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My Dear Brother

The Vampires
von

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Küss mich

»Ja, ich bin tot.«

Der Satz hallte in meinem Kopf noch Sekunden nach.

»Vater … auch?«

»Alle Vampire«, meinte er und nahm meine Hand in beide Hände. Er legte sie sanft auf seine Wange. »Du bist mein lebendiges Ebenbild, Hiro. Bald besteht unsere Familie nur noch aus Vampiren.«

»Aber Mom ist doch …«

»Sie wird irgendwann sterben, wie jeder Mensch. Das ist nun mal so.«

»Wir leben ewig …?«

»Ja, ewig.«

»Aber dann müsste es doch massenweise Vampire geben, wenn sie doch nicht aussterben, sondern sich nur vermehren.«

Kiyoshi musste leicht lächeln. Es war ein schönes Lächeln, fast schon erfreuend.

»Viele halten es nach über fünfhundert Jahren nicht mehr aus und bringen sich um oder stellen sich dem Feind.«

Das Lächeln versiegte bei dem Satz und er sah mich durch­dringend an.

»Ich habe noch eine Ewigkeit vor mir. Du, wenn du nicht stirbst, auch. Vater hat schon viel miterlebt.«

»Wirklich? Ist er etwa schon fünfhundert Jahre alt?«

»Nein, erst um die vierhundert.«

»Erst ist gut …« Auch wenn diese Information recht heftig war, überraschte sie mich nicht sonderlich. Selbst wenn es egoistisch klang, es ging mir erst einmal um mich.

Kiyoshi schloss die Augen und drückte meine Hand ein kleines Stückchen an sein Gesicht.

»Ich kann deinen Puls spüren …«, murmelte er. Ich biss etwas meine Zähne aufeinander und blickte zur Seite. Er bemerkte das.

»Keine Angst, es ist nur entspannend mal einen Puls zu hören.«

»Verstehe …«

Wir verharrten eine Weile so, bis er die Augen wieder öffnete und mich ansah. Dann ließ er meine Hand los und ich ließ sie wieder zu mir fallen.

»Es ist deine Entscheidung, was du machen möchtest. Aber überlege dir gut, was du willst. Solange du überlegst, bleibst du aber besser hier. Deiner Mutter solltest du vielleicht auch erst einmal verschweigen, was hier vor sich geht.«

»Wieso sollte ich das tun?«

»Weil sie sonst hierher kommt und dich mitschleppt.«

»Ein Grund mehr es ihr zu sagen.«

»Hiro. Du bist kurz davor zu sterben

»Ich fühle mich aber überhaupt nicht so.«

»Mag sein, aber dein Körper kämpft grade mit sich selber. Zwei Blutarten treffen aufeinander und das Vampirblut wird siegen. Da gibt es keine Zweifel.«

»Und wann merke ich, dass es soweit ist?«

Dann schwieg er. Er setzte wieder zu seinem Satz an, doch verstummte im selben Moment.

 

»Wenn du einfach merkst, dass du stirbst.«

Ich musste schlucken.

»Klingt nicht … angenehm.«

»Ist es auch nicht.«

Ich sah zu Boden. Dann wieder zu ihm.

»Wann hattest du deine Sterbephase?«

»Als ich eineinhalb Jahre alt war, sagte ich schon.«

»Ach ja. Stimmt.«

Er nickte kurz. Die Stimmung wurde sehr drückend.

»Du kannst dich also nicht mehr daran erinnern?«, fragte ich noch einmal.

»Nein, nicht wirklich.«

»Schade …«

»Ich kenne leider auch keinen, der sich noch daran erinnern kann.«

»Ja, Vater bestimmt nicht. Nach vierhundert Jahren … das ist lange.«

»Ja, das stimmt.«

Dann schwiegen wir wieder. Es war eine traurige Stimmung. Und für mich war es wieder eine Situation zum heulen. Ich rede über meinen eigenen Tod. Mein Leben ist bald vorbei und ich hocke hier in der Pampa. Ich habe meine Freunde … vielleicht das letzte Mal gesehen. Jiro, Kyo und  Roku, Lampe und … meine Mutter. Ich verrecke hier und keiner bekommt davon was mit. Niemand. Nur die eh schon toten Leute hier im Haus.

 

Auf einmal nahm mich Kiyoshi in den Arm. Eine Hand umfasste meinen Rücken und die andere meinen Hals. Es war eine seltsame Umarmung, wie immer eigentlich. Aber ich war nun auch seltsam. Ich war so gut wie tot. So gut wie ‚er’. Ich legte auch eine Hand auf seinen Rücken und eine auf seine Schultern. Ich atmete stockend und mein Herz raste etwas.

»Hast du Angst vor mir?«

»Nein, eigentlich nicht«, murmelte ich und versuchte mich zu beruhigen.

»Das ist der menschliche Schutzsinn. Vampire sind halt eine natürliche Bedrohung für den Körper.«

»Ja, das stimmt …« Ich musste leicht lachen. Es war ein verzweifeltes Lachen. Was soll ich nur tun? Niemand nahm mir meine Entscheidung ab. Ich musste sie alleine fällen, aber das war so schwer.

 

»Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich ist, alles aufzugeben.«

Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass er sich das vor­stellen konnte, aber es war nett gesagt von ihm. Er versuchte mich wenigstens aufzubauen. Ich nickte stumm und drückte ihn einfach an mich. Es war etwas beruhigend. Trotzdem wäre ich glücklicher gewesen, wenn ich ihn einfach so umarmt hätte und nicht, weil ich kurz vorm Zusammenbruch stand. Ich vergrub meinen Kopf in seinen Hals und genoss seinen Geruch. Es war dieser herbe Duft aus seinem Zimmer. So angenehm. Zum Glück eigentlich, dass er nicht auch noch nach Tod roch.

Kiyoshi bewegte seine Hand von meinen Schultern zu meinem Kopf und streichelte mich dort ein wenig. Es war schön, das musste ich zugeben. Wenn ich jetzt sterben würde, dann wäre es wenigstens einigermaßen okay gewesen. Es war das erste Mal seit meiner Ankunft, dass ich mich wohl fühlte. Ich schloss sanft meine Augen und genoss es einfach von ihm gestreichelt zu werden. Seine kalte Hand lag auf meinem nackten Rücken und bewegte sich leicht. Das verschaffte mir Gänsehaut. Ich kuschelte mich etwas an ihn ran.

Wie lange wir im Bad standen und uns umarmten, weiß ich nicht, aber es war bestimmt lange, denn ich war kurz davor alles zu vergessen. Doch, als hätte er eine Ahnung gehabt, dass ich alles zu vergessen schien, löste er unsere Umarmung. Trotzdem ließ er mich nicht los. Seine linke Hand blieb noch an meinem Kopf und seine rechte an meiner Hüfte. Er legte seine Stirn auf meine. Ich ließ meine Hand einfach an seiner Schulter und an seiner Hüfte liegen. Er sah mir eine Weile in die Augen.

 

»Soll ich dir das Blut abwaschen? Es ist dir auch am Rücken runter gelaufen.«

Ich nickte kurz, dann ließ er mich los und ging zu einem der weißen Schränke. Er holte einen blauen Waschlappen raus und kam dann wieder zu mir ans Waschbecken. Danach hielt er ihn unter das warme Wasser, bis er vollständig nass war, wrang ihn aus und krempelte seine Ärmel etwas hoch. Seine blaugrünen Adern stachen aus seiner blassen Haut hervor. Es sah schon fast beängstigend aus. Er bemerkte meinen stechenden Blick, sah erst mich an, dann den Arm und grinste dann. Ich lief etwas rot an. War mir dann doch etwas peinlich, immerhin müsste ich doch langsam dran gewöhnt sein.

 

Er legte vorsichtig den warmen Waschlappen an meine Wunde an und versuchte das Blut abzuwaschen. Seine Bewegun­gen waren so fließend und durchdacht, dass es schon wieder so perfekt war. Einfach perfekt. Alles an ihm. Ob es der Neid war oder einfach nur, weil es schon zu perfekt war, ich wurde wieder etwas wütend. Er war so perfekt und ließ das auch immer gleich so raus. Im nächsten Moment, als er wieder beim Waschbecken den blutigen Waschlappen auswrang, kam ich zum Entschluss, dass er das vielleicht gar nicht extra machte, sondern dass er das im Unterbewusstsein einfach so tat und nicht viel darüber nachdachte.

Kiyoshi nahm vorsichtig meine Arme und drehte mich leicht, sodass ich ihm meinen Rücken zeigte. Sofort danach spürte ich wieder die sanfte Berührung des Waschlappens. Er rieb ein wenig an manchen Stellen, dann hörte ich wieder Wasser plätschern, danach fühlte ich wieder den Waschlappen. Manchmal legte er noch seine andere Hand auf meinen Rücken.

»Du bist Linkshänder?«, fragte ich leise.

»Ja. Du bist Rechtshänder, stimmt’s?«

»Stimmt.« Ich musste leicht grinsen. Wir waren so ver­schie­den, aber dann doch wieder so gleich. Schlimm, einfach schlimm.

»Drehst du dich wieder um?«

Ich nickte und drehte mich wieder zu ihm. Er hatte ein ganz leichtes Lächeln auf den Lippen. Dann bemerkte er etwas und hielt meinen rechten Arm fest.

»Da ist noch eine Stelle, warte.« Dann wrang er das Blut aus dem Waschlappen, machte ihn noch einmal nass und ging über eine noch blutige Stelle an meinem Oberarm. Ich beobachtete ihn genau. Seine Gesichtszüge, sein Handeln, seine Konzentra­tion, die er dabei anwendete und sein ganzes Erscheinungsbild. Ob es daran liegt, dass wir Zwillinge sind? Oder einfach nur, weil er als Vampir doch eine anziehende Wirkung auf mich hat? Jedenfalls fühle ich mich zu ihm hingezogen, fühle mich einfach bei ihm wohl, auch wenn ich ihn manchmal für seine arrogante Art schlagen könnte. Aber ich glaube, er meinte das nie so.

Solche Gedanken schwirrten mir schon öfters durch den Kopf, aber jetzt war ich mir sicher, dass er auch eine gute Seite hatte. Nachdem er fertig war, wusch er den Waschlappen aus und legte ihn über den Rand. Dann schnappte er sich mein Handtuch und legte es mir über die Schultern. Dabei kam er mir ganz nah, sodass ich seinen Atem spüren konnte.

»Du atmest ja doch …«, murmelte ich und erinnerte mich an die Sache in der Bahn, wo ich auch seinen Atem gespürt hatte.

»Ich möchte doch was riechen können und sprechen. Aber im Grunde müsste ich nicht atmen.«

»Verstehe …«

Dann grinste er wieder und selbst ich schaffte ein Lächeln. Es war zwar etwas gezwungen, aber immerhin bekam ich noch eins zustande.

Kiyoshis Nase berührte fast meine, während wir uns gegen­über standen. Seine Hände hielten noch mein Handtuch fest, während ich meine langsam in seine Armbeugen legte.

 

Meine Haare tropften noch etwas. Seine Augen ließen meine einfach nicht los. Mein Herz klopfte so unglaublich. Auch wenn Kiyoshi meinte, es sei einfach ein Warnmechanismus des menschlichen Körpers, konnte ich es nicht bändigen. Mein Atem war so unregelmäßig und Kiyoshis so gleichmäßig. Er schien die Ruhe selbst zu sein.

 

Ich weiß nicht was geschah, aber plötzlich senkte Kiyoshi seinen Blick auf meinen Mund und auch ich sah seinen an. Wir kamen uns immer näher. Unsere Nasen berührten sich leicht. Ich öffnete ein Stück meinen Mund und auch er schien seine Lippen ein wenig auseinander zu schieben. Mein Herz klopfte immer mehr. Ich schloss die Augen und wartete einfach die Berührung ab.

 

Ich spürte seine kalten Lippen auf meinen. Ein kalter Schauer durchfuhr meinen Körper. Es war eine kurze Berührung. So flüchtig und doch so innig. Wir beließen unsere Lippen aufeinander. Kiyoshi zögerte einen kurzen Moment, da löste er seine Hände vom Handtuch und legte sie auf meine Wangen.

 

Es waren Sekunden, die verstrichen, als Kiyoshi abrupt aufhörte. Ich starrte ihn etwas verwirrt an, doch er schnappte sich mein Handtuch und warf es mir auf den Kopf. Etwas perplex sah ich nur noch schwarz und hörte Wasser plätschern. Als ich das Handtuch von meinen Augen nahm, sah ich Vater an der Tür stehen. Sofort lief ich rot an.

»Ach, hier seid ihr. Ich hab euch schon gesucht«, sagte er freundlich und wie immer mit einem Lächeln auf den Lippen.

Kiyoshi wusch den Waschlappen erneut unter dem Wasser aus und sah Vater kein Stück an. Ich dagegen wechselte meinen verwirrten Blick zwischen den beiden hin und her.

»Was möchtest du denn, Vater?«, fragte Kiyoshi schroff und wrang den Waschlappen mit einem sehr festen Griff aus.

»Ich wollte euch fragen, ob ihr beiden nicht Lust habt für mich ein paar Besorgungen zu machen?«

»Besorgungen? Was denn für Besorgungen?«, hakte mein Bruder nach.

Ich zog mich, während die beiden redeten, schon mal um, denn immerhin stand ich die ganze Zeit in Boxershorts da. Weil es an dem Tag wieder sehr warm war, zog ich eine dreiviertel Shorts und ein Hemd mit kurzen Ärmeln an. Alles wie immer in schwarz, als würde ich eine andere Farbe tragen.

 

Trotz allem: Meine Gedanken hingen diesem … Kuss nach. Ich hatte wirklich meinen Bruder geküsst? Ich war nicht nur so gut wie tot, sondern auch noch geisteskrank. Er hat es aber auch getan. Ich spürte mein Herz immer noch klopfen. Kiyoshi hatte wohl so plötzlich aufgehört, weil er merkte, dass unser Vater kommen würde. Ein praktischer Vampirsinn. Trotzdem war Vampirsein ziemlich beschissen. Jedenfalls in meinen Augen

 

»Ich habe hier eine kleine Liste gemacht, es sind Dinge aus dem Shop, der hier um die Ecke ist. Einfach aus dem Westtor gehen. Du kennst den Weg ja.«

Kiyoshi trocknete sich kurz die Hände ab und nahm dann den kleinen, quadratischen Zettel entgegen. Er war weiß, auf dem mit einem grünen Stift geschrieben wurde.

Als ich endlich angezogen war, trocknete ich mir noch eben meine Haare ab und legte mir dann das Handtuch locker über die Schulter. Ich ging zu Kiyoshi und wollte lesen, was auf dem Zettel stand, da bemerkte ich den durchdringenden Blick meines Vaters.

»Hiro, wir reden heute nach dem Essen mal, in Ordnung?«

Ich musste heftig schlucken. Ich wollte schon sagen, dass ich im Moment lieber nicht über die Sache reden wollte, doch ich nickte einfach.

»Okay …«, murmelte ich vor mich hin, während ich das Handtuch ordentlich zusammen faltete und es auf den Ständer legte, wo ich es herhatte.

»Wir gehen dann gleich los«, sagte Kiyoshi und deutete damit an, dass Vater gehen sollte. Der nickte nur, bedankte sich und ging. Die Tür schloss sich. Mein Bruder ging zu einem der weißen Schränkchen und öffnete die linke Tür. Er kramte einen Kasten heraus und stellte ihn auf dem Schränkchen ab. Nachdem er es geöffnet hatte, wühlte er drin rum. Er drehte mir den Rücken zu, sodass ich seine Mimik nicht sehen konnte. Ich wollte ihn in dem Moment auf diesen Kuss ansprechen, doch ich traute mich nicht. Meine Gesichtsfarbe wurde etwas rot und ich kratzte mich leicht am Nacken.

Plötzlich stand er vor mir und sah mich mit einem etwas ausdrucksloseren Gesicht an, als vorher. Trotzdem schien er nicht wütend oder sonst etwas zu sein. Erleichtert über seinen Gesichtsausdruck, versuchte auch ich etwas entspannter zu sein.

»Halt still, ja?«, sagte er und legte einen Verband neben dem Waschbecken auf die marmorne Platte ab. Dann platzierte er eine kleine Mullbinde mit einem Cremeklecks auf meiner Wunde.

»Hältst du das mal fest?« Er deutete auf die Mullbinde, die er nur noch mit seinem Zeigefinger festhielt. Ich drückte mit meiner rechten Hand die Mullbinde auf die Wunde, während Kiyoshi den Verband um meinen Hals wickelte. Irgendwann ließ ich dann los und er verband noch fertig. Dann befestigte er es mit einem dieser Verschlüsse.

Er ging zurück zum Kasten, schloss ihn und stellte ihn wieder in das weiße Schränkchen zurück. Ich wollte schon wieder zur Frage ansetzten, doch wieder kam nichts aus meinem Mund.

 

»Hiro …«, sagte er leise, während ich nach Worten suchte.

»Ja?«

»Wegen grade …« Er stockte leicht. Dann drehte er sich langsam zu mir um. Seine Augen trafen wieder meine, doch sein Blick war etwas unsicher.

»Das war … etwas …«, versuchte ich zu erklären, doch er fiel mir wie immer ins Wort.

»Vergiss das einfach wieder … okay?«

»Vergessen?«, fragte ich nach.

»Ja … Das war ein Ausrutscher. Tut mir Leid.«

Ich sah zu Boden und schüttelte leicht den Kopf, kaum erkennbar. Auch wenn es nur ein Kuss war, ausgerechnet auch noch von ihm, war er mir doch wichtig. Das Wort ‚Ausrutscher’ tat weh, denn es sagte so viel aus wie »nicht von Bedeutung« oder »einfach passiert«. Ich fand keinen Grund, aber im ersten Moment hatte ich gehofft, er meinte es wenigstens ein bisschen ernst. Wobei der Gedanke, dass er mein Bruder war, alles in meinem Kopf zerstörte.

»Okay, vergesse ich«, sagte ich leise und drehte ihm den Rücken zu. Dann sah ich im Spiegel, dass mein unterster Knopf von meinem Hemd offen war. Schweigend und mit gesenktem Blick knöpfte ich ihn zu.

»Warum hast du-«, wollte ich frage, doch dann versagte mir die Stimme, da ich immer leiser wurde.

Es war einen Moment lang still. Niemand sagte ein Wort. Ich konnte seine Mimik nicht erkennen, da ich ihm den Rücken zuwendete.

»Warum hast du eigentlich mitgemacht?«, stellte er eine andere Frage. Ich lief etwas rosa an und steckte meine Hände in die Hosentaschen.

»Wenn du keine Antwort für meine Frage übrig hast, habe ich auch keine für deine übrig«, meinte ich schroff und drehte mich mit einem bösen Blick zu ihm um. Kiyoshi warf mir ebenfalls einen wütenden Blick zu.

»Seit wann ist ‚Warum hast du’ eine vollständige Frage?«, motzte er wieder rum.

»Jetzt werde mal nicht kleinlich!«

»Ich werde nicht kleinlich, ich antworte halt nicht auf irgend­welche Satzteile.«

»Es geht doch jetzt nicht um meine angeblich ‚nicht vorhan­dene Frage’, oder?«

»Im Moment schon.«

»Nein! Es geht darum, dass du mich geküsst hast!«

Dabei schrie ich so laut, dass ich mir nach dem Satz sofort an den Mund fasste. Kiyoshi öffnete seine Augen um das doppelte und starrte mich geschockt an.

»Das war zu laut, oder?«, flüsterte ich ihm über unsere Dis­tanz zu.

»Also wenn es unser Nachbar jetzt noch nicht weiß, dann ging’s«, meinte er ironisch und stemmte seine Hände in die Hüfte.

»Ihr habt Nachbarn?«, fragte ich verblüfft.

»Ja, im nächsten Stadtteil!«, sagte Kiyoshi und war anschei­nend stink sauer.

»Sehr witzig, wirklich.«

»Tz.«

Dann schwiegen wir. Kiyoshi sah auf irgendeine Stelle am Boden und ich starrte ihn an.

»Warum hast du mich jetzt geküsst?«, fragte ich noch einmal sehr leise, aber noch hörbar.

»Warum … Warum … Weiß ich doch nicht«, murmelte er und schloss dabei seine Augen. Trotz allem noch genervt.

»Du … weißt es nicht?«

»Weißt du, warum du mitgemacht hast?« Er sah mir tief in die Augen und hoffte auf eine ähnliche Antwort wie seine.

»Nicht richtig, aber ich habe auch schon Typen geküsst. Für mich ist das nicht schlimm.«

 

Im nächsten Moment sah ich seine Gesichtszüge entgleisen und wie seine blau-violetten Augen mich groß anstarrten.

»Du bist homosexuell?« Dabei ließ er seine Arme von seiner Hüfte sinken und sah mich an, als würde das alles erklären. Ich fasste mir mit meiner rechten Hand leicht an die Stirn.

»Kiyoshi, nur weil man das gleiche Geschlecht küsst, ist man nicht gleich homosexuell.«

»Du erwähntest die ‚Typen’ aber im Plural, also schätze ich, das ist schon öfter vorgekommen …?« Seine Augen wurden zu Schlitzen.

»Ich war betrunken. Und außerdem sind das alles meine besten Freunde gewesen.«

»Du … küsst deine besten Freunde?«

Ich seufzte laut.

»Ja-ha! Und? Wenn Mädchen sich ablecken ist das in Ord­nung, aber sobald wir Typen das machen, sind wir gleich schwul.«

»Ich finde das auch bei Mädchen eklig«, spottete er und verdrehte leicht die Augen. Ich hob meine rechte Hand und winkte ab.

»Du bist ja auch nicht normal.«

»Tut mir Leid, dass ich so geboren wurde und du das Glück auf deiner Seite hattest.«

»Das meinte ich nicht. Du bist grundsätzlich … anders.« Er zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

»’Anders’?«, fragte er nach.

»Ja. Wie viel mal hast du schon gefeiert? So richtig bis zum Umfallen, meine ich.« Er schien kurz zu überlegen.

»Ich feiere nicht oft.«

»Und wie viele Freundinnen hattest du schon?«

»Keine.«

»Im Ernst?«

»Ja. Und?«

»Haha …«, lachte ich sarkastisch.

»Was ist so lustig?«

»Und dein erster Kuss?«

Er sah auf die Uhr, dann schaute er wieder zu mir.

»Knappe zehn Minuten her.«

Meine Kinnlade klappte auf und jegliche Körperhaltung verlor ihre Spannung.

»Was?«

Er schüttelte den Kopf und ging auf mich zu. Ich sah nur ein Grinsen auf seinen Lippen und spürte seine rechte Hand auf meiner Schulter.

»Leichtgläubiger Mensch.«

Damit ging er aus der Tür.

Und ich stand mitten im Bad, wie bestellt und nicht abgeholt. Er war so zwiespältig. Manchmal war er lieb und nett und richtig angenehm. Aber hin und wieder, so wie grade eben, war er unerträglich. Einfach ein Arschloch. ‚Hin und wieder’ war da noch untertrieben. Eigentlich ‚most of the time’.

Seufzend stützte ich meine Hände auf dem Waschbeckenrand ab und sah ins Waschbecken. Ich muss wirklich starke Nerven haben, dass ich mich noch nicht erhängt habe, dachte ich bei mir und schaute dann in den Spiegel. Ich dachte immer, ich wäre ein Individuum. Mich gäbe es nur einmal. Und nun gibt es mich sozusagen zweimal. Auch ich hatte Vampir-Gene in mir? Ich? Wieso ich?

 

»Hiro?«

Ich drehte mich zur Tür und erblickte meinen Vater.

»Ja?«

»Kiyoshi ist schon unten in der Eingangshalle. Wolltet ihr nicht gemeinsam gehen?«, fragte er und machte ein fragendes Gesicht. Ich schüttelte leicht den Kopf.

»Ja, wollten wir …« Genervt und nicht in Einkaufsstimmung, schlurfte ich mit noch immer feuchten Haaren aus dem Bad zu Kiyoshi nach unten. Schweigend zog ich meine Schuhe an und ging schon zur Tür, da hielt mich jemand an der Schulter fest.

»Du solltest dir auch eine Jacke anziehen«, sagte mein Bruder monoton und hielt mir meine Sweatshirtjacke hin. Verwirrt darüber, wie er so schnell an meine Sachen gekommen war, nahm ich sie entgegen.

»Wieso? Ist es kalt?«

»Wirst du schon sehen«, meinte er knapp und ging aus der Tür. Augen verdrehend folgte ich ihm.

 

Natürlich schien die Sonne und es war warm. Ich band mir meine Jacke einfach um die Hüfte. Kiyoshi sagte nichts, also war das wohl noch okay. Er war natürlich wieder in seiner schwarzen Jacke eingepackt und zog die Kapuze auf. Dem schien nicht warm zu werden.

Wir gingen ein paar Minuten den Waldweg entlang. Niemand sagte ein Wort. Trotz allem gingen wir nebeneinander.

»Sag mal …«, fing ich an und wollte erst mal seine Reaktion abwarten.

»Ja?«, fragte er monoton, aber nicht wütend.

»Heute ist doch Sonntag. Wo hat hier bitte ein Shop auf?« War mir nur mal so aufgefallen.

»Wir gehen ja nicht zu irgendeinem. Wir gehen in einen Privatladen.«

»Privat? Lass mich raten: Privat, nur für euch

Kiyoshi grinste kurz, dann nickte er.

»Ja. Die Liste, die Vater uns gegeben hat, beinhaltet Dinge, die wir nicht in einem normalen Laden bekommen«, sagte er und sah mich dabei an. Ich nickte kurz.

»Ach so.«

Dann schwiegen wir wieder.

Ich betrete also gleich einen Vampirladen. Nett.

 

Es dauerte nicht lange, da bogen wir ab und ich erspähte das Westtor. Kiyoshi öffnete das schwere Eisentor und schloss es auch nach mir wieder. Vor uns erstreckte sich ein Wiesenweg, der aber doch recht kurz war und dann in einem kleinen Häuserblock endete. Mit zügigen Schritten liefen wir zu diesen Häusern. Erstaunt, dass diese Gebäude sehr neu waren, im Gegensatz zu den anderen, die ich schon gesehen hatte, lief ich Kiyoshi hinterher und betrachtete die Mauerwerke.

»Ist es noch weit bis zum Shop?«, fragte ich wie ein kleines Kind. Erst drehte sich Kiyoshi kurz zu mir, dann sah er sofort wieder geradeaus. Zwei ältere Damen kamen uns entgegen und unterhielten sich fröhlich. Ihre Blicke fielen erst auf mich, dann auf Kiyoshi. Man sah richtig, wie ihre Gesichtszüge entgleisten und sie versuchten, so schnell wie möglich weiterzukommen. Ich seufzte in mich hinein.

Als die beiden Damen außer Reichweite waren, setzte Kiyoshi erneut an.

»Nein, gleich dahinten kommt er.« Dabei deutete er auf eine kleine Kreuzung. Mein Herz fing an zu pochen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Jaaa~ endlich ist mal was Romantisches passiert! ;-) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Tomanto
2015-06-29T23:42:14+00:00 30.06.2015 01:42
Bei der Kussszene hatte mein Herz einen Daueraussetzer! Kennt ihr das? Dieses plötzlich drückende Gefühl, wenn das Herz kurz aussetzt? Das hatte ich gerade die ganze Zeit, omg!

Aber ich dachte, dass Hiro da noch irgendwie nachhaken würde. Von wegen mit der Sache, von wegen 'Du küsst deine Freunde?!' . Ich hätte wirklich gedacht, dass Hiro noch soetwas sagt wie 'Und du küsst deinen Zwillingsbruder! Und das auch noch nüchtern und bewusst!' . Damit hätte er ihn vielleicht Schachmatt gesetzt! ^^
Von: abgemeldet
2015-06-24T17:40:51+00:00 24.06.2015 19:40
Aw, der kuss war toll. <3
Das Kapitel war super, super toll.^^

Man will gar nicht mehr aufhören zu lesen.^^

Lg^^
Von: abgemeldet
2015-06-19T16:00:28+00:00 19.06.2015 18:00
»Du bist homosexuell?« .....fragt der Typ, der grad mit nem anderen Typen rumgemacht hat :D hahaha schön!
Von:  Roxi_13
2015-06-15T16:36:52+00:00 15.06.2015 18:36
Über den Kuss han ich mich sehr gefreut
Aber bei Kiyoshi's Stimmungsschwankungen komm ich irgendwie nicht mit
Erst ist er nett und Tröstend, dann wieder Abweisend
Das ist etwas verwirend aber ich finde es gut
Ist halt seine Persönlichkeit
Freu mich schon auf das nächste Kapitel

LG
Roxi_13
Antwort von:  ellenchain
15.06.2015 19:08
Ich danke dir! Ja, da gebe ich dir recht, Kiyoshis Handlungsweisen werden oft nicht so ganz klar. Aber er leidet so gesehen unter Psychosen, Persönlichkeitsstörung und ist leicht Depressiv.... Im Nachhinein hätte ich dieses Thema gerne noch etwas vertieft, aber wenn es auch so ein bisschen rüber kommt, reicht es ja schon ;-)


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