. Ich schrie auf und zog sie sofort von ihm weg.

»Spinnst du? Wie oft willst du mir noch deine Nägel rein­hauen? Schneid sie dir mal!«, motzte ich rum, da mein dunkel­rotes Blut schon aus den Wunden am Handrücken quoll. Schmerzerfüllt hielt ich mir meine Hände vor die Brust und versuchte durch Drücken den Schmerz zu hemmen.

»Wenn ich nicht will, solltest du das lieber akzeptieren …«, flüsterte er von der Tür aus, drehte sich etwas zu mir um und hielt sich seinen blutverschmierten Zeigefinger an die Lippen. Vorsichtig küsste er sich das Blut vom Finger, während mich seine glänzenden Vampiraugen anstarrten. Als er kurz den Mund öffnete, ragten schon seine Reißzähne raus. Danach verschwand er geräuschlos aus dem Zimmer.

Ich seufzte Laut auf und sah verärgert zur Seite, musste jedoch etwas grinsen.

»Gibt’s nicht …«, murmelte ich vor mich hin und wusch mir das restliche Blut von der Hand. Es pochte ganz schön an den Wunden, als das kalte Wasser darüber floss. Zu meiner Verwunderung stoppte die rote Flüssigkeit doch recht bald und verschloss die offene Wunde mit einer leichten Schicht. Ich schaltete das Wasser aus und fuhr mir mit den noch nassen Händen durchs Haar.

»Da haben sich ja zwei Monster gefunden …«, sagte ich grinsend. Dass er gleich hand­greiflich wurde, passte mir zwar überhaupt nicht in den Kragen, trotzdem musste ich seine Meinung wirklich akzeptieren, um nicht irgendwann etwas Ernsteres zu spüren zu bekommen. Es war eine gute Drohung, das musste ich eingestehen. Und irgendwie machte es mich auch an. Alles an ihm machte mich an. Es war also egal, was er tat.

Ich bemerkte mein Pflaster am Hals. Vorsichtig knibbelte ich an den Ecken, bis ich eine Stelle zu greifen bekam. Ich riss mir das Pflaster mit einem Zug vom Hals. Die Wunde war vollständig verschwunden. Sanft strich ich mit meinen Fingern über die Stelle. Meine Haut war noch nie so zart gewesen, noch nie so weiß und noch nie so … zerbrechlich. Ich dachte nur daran, dass es keiner starken Gegenstände bedurfte, um sie zu zerstören. Ich schüttelte den Kopf und schmiss das Pflaster in die silberne Mülltonne unter dem Waschbecken.

Schnell sprang ich unter die Dusche, hielt mich aber nur an eine Katzenwäsche. Großreinigung war gestern gewesen. Ich trocknete mich schnell ab, zog mir meine Boxershorts wieder an und rannte wie immer mit nassen Haaren aus dem Bad. Doch bevor ich nach der Türklinke greifen konnte, fiel mir etwas im Spiegel an meinem Körper auf. Sofort stellte ich mich wieder vor ihn und strich mir meine Haare am Hals weg. Da lächelte mich ein Münzengroßer Knutschfleck an. Meine Augen weiteten sich ein wenig; kaum fassbar strich ich an ihm entlang. Wann ich das letzte Mal einen Knutschfleck hatte? Es war schon so lange her, dass ich mich noch nicht mal daran erinnern konnte. Wieder etwas rosa im Gesicht, musste ich grinsen. Legte meine Haare aber wieder über die Stelle, damit Vater sich nicht allzu sehr wunderte. Langsam schritt ich aus dem Bad, schloss die Tür und schlurfte den Gang entlang. Doch da kam mir schon Kiyoshi aus seiner Tür entgegen. Er trug unter seinem Arm seine Schuluniform. Diese dunkle Uniform, die in jeden Horrorfilm passen würde. Doch dann dämmerte es langsam in mir. Gerade als er an mir vorbeiging, hielt ich ihn am Handgelenk fest. Sofort drehte er sich ge­schockt um. Er dachte wohl, ich würde mitten auf dem Gang wieder was Dummes tun. Ich seufzte innerlich, setzte zu meiner Frage an:

»Meine Uniform musste etwas ‚leiden’ und ist dreckig … Soll ich meine normalen Sachen anziehen?«

»Um Gottes Willen, nein«, prustete er sofort los und legte seine perfekte Stirn in Falten. Ich rollte meine Augen und ließ sein Handgelenk los.

»Was dann?«

»Leih dir was von mir.«

Damit ging er ins Bad. Ich hob noch den Zeigefinger und atmete ein, um etwas zu sagen, ließ es aber, als die Tür ins Schloss fiel. Ich zuckte mit den Schultern und ging zu seinem Zimmer. Ich dachte nicht weiter nach und betrat es einfach. Sofort kam mir diese Duftwolke entgegen mit der ich sowohl Schreckliches als auch Gutes verband. Dieser Geruch, den ich von vornherein mochte; den ich mit meinem Schicksal kennen lernte.

Auf seinem Stuhl und seiner Kommode stapelten sich die Klamotten, sein Bett war nicht gemacht, die Vorhänge nicht schön zur Seite gebunden und auf dem Schreibtisch alle möglichen Bücher. Ich konnte einfach nicht anders, als mich in seinem Zimmer umsehen. Die Klamotten, die verstreut überall herumlagen, waren haupt­sächlich schwarz und wenn anders farbig, dann trotzdem dunkel. Selbst seine ganzen Boxershorts waren schwarz, dunkelgrau oder dunkelblau. In seinem Bett lagen noch weitere Bücher und Hefte. Sah nach Schule aus. Unter anderem pflanzte sich ein iPod auf seinem Kopfkissen.

»Ja, Papa hat Geld«, murmelte ich, während ich ihn anschaltete und mir einen Kopfhörer ins Ohr steckte. Ich sah mir seine Playlist durch und fand zu meiner Überraschung auch Bands, die ich hörte. Und ich durfte mir von ihm anhören, dass ich ein Punk wäre, dabei hörte er genau dasselbe, wie ich auch. Manche Lieder kannte ich nicht, klickte aus Spaß einfach mal eins an. Sofort hörte ich die harten E-Gitarren und Bässe, das Schlagzeug passend dazu schlagen und wie ein Mann schrie. Das ging einige Sekunden so, bis ein Solo der E-Gitarre kam. Und das ganze spielte sich einer Lautstärke ab, in der ich nur selten hörte. Sofort riss ich mir den Kopfhörer von meinem Ohr und machte den iPod aus. Extrem, was mein Bruder für Musik hörte. Trotz allem hätte ich mir bei seinem depressiven Getue auch nichts anderes vorstellen könne. Im Nachhinein war ich sogar glücklich, dass wir im Grunde dieselbe Musik hörten... Ich grinste innerlich und wendete mich den Büchern vom Schreibtisch zu.

»Wie ein Bücherwurm sieht er ja eigentlich nicht aus …«, murmelte ich vor mich hin und blätterte in einem der Wälzer. Da waren Titel wie ‚Racheengel’ oder ‚Tag des jüngsten Gerichts’, ‚Säulen der Toten’ oder ‚Vollmondmord’. Wenigstens klangen diese Bücher besser als die, die meine Mutter mir mitgegeben hatte. Aber über den Geschmack von Kiyoshi ließ sich wirklich streiten. Erst, als ich das Buch wieder weglegte, fielen mir die vielen schwarzen Kerzen auf. Sie waren alle fast abgebrannt und ihr Wachs ergoss sich über die goldenen Kerzenständer. Sowohl auf der Fensterbank, als auch auf den Büchern, dem Schreibtisch und dem kleinen Brett an der Wand standen sie. Ob ich ihm mal zeigen sollte, wie ein Lichtschalter funktionierte?

Ich wühlte mich durch das Chaos bis zum Schrank und öffnete ihn. Sofort kamen mir einige Schäle und Taschen entgegen. Ich hob etwas von den Sachen auf und hielt einen dunkelblauen Wollschal in der Hand. Er war richtig weich und lang. Solch ein Schal sähe bestimmt gut an ihm aus, dachte ich und legte ihn ordentlich wieder in eines der Fächer. Die schwarzen Taschen, die ebenfalls auf dem Boden lagen, hatten etwas feminines. Feines Leder, mit ein paar goldenen Schnallen. So puristisch. In Gedanken über seine Outfits am grübeln, stellte ich sie wieder in den Schrank. Das Chaos war nicht zu übersehen und erinnerte mich etwas an das zu Hause bei meiner Mutter. Einerseits gefiel mir das, was ich sah, andererseits würde es eine große Überwindung kosten, es anzuziehen. Zwar war alles hauptsächlich schwarz (Ich erwähnte das bereits), trotzdem waren es Hemden, Stoffhosen, vielleicht zwei oder drei Jeans und ansonsten ein paar T-Shirts. Er verlangte wohl von mir, dass ich eines seiner dunkelroten Hemden anzog, da das ja die Schuluniform war. Etwas angesäuert zog ich mir ein solches heraus und warf es mir über. Die Jeans, die er besaß, waren alle skinny. Ich hasste solche Jeans. An ihm sahen sie gut aus, aber ich persönlich würde sie nie freiwillig tragen. Mein Schritt braucht Platz.

 Das hieß wohl, ich musste eine Stoffhose anziehen. Genervt am seufzen zog ich mir eine raus, hing den Bügel wieder in den Schrank und machte die Schranktüren zu. Ich zog mir die Hose an und zupfte noch ein wenig am Hemd. Ohne direkt zu mosern musste ich jedoch eingestehen, dass es mir ein wenig zu klein war. Bei seiner zierlichen Figur konnte es mir ja nur zu klein sein. Ich war bei weitem kein Schrank. In diesem Hemd fühlte ich mich auf einmal wie einer.

Ich musste etwas lachen, doch es versiegte sofort wieder, als Kiyoshi mit offenem Hemd ins Zimmer gestürmt kam.

»Du bist ja immer noch hier«, motzte er unfreundlich und lief an mir vorbei, um seine Tasche mit noch restlichen Dingen zu füllen.

»Ich musste mich erst einmal durch diesen Dschungel kämpfen«, lachte ich etwas angenervt und stemmte meine Hände in die Hüfte. Er hielt in seiner Bewegung inne und sah kurz zu mir auf. Sein böser Blick wurde noch durch ein sarkastisches »Haha« verstärkt. Das ließ mich natürlich noch weiter lachen. Er konnte so kratzbürstig werden.

»Hey, Witzbold, steck das Hemd rein«, maulte er mich plötz­lich wieder an und stopfte ein Buch in die Tasche.

»Vergiss es, Kaktus. Ich bin der lockere Typ, ich stecke meine Hemden nie rein«, sagte ich mit einem breiten Grinsen. Dann verschränkte ich meine Arme vor der Brust.

Er seufzte genervt auf und legte ein Buch wieder auf den Schreibtisch, da es nicht mehr in seine Tasche passte.

»Hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt, oder was?« Er klang sehr genervt. Wahrscheinlich trug ich grade bestens dazu bei.

»Einen ganzen Clown, hast du ihn nicht gesehen? Die Leiche liegt sicherlich noch unter dem ganzen Krempel hier, Yoshi.«

Er schloss genervt die Augen und atmete feste aus. Aufgestaute Luft rauslassen. Ich musste mir das Lachen unterdrücken; es war so lustig ihn zu ärgern.

»Zieh wenigstens den Blazer an, Zwerg.«

»Hä? Welcher Blazer?«

»Der vor deiner Nase liegt.«

»Hier liegt ne Menge vor meiner Nase.«

Er seufzte auf, bückte sich vor mich und hob einen schwarzen Blazer von der Kommode auf.

»Den!«, sagte er auffordernd und drückte ihn mir gegen meine Brust. Ich nahm ihn verwundert an und betrachtete ihn.

»Das ist doch eure Schuluniform. Musst du den nicht tragen?«

»Ich habe mehrere.«

»Konnte ich mir auch denken …«, murmelte ich und zog ihn mir über. »Jetzt sehe ich aus wie ihr …« Der etwas widrige Ton in meiner Stimme ließ Kiyoshi aufhorchen. Er drehte sich zu mir um und kam auf mich zu. Er knöpfte meinen oberen Knopf noch zu und öffnete eine Schublade vom Schrank. Schnell knöpfte ich den Knopf wieder auf. Als er sich zu mir umdrehte, hielt er eine schwarze Krawatte in der Hand und seufzte abermals.

»Den solltest du zumachen«, sagte er unerwartet ruhig.

»Ich sagte doch, ich mag es eher -…«

»Ja, ja«, redete er mir ins Wort und zog die Krawatte um meinen Kragen. Sachte band er sie für mich. Ich konnte einfach nicht anders. Wie er da so vor mir stand und diese Krawatte fixierte, mit offenem Hemd und der Krawatte herunterhängend. Als er fertig war, richtete er noch einmal meinen Blazer. Ich legte meine Hände auf seine Oberarme und kam seinem Kopf etwas näher. Vorsichtig wartete ich seine Reaktion ab, als er jedoch nichts einwendete, schloss ich meine Augen und presste sanft meine Lippen auf seine. Ich blinzelte kurz, ob das in Ordnung war und sah, dass er seine Augen auch geschlossen hatte. Ich intensivierte den Kuss ein wenig, ließ ihn aber nach einigen Sekunden wieder beenden. Ich wollte ja nicht über­treiben. Und schon gar nicht erwischt werden.

Vorsichtig sah ich in seine Augen. Sie glänzten wieder und erleuchteten in ihrer typischen Farbe. Ich lächelte ihn leicht an und ging auf Abstand. Seine Miene blieb erst unergründlich, doch als mein Lächeln versiegte, formte er seine Lippen auch in ein zartes und warmes Lächeln. Es umschmeichelte mein Herz und ließ es schneller schlagen. Sofort grinste ich wieder und schlang meine Arme um ihn. Sein kalter, lebloser Körper lag nun in ihnen, Wange an Wange spürte ich seine zarte Haut. Seine dünnen Finger strichen über meinen Nacken und Rücken, verursachten bei mir Gänsehaut. Ich drückte seinen Körper weiter an mich, in der Hoffnung dieser würde ein Lebenszeichen von sich geben. Doch es kam nichts. Es war immer noch so ungewohnt, einen toten Körper zu umarmen. Fast, als wäre mein Geliebter eine Leiche.

»Schwänzen wir morgen?«, hörte ich ihn in mein Ohr flüstern.

»Was denn? Du schwänzt?«, musste ich leicht kichern.

»Eh! Natürlich! Ein bisschen zu oft... manchmal.«

Ich musste lachen. Natürlich schwänzte er nie, das hörte ich raus, aber es war ein Angebot für sich.

»Wenn du willst. Ich will da eh nicht hin …«

»Gut …«, hauchte er mir schon fast ins Ohr. Er roch so gut; sein Körper war so zart. Langsam wurde er warm, wahrschein­lich durch meine Körpertemperatur. Ich wollte ihn nicht loslassen. Nie wieder. Für immer hätte ich so stehen bleiben können. Hauptsache, ich konnte ihn halten.

Plötzlich spürte ich, wie er schwerer wurde. Ich atmete ein, wollte etwas sagen, doch da zuckte er schon zusammen und zog seine Arme von meinem Hals, wich aber nicht von mir. Er blickte etwas verschämt gen Boden.

»Ich schlafe jetzt schon fast ein …«, murmelte er. In der Tat sah er sehr müde aus, aber im Grunde war er das immer.

»Lass dich doch heute befreien. Wenn du jetzt schon so müde bist, hat’s doch keinen Sinn …«, schlug ich ihm vor, doch er antwortete nur mit Kopfschütteln.

»Nein, ich muss in die Schule.«

»Wieso musst du?«

»Ich habe heute einen Vortrag in Geschichte. Der ist extrem wichtig …«

Ich seufzte. Gerade deshalb würde ich nicht in die Schule gehen …

Trotzdem nickte ich verständnisvoll und drückte ihn noch einmal an mich. Er legte kurz seinen Kopf auf meine Schulter. Doch es dauerte nicht lange, da riss er sich von mir weg. Kurz danach wurde die Tür geöffnet. Vater stand lächelnd am Türrahmen.

»Kommt ihr?«

Ich drehte mich um und nickte etwas verlegen. Gut, dass Kiyoshi da so einen guten Spürsinn für hatte, sonst wäre so manche Situation schon in die Hose gegangen.

»Hiro, die Uniform steht die sehr gut«, machte mir Vater ein Kompliment und nickte aufmunternd. Ich versuchte zu lächeln und murmelte ein »Danke«. Kiyoshi schnappte sich seine Tasche und hing sie über seine Schulter.

»Du solltest deine Tasche auch mitnehmen«, sagte er mir noch beim Vorbeigehen und verschwand um die Ecke aus der Tür. »Ach ja«, murmelte ich noch vor mich in und drängte mich ebenfalls an Vater vorbei. Der machte nur schwerfällig für mich Platz und gewährte mir Durchgang. Schnell rannte ich in mein Zimmer und schnappte mir meine eigene Tasche. Die Flasche von gestern war noch drin, ich hatte vergessen sie heraus zu nehmen. Als gleichgültig abgestempelt verließ auch ich meinen Raum, schnappte mir noch meinen goldenen Schlüssel vom inneren Schloss der Tür. Ich stockte kurz und blieb stehen. Verwirrt starrte ich auf das goldene Ding.

»Wie kann das sein?«, flüsterte ich in die Stille um mich herum. Kiyoshi hatte den Raum abgeschlossen, nachdem er reinge­kommen war. Was zur Hölle war eigentlich zwischen dem Thema ‚Wald’ und dem Thema ‚Bett’ passiert? Irgendjemand musste die Tür aufgeschlossen haben. Vielleicht Kiyoshi selbst? Aber hätte ich das nicht mitbekommen? Mein Kopf dröhnte schon fast vor Wirrsal.

»Hiro, komm endlich«, rief Vater erneut von der Treppe aus und zeigte mir mit einem Handzeichen, dass ich mich beeilen sollte. Schnell schloss ich die Tür hinter mir und rannte ein Stück bis zu ihm. Unten stand noch Kiyoshi und wartete neben der offenen Haustür auf mich. Die morgendlichen roten Sonnenstrahlen umschmeichelten seine Elfenbeinfarbene Haut, wie in einem Kitschfilm. Und auch wenn ich kein Freund von solchen Dingen war, so hätte ich Stunden auf ihn starren können. Jedoch musste ich mit ihm in die Schule, sprintete die Treppe runter und wollte schon wieder umdrehen, da ich meine Schuhe vergessen hatte, wurde jedoch mit meinem Namen zurückgehalten.

»Hiro, sie sind hier«, rief mir Kiyoshi hinterher und zeigte auf meine Uniformschuhe. »Ah …«, brachte ich leicht lächelnd raus und fragte mich wieder innerlich, wie die an diesen Platz kamen, da ich der festen Überzeugung war, sie in mein Zimmer gestellt zu haben. Mysterien waren hier wie Sand am Meer.

Endlich startklar, schlurfte ich mit Kiyoshi aus der Villa zum Auto. Diesmal war es ein schicker BMW, welche Klasse genau, konnte ich nicht erkennen. Aber die Innenausstattung war schon Luxus genug. Sachte ließ ich mich auf die hellen Ledersitze fallen und schloss die Tür. Sofort fuhr Mamoru los, ohne irgendein Wort zu sagen.

»Sag mal, Mamoru«, brach ich die Stille und beugte mich zu ihm nach vorne, »Wie hast du es hinbekommen, dass Vater mir jetzt doch erlaubte in die Schule zu gehen?«

Er grinste leicht und sah durch den Rückspiegel.

»Ich überzeugte ihn, indem ich ihm mitteilte, dass es Ihnen besser ginge und Sie bereit wären, Ihren baldigen Platz in der Schule einzunehmen.«

Ich schluckte leicht. »Oh« war alles was mir dazu einfiel. Mein ‚baldiger Platz’? Ja, das befürchtete ich wohl auch. Nickend setzte ich mich wieder auf meinen Platz und starrte aus dem Fenster. Wir befanden uns schon auf der Allee. Es dauerte auch nicht lange, da durchfuhren wir wieder die Einfahrt der Schule. Einige Schüler waren diesmal noch auf dem Campus, wenn man das schön angelegte Gartengelände so bezeichnen konnte. Kiyoshi verabschiedete sich kurz von Mamoru und stieg aus. Er war schon längst am anderen Ende des Autos, während ich noch mit meinem Anschnallgurt zu kämpfen hatte.

»Tschüss Mamoru. Und noch mal danke.«

»Selbstverständlich, Herr Hiroshi.«

Ich seufzte etwas. Er sollte mich besser Duzen. Aber wahrscheinlich würde er es noch in hundert Jahren machen, wortwörtlich.

Ich folgte meinem Bruder durch die schwere Holztür. Es war ganz anders, das Schulgebäude mit Schülern zu betreten, alles zu kennen und sich schon ein wenig wohlzufühlen. Die Umgebung war nicht mehr allzu neu, sie war bekannt. Einige Gesichter erkannte ich sogar wieder. Auch das von Kat und Ichiru.

»Hiro!«, rief Kat durch die Menge und streckte ihren Arm in die Höhe, um mir zu winken. Ich winkte etwas zögerlich zurück und lächelte. Sofort kam sie angestürmt und fiel mir um den Hals. Mich durchzog es wie ein Blitz, die kalte Haut, der ungewohnte Geruch, diese Gefahr, die sich mir so unglaublich unnachgiebig näherte. Ich drückte sie sofort von mir. Sie selbst sah mich verwundert an.

»Oh, äh … Sorry, ich bin noch nicht so heile …«, redete ich mich raus. Kiyoshi war wirklich der einzige, der sich mir überhaupt nähern durfte ohne gleich meine Fäuste zu spüren zu bekommen.

»Ach so! Tut mir Leid. Schön, dass du wieder da bist«, quietschte sie mir entgegen und wehte ihren leicht gebundenen Pferdeschwanz nach hinten. Ichiru kam auch langsam lächelnd auf mich zu und reichte mir die Hand.

»Hallo, Hiro. Freut mich, dass es dir wieder besser geht.«

Ich nahm sie freundlich an und schüttelte sie etwas.

»Hey, Ichiru. Danke …« Dann ließ ich sie wieder los.

Eine kurze Stille trat ein. Kat und Ichiru nahmen sich wieder an die Hand und sahen uns glücklich an. Ich hätte auch gerne Kiyoshis Hand genommen und wäre mit ihm in die Klasse gegangen. Doch das wäre … seltsam gewesen. Kat stutzte auf.

»Ist irgendetwas zwischen euch passiert? Ihr wirkt so … anders«, sagte sie verwundert und legte ihren Kopf etwas schief. Sofort riss ich meine Augen auf und spürte, wie das Blut in meinen Kopf gepumpt wurde.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Kiyoshi monoton. Sofort sah ich ihn an. Sein Blick war desinteressiert, seine Augen auf halb acht und sein ganzes Erscheinungsbild recht teilnahmslos. Wie schnell er seine Art ändern konnte, faszinierte mich immer wieder aufs Neue.

»Och, na ja … Ihr beide wirkt so … distanziert«, bemerkte sie schließlich und legte ihre Hand überlegend auf ihre Wange. Ichiru musste nicken und stimmte ihr demnach zu.

»Distanziert … echt?« Ich konnte es kaum glauben. Immerhin war ja das genaue Gegenteil eingetreten. Mir brannte es richtig auf den Lippen den beiden zu sagen, was wirklich war. Am liebsten wären mir Phrasen wie ‚Wir hatten aber Sex, stellt euch vor’ und ‚Wir sind jetzt ein Paar’, ‚Kiyoshi kann richtig heftig stöhnen, kann man sich bei ihm gar nicht vorstellen’ und noch vieles weitere. Aber das unterdrückte ich mir, das wäre recht peinlich geworden.

»Wenn ihr’s nicht seid, ist doch in Ordnung«, lachte Kat wieder und zuckte mit den Schultern. Ich nickte stockend und ging unbemerkt einen kleinen Schritt zur Seite. Sachte berührte ich seine Schulter. Ich huschte kurz mit meinem Blick zu ihm, in der Hoffnung, er würde auch herüberschauen. Doch er blickte nur stur geradeaus und schien einen toten Punkt zu fixieren. Er war wirklich müde. Und dann hatte er heute noch einen Vortrag. Der Arme, dachte ich bei mir und wendete meinen Blick wieder ab. Von weitem kam Yagate auf uns zu, grinste breit und winkte uns zu. Wir alle winkten zurück, außer Kiyoshi, und gingen ein paar Schritte auf ihn zu.

»Guten Morgen, ihr vier. Hey, Hiro. Wie geht’s dir?«, fragte er freundlich und hielt mir seine Hand hin. Ich schüttelte sie wie bei Ichiru und nickte. »Danke, wieder besser …«

Nach noch kurzem Verweilen im Foyer, gingen wir die große Treppe in den ersten Stock hoch. Es wurden immer weniger Schüler auf dem Gang, der Unterricht schien bald zu beginnen.

»Was haben wir jetzt?«, fragte ich in meiner typisch nervenden Stimme. Ich fragte diese Phrase andauernd, aber Kiyoshi ließ mich ja nicht an seinem Stundenplan teilhaben.

»Biologie«, antwortete Ichiru und zeigte auf eine noch offen stehende Tür. Ich nickte einmal dankend. Bio, na toll, dachte ich innerlich seufzend.

Wir betraten den kleinen Hörsaal und suchten uns Plätze.

»Da hinten sind noch drei Plätze frei«, sagte Kat und deutete auf eine hintere Reihe. »Ansonsten hier vorne noch vier.«

Ohne ein Wort zu sagen, platzierte sich Kiyoshi in die erste Reihe und schmiss sich auf einen der Klappstühle. Ich zuckte mit den Schultern und ging zu ihm, setzte mich neben ihn und packte meine Tasche unter den Tisch. Kurz blickte ich zu den drei anderen, wie sie wortlos nach hinten gingen.

»Wäre es nicht netter gewesen, die drei darüber zu informie­ren, wo wir uns platzieren? Vielleicht hätten sie lieber hier gesessen?«, flüsterte ich zu Kiyoshi, der mich nur desinteressiert ansah.

»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass die drei im Unterricht aufpassen.«

»Na, trotzdem!«

»Glaub mir, das ist schon in Ordnung so.«

Ich seufzte kurz. Mein Blick fiel kurz durch die Runde der Klasse. Die Gesichter sahen alle fremd aus, niemand war von Montag hier. Aber etwas Gutes hatte es: Kein Alexander. Den hatte ich so gut wie gefressen. In meiner Schule hätte der ein paar Schläge auf sein arrogantes Maul bekommen. Den hätte Jiro mal kennenlernen sollen. Da hätte es hier aber Verletzte gegeben.

Die Lehrerin betrat den Raum, schloss sachte die Tür und schob einen Overheadprojektor vor sich her. Lächelnd stellte sie ihre Tasche ab und schaltete den Projektor ein. Es war eine junge und hübsche Lehrerin. Sie hatte kurze, schwarze Haare und ein niedliches Gesicht. Außerdem war sie bestimmt einen Kopf kleiner als ich. ‚Süß’ wäre eine gute Beschreibung für sie gewesen.

»Guten Morgen, ihr Lieben«, begrüßte sie uns in ihrer hohen Stimme. Ein kurzes militärisches ‚Guten Morgen’ dröhnte durch den Raum, dann setzten sich alle hin.

Während sie noch ihre Folien in ihrer Tasche suchte, sprach sie zu mir ohne mich dabei anzusehen:

»Und du bist Kiyoshis Zwillingsbruder?«

»Äh, ja«, gab ich kurz zurück und genierte mich wieder etwas. Mit Erwachsenen reden war schon unangenehm und jetzt noch mit vampirischen Erwachsenen war ja dementsprechend noch unerträglicher.

»Schön, dass du hier bist. Wie lange bleibst du?«, wollte sie wissen und sah mich endlich dabei an, als sie die Folie auf die Projektorfläche legte.

»Nur noch diese Woche.«

»Oh, schade. Dann sehen wir uns wohl heute zum ersten und letzten Mal. Trotzdem, ich bin Frau Albert. Und du bist …?« Sie reichte mir freundlich ihre zarte, weiße Hand, die schon fast Ton in Ton mit ihrem Kittel war. Lächelnd gab ich ihr meine.

»Hiroshi. Aber nennen Sie mich bitte Hiro.«

»Alles klar, Hiro«, sagte sie schon fast auffordernd. Dann wusste ich auch, was sie meinte. »Dann kannst du uns bestimmt auch etwas über die D.N.S sagen.«

»Äh …« Nein, konnte ich nicht. Ich wusste noch nicht mal, was genau das war. Obwohl das Thema gerade für mich und Kiyoshi nicht uninteressant wäre. »Tut mir Leid, leider nicht«, musste ich etwas eingeschüchtert zugeben. Frau Albert lachte und winkte ab.

»War nur ein kleiner Scherz. Als Gast musst du das doch nicht wissen.«

Aber wenn ich bald auf diese Schule gehen würde, müsste ich es wissen; das war das Schlimme. Und ich könnte in meinem ganzen Leben den Stoff nicht nachlernen. Jedenfalls hatte ich das auch nicht vor, das Thema hatte ich schon einmal.

»Aber dein Bruder kann es sicher«, forderte sie Kiyoshi auf, der nur teilnahmslos auf die Folie starrte, auf der einzelne Gebilde abgebildet waren, die wie Bausteine aussahen.

»Was genau wollen Sie denn wissen?«, stellte er indirekt eine Gegenfrage und wartete ruhig ab. Frau Albert schien verwun­dert, stockte etwas, sah ihn nur verwirrt an.

»Zum Beispiel … was sie ausgeschrieben bedeutet.«

»Desoxyribonukleinsäure.«

»Ja, genau, richtig. Hinten, Atushi: Wie heißen ihre vier organischen Basen?«

Ein Junge aus den hinteren Reihen antwortete irgendeinen Wirrwarr, den ich nicht verstand. Ich beugte mich etwas zu meinem Bruder.

»Wie heißt das?«, flüsterte ich ihm zu.

»Merk dir einfach D.N.S.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay.«

Die Stunde handelte nur von der D.N.S, wie sie in einer Doppelhelix aufzufinden war, in ihr Aminosäuren enthalten waren und der genetische Code aus vier Basen mit diesen Aminosäuren und Proteinen bestand, oder so ähnlich. Die Stunde verbrachte ich in meiner üblichen Abwesendheit und wartete bis es klingelte. Schon bereute ich es innerlich dieses Gebäude betreten zu haben, bis eine seltsame Durchsage durch die Hallen der Schule erklang.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Tomanto
2015-07-07T21:59:06+00:00 07.07.2015 23:59
le me: Ich will die Durchsage wissen! X-X
le Bruder, der direkt neben mir sitzt: Dann ließ doch weiter.
le me: Guter Vorschlag! xD


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