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My Dear Brother

The Vampires
von

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Orden "Red Rose"

Ich staunte nicht schlecht, als Mamoru den Wagen in der runden Einfahrt parke.

Ein riesiges Gebäude stand direkt vor uns. Es sah alt aus und an einigen Stellen wuchs Efeu die Wände hoch. Die Fenster waren alle alt und mit Holzrahmen versehen. Trotz allem wirkte es renoviert, da die Eingangstur noch im besten Zustand war. Es war eine schwere Holztür mit vielen Einritzungen, die von weitem aussahen, als wüchse da irgendetwas entlang. Eine große, aber kurze Treppe führte zu diesem Eingang mit einem schwarzen, verschnörkelten Metallgeländer an beiden Seiten. Vor dem Schulgebäude waren kleine Pflanzen, die im Morgen­rot langsam aufgingen. Kiyoshi stieg aus und knallte die Tür mit »Bis später, Mamoru« zu. Ich stieg ebenfalls aus.

»Tschüss, Mamoru.«

»Auf Wiedersehen und viel Vergnügen.« Ich musste zögerlich grinsen. Vergnügen? In diesem Geisterschloss?

 

Als ich neben Kiyoshi stand, fuhr Mamoru weg. Kaum war er nicht mehr sichtbar gewesen, drehte ich mich wieder zu meinem Bruder um.

»Das ist deine Schule?«, fragte ich noch immer etwas ungläu­big.

»Ja«, gab er knapp zurück und ging zum Eingang. Schweigend folgte ich ihm. Wer geht schon auf so eine Schule? Die schien erstens sehr teuer zu sein, weil es ja eine Privatschule war, zweitens ein Geisterhaus, da überall Verschnörkelungen aus dem letzten Jahrhundert waren, und drittens einen sehr leeren Eindruck verschaffte. Mit einem Quietschen der schweren Holztür betraten wir um kurz vor acht Uhr ein leeres Foyer. Dunkelgraue Marmorplatten führten zu einer großen Treppe aus dunklem Holz. Das Foyer mit der schweren Treppe erinnerte mich ein bisschen an den  »Harry Potter« Film. Obwohl es in Harry Potter noch gemütlicher aussah als hier, da dort noch Schüler rum liefen.

»Du, sag mal. Gibt’s hier auch so was wie Schüler?«, flüsterte ich Kiyoshi zu, da es so leise war.

»Ja, in den Klassen.« Kiyoshi sprach ganz normal, aber wieder sehr gehoben. Sein Territorium, wie mir schien. Dabei gab’s hier noch nicht mal Mädels, die er mit seiner coolen Art hätte aufreißen können.

 

Mit schnellem Schritte gingen wir die Treppe rauf. An der Wand hingen riesige Gemälde von Landschaften oder von Personen, die kaum zu erkennen waren. Selbst das Holz­geländer der Treppe war mit Verzierungen geschmückt. Alles in einem wirkte sehr aufwendig verarbeitet. Wir betraten einen langen Gang, der mit dem gleichen matten Licht beleuchtet wurde, wie der Gang bei uns im Haus. Das fade Licht zeigte einige Räume, deren Türen ebenfalls sehr groß und schwer aussahen. Mein Blick fiel noch einmal zurück ins Foyer. Riesige Fenster mit langen, schweren Vorhängen schmückten die goldfarbenen Wände. Die Scheiben waren getönt, sodass nur wenig Licht eintrat. Mir kam immer mehr der Gedanke, dass ich hier auf einer besonderen Schule war, wo nicht jeder draufkam.

 

»Kommst du?«, hörte ich Kiyoshis anmutige Stimme nach mir rufen. Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn schon vor einem Raum stehen. Sofort nickte ich und ging zu ihm.

»Das ist deine Klasse?«, fragte ich vorsichtig.

»Mein Kurs, ja.«

Ich nickte. Mein Herz klopfte wahnsinnig. Jedoch war ich immer froh es zu hören. Meine Angst stieg mir weiter in die Finger. Kiyoshi öffnete die Tür. Wir gingen in einen großen Hörsaal. Dann bog er zu den Tischen ab und ich erkannte, wer sich alles schon in diesem Raum befand.

 

Damen und Herren saßen vereinzelt auf den Tischen und Stühlen und unterhielten sich leise. Alle sahen anmutig aus. Alle waren sie blass und alle waren sie … perfekt. Keine Makel waren auf ihren Gesichtern zu erkennen, die Frisur saß und keiner hatte irgendein Gramm Fett zu viel an seinem Körper. Die Mädchen trugen kurze Faltenröcke mit roten Blusen und darüber der schwarze Blazer. Erst jetzt fielen mir die vielen kleinen Knöpfe auf, die sie auf ihren Blazern hatten. Der Faltenrock hatte am Saum eine feine rote Linie. An ihren Blusen hatten die Mädchen eine schwarze Schleife sanft verknotet mit einer roten Rose als Brosche auf dem Blazer. Die Männer, so auch Kiyoshi, trugen an ihren Blazern die rote Rose auch als Brosche. Am Hosensaum war ebenfalls eine feine rote Linie gezogen. Alle ihre Krawatten waren ordentlich gebunden, alle Schleifen ordentlich geknotet und alle hatten ihre Bluse oder ihr Hemd ordnungsgemäß in ihrem Rock oder ihrer Hose. Diese Anmut und diese Perfektion in ihren Gesichtern, die keinen Ausdruck vermittelten, ließen mich nur eine Schluss­folgerung ziehen:

 

Das war eine Schule, ganz allein nur für Vampire. Jeder in diesem Raum war ein Vampir. Jeder einzelne. Kein Mensch befand sich in diesen vier Räumen. Ich stand in einem Haufen Toter. Mein Herz schlug immer heftiger. Dass es in unserem Haus nur von Toten wimmelte, war irgendwo schon zu viel und jetzt auch noch eine ganze Schule voller Vampire? Ich wollte dieses Gebäude sofort verlassen.

 

»Hiro! Jetzt komm schon hoch«, rief Kiyoshi durch den Raum. Ich stand immer noch verlassen an der schon längst geschlos­senen Tür und konnte nicht fassen, wo ich gelandet war. Mein Bruder stand an einem Tisch und hatte seine Tasche abgelegt. Um ihn herum standen drei andere Vampire. Ein Mädchen und zwei Jungs. Er hatte also doch Freunde …

Langsam und zögerlich ging ich die kleinen Treppen entlang, um zu Kiyoshi an die Bank zu kommen. Dort stellte ich meine Tasche neben seiner am Boden ab. Der edle Holzboden war weder dreckig noch anderweitig beschmutzt. Er sah so neu aus. Genauso wie die weißen Tische. Sie waren so sauber und glatt auf ihrer Oberfläche. Auch in diesem Raum waren riesige, getönte Fenster mit schweren, schwarzen Vorhängen, die mit einem roten Band zurückgebunden waren. Die Umgebung interessierte mich im Moment aber herzlich wenig, da mich die Insassen dieses Raumes viel nervöser machten.

 

»Das ist also dein Bruder?«, fragte nun das eine Mädchen in einer hohen, aber angenehmen Stimme. Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr glatt über der Schulter lagen. Ihre langen, grazilen Beine, die in schwarzen Stiefeln endeten, lagen sachte übereinander, während sie auf dem Tisch saß. Sie hatte grüne Augen, die stark heraus stachen. Ansonsten hatte sie ein eher längliches Gesicht, welches aber doch wohlgeformt war. Mit einem verführerischen Blick, der trotzdem neugierig aussah, starrte sie mich an.

»Ja. Hiro, das ist Kathleen. Kat, das ist Hiroshi«, stellte Kiyoshi uns vor. Sie grinste freundlich, trotzdem noch gehoben und reichte mir ihre kalte, dünne Hand. Ich nahm sie mit einem zö­gerlichen Grinsen an und schüttelte sie kurz. Ihr Griff war für ihre zarte Hand doch recht fest.

»Freut mich, Hiro«, sagte sie freundlich und grinste weiter.

»Mich ebenfalls, Kathleen.«

»Nenn mich ruhig Kat. Das ist kürzer.«

Ich nickte kurz, dann ließen wir unsere Hände wieder sinken.

»Und das sind Ichiru und Yagate«, stellte Kiyoshi nun die zwei anderen vor. Yagate war groß und hatte selbst unter der dicken Schuluniform einen stämmigen Körper. Er schien sehr muskulös zu sein, da auch seine Hände etwas größer waren. Trotz allem wirkte er wie alle anderen auch: Fein und Anmutig. Seine kurzen, verwuschelten braunen Haare waren mit etwas Gel zurechtgestylt. Seine dunkelbraunen Augen erinnerten an die meines Vaters. Kalt und doch aussagend darüber, was er war: Besser als alle anderen.

Ichiru schien der Lockere von allen zu sein. Auch wenn alles an ihm so saß wie bei jedem, so strahlte er etwas Freundliches aus. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger und ähnelten der Frisur von Kiyoshi, wenn er seine Haare nicht kämmte. Trotzdem hatten Ichirus Haare Form und Ordnung. Seine grauen Augen schienen eher matt zu wirken, doch wenn man genau schaute, strahlten sie genauso stark wie die anderen. Er war nicht ganz so muskulös wie Yagate, aber nicht ganz so zierlich wie mein Bruder. Mehr so wie ich. Er schien mir sowieso sehr ähnlich zu sein.

Wir gaben uns die Hand, begrüßten uns und ließen uns wieder los. Beide hatten kalte Hände, die von blaugrünen Adern durchzogen waren. Sie sahen alle gleich aus. Alle hatten einen ganz bestimmten Touch.

 

»Bist du jetzt für immer hier?«, fragte Yagate in einer sehr dunklen Stimme. Ich schüttelte leicht den Kopf.

»Ich denke, nur zu Besuch.«

»Du denkst? Bist du dir nicht sicher?«, spaßte Ichiru etwas und setzte sich zu Kat auf den Tisch. Diese lächelte ebenfalls.

»Na ja … Den Umständen entsprechend …«, murmelte ich vor mich hin und sah trübe auf den Boden.

 

Jetzt schienen die drei zu verstehen, wieso ich mir nicht ganz sicher war.

»Dein Zwilling ist ein Mensch?«, fragte Ichiru fassungslos und beugte sich etwas zu mir vor, um mich betrachten zu können.

»Eher ein Noneternal, wie es aussieht«, verbesserte Kat und sah Kiyoshi fragend an.

»Wie kann das denn sein?«, sagte nun auch Yagate. Alle drei schienen ziemlich aus der Fassung zu sein. Ich war wohl der erste Mensch in ihrer Runde.

Kiyoshi blieb ruhig.

»Es war … ein Unfall. Aber ich denke, dass seine Ver­wand­lung bald kommt«, sagte er ruhig und verschränkte leicht die Arme, während er sich auf den Tisch über Kat und Ichiru setzte und die Füße auf die Stühle stellte.

»Dein armer Bruder … wer war das denn?« Kat schien etwas Mitleid für mich zu empfinden, was sie mir im Übrigen sehr sympathisch machte, da sie menschliche Züge zeigte.

 

Kiyoshi schwieg und sah zur Seite. Ich schaute zu Kiyoshi, der keine Reaktion zeigte. Sofort sah ich in die Runde. Alle drei warteten gespannt auf eine Antwort. Als keine kam, zog Yagate seine Augenbrauen hoch.

»Kiyoshi?«, fragte er etwas fassungslos.

»Was denn? Du hast mal die Fassung verloren?«, spottete Kat etwas und beugte sich zu Kiyoshi nach vorne, um ihm ins Gesicht zu schauen.

»Haha. Das wir das noch mal erleben, dass unser Kiyoshi sich mal nicht beherrschen konnte.« Ichiru musste kurz lachen. Auch wenn es ein gekünsteltes Lachen war. Verwundert über das Gekicher der anderen, sah ich zu Kiyoshi, der etwas verärgert zur Seite schaute. Er schien also nicht oft die Fassung zu verlieren, geschweige denn die Kontrolle über sich. Er war also nach außen hin immer der perfekte junge Mann, der voll und ganz Herr über sich selber war. Und ich war sozusagen die kleine Ausnahme, die große Auswirkungen für ihn hatte. Bei meinem Blut konnte er also einfach nicht nein sagen?

 

»Kiyoshi, Kiyoshi. Du hast also auch mal einen Fehler ge­macht. Gab’s Ärger vom Papi?«, kam plötzlich eine andere Stimme. Unsere Blicke fielen zu einem anderen Tisch, auf der anderen Seite des Ganges.

Dort stand ein Mann mit etwas welligen, schwarzen Haaren, die sachte glänzten. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und sah Kiyoshi mit seinen eisblauen Augen neckend an. Sein Grinsen war fies und griff förmlich alles an, was er ansah. Hinter ihm saßen mindestens vier Weiber, alle am Kichern und hielten sich vor Anstand die Hand vor den Mund. Sie sahen sehr weiblich aus und würden bei mir auf der Schule wohl alle als ‚Tussis’ bezeichnet werden. Also genau die Art Mädchen, die ich nicht mag und bei dir ich so viel Abstand gewinnen wollen würde, wie möglich.

»Was willst du, Alexander?«, fragte Kat angeekelt. An den Blicken der anderen konnte man erkennen, dass der Typ genau der gehasste, fiese Störenfried war, der das Klima in der Gruppe immer zerstören wollte. Schön zu wissen, dass es bei Vampiren auch die genormten Rollen der Klasse gab.

»Kiyoshi, unser liebe, anständige und immer perfekte Junge hat einen Fehler gemacht und aus Versehen seinen Zwillings­bruder verwandelt? Das ist doch mal etwas Neues«, lachte dieser Alexander und schien sich köstlich zu amüsieren.

»Hey, wenn du Streit suchst, dann sag’s offen und mach hier keinen blöd an«, meckerte Yagate und wollte schon zu Alexander gehen, da hielt Kiyoshi die Hand vor seine Brust und hielt ihn zurück.

»Lass gut sein, Yagate«, sagte er monoton in seinem ge­hobenen Ton.

»Aber -«

»Lass ihn«, flüsterte Ichiru und hielt Yagate am Oberarm fest. Das ganze schien ihm nicht ganz zu passen, trotz allem ließ er ab und setzte sich auf den Tisch. Ich war nun der einzige der stand.

»Süß, wenn deine Freunde dich immer verteidigen müssen, Kiyoshi«, spottete Alexander weiter, während mein Bruder nur vor sich hin schwieg und ihn noch nicht mal zu beachten schien. Kat, Ichiru und Yagate sahen nur auf den Boden oder irgendwo anders hin.

 

»Es war nicht sein Fehler. Ich habe mich ihm sozusagen angeboten.«

Kiyoshi sah mich entsetzt an. Auch die anderen drei sahen etwas verwirrt aus.

Alexander hob nur eine Augenbraue an und grinste weiter.

»So? Und warum ist dann die Verwandlung fehlgeschlagen? Wieso bist du dann nur ein Noneternal und kein richtiger Vampir geworden?«, fragte er frech. Verdammt, stimmt ja … Die Verwandlung hätte ja auch richtig stattfinden können. Das hatte ich total vergessen.

»Dein Zwillingsbruder scheint ja nicht grade eine Leuchte zu sein, Kiyoshi«, prustete Alexander los.

 

Jetzt schien bei meinem Bruder endgültig der Faden gerissen zu sein. Auf einmal war er von seinem Platz weg. Verwundert sah ich mich um.

 

Er kam sanft auf der Ecke des Tisches auf, wo Alexander stand und hockte sich anmutig hin. Er packte Alexanders Kinn mit seiner rechten Hand und sah ihn missachtend an.

»Wenn du meinen Bruder noch einmal beleidigst, werde ich mich vielleicht kurze Zeit anderweitig ernähren. Von dir selbstverständlich …«, zischte er Alexander zu. Seine Pupillen wurden zu kleinen Punkten, umgeben von der glänzenden Iris seiner blutroten Augen.

 

Wie in meinem Traum …

 

Ich zuckte zusammen. Nicht nur ich schien in mich gefahren zu sein, sondern auch die anderen Vampire wichen zurück und sahen geschockt zu Kiyoshi. Er strahlte so etwas beängstigend aus. So majestätisch. So war er ja sogar noch nie zu mir gewesen. Er war verdammt zornig und vermittelte uns das mit seiner beängstigenden Aura.

 

Alexander schien zu Stein geworden zu sein. Er blieb ver­ängstigt an seiner Stelle stehen und zitterte. Wenige Sekunden später erhob sich Kiyoshi wieder und ließ Alexander los. Der wich schnell zurück und sah verlegen zur Seite. Dann auf einmal kniete er nieder. Kiyoshi blieb anmutig auf dem Tisch stehen.

»Entschuldige, Kiyoshi«, sagte Alexander mit zittriger Stimme und senkte seinen Kopf. Mein Bruder ließ sich geräuschlos wieder auf dem Boden nieder und kam neben Alexander auf. Langsam ging er wieder in unsere Richtung, wo er wieder in seinen Normalzustand rutschte. Sachte setzte er sich auf seinen Klappstuhl und packte eine Mappe aus, auf der Chemie stand.

Erst jetzt erhob Alexander und begab sich reumütig auf seinen Stuhl. Total perplex beobachtete ich dieses Spiel und stand fassungslos neben Kiyoshi und den anderen dreien. Alle Vampire schwiegen nun und sahen verschämt zu Boden. Nur ich wusste nicht, was überhaupt los war.

 

Auf einmal öffnete sich die Tür. Herein kam eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die sie in einem Zopf zusammen­gebunden hatte. Sie sah hübsch aus und schien das Alter meines Vaters zu haben, also war sie wohl die Lehrerin. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, klingelte es. Ein angenehmer Dreiklang durchtönte das stille Klassenzimmer. Sie trug einen langen weißen Kittel, der so rein aussah, als ob er noch nie benutzt worden wäre. Geräuschlos legte sie ihre blaue Mappe auf das steinerne Pult, welches sich wie in einem normalen Hörsaal unten befand. Alle gingen auf ihren Platz. Bei uns war das immer eine gewaltige Geräuschkulisse, wenn der Lehrer rein kam. Und die Schüler hörten erst auf zu reden, wenn der Lehrer sie drei Mal um Ruhe gebeten hatte. Hier ganz anders:

Fast geräuschlos begaben sich die Schüler auf ihre Plätze und standen sofort auf. Als alle an ihrem Platz waren, nickte die Lehrerin.

»Guten Morgen«, sagte sie sachte und legte ihre zarten Hände bewusst auf das Pult, wo ihre Mappe lag.

»Guten Morgen«, sagte die Klasse, wie im Chor, aber ohne Melodie. Mehr wie in der Armee. Bei uns war das immer ein Singsang der feinsten Art. Oftmals ziemlich schief oder lustlos, sodass der Lehrer schon wusste, welche Motivation aufzufinden war: Nämlich gar keine.

Die Lehrerin nickte noch einmal. Sofort setzten sich alle hin und öffneten ihre Mappen, die vereinzelnd auf den Tischen lagen.

 

»Öffnet bitte das Buch auf Seite Hunderteinundachtzig. Dort wird noch einmal erklärt, wie die Wasserstoffbrückenbindung zustande kommt. Wir hatten uns letzte Woche den Versuch Nummer drei angeschaut, der hier noch einmal genauer beschrieben wird. Wer kann mir noch einmal erklären, was genau die Voraussetzungen für eine Wasserstoffbrücken­bindung sind?«

Alleine aus dem Grund, dass sie so schnell sprach und für meine Ohren fast schon zu undeutlich, verstand ich schon nichts. Aus dem anderen Grunde hatte ich schon keinen Plan was eine ‚Wasserstoff-Was-Weiß-Ich-Bindung’ sein sollte.

Einige meldeten sich brav. Niemand schwatzte und niemand schien im Buch zu blättern, ob nicht irgendwo die Lösung stand. Ich schielte zu Kiyoshi ins Buch. Ein langer Text und ein Bild waren zu sehen. Auch er meldete sich und als er sah, wie ich rüberschielte, schob er das Buch in die Mitte von uns beiden.

»Danke …«, flüsterte ich ihm zu. Er nickte nur kurz.

 

»Kiyoshi, bitte«, forderte die Lehrerin ihn auf. Und schon legte er los:

»Eine Wasserstoffbrückenbindung ist eine intermolekulare Kraft und muss mindestens ein positiv teilgeladenes Wasserstoff­atom und ein negativ teilgeladenes Atom mit freistehenden Elektronenpaaren haben. Zusätzlich müssen die Atome eine Elektronegativitätsdifferenz von mindestens 0,8 haben, da eine polare Atombindung vorliegen muss.«

 

Mit offenem Mund und fassungslos geöffneten Augen starrte ich meinen Bruder an. Der war also nicht nur perfekt vom Aussehen, sondern auch perfekt in der Birne. Jedenfalls lächelte die Lehrerin und nickte kurz.

»Sehr gut, Kiyoshi. Warum stellst du uns denn nicht deinen Zwilling mal vor?«, fragte sie freundlich und stützte sich mit der rechten Hand am Pult ab, während sie erwartungsvoll in die Menge schaute.

»Er ist nur zu Besuch hier und wird für eventuell eine Woche hier sein. Sein Name ist Hiroshi, er möchte aber Hiro genannt werden«, sagte er anmutig, mit aber einem spitzen Unterton. Ich kannte ihn wohl schon gut genug, um sagen zu können, dass er immer noch angesäuert von grade eben war.

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Hiro. Ich bin Frau Yamatsuki, die Chemielehrerin, wie du vielleicht schon gemerkt hast.« Sie lächelte mich freundlich an und stellte sich wieder richtig hin.

»Äh … Ja, das habe ich mir schon gedacht«, murmelte ich vor mich hin und lief etwas rosa an. Ich habe kein Wort von dem verstanden, was sie und Kiyoshi gelabert haben. Ich hätte in Chemie besser aufpassen sollen.

»Deinem Blick zu urteilen, hast du das von grade eben nicht ganz verstanden, stimmt’s?«, fragte Frau Yamatsuki und grinste etwas fies.

»Nicht ganz …«, gab ich zu und versank etwas in meinem Sitz. Dann kicherte sie, fast wie gespielt, und sagte:

»Keine Angst. Wir sind hier mit dem Stoff bestimmt schon etwas weiter, als auf deiner Schule. Trotzdem wundert es mich, da wir diesen Stoff mit der Wasserstoffbrückenbindung schon letztes Jahr hatten«, sie unterbrach kurz und drehte sich zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und drehte sich wieder um, »weswegen mich diese wenigen Meldungen sehr irritieren. Vielleicht sollten wir den Stoff noch einmal wiederholen?«

Die Klasse blieb still und starrte nur stumm nach vorne.

»Weißt du Hiro: Nur weil dein Bruder es weiß, heißt es noch lange nicht, dass der ganze Kurs es weiß. Wir wissen ja alle, dass er schnell lernt«, preiste Frau Yamatsuki meinen Bruder an und lächelte freundlich. Trotzdem hatte sie etwas Arrogantes in ihrem Lächeln. Kiyoshi schien ihr Lieblingskind zu sein. Jedenfalls schien alles danach zu scheinen. Ich seufzte leise und verkroch mich hinter dem Tisch. Er waren Ferien und ich hatte so gut wie keine Lust auf Unterricht. Die hatten also wirklich keine Ferien. Privatschule mit Vampiren. Gut, Vampire müssen nicht so viel schlafen und nicht so viel essen wie Menschen, aber brauchen die auch weniger Freizeit als wir? Wenn ich zum Vampir werde, will ich weiterhin Freizeit haben und nicht das ganze Jahr hindurch zur Schule gehen müssen.

 

Ich versuchte die Stunde abzuschalten. Es war langweilig, trotzdem hörte ich mit einem Ohr zu. Die ganze Zeit herrschte Stille, nur ab und zu sagte ein Schüler etwas, aber nur weil er zur Lösung von etwas beitragen wollte. Was mich wunderte, dass niemand tuschelte, weil ich da war. Niemand starrte mich blöd an und niemand machte irgendwelche Witze darüber, dass ich ein Halb-Vampir war. Ein Noneternal. Vielleicht traute sich jetzt nach dem Vorfall von vorhin keiner mehr überhaupt irgendetwas zu sagen. Kiyoshi schien eine ziemliche Persönlich­keit im Kurs darzustellen.

Der Kurs bestand aus genau siebenundzwanzig Vampiren. Wobei es dreizehn Jungs und vierzehn Mädchen waren. Schön aufgeteilt, musste ich schon sagen. Mit mir wären es dann genau fünfzig Prozent Mädchen und fünfzig Prozent Jungs. Ob das extra so gedacht war? Hoffentlich nicht …

 

Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, doch dann klingelte es. Frau Yamatsuki klappte ihre Mappe zusammen, verabschiedete sich und ging aus dem Raum. Nun fingen die Schüler wieder an zu reden. Aber sehr gesittet. Niemand schrie und niemand machte Anstalten großartig etwas zu erzählen. Alle blieben auf ihrem Stuhl sitzen, viele wechselten nur die Mappe von Chemie nach Physik. Ich seufzte innerlich, als ich die Mappe von Kiyoshi sah und verdrehte leicht die Augen. Wieso muss ich das mitmachen?

Kat, Ichiru und Yagate, die vor uns in der Reihe saßen, drehten sich zu uns um und grinsten.

 

»Wie war die erste Stunde bei uns?«, fragte Kat und legte ihren Kopf auf unseren Tisch. Ich grinste zögerlich.

»Interessant … Sehr interessant.«

Ichiru musste kichern.

»Du hast nicht wirklich aufgepasst, oder?«, fragte er und zwinkerte kurz. Ich schüttelte leicht den Kopf und tat so, als würde ich mich für meine Untat schämen.

»Kiyoshi passt immer auf. Er ist das Lieblingskind von allen Lehrern«, sagte Yagate und deutete auf meinen Bruder, der in seine offene Flasche starrte. Er schien grade ganz woanders zu sein, nur nicht hier. Traurig betrachtete ich ihn. Irgendwie saß er da, als wäre er alleine und würde am liebsten ganz woanders sein.

 

»Sagt mal, habt ihr eigentlich auch Ferien?«, fragte ich die drei. Alle schauten sich kurz an, dann zuckte Ichiru mit den Schultern.

»Man kann sich frei nehmen, wann man will.«

»Was? Im Ernst?« Nicht schlecht …

»So was wie Ferien haben wir hier nicht. Man muss nur zum Direktor gehen und sagen, dass man zwei oder drei Wochen frei haben möchte. Dann trägt man sich in eine Liste ein, von wann bis wann man weg ist und fertig«, erklärte Kat und grinste wieder.

»Ach so. Das ist ja praktisch«, bewunderte ich das tolle System. »Gibt’s da kein Limit?«

»Doch, schon. Ich glaube mehr als fünfzehn Wochen darf man sich nicht frei nehmen«, meinte Yagate und schien zu überlegen, ob er das richtige behauptet hatte.

»Ja, so in etwa. Aber hier hat noch nie jemand sich so viel frei genommen«, lachte Ichiru.

»Echt nicht? Ich würde das voll und ganz ausnutzen …«, murmelte ich.

Kat schüttelte den Kopf. »Man langweilt sich nur. Glaub uns, du nimmst dir keine fünfzehn Wochen im Jahr frei.«

Ich zuckte kurz mit den Schultern. »Ich kenne nur feste Ferien, deswegen kann ich das so schlecht sagen.«

»Ja, die Menschen haben jetzt Sommerferien, stimmt’s?«, fragte Ichiru und starrte zum Fenster, wo zwei Mitschüler die schweren Vorhänge zumachten, da die Sonne schon verein­zelnd rein schien. Plötzlich wurde es etwas dunkel, dann machte einer ein mattes Licht an, welches von kleinen Lampen an den Wänden ausgestrahlt wurde.

»Ja, endlich. Bei uns ist Schule ätzend, da wir andauernd irgendwelche Tests oder Klassenarbeiten schreiben«, murmelte ich vor mich hin und beobachtete Kiyoshi aus den Augen­winkeln heraus. Der bekam wahrscheinlich noch nicht mal mit, dass ich mich mit seinen Freunden unterhielt. Kat bemerkte wohl meinen Blick.

 

»Keine Angst, das macht er immer in den kleinen Pausen«, flüsterte sie mir zu und grinste mich an. Etwas ertappt nickte ich und spekulierte, ob er uns zuhören würde.

»Sag mal …«, flüsterte ich Kat zu, »… was war denn das vorhin mit diesem Alexander? Kiyoshi ist ja total … komisch geworden. Passiert das öfter?«

Sie schüttelte mit ernster Miene den Kopf.

»Nein. Normalerweise läuft es so ab, wie am Anfang. Wir versuchen ihn zu verteidigen und er schweigt. Irgendwann hören wir dann auf, wenn die Situation anfängt zu eskalieren, während Kiyoshi ihn immer noch nicht beachtet.«

»Er meint nämlich, wenn er Alexander ignoriert, verliert dieser irgendwann den Spaß daran, ihn zu ärgern und runter zu machen, aber wie man sieht, klappt es nicht«, fügte Ichiru hinzu und kam zu Kat und mir herüber. Auch Yagate mischte sich noch dazu, sodass wir vier einen kleinen Kreis bildeten.

»Dieser Alexander … Was will der eigentlich damit er­rei­chen?«, meckerte ich vor mich hin und stellte indirekt eine Frage.

Alle zuckten nur mit den Schultern.

»Wahrscheinlich gönnt er Kiyoshi seinen Erfolg nicht«, rätselte Kat.

»Ist er denn der einzige Streber hier? Habt ihr keine anderen?« Ich musste da nur an meine Klasse denken, wo wir sogar einen ganzen Haufen von denen hatten.

»Um die Noten geht es eigentlich weniger. Alexander ist sogar viel beliebter und kommt besser bei den anderen an«, sagte Yagate. Ichiru führte fort:

»Es geht mehr um seine Stellung hier auf der Schule. Immer­hin ist er ein Reinblütler.«

 

»Ein … Was?«, fragte ich nach. ‚Reinblütler’ klang sehr adlig.

»Reinblütler. Kiyoshi scheint dir ja nicht grade viel über sich erzählt zu haben.« Kat musste grinsen und stützte sich auf unserem Tisch ab.

»Er schweigt wie ein Grab. Das muss ich mir alles selber erfragen«, spaßte ich und winkte ab, »Was genau ist denn dann ein ‚Reinblütler’?«

»Ein Vampir, in dem wirklich nur Vampirblut fließt. Er wurde ja so geboren. Wir sind alle verwandelt worden. Dass ein Vampir geboren wird, ist nämlich extrem selten«, erklärte Kat und richtete dabei ihre Haare.

»Also selbst wenn zwei Vampire ein Kind bekommen, was eigentlich so gut wie unmöglich ist, ist es unter Umständen trotzdem ein Mensch, da die meisten Vampire ja früher einmal Menschen waren.«

» … «

Das erklärte auch, warum Alexander vor meinem Bruder niederkniete. Er ist ein Reinblütler und damit etwas Besseres. Er gehörte zu einer raren Art.

»Eigentlich wundert es mich dann, dass ihr beide als Zwillinge so unterschiedlich auf die Welt gekommen seid«, äußerte Yagate und stützte seinen Kopf auf seinen Armen ab, die er auf unseren Tisch gelegt hatte.

»Wenn du erst mal ein Vampir bist, dürftest du eigentlich auch kein niedriger werden.« Ichiru sah zu Kat, dann zu Yagate. »Immerhin ist euer Vater ja schon ein hohes Tier.«

 

»Im Ernst?«

Die drei sahen mich verwundert an.

»Sag mal, was weißt du eigentlich schon alles? Das scheint nämlich ziemlich wenig zu sein«, zog mich Kat auf und grinste frech.

 »Meine Familie ist sehr schweigsam mir gegenüber. Da kann ich wenig ausrichten.«

Ich ließ einen kurzen Blick nach links fallen und beobachtete Kiyoshi. Der hatte mittlerweile die Augen geschlossen. Es sah fast so aus, als würde er schlafen. Verwundert sah ich nun richtig zu ihm rüber.

»Lass ihn, er schläft«, flüsterte Ichiru und zog etwas an meinem Blazer. Ich drehte mich sofort wieder zu den dreien um. Er schläft? Wir gehen doch schon um acht Uhr ins Bett. Hat der nicht langsam mal genug Schlaf?

»Mein Vater ist also ein hohes Tier? Ist er etwa auch ein Reinblütler?«, hakte ich neugierig nach.

»Ja, genau.« Yagate nickte kurz. Ich wusste nicht ganz, ob ich jetzt begeistert oder entsetzt sein sollte. Einerseits war es schon cool zu wissen, dass der Vater eine hohe Stellung hatte. Andererseits war es auch beängstigend zu wissen, dass der Vater eine hohe Stellung bei den Toten hatte. Ich entschied mich kurzfristig für ein Mittelding, dass ich es erst einmal so hinnahm und später noch einmal darauf zurückkam.

Es herrschte kurze Stille und die drei verstanden, dass ich das erst einmal verarbeiten musste. Anmutig, wie sie da saßen, fiel mein Blick nach einiger Zeit auf Yagate. Er schien auf der anderen Seite jemanden zu beobachten. Mein Blick folgte seinem zu Alexander, der alle paar Sekunden verstohlen zu uns schaute. Auch alle anderen Vampire in diesem Raum wechsel­ten ihre Blicke zwischendurch zu uns. Vielmehr zu mir. Die Blicke waren aber weniger freundlich und strahlten vielmehr Kälte und Missfallen aus. Ich fühlte mich nicht gerade willkommen …


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja ja... es wird ein bisschen abgehoben. Ich erinnere hier noch einmal, in welchem Alter ich das ganze geschrieben habe ;-)) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Tomanto
2015-07-03T15:48:26+00:00 03.07.2015 17:48
Also da würde ich mich auch unwohl fühlen. Ich meine, so als Mensch-der-gerade-zum-Vampir-wird-Zwischending. Sowas wie im Voraus alles festlegen, bis es soweit ist. Das ist ja schon fast so, als würde man einen zur ersten Begegnung seine Familie vorstellen, weil dieser ja sowieso bald dazugehören wird.
Alles sehr unangenehm auf jeden Fall.


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