24, Kapitel, in dem Hikari ein Stalker wird
Gemeinsam waren sie nach der Schule auf dem Weg nach Hause und plauderten zwanglos, wie immer.
„Sag‘ mal, hast du vielleicht heute Zeit? Wir könnten noch ein Eis essen gehen. Es ist so warm heute“, schlug Hikari vor und fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. Es war Anfang Juni und gefühlt einhundert Grad.
„Ich kann leider nicht. Treffe mich heute mit Mimi. Aber wir können morgen was miteinander machen, wenn du Zeit hast“, antwortete Takeru.
Hikari sah ihn an und musste sich einen genervten Gesichtsausdruck verkneifen. „Mimi? Schon wieder?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ja. Hast du was dagegen?“
„Nein, es ist nur…“, Hikari zögerte, „langsam wird’s auffällig.“
„Was wird denn da auffällig? Mit dir treffe ich mich auch oft. Gerade du müsstest doch wissen, dass man auch Zeit miteinander verbringen kann, ohne dass da irgendwas läuft.“
„Also stehst du echt nicht auf sie?“, hakte Hikari nach und musterte ihn prüfend.
„Nein. Also… naja, sie ist schon ziemlich hübsch.“ Ihr entging das Lächeln nicht, das ihm über die Lippen huschte, als er das sagte. „Aber keine Ahnung… wir sind nur befreundet.“
Hikari hatte ihn und Mimi in den letzten Wochen beobachtet. Sie hatten hin und wieder die Pausen miteinander verbracht und trafen sich ein oder zwei Mal in der Woche und die Art, wie sie sich ansahen und wie sie miteinander redeten, deuteten darauf hin, dass da mehr im Anflug war als nur Freundschaft. Hikari wusste nicht, was sie davon halten sollte. Takeru war immer jemand gewesen, für den sich die Mädchen nicht interessiert hatten. Immer hatte Hikari seine ungeteilte Aufmerksamkeit gehabt. Und jetzt?
„Was habt ihr denn heute vor, du und Mimi?“, fragte Hikari gespielt beiläufig.
„Wir gehen nur in den Park Eis essen oder spazieren oder so“, antwortete Takeru. „Du kannst ja mitkommen, wenn du willst.“
Hikari hob eine Augenbraue. „Nee, danke. Lass‘ mal.“ Das würde Mimi garantiert nicht gefallen. Wenn die wüsste, dass Takeru Hikari überhaupt gefragt hatte… „Ich kümmere mich endlich mal um diese blöde Japanisch-Hausaufgabe.“
Zu Hause angekommen dachte Hikari nicht einmal daran, sich an ihre Hausaufgaben zu setzen. Nein, stattdessen schlüpfte sie in eine kurze Hose, ein Top und ihre Laufschuhe. Es war höchste Zeit, joggen zu gehen. Und zwar im Park.
„Was machst du denn?“, fragte Taichi skeptisch, der gerade eben von seiner Vorlesung nach Hause gekommen war. Er hatte sich für ein Studium der Politikwissenschaften qualifiziert und damit alle überrascht. Wildfang und Sportskanone Taichi, der in der Schule immer nur Unsinn im Kopf hatte, interessierte sich auf einmal für Politikwissenschaften. Susumu und Yuuko hatten ihn beide eher als Mechaniker gesehen. Oder Bauarbeiter. Irgendwas Praktisches eben. Es war nicht so, dass er nichts im Kopf hatte. Nein, Taichi war sogar sehr intelligent. Nur hatte ihn das nie davon abgehalten, mit Yamato Unruhe zu stiften und sich Ärger einzuhandeln.
„Ich gehe joggen“, antwortete Hikari einsilbig. Eigentlich ging es ihn doch gar nichts an, was sie machte.
Er runzelte die Stirn. „Wieso denn das auf einmal? Du warst noch nie joggen.“
„Lass‘ mich doch. Und natürlich war ich schon joggen“, schnappte sie und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzugießen.
„Fünf Minuten lang um den Block laufen zählt nicht als joggen“, erwiderte Taichi grinsend und klopfte ihr auf die Schulter, sodass sie sich verschluckte. „Aber warte eine Sekunde. Ich zieh‘ mich schnell um und komm‘ mit.“
„Du machst was?“, fragte Hikari entsetzt. Er war drauf und dran, ihr den Plan zu durchkreuzen.
„Ich komm‘ mit dir mit. Einer muss ja deinen Laufstil überwachen, damit du kleines Tanzmäuschen dir nicht noch Knieschäden zuziehst“, erklärte er bestimmt.
Hikari verdrehte die Augen. „Vergiss es. Ich geh‘ allein.“
„Nein, tust du nicht. Komm‘ schon, hab‘ dich nicht so. Ich geh‘ mich schnell umziehen.“ Er lief in sein Zimmer und Hikari sah ihm stirnrunzelnd hinterher. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Insgeheim hatte sie gehofft, nicht nur ein paar Kalorien zu verbrennen, sondern auch unauffällig einen Blick auf Takerus Date mit Mimi werfen zu können.
Wenige Minuten später joggte sie mit Taichi los und er steuerte sofort den Park an, während er über das Laufen redete. Was für Kleidung man brauchte, wie man die Arme halten sollte, wie die Schritte sein sollten, wie man atmen sollte, wie schnell man laufen sollte… schon nach fünf Minuten war Hikari völlig genervt.
„Weißt du, man sollte immer in der Lage sein, dabei zu reden, sonst ist man zu schnell und übertreibt es. Das ist nicht gut, weil…“
Hikari schweifte mit den Gedanken ab und hielt im Park Ausschau nach Takeru. Sie wollte ihm jetzt bloß nicht über den Weg laufen, da er ja wusste, dass sie wusste, dass er im Park unterwegs war. Er würde sofort wissen, was sie hier tat. Das musste sie vermeiden.
„Sag‘ mal, könnten wir nicht mal ein bisschen schneller laufen oder ist das alles, was du drauf hast?“, meckerte Taichi und Hikari verdrehte die Augen.
„Hast du mir nicht eben noch erzählt, man sollte… oh!“ Ohne Vorwarnung sprang Hikari hinter einen nahegelegenen Baum. Sie hatte Takeru und Mimi in einigen Metern Entfernung entdeckt, wie sie direkt auf Taichi und Hikari zukamen.
Erschrocken duckte Hikari sich hinter der dicken Eiche und versuchte, so gut es ging aus Takerus Sichtfeld zu verschwinden. Sie wünschte sich, Taichi würde einfach weiterlaufen, was er natürlich nicht tat. Mit skeptischem Blick tauchte er neben ihr auf.
„Was soll das denn?“
„Pscht!“, zischte Hikari und presste sich den Zeigefinger auf die Lippen. Mit der anderen Hand zog sie Taichi zu sich, sodass auch er vom Gehweg verschwand.
„Was wird das? Versteckst du dich?“, fragte Taichi verwirrt.
„Halt‘ einfach die Klappe!“, zischte Hikari und versuchte, sich möglichst klein und dünn zu machen.
„Dein Ernst?“ Er hob eine Augenbraue. „Mann, Kari. Wenn du irgendwelche Probleme mit irgendwem hast, dann sag‘ doch einfach Bescheid. Ich kläre das für dich. Wer will eins auf die Fresse? Zeig‘ mir den mal.“
Hikari griff nach seinem T-Shirt und zerrte ihn zurück. Gleichzeitig versuchte sie, ein wenig um den Baum herumzulaufen, da Takeru und Mimi sich nun gefährlich näherten.
„Es geht um Takeru und Mimi, okay?“, flüsterte sie.
Taichi legte verständnislos den Kopf schief. „Okay? Und warum versteckst du dich vor denen?“
„Ist doch egal. Frag‘ einfach nicht. Wir warten nur, bis sie vorbeigelaufen sind, und dann laufen wir weiter“, murmelte Hikari eindringlich und hoffte, Taichi würde endlich aufhören, zu fragen und einfach tun, was sie sagte.
Noch immer musterte er sie misstrauisch, doch dann schien er zu beschließen, auf sie zu hören, und sie lugten gemeinsam hinter dem Baum hervor, um einen Blick auf Takeru und Mimi zu erhaschen. Sie gingen nebeneinander her, redeten ungezwungen miteinander und schienen keine Notiz von Taichi und Hikari zu nehmen.
„Seit wann hängen die überhaupt miteinander ab? Wusste gar nicht, dass die sich kennen“, meinte Taichi.
„Haben sich angefreundet, weil T.K. beim Basketball ist und sie bei den Cheerleadern. Die fahren immer zusammen zu Spielen und so“, antwortete Hikari.
Takeru und Mimi gingen vorbei und als sie um die nächste Ecke gebogen waren, kamen Hikari und Taichi aus ihrem Versteck hervor und joggten weiter.
„Kennst du Mimi?“, fragte Hikari nach einem Augenblick.
Taichi schnaubte, was sie nicht zu deuten wusste. „Ich glaube, es gab niemanden, der sie nicht kannte.“
Das hatte Hikari sich schon gedacht. „Aber mit ihr befreundet warst du nicht, oder?“ Sie konnte sich nicht erinnern, dass Taichi jemals etwas von ihr erzählt hatte.
„Nicht direkt“, erwiderte er grinsend.
„Was soll das denn heißen? Entweder man ist befreundet oder man ist es nicht“, erwiderte Hikari irritiert.
Zu ihrer Verwunderung druckste Taichi herum. „Naja, weißt du… kleine Kari, du bist noch so unschuldig. Wie soll ich dir das nur erklären? Wenn Mädchen und Jungs langsam erwachsen werden, haben sie bestimmte Bedürfnisse. Sie wollen einander näherkommen und…“
„Oh mein Gott, Tai! Versuchst du gerade, mich aufzuklären? Dann bist du ein paar Jahre zu spät, okay?“ Dieses Gespräch wurde allmählich ziemlich peinlich. Worauf wollte er denn da bloß hinaus? „Warst du etwa mit ihr zusammen?“
Er grinste verwegen. „Nö, wir haben nur gepimpert.“
Erschrocken riss sie die Augen auf und starrte ihn an. Sie spürte, dass sie rot anlief. Über was redeten sie hier nur? „Ähm…“
„So drei- oder viermal vielleicht. Und ich war nicht der Einzige. Und ich habe da so eine Ahnung, was sie mit T.K. vorhat.“
Wie vom Blitz getroffen blieb Hikari plötzlich stehen und starrte Taichi mit offenem Mund an. Sie wusste nicht, was sie mehr schockte: dass ihr Bruder mit einem Mädchen geschlafen hatte, ohne mit ihr zusammen zu sein, oder dass Takeru vielleicht bald sein erstes Mal mit Mimi erleben würde, die anscheinend schon so einige Jungs ihrer Schule gehabt hatte.
Taichi war einen Meter vor ihr stehen geblieben und drehte sich nun zu ihr um. „Was denn?“
„Ich glaube, ich muss T.K. warnen“, stieß Hikari atemlos hervor.
„Wovor denn?“, fragte er verständnislos. „Sex ist nichts Lebensgefährliches. Jedenfalls nicht, wenn man ein Kondom benutzt. Lass‘ ihn doch seine ersten Erfahrungen machen. Er ist alt genug.“
„Nein, das geht nicht“, protestierte sie und sie setzten sich wieder in Bewegung. „Das kann er doch nicht machen. Er sollte das mit jemandem machen, der ihm etwas bedeutet. Und derjenigen sollte er auch etwas bedeuten. Das erste Mal kann man doch nicht einfach so wegwerfen.“
Taichi lachte spöttisch. „Ach Kari. Liebe, süße, unschuldige Kari. Irgendwann wirst du das auch verstehen.“
„Was soll das denn? Das kannst du dir sparen, ich bin kein Baby mehr“, fauchte sie wütend.
„Wärst du etwa gern an Mimis Stelle? Ich dachte, Matt wäre der Traum deiner schlaflosen Nächte. Oder hast du ihn etwa endlich aufgegeben?“
Verärgert wandte sie sich von ihm ab und wünschte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, er hätte sie einfach allein gelassen. Dämlicher großer Bruder. Konnte er nicht einfach mal nett sein? „Halt‘ doch einfach die Klappe.“
„Also stehst du jetzt wirklich auf T.K.?“ Überrascht sah Taichi sie an.
„Nein, Mann!“, rief sie ungeduldig. „Und jetzt hör‘ auf, so einen Scheiß zu fragen. Das geht dich außerdem überhaupt nichts an.“