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La Vie de Fayette

Beloved Enemies
von

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Me In A Nutshell

Manchmal erlaubt sich das Leben einen Scherz mit einem. Dann wird man mit irgendeinem Makel geboren, was dazu führt, dass man stets und ständig deswegen geärgert und allein darauf reduziert wird. Sei es eine große Nase, Segelohren, vielleicht sogar auch zu große Brüste, wobei ich mir nicht so wirklich vorstellen kann, dass das jemand wirklich als Strafe empfinden könnte. Andere haben mit Akne zu kämpfen, vielleicht auch einer riesigen Stirn wie bei einem Neandertaler oder ein Gebiss, das aussieht wie das eines Pferdes. All das kann den normalsten Leuten passieren und sie können nichts dafür. Man wird eben so geboren und der einzige Schuldige ist das Gen, was dieses Makel erst verursacht hat. Aber dafür hat der Mensch die perfekte Lösung gefunden und diese nennt sich Schönheitschirurgie. Ist die Brust zu klein? Kein Problem! Einfach mit Silikonkissen ausbessern und glücklich ist die Frau. Ist der Bauch zu dick? In dem Fall stellen wir Magenbänder und Fettabsaugungen zur Verfügung. Gegen Falten gibt es Cremes und Botox und die schmalsten Lippen lassen sich sogar so weit aufblähen, dass sie am Ende wie Schlauchboote aussehen. Eigentlich würde man das ja „Vom Regen in die Traufe“ nennen. Im Grunde hat sich die Hässlichkeit nur weiter verlagert und aus natürlicher Hässlichkeit ist eine künstliche Hässlichkeit geworden. Manche Menschen sahen früher mal richtig hübsch aus. Zwar keine Models in dem Sinne, aber sie hatten etwas natürlich Schönes. Aber dann legen sie sich unters Messer und das Ergebnis ist meist, dass sie aussehen, als seien sie einer Freakshow entflohen. Aber ich schweife ab… Fakt ist, dass kein Mensch vollkommen makellos zur Welt kommt. Jeder hat so seine kleinen Problemzonen. Ganz egal ob es das Aussehen ist, die Gesundheit oder vielleicht sogar das Oberstübchen. Irgendwo hat jeder seine Macke und die macht ihn doch gerade erst zu dem, was er wirklich ist. Wer behauptet, fehlerfrei zu sein, der hat schon mal seinen ersten Fehler aufgezeigt. Nämlich dass er eine komplett falsche Selbsteinschätzung von sich hat. Ich selbst bin da auch keine Ausnahme. Meine Mum sagte immer: unsere Fehler sind es, die uns erst sympathisch machen. Nun, eigentlich hat sie ja Recht. Eigentlich… Wenn es danach ginge, dann könnte ich mich vor Beliebtheit kaum retten, zumindest hab ich so den Eindruck. Denn jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue, kann ich locker zehn Fehler aufzählen, die ich an mir so sehr hasse und die ich am allerliebsten sofort abstellen würde. Egal wie und zu welchem Preis. Erst einmal zu meinen Haaren: ich hasse meine schwarzen Haare. Ich wollte immer brünett oder sogar blond sein, aber die Haarfärbungen sind jedes Mal komplett in die Hose gegangen, weshalb ich jetzt eben damit leben muss. Wobei ich mir aber sage: besser schwarzhaarig, als wasserstoffblond. Wirklich alles ist besser als Wasserstoffblond! Es mag an den ganzen Blondinenwitzen liegen, aber seien wir mal ehrlich: Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren sind meist so entsetzlich oberflächlich. Aber kommen wir zu Punkt Nummer zwei: ich bin verdammt zierlich für einen Kerl. Meine dünnen Ärmchen können nur von Muskeln träumen und mein drittes Problem ist, dass mein Körper so gebaut ist, dass ich nicht selten für ein Mädchen gehalten werde. Nun gut, mit einer Größe von gerade mal 1,70m bin ich auch nicht gerade groß für ein Mann, was mich gleich zu Punkt vier bringt. Punkt fünf betrifft meinen Haarwuchs. Ja, ich weiß dass das nicht gerade ein Thema ist, welches man groß und breit diskutieren muss. Vor allem nicht gegenüber Frauen. Aber aus irgendeinem Grund habe ich nie in meinem Leben ein Barthaar an meinem Gesicht gesehen und auch sonst sieht es bei mir nicht danach aus, als würde da je etwas wachsen. Lediglich in Bereichen, die ich jetzt nicht wirklich erwähnen will, aber man kann sich ja denken, worauf ich hinaus will.
 

Punkt sechs: ich hab ja vorhin das Nasenthema erwähnt. Ich bin ja heilfroh, dass ich nicht mit einer riesigen Geiernase gestraft bin, aber mein Stupsnäschen ist doch wirklich mehr als unmännlich. Wie so vieles an mir… Punkt sieben betrifft meinen Teint, der sehr blass ist. Glaubt mir, ich hab oft genug versucht, etwas dagegen zu unternehmen und ich bin weiß Gott nicht eitel. Aber selbst als Mann sollte man ja wohl doch auf sein Aussehen zumindest ein bisschen achten. Und was meine Bräunungsversuche betrifft, so habe ich nur Fehlschläge verbucht. Meine Besuche im Sonnenstudio endeten damit, dass ich aussah wie ein gekochter Hummer und auch sonst neige ich sehr schnell zu Sonnenbrand, ganz egal ob ich entsprechende Maßnahmen treffe oder nicht. Und Bräunungscreme half auch nicht. Meine Haut war danach so orange, dass ich aussah, als wäre ich Jersey Shore entsprungen und außerdem hab ich stets und ständig ganz hässliche Streifen, weil man diese blöde Creme ja auch nicht wirklich gleichmäßig auftragen kann. Und außerdem sehen dann die Hände besonders schlimm aus. Punkt acht beträfe dann als Nächstes meine Stimme. Stellt euch einen Jungen vor, der mitten im Stimmbruch ist und der Prozess bricht einfach mittendrin ab und ihr habt dann zwar keine Kinderstimme mehr oder klingt wie Justin Bieber, der sein Baby, Baby vor sich hinträllert, aber eine richtig männliche tiefe Stimme ist es leider auch nicht. Wenn ich mich selber reden höre, hab ich manchmal das Gefühl, da würde ein Mädchen mit einer maskulinen Stimme aus mir sprechen. Punkt neun betrifft die ganze Summe aus den genannten Punkten, die ich bisher aufgezählt habe. Man kann sich ja irgendwie schon so ein gewisses Bild machen, wie ich wohl aussehe. Zierlich, nicht sonderlich groß, ein fein geschnittenes Gesicht, Stupsnase, keine Muskeln, etwas feminine Stimme… Um es auf den Punkt zu bringen: ich bin verdammt androgyn. Viele Mädchen sagen zum Thema androgyne Jungs ja „Ach sind die süß. So einen wollen wir auch“. Komischerweise ist mir keines dieser Mädchen je über den Weg gelaufen. Entweder hab ich an den falschen Ecken und Enden gesucht, oder aber sie sind ein Märchen, genauso wie Einhörner oder verzauberte Prinzen. Ja ihr habt richtig gehört, Mädels: die gibt es nicht! Genauso wenig wie es Mädchen gibt, die auf androgyne Jungs stehen. Denn meist wird davon ausgegangen, dass diese vom anderen Ufer sind. Aber dazu komme ich gleich noch. Die Realität sieht jedenfalls so aus, dass Typen mit einer Mädchenfigur nun mal keine Mädchen abkriegen, weil die Mädels auf echte Kerle stehen. Auf Männer mit Bart, am besten noch mit Muskeln und Tanktop und Behaarung und die wie der uneheliche Sohn von Brad Pitt und Hugh Jackman aussehen. Der feuchte Traum eines jeden Mädchens. Und damit genau das Gegenteil zu dem, was ich bin. Jedes Mal, wenn ich mich im Spiegel ansehe, bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich der liebe Gott einen Spaß mit mir erlauben wollte, indem er mich quasi zu einem Mädchen machte, das statt Brüsten einen Penis hat. Oder aber, was ich mir auch gut vorstellen könnte: der liebe Gott konnte sich einfach nicht entscheiden, was er aus mir machen wollte. Mädchen oder Junge? Junge oder Mädchen? Ach warum denn entscheiden? Machen wir einfach einen Kompromiss und nehmen wir von beiden etwas und sehen dann, was daraus wird. Ein Versuch kann ja nicht schaden und alle Beteiligten sind glücklich und zufrieden.

Erinnert mich bitte daran, dem Herrn einen gepfefferten Beschwerdebrief zu schreiben, wenn ich endlich seine Adresse habe! Kein Junge, den ich kenne, will freiwillig wie ein Mädchen aussehen, es sei denn, er ist im falschen Körper geboren oder hat einen Fetisch. Und ich weiß hundertprozentig, dass weder das Eine noch das andere auf mich zutrifft. Es ist ja schon schlimm genug, dass meine Mutter zu jener Sorte Mensch gehört, die es mit der Toleranz ein wenig übertreibt. Natürlich ist es sehr löblich, dass sie ein so großes Herz für Homosexuelle, Transsexuelle, Travestiten und für alle anderen Randgruppen hat. Aber sie übertreibt es wirklich und das bekomme ich am deutlichsten zu spüren. Mag sein, dass ich vielleicht unter Verfolgungswahn leide, was bei so einer verrückten Familie wie meiner auch nicht ausbleibt, aber meine Mutter hat es sich offenbar in den Kopf gesetzt, mich mit allen Mitteln in eine dieser Sparten reinzuschieben. Wer will denn heutzutage denn schon noch einen normalen Sohn, der einem normalen Beruf nachgeht, eine normale Frau kennen lernt, mit ihr normale Kinder in die Welt setzt und dann ein ganz normaler Vater wird? Nein, heutzutage müssen die Kinder möglichst außergewöhnlich sein, damit man auch über sie sprechen kann und damit man selbst für andere Leute interessant wird. Entweder wird das Kind schon mit drei Jahren Model, es ist so intelligent, dass es selbst Streber alt aussehen lässt, oder aber es hat eine ungewöhnliche sexuelle Ausrichtung. Und da meine Mutter nichts von Kindermodels hält und ich auch nicht gerade zu den Genies zähle, was meinen IQ betrifft, will sie mir anscheinend jetzt eine ungewöhnliche sexuelle Ausrichtung andichten. Ich weiß wirklich nicht, wie ich zu der zweifelhaften Ehre komme, aber Begeisterung sieht bei mir auch anders aus. Und da ich ja eh schon so androgyn bin und von vielen erst mal irrtümlich für ein Mädchen gehalten werde, kam meine Mutter auf die geniale Idee: hey, vielleicht ist mein Sohn ja vom anderen Ufer. Ich kenne genug Eltern, die das lieber nicht haben wollen, aber meine Mutter scheint irgendwie ganz wild darauf zu sein, mich zu verschwulen und meine kleine Schwester Emily ist mir auch keine große Hilfe. Der wäre es ja genauso recht. Ich weiß, viele warme Brüder würden wahrscheinlich gerne mit mir tauschen wollen, weil sie selbst wegen ihrem Coming-Out große Probleme mit ihren Familien haben. Aber für einen Hetero, der eh schon genug Probleme damit hat, bei einem Kuss nicht gleich sofort in Ohnmacht zu fallen, ist das wirklich zu viel des Guten. Vor allem, weil es sich sogar auf meinem Namen niederschlägt, was mich gleich zu Punkt zehn meiner Makel bringt, die ich jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen aufzählen kann, die ich an mir hasse und am liebsten sofort abstellen würde. Und das wäre mein Name. Ich weiß ja, dass heutzutage ungewöhnliche Namen wie Brooklyn, Harper Seven, Blue Ivy oder so ja immer beliebter werden. Ich sag ja auch nichts dagegen und ich bin ja auch froh, dass ich nicht mit einem Trendnamen gestraft bin, den fast alle in meinem Geburtsjahrgang haben. Aber es gibt gewisse Namen, die man einem Jungen einfach nicht geben sollte. Und das sind Mädchennamen. Es ist ja schon schlimm genug, dass viele einen Mädchennamen als Zweitnamen haben. Aber mein Name schlägt dem Fass wirklich den Boden aus und ich hasse ihn mehr als alles andere an mir: Fayette. Es ist erstens ein französischer Name, dessen Bedeutung meine Mutter nicht einmal kennt (und zur Information: Es kommt aus dem altenglischen fae und bedeutet Fee!!! Ja ganz Recht, ich bin eine gottverdammte Fee!) und sie wusste anscheinend nicht mal, dass französische Namen, die mit –ette, aufhören, eindeutig Frauennamen sind. Streng genommen wäre es nur dann ein Jungenname, wenn man vor dem Namen noch zwei Buchstaben ranhängt, sodass LaFayette daraus wird. Aber selbst dann klingt es entweder nach einem Einkaufszentrum in Paris oder eben wie ein Mädchenname. So oder so hätte ich also Pech gehabt.
 

Betrachten wir meine Wenigkeit also noch mal in der Zusammenfassung: ich sehe aus wie ein Mädchen, hab einen Mädchennamen und ich hab auch eine mädchenhafte Stimme. Wenn ich nicht wüsste, dass ich unten rum ein Mann wäre, würde ich noch selber denken, ich wäre ein Mädchen, was wahrscheinlich genau das wäre, was meine Mutter beabsichtigt, weil sie sowieso lieber Töchter hätte. Naja und wenn dein Sandkastenfreund ein bekennender Schwuler ist und ständig mit dir abhängt, dann ist es sowieso vorprogrammiert, dass sich deine Mutter ihren Teil dazudenkt.
 

Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, mein Leben sei eine einzige versteckte Kamera und ich warte nur vergeblich darauf, dass mir endlich mal irgend so ein Typ vom Fernsehen mit Mikrofon entgegenspringt und mir sagt, ich wäre gerade verarscht worden. Ich kann wirklich mit Recht behaupten, dass mein Leben schon verrückt genug ist, ohne dass ich schwul oder transsexuell bin oder einen außergewöhnlichen Fetisch habe. Aber macht euch selbst ein Bild davon, wie es in meinem Leben zugeht und mit welchen Verrücktheiten ich so manchmal klar kommen muss.

Kiss And Faint

Es gibt wirklich Tage, an denen man am liebsten im Bett geblieben wäre, weil man von vornherein weiß, dass der Tag beschissen wird. Man wacht auf, ist den halben Tag so müde, dass man sich vor lauter Gähnen noch glatt den Kiefer ausrenken könnte, man kann nichts im Kopf behalten und das, was man im Kopf hat, vergisst man. Manche Leute haben das nach einem starken Wetterwechsel, dass sie komplett neben der Spur sind und genau das hab ich auch erleben müssen.

Zuerst einmal hatte ich verschlafen und als ich dann natürlich versuchte, so schnell wie möglich ins Bad zu kommen und mich fertig zu machen, da stolperte ich so ungünstig über meine Tasche, dass ich stürzte und mir das Knie verletzte. Und weil ich so in Eile war, wollte meine Frisur nicht sitzen, mein Shirt hatte ich auf links angezogen, sodass dieses kleine Schildchen schön für alle sichtbar rausguckte und mein Portemonnaie mit meinem Busticket hatte ich auch vergessen. Als nächstes vergaß ich völlig, mir beim Bäcker noch ein Brötchen zu holen und kam letzten Endes trotz Hektik und meiner Bemühungen dennoch mehrere Minuten zu spät. Unser Dozent war natürlich alles andere als begeistert, als er gerade noch über Pablo Picasso erzählte und seine Werke näher beschrieb und ich mitten reinplatzte. Denn was Prof. Tanner überhaupt nicht leiden konnte, waren Unterbrechungen. Sämtliche Blicke waren auf mich gerichtet, als ich durch die Tür stürmte und völlig außer Atem im Hörsaal stand. Die einen drehten sich aus Neugier um, weil sie sehen wollten, welcher arme Irre denn zu spät kam. Andere wiederum aus Ärger darüber, dass sie bei diesem spannenden Vortrag unterbrochen wurden und der Rest war einfach nur gelangweilt und für sie war meine Verspätung zur Vorlesung wahrscheinlich das Spannendste, was sie für den Rest des Tages erwarten konnten. Ich kassierte sogleich eine Schimpftirade alleroberster Güte, denn Prof. Tanner war ein Kunstprofessor aus Leidenschaft und wer es wagte, aus der Reihe zu tanzen, dem zog er so dermaßen das Fell über die Ohren, dass man sich vorkam, als wäre man im Ausbildungslager aus dem Film Fullmetal Jacket gelandet und hätte einen Gunnery Seargeant Hartmann vor sich. Dann konnte man sich gleich sein eigenes Grab schaufeln und sein Testament machen.
 

„Wie ich sehe, geben Sie sich auch die Ehre, an meiner Vorlesung teilzunehmen, Miss Brightside.“

Prof. Tanner war wirklich ein guter Dozent, wenn es darum ging, die Ordnung zu wahren und dafür zu sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzte. Ja sein Unterricht war so verdammt gut, dass fast jeder gute Noten hatte. Aber er konnte echt ein Arsch sein. So hatte er es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, mich immer als Miss zu titulieren, was ja daher kam, weil ich schon immer sehr mädchenhaft ausgesehen habe. Und selbst heute kam es vor, dass ich mir das anhören muss. Und Tanner redete mich immer dann so an, wenn er sauer auf mich war, so wie heute. Natürlich machte es mir keinen Spaß, so angeredet zu werden, aber ich wusste, wann es besser war, die Klappe zu halten, denn ich wollte lieber nicht riskieren, dass der Feldwebel, so wie wir ihn nannten, komplett ausrastete und noch explodierte. Auch wenn ich mir nicht selten bildlich vorgestellt habe, mein Kunstprofessor könne einer spontanen Selbstentzündung zum Opfer fallen. Die Sauerei würde zwar unschön werden, aber dafür hätte ich diese herrliche Genugtuung, dass dieser Kerl das bekam, was er manchmal verdiente. Ich ließ also die Schimpftirade über mich ergehen, entschuldigte mich ein paar Male und ging zu meinem Platz, wobei von einigen Plätzen ein leises Kichern von den Damen her kam, die sich wahrscheinlich darüber amüsierten, dass ich gerade als Frau bezeichnet worden war. Oder es war jene peinliche Geschichte, über die sie lachen mussten. Jene, die ich schnellstens wieder vergessen wollte, weil sie einfach nur beschämend war. Ohne auch nur einen Menschen im Hörsaal anzusehen, steuerte ich direkt meinen Platz an und setzte mich direkt neben Micah Stafford. Dieser wartete noch sicherheitshalber, bis Feldwebel Tanner mit seinem Vortrag fortfuhr, ehe er mir einen Stups gegen den Oberarm gab, um auf sich aufmerksam zu machen. Micah zählte nicht gerade zu meinen Freunden, aber wir hingen in der Uni oft miteinander ab, gingen zusammen in die Mensa oder redeten ein wenig miteinander. Er zählte zum Glück nicht zu den Leuten, die sich einen Spaß daraus machten, mich wegen meines Aussehens oder meines Namens aufzuziehen. Wie alle anderen nannte auch er mich bei meinem Spitznamen Fay, was wenigstens etwas maskuliner als mein voller Name klang.

„Hey Fay, stimmt es eigentlich?“

„Was?“ fragte ich, wobei ich mich absichtlich unwissend stellte in der Hoffnung, dass er nicht das meinte, was ich bereits ahnte, aber bei meinem Glück wäre das sicher nicht der Fall. Dafür war der Vorfall einfach zu peinlich.

„Na ich meine das mit Katherine!“

Ich sah sein amüsiertes Grinsen und wusste sofort, dass er sich einen Heidenspaß aus der Geschichte machte. Zugegeben, man konnte es ihm auch nicht verdenken. Es war einfach verdammt komisch. Zumindest für die anderen. Ich wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Der Sachverhalt war nämlich folgendermaßen: ich hatte ein Auge auf Katherine Simmons, eine Kommilitonin geworfen und es hatte mich wirklich einiges an Mut gekostet, sie anzusprechen. Immerhin war sie gut aussehend und sehr beliebt. Sie zählte zu den nicht ganz so abgehobenen und arroganten Mädchen, die ich sowieso nicht leiden konnte und für mich war sie die Traumfrau schlechthin gewesen. Blöderweise aber gehörte das Thema Liebe genau zu jenen, bei denen all meine verbale Schlagfertigkeit dahin war und ich mich in ein schüchternes kleines Schulmädchen verwandelte, welches sich nicht traute, ihren großen Schwarm anzusprechen. Wobei wir ja wieder beim Thema wären… Knapp einen Monat lang hatte ich gebraucht, um all meinen Mut zusammenzunehmen und sie anzusprechen. Und selbst da hatte ich größtenteils nur ein heilloses Gestammel hervorgebracht und war so aufgeregt gewesen, dass ich kaum einen vernünftigen Satz sprechen konnte. Aber Katherine war zum Glück eine verständnisvolle und freundliche Person und sie hatte über meine extreme Schüchternheit hinweggesehen und sich einverstanden erklärt, mit mir zusammen die Mittagspause zu verbringen. Zuerst hatten wir uns einfach nur zum Essen getroffen und miteinander geredet. Danach hatten wir uns auch mal zum Kino verabredet und zusammen gemalt. Es hatte alles so gut geklappt, aber dann war etwas passiert… eine Katastrophe, die mich zur Lachnummer der halben Universität machte: wir trafen uns wieder zum Mittagessen in der Mensa und Katherine hatte sich nichts Böses dabei gedacht, als sie mich zur Begrüßung küsste. Sie hatte von meinem Problem nicht gewusst, weil es mir zu peinlich war, darüber zu sprechen und wahrscheinlich hätte sie mich entweder ausgelacht oder mir nicht geglaubt, wenn ich es ihr gesagt hätte. Aber kaum, dass unsere Lippen aufeinanderlagen, wurde mir komplett schwarz vor Augen und ich bin ohnmächtig geworden. Zum Glück war ich nicht allzu lange bewusstlos, vielleicht nur ein oder zwei Minuten. Aber Katherine hatte erst mal einen gewaltigen Schreck gekriegt, wie auch ein paar, die das direkt miterlebt hatten. Andere wiederum fanden es urkomisch und nachdem der erste Schreck verflogen war, verbreitete es sich in der ganzen Schule, dass ich kollabiert war. Katherine hingegen hatte sich große Sorgen gemacht und das Gespräch mit mir gesucht. Sie hatte wirklich gedacht, sie wäre schuld daran, dass ich umgekippt wäre. Als ich ihr dann aber gestand, dass ich wirklich jedes Mal bewusstlos werde, wenn es zu einem Kuss kommt, wollte sie das erst nicht glauben und hielt es für einen schlechten Scherz. Und um mich auf die Probe zu stellen, küsste sie mich also noch mal. Das Ergebnis war, dass ich wieder zusammengebrochen bin. Da ich mich zu sehr geschämt habe und ich nicht weiter als Depp vor ihr da stehen wollte, hatte ich unsere beginnende Beziehung sofort beendet und seitdem ging ich ihr möglichst aus dem Weg. Jetzt hatten wir seit knapp einer Woche kein Wort mehr miteinander gewechselt und ich hab mich erst mal krankschreiben lassen, weil es mir so unendlich peinlich war, wieder zur Uni zu gehen. Und es ist überraschend leicht, dem Arzt am Telefon was vorzujammern und einen Krankenschein zu kriegen. Zumindest meiner zählt zu der Sorte, die selbst bei Kopfschmerzen sofort drei Tage krankschreibt. So hatte ich erst mal Ruhe und jetzt, wo ich wieder zurück war, schien mir Katherine auch aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich war es auch das schlechte Gewissen bei ihr, weil dieser Vorfall in der Mensa mich zur Lachnummer der Uni gemacht hatte und sie mich irgendwelchen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt hat. Na zumindest ließen die anderen sie in Ruhe und machten sich nur über mich lustig. Und das Schlimme war, dass ich es ihnen nicht mal verdenken konnte! Wenn ich hören würde, dass ein Typ jedes Mal ohnmächtig wird, wenn er geküsst wird, dann würde ich mit Sicherheit auch lachen.
 

Ich seufzte und legte meinen Kopf auf meinen Armen ab, wobei ich versuchte, mein Gesicht zu verstecken. „Hör mir bloß damit auf. Das war mehr als peinlich genug, klar? Es reicht doch schon, wenn die ganze Uni darüber spricht.“ Micah gehörte zu den wenigen, die mein Problem kannten und die sich glücklicherweise nicht darüber lustig machten. Es reichte ja schon, wenn ich mich selber beschissen genug fühlte, weil jetzt alle Bescheid wussten. Wenn ich wüsste, woran es denn läge, dann hätte ich es ja auch schon längst abgestellt. Entweder hatte ich einen ziemlichen Knacks im Oberstübchen, oder aber, was allerdings eher unwahrscheinlich war: mein Körper war allergisch gegen Küsse. Und das war eigentlich gänzlich ausgeschlossen, weil ich nie ohnmächtig wurde, wenn mir zum Beispiel mal meine Mum oder Emily einen Kuss auf die Wange drückten. Ja, bei Verwandten war das alles anscheinend kein Problem. Aber kaum, dass irgendjemand anderes es versuchte, da schaltete sich alles in mir aus. Ich hatte sogar schon getestet gehabt, ob es auch bei Personen der Fall war, die ich schon lange genug kenne und so hab ich kurzerhand meinen besten Freund Seth gebeten, es mal bei mir zu versuchen. Da er sowieso schwul war und ich ihm vertraute, hab ich kein Problem darin gesehen und es sollte ja nur ein Test sein. Das Ergebnis war aber genau dasselbe wie bei allen anderen. Ich war knapp zwei Minuten außer Gefecht gesetzt und als ich aufwachte, lag ich auf dem Boden und Seth leistete Erste Hilfe. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass mein Oberstübchen nicht ganz in Ordnung war. „Hast du ihr denn nichts von deinem Problem gesagt?“ Etwas angesäuert blickte ich meinen Sitznachbarn an, dessen Grinsen inzwischen wieder verschwunden war, wofür ich ihm auch wirklich sehr dankbar war, denn ansonsten wäre ich richtig genervt gewesen. „Wie denn?“ fragte ich zurück, wobei ich aber versuchte, möglichst leise zu reden, um nicht noch in Tanners Fadenkreuz zu gelangen. Der Kerl schmiss nämlich sein Leben gerne seinen Schlüsselbund nach Leuten, die seinen Vortrag störten. „Soll ich mir vielleicht ein Schild umhängen, wo groß und breit Bitte nicht küssen! Ohnmachtsgefahr! drauf steht?“

„Ja entschuldige mal“, kam es von ihm zurück, als er merkte, wie sehr mich das alles frustrierte. „Ich hab auch bisher nie einen Typen getroffen, der bei einem Kuss sofort aus den Latschen kippt, wenn noch nicht mal Zunge im Spiel war. Fällst du beim Sex etwa auch jedes Mal um, oder kriegst du gleich einen epileptischen Anfall?“ Nein, seltsamerweise war es, was das betraf, überraschend problemlos und unkompliziert. Ich hatte schon zwei Beziehungen gehabt und da hatte alles ganz gut funktioniert. Nun gut, ich muss auch zugeben, dass ich mit meinem ersten Mal verdammt schnell war. Kaum, dass ich 16 Jahre alt war, hatte ich auch schon mit Lisa Rogers aus der Theater AG ein Techtelmechtel gehabt da war es mit dem Sex ohne Zwischenfälle verlaufen. Aber da hatten wir uns auch nicht geküsst. Es war wirklich nur das Küssen, was mir solche Probleme bereitete und ich konnte mir nicht einmal erklären, warum es bei mir so gekommen war. Und das war noch frustrierender als die Tatsache, dass ich mich mit meinem Problem zum Affen gemacht hatte. „Nein, mit dem Sex funktioniert es ganz normal“, erklärte ich Micah, um ihn nicht noch auf dumme Gedanken zu bringen, er könnte sich noch irgendeinen Schwachsinn zusammenreimen. „Ich hab nur mit dem Küssen Probleme, das ist alles. Und können wir endlich mal das Thema wechseln? Ich hab keine Lust, darüber zu reden.“ Ich versuchte, Tanner ein wenig bei seinem Vortrag über abstrakte Kunst und ihre Hintergründe und Symbole zuzuhören, doch so wirklich konzentrieren konnte ich mich nicht. Und das lag auch daran, weil Micah gleich wieder zu reden anfing. Zwar war er ein netter Kerl, aber er konnte reden wie ein Wasserfall und das konnte manchmal ganz gut sein, aber in solchen Momenten konnte er auch eine Nervensäge sein. „Hast du schon gehört? Tessa hat sich von Eric getrennt. Das heißt, sie ist Single!“ Ich sagte nichts, sondern starrte ihn mit einem genervten Blick an, der auch ohne Worte „Ist nicht dein Ernst…“ verriet. „Sehr witzig“, entgegnete ich trocken. „Als hätte mir das Desaster mit Katherine schon nicht gereicht, jetzt soll ich mich an Tessa ranschmeißen?“

„Wenn du sie nicht willst, dann nehme ich sie eben. Ich hab gehört, sie ist eine verdammte Granate im Bett mit solchen Melonen!“ Und damit begann er nun mit betonenden Handgesten vor seiner Brust darzustellen, wie groß Tessas Oberweite war. Zugegeben, so ganz kalt ließ mich das ja auch nicht. Aber ich hielt nicht sonderlich viel davon, immer nur davon zu reden, welche Studentin wie im Bett war und was ihre Körbchengröße anbelangte. Wir waren immerhin keine vollpubertären Teenager mehr, sondern waren jetzt erwachsen und das hieß für mich, dass man auch mehr an den Mädchen und Frauen sehen konnte, als nur ihr Hintern oder ihre Brust. Aber es gab leider eben auch gewisse Individuen, die das noch nicht ganz kapiert hatten und dazu zählte auch Micah. „Dann sprich sie doch an und frag sie. Mehr als riskieren kannst du ja nicht.“

„Denkst du echt, ich hab Chancen bei der?“ Ehrlich gesagt nein, denn Tessa Kingsley gehörte quasi zur High Society der Universität und sie gab sich auch nur mit Studenten ab, die an ihr Niveau herankamen. Sie hatte wohlhabende Eltern, die ihr wirklich alles finanzierten und wenn man sich Paris Hilton mit Pamela Andersons Körbchengröße und ohne Chihuahua vorstellte, dann hatte man so ungefähr ein Bild davon, wie Tessa aussah. Für viele die Traumfrau schlechthin und wahrscheinlich wäre ich auch schwach geworden, wenn die Gute nicht die Charaktertiefe eines Toastbrots hätte. Für sie zählten nur echte Kerle. Kerle mit Muskeln, am besten noch Bart und mit der Bräunung eines Sportlers. Also alles, was ich nicht hatte. Deshalb war ich auch realistisch genug um zu wissen, dass solche Frauen für mich immer unerreichbar sein würden. Also ließ ich gleich die Finger von denen und wenn ich mich bei Tessa blicken lassen würde, dann würde ich mir wahrscheinlich nur erst mal Spott für die verpatzte Sache mit Katherine abholen. „Was ist, Fay?“ Ich hob wieder den Blick, als ich merkte, dass Micah mich wieder angesprochen hatte. „Wie bitte?“ fragte ich noch mal nach. „Ich hab dich gefragt, ob du schon jemanden im Visier hast.“ So langsam kam ich mir wirklich mehr als verarscht vor in diesem Moment und ich verspürte nicht wenig Lust, ihn zu erwürgen, aber ich ließ es sein. Nach diesem peinlichen Desaster letzte Woche wollte ich nicht schon wieder in den allgemeinen Fokus der Aufmerksamkeit geraten. „Kein Interesse.“ „Willst du jetzt etwa ab jetzt enthaltsam wie ein Mönch leben, nur weil du ein Problem mit dem Küssen hast?“

„Ich will doch nicht bloß nur wegen dem Sex eine Freundin“, gab ich nun deutlich gereizter zurück und vergaß dabei völlig Feldwebel Tanner, der mich schon längst ins Fadenkreuz genommen hatte. „Wenn’s danach geht, kann ich mir doch gleich eine Nutte holen, wenn mein Geld dafür reichen würde.“ Und ehe ich mich versah, musste ich mich auch schon ducken, als da schon der Schlüsselbund angesegelt kam und mich nur knapp verfehlte.

„Haben Sie uns etwas Konstruktives mitzuteilen, oder warum stören Sie meinen Vortrag, Miss Brightside?“

Schon wieder starrten mich sämtliche Augenpaare an und von einigen war erneutes Gekicher zu hören. Dabei wanderte mein Blick ungewollt zu Katherine, die mich fast schon mitleidig ansah. Schnell wich ich ihrem Blick aus und fühlte mich in diesem Moment wie der letzte Vollidiot.

„Nein“, antwortete ich dem Feldwebel, sammelte den Schlüsselbund auf und gab ihn zurück. „Ich habe nichts mitzuteilen. Entschuldigen Sie die Störung.“

„Wenn Sie mit Mr. Stafford über Ihre Beziehung reden müssen, dann tun Sie das gefälligst woanders.“ Wie ich diesen Arsch manchmal hasste…
 

Bis zur Mittagspause hin war ich die meiste Zeit mit den Gedanken woanders. Meistens kreisten sie um Katherine und ich hatte wirklich Angst, dass sie noch zu mir kommen und mich ansprechen würde. Wahrscheinlich hätte sie es auch getan, wenn sie nicht selbst gemerkt hätte, dass es die ganze Situation nur noch verschlimmert hätte. Und wahrscheinlich wollte sie mir zuliebe weitere Eskalationen vermeiden. Für sie war es schon schlimm genug, dass ich wegen ihr zwei Mal ohnmächtig geworden war. Ich wollte auch nicht, dass sie sich meinetwegen schlecht fühlte und ich hatte mit ihr auch lang und breit darüber gesprochen und ihr klar gemacht, dass es nicht ihre, sondern meine Schuld war. Auch wenn ich eben wusste, dass so etwas zu den Standardentschuldigungen gehörte, wenn man sich von jemandem trennte.

„Du bist total süß und so, aber es funktioniert halt nicht. Es liegt nicht an dir, sondern an mir, verstehst du?“

So etwas erzählten heutzutage die meisten, wenn sie ihre Freundin verließen. Aber in meinem Fall hatte ich es wirklich ehrlich gemeint und das auch Wort für Wort. Katherine war ein tolles Mädchen und ich liebte sie immer noch, aber ich wollte ihr und mir nicht den ganzen Spott antun, nur weil ich unfähig war, jemanden zu küssen oder geküsst zu werden. Welcher Kerl hatte das denn auch bitteschön? Katherine hatte einen richtigen Kerl verdient und ich… ich musste erst mal zusehen, dass Gras über diese ganze Sache wuchs. Trotzdem hatte ich ein richtig flaues Gefühl, als ich in die Universitätsmensa ging, denn meine Angst, Katherine zu begegnen und mit ihr noch reden zu müssen, war groß. Nun ja, das flaue Gefühl konnte aber auch von der Tatsache herkommen, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. Zum Glück war die Mensa ziemlich groß und es war wie immer ziemlich viel Betrieb. Es waren nämlich auch viele Leute von außerhalb der Uni hier, die zum Mittagessen hierher kamen. Auszubildende aus den umliegenden Betrieben, die günstig essen gehen wollten oder Schüler, denen das Essen an ihrer eigenen Schule nicht schmeckte. Da die Universität, auf deren Campus auch unsere Kunsthochschule lag, eine „offene Küche“ hatte, war dies kein Problem und so lernte man noch andere Leute kennen und sah nicht immer nur die gleichen Gesichter.

„Na Fay? Wie läuft es mit dir und Kathy? Fällst du immer noch in Ohnmacht?“

Ich wandte mich um und entdeckte nicht weit von mir entfernt Keith, Spencer und Mike, die eindeutig über mich und meinen Zusammenbruch lachten. Die drei mussten mir schon die Schulzeit zur Hölle machen und sie waren die größten Idioten, die auf Erden wandelten und es war mir immer noch ein absolutes Rätsel gewesen, wie es die drei geschafft hatten auf die Uni zu kommen, wenn sie nach meiner Einschätzung die Intelligenz einer Tomate hatten. Wobei das wieder nicht sonderlich fair den Tomaten gegenüber war. Jedes Obst und Gemüse hatte mehr Intelligenz als die drei. Ich warf Keith einen giftigen Blick zu.

„Kümmere dich um deinen Kram, klar?“

„Oho… hat da jemand vielleicht seine Tage, oder leidest du immer noch, weil eure Lesbenbeziehung vorbei ist?“

Mein Blick wanderte zu meinem Besteck auf dem Tablett und ich fragte mich, ob ich ihm die Gabel in den Hals rammen und es wie einen Unfall aussehen lassen konnte. Aber ich ließ diese Gedanken lieber, das brachte doch sowieso nichts und außerdem gab es eh zu viele Zeugen hier. Also strafte ich die drei mit Ignoranz, holte mir mein Essen ab und suchte mir im Anschluss einen Platz. Da ich keine Lust hatte, von den anderen Kommilitonen eins auf den Deckel zu kriegen und mir den nächsten Spott anzuhören, setzte ich mich zu den Azubis. Die kannten mich sowieso alle kaum bis gar nicht und da war ich auch froh drum. So wurde mir dieser Horror erspart, dass ich wieder von meinem Kollaps in der Mensa letzte Woche erzählen musste, oder ihn mir von anderen Leuten in übertriebener und etwas verfälschter Form anhören durfte. Wenigstens mit dem Essen hatte ich heute Glück, denn es gab Reis und Frikassee. Und der Nachtisch bestand aus Schokoladenpudding. Es gab schon mal Tage, wo selbst das Mensaessen furchtbar war. Das Schlimmste, was ich hier je gegessen hatte, war der Couscous. Das war einfach kein vernünftiges Essen, sondern sah aus, als hätte man alle Essenreste zusammen in einen Topf geworfen und zusammen mit Couscous serviert. Und so hat es leider Gottes auch geschmeckt. Am meisten aber freute ich mich auf den Nachtisch, denn Schokoladenpudding war doch der beste Nachtisch, den man bekommen konnte. Wenigstens ein kleiner Trost. Es reichte schon, wenn ich schon mit Magenschmerzen zur Universität fahren musste, weil ich mich so sehr davor gegraust hatte, dass die anderen über diese Sache mit Katherine reden würden. Naja… zumindest war es nicht ganz so schlimm, wie ich zuerst angenommen hatte. Stattdessen redeten nur die üblichen Idioten darüber, die offenbar keine anderen Hobbys hatten und die unbedingt Aufmerksamkeit brauchten, indem sie über andere Leute ablästerten. Ich kannte das zur Genüge und war inzwischen daran gewöhnt. Ich selbst hatte mich nie wirklich zu der Art von Leuten erzählt, die großartig lästern mussten, nur um sich wichtig zu machen. Ja okay… ich hab schon mal mitgemacht, als unsere verhasste Erdkundelehrerin an der High School einen dermaßen großen Riss in der Hose hatte, dass man ihre Unterhose darunter sehen konnte. Aber die hatte es auch nicht anders verdient, denn sie war ungerecht, viel zu streng und auch sonst ein sehr unausstehlicher Mensch gewesen. Die Sorte Frau, bei der man sich wirklich ernsthaft fragte, ob sie nicht vielleicht in der Menopause war.
 

Während ich auf meinem Teller Reis mit Hühnerfrikassee zusammenmischte und dann aß, beobachtete ich hin und wieder mal das Treiben in der Mensa. Einige der Leute, die herkamen, kannte ich noch von der High School. Mit den meisten verstand ich mich ganz gut, aber dennoch war mir die High School Zeit nicht gerade positiv im Gedächtnis geblieben, aber ich glaube, ich bin da eh nicht der Einzige, dem es so geht. Ich war nie sonderlich hässlich oder ein Streber. Meine Noten waren gut genug gewesen, dass ich mit Mühe und Not einen Platz an der Kunsthochschule bekommen hatte und das Einzige, was mich eben zur Zielscheibe für andere machte, war mein Aussehen, von dem man nicht hundertprozentig sagen konnte, ob es jetzt männlich oder weiblich war. Und ich habe wirklich alles versucht, um dieses verdammte Image loszuwerden. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin, dass ich kaum passende Kleidung fand, die auch wirklich zeigte „Ich bin ein Kerl!“ Meine Schultern waren verdammt schmal und die meisten Sachen hingen wie Zelte an mir runter. Selbst die Schuhe waren mir meistens zu breit. Nun gut… ich kannte ja Frauen, die ähnliche Probleme hatten. Sie waren zu groß und zu breit, um in Kleidergröße 34 reinzupassen und die Klamotten waren dann alle zu kurz oder saßen nicht richtig. Aber die Frauen hatten einen entscheidenden Vorteil: sie konnten sowohl Kleider als auch Hosen tragen. Und ich kannte kaum einen Mann, der ein Kleid oder einen Rock tragen konnte, ohne gleich als Transvestit oder als Drag-Queen durchzugehen. Was also konnte man da tun? Entweder einen Gürtel oder Hosenträger zulegen, oder aber in den sauren Apfel beißen und Hosen aus der Frauenabteilung nehmen. Unsere Nachbarin Mrs. Rockwell, die seit einiger Zeit auf einen absoluten Esoteriktrip war und die ganze Zeit mit ihren Räucherstäbchen und Klangschalen herumfuchtelte, erzählte uns mal, dass alles Positive und Negative was wir taten, eine entsprechende Resonanz zur Folge hatte. Tat man was Gutes, widerfuhr einem auch Gutes. Und wenn man Böses tat, erlebte man eben Böses. Das nannte sich Karma. Allerdings stellte sich mir die Frage, was ich in meinem letzten Leben verbrochen haben musste, um so viele Probleme an den Hals zu bekommen.
 

Nach der Mittagspause schnappte ich mir meine Tasche und verließ die Mensa. Irgendwie hatte ich immer noch ein flaues Gefühl in der Magengegend und Hunger hatte ich auch. Das mochte wahrscheinlich daran liegen, weil ich in der Hektik mein Frühstück zuhause vergessen hatte. Nun stand ich vor der großen Frage, was ich machen sollte. Aushalten und dann beim Abendessen satt werden, oder aber mir noch einen Snack holen? Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, damit aufzuhören. Nicht, weil ich es nötig hätte, auf meine Figur zu achten. Ehrlich gesagt wäre ich dankbar, wenn ich ein paar Kilo mehr hätte und dann nicht mit so einer Mädchenfigur leben müsste. Aber ich hatte immer ein schlechtes Gewissen dabei, mir zwischendurch noch Snacks reinzupfeifen. Ich hatte eben auch keine Lust, zusätzlich noch als verfressen abgestempelt zu werden. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, mit denen ich fertig werden musste.

Letzten Endes siegte aber mein Hunger und ich kehrte deshalb noch mal zurück und kaufte mir einen Schokoriegel. Nicht gerade sättigend, aber nach der deftigen Mahlzeit brauchte ich auch unbedingt etwas Süßes. Vor allem war es eine gute Nervennahrung, wenn man bedachte, dass ich gleich wieder in die Höhle des Löwen zurückkehren und dem Feldwebel über den Weg laufen würde. Nach der Theorie hatten wir nämlich noch praktischen Unterricht, also das Malen und Zeichnen. Und nach meinem Zwischenrufer mit den Nutten war ich mir nicht ganz sicher, ob er mich bloß wieder auf eine übliche Art und Weise schikanieren wollte, weil er Zuspätkommer immer bis zum Ende des Tages auf den Kieker hatte. Aber wenn er jetzt auch noch wegen meinen Zwischenrufer sauer auf mich war und es mir gleich noch unter die Nase reiben würde, dann konnte ich wirklich mit dem Gedanken spielen, ob es nicht vielleicht besser wäre, das Weite zu suchen und stattdessen zu schwänzen. Zumindest nur für heute. Der Gedanke war verlockend, aber ich entschied mich doch anders und nachdem ich mir einen Schokoriegel geholt hatte, machte ich mich schnell auf den Weg, um nicht schon wieder zu spät zu kommen. Sonst war der Tag endgültig für mich gelaufen. Selbst aufs Malen konnte ich mich einfach nicht konzentrieren und war deshalb heilfroh, als der Tag an der Uni sich endlich dem Ende zuneigte und wir nach Hause gehen konnten. Selten hatte ich mich so erschöpft und abgekämpft gefühlt…
 

Und selten war ich der Uhr so dankbar, dass sie mich von Feldwebel Tanner erlöst hatte…

My Crazy Family

Manche Familien sind nicht gerade das, was man direkt als Standard bezeichnen würde. Es gibt Patchworkfamilien, Adoptivfamilien, Pflegefamilien, Familien mit zwei Vätern oder zwei Müttern oder Familie ohne Vater und Mutter und dafür mit anderen Familienteilen. Dann aber gibt es auch die Alternative, dass es nur einen Elternteil gibt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man ein „Reagenzglaskind“ ist, oder wenn es zum unangenehmen Fall einer Trennung kommt. Entweder weil eine Scheidung im Raum steht, weil ein Elternteil nicht mehr lebt oder weil es im Knast sitzt.

Meine Familie setzte aus meiner Mutter Rebecca, meiner Schwester Emily und meiner Wenigkeit zusammen. Unsere Familie war seit dem Auszug unseres Vaters etwas zu klein für dieses große Haus, in welchem wir schon seit meiner Geburt wohnten und meist füllten wir diese Leere mit Besuchen, die meist durch meinen Sandkastenfreund Seth erfolgten, den meine Mutter quasi „adoptiert“ hatte. Darum war das Erste, was ich sah, als ich in die Küche kam, das übliche Trio, welches mich unisono begrüßte. Und ehrlich gesagt war ich selten froher als heute über dieses Bild. Vor allem nachdem in der Uni wieder diese unangenehme Geschichte wieder hochgekommen war und ich mich deshalb eh schon ziemlich bescheiden fühlte. Vor allem, nachdem ich mir heute zig Standpauken vom Feldwebel abholen durfte. Nachdem ich meine Tasche achtlos in die Ecke meines Zimmers geworfen hatte, steuerte ich direkt die Küche an und setzte mich an den Tisch, wo es gerade Mums berühmten Apfelkuchen gab.

„Du siehst ziemlich fertig aus, Fay“, bemerkte Seth besorgt, als er mich sah. „Geht es dir nicht gut?“

Seth war wirklich der beste Freund, den man sich nur wünschen konnte. Er war fast schon wie ein großer Bruder für mich und wir kannten uns schon seit wir klein waren. Deshalb gehörte er schon fast zur Familie und jetzt, nachdem er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hatte, umso mehr. Der Grund für sein schwieriges Verhältnis zu seine Familie war einfach der, weil sie als konservative Menschen nicht akzeptieren konnten, dass Seth schwul war. Dabei war er nicht mal tuntig, so wie man sich einen Schwulen zunächst vorstellen würde. Er war ein aufmerksamer Zuhörer, ruhig, sehr gefestigt und er war sehr hilfsbereit und freundlich. Zwar sah er nicht extrem männlich wie ein Holzfäller aus, aber er hatte dennoch eine gewisse Anziehungskraft auf die Frauenwelt. Meist war er ein ruhiger und entspannter Zeitgenosse mit einer stets objektiven Sichtweise, aber er neigte auch dazu, auch mal ganz klar zu sagen, was Sache war und das zeichnete ihn auch ein Stück weit aus. Aber sonst würde man nicht direkt auf dem ersten Blick erkennen, dass er schwul war. Er achtete nicht übertrieben auf sein Äußeres und redete auch nicht so tuntig oder fing an, zur Maniküre zu gehen oder sich die Augenbrauen zu zupfen. Er trainierte ab und zu mal im Fitnessstudio, um sich fit zu halten und er schaute auch gerne Football. Dennoch hatte es schon recht früh gewisse Anzeichen für seine Homosexualität gegeben, die mir als sein bester Freund nicht verborgen geblieben waren. Und das war einfach die Tatsache gewesen, dass Seth überhaupt kein Interesse an der Frauenwelt zeigte und statt in einem Playboyheft in einem Männerwäschekatalog geblättert hatte. Und anstatt unserer Französischlehrerin aufs Dekolleté zu starren, hatte er dafür den Junge auf den Hintern gestarrt. Darum war es für mich nicht ganz so überraschend gewesen, als er mit 16 Jahren sein Coming-Out hatte und endlich den Mut fand, mit offenen Karten zu spielen. Er war sowieso nicht der Typ, der anderen irgendetwas vormachte, dazu war er einfach zu ehrlich. Ich wusste von meiner Mutter schon, wie schwer es für Homosexuelle war, diesen Schritt zu wagen und ihrer Familie und ihren Freunden die Wahrheit zu sagen. Die Angst vor der Ablehnung war eben auch sehr groß. Und deshalb hatte ich Seth wirklich bewundert, dass er trotzdem den Mut gefunden und auch zu seiner Sexualität gestanden hatte. Aber leider hatte kaum jemand mit Begeisterung reagiert. Seine Eltern hatten es nicht wirklich akzeptieren können und konnten auch nicht damit leben, woraufhin Seth mehr und mehr in der Familie ausgegrenzt wurde. Natürlich auf rein unterschwelliger Ebene. Auch viele seiner Freunde waren ihm daraufhin aus dem Weg gegangen, was für mich genauso unverständlich war. Es mochte an der sehr aufgeschlossenen und toleranten Erziehung meiner Mutter liegen, aber ich sah keinen Grund, mich von Seth zu distanzieren. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten und auch wenn Seth jetzt ganz offiziell schwul war, so war er immer noch mein bester Freund. Es war ja nicht so, dass er mit einem Male ein völlig anderer Mensch war. Nein, er war immer noch derselbe Seth, den ich seit Jahren kannte. Und ich war auch der Meinung, dass insbesondere Eltern ihr Kind dann auch weiterhin lieben sollten, selbst wenn es sich in eine Richtung entwickelte, mit der man vielleicht nicht ganz einverstanden war. Denn das machte doch erst die Liebe einer Familie aus. Aber leider sah die Realität nun mal aus, dass das Leben nicht so perfekt verlief, wie man es vielleicht gerne hätte. Ansonsten wären meine Eltern immer noch verheiratet und mein Vater wäre nicht mit seiner Affäre durchgebrannt und würde wenigstens mal zu meinem Geburtstag oder zu Weihnachten anrufen.

Jedenfalls war für mich klar gewesen, dass ich nach Seths Coming-Out erst recht für ihn da sein musste. Insbesondere weil der Kontakt zu seiner Familie fast vollständig abgebrochen war und er fast alle seine Freunde von damals verloren hatte. Und meine Mutter sah das genauso. Darum sagte sie ihm immer wieder, dass er hier bei uns jederzeit Willkommen wäre und wir für ihn da wären. Wahrscheinlich war es auch das, was ihm wirklich Kraft gab. Selbst meine Schwester Emily hing sehr an ihn und bezeichnete ihn oft gerne als großen Bruder. Sehr zu meinem Leidwesen, da sie es liebte, mich damit zu ärgern, indem sie mich als große Schwester bezeichnete. Kleine Schwestern konnten es aber auch wirklich faustdick hinter den Ohren haben. Vor allem aber wenn es um das Thema Homosexualität ging. Es war ja nicht nur so, dass meine Mutter fast schon übertrieben tolerant war und meinte, sie müsste alle Homosexuellen retten, nein meine Schwester hatte sie damit auch schon angesteckt. Vor kurzem hatte Emily nämlich durch eine Freundin in der Schule ihre Liebe zu Shonen-Ai Mangas entdeckt. Am Anfang waren es ganz einfache Romanzen, die meist von Schülern handelten, die erst befreundet und dann ineinander verliebt waren. Ich hatte sie mir nur mal kurz angesehen und nichts Bedenkliches feststellen können, außer dass diese japanischen Comics seltsamerweise von hinten nach vorne gelesen wurden und alle Seiten schwarzweiß waren. Aber inzwischen las sie Sachen, wo ich mich wirklich fragte, ob sich Mum nicht langsam mal Sorgen machen und ein ernstes Wörtchen mit ihr reden sollte. Allein schon weil ich letztens in ihr Zimmer reinkam und das laute Lustgestöhne zweier Männer hörte, die irgendetwas Japanisches sagten. Wie sich herausstellte, hörte sich meine Schwester schon so genannte Shonen-Ai Drama CDs an, die allesamt Sexszenen beinhalteten. Und sie hatte letztens einen Manga gelesen, indem es sogar zu Bondage kam und alles komplett unzensiert war. Und sie war erst 16 Jahre alt. Die Mangas, die übrigens erst ab 18 Jahren freigegeben waren, bekam sie alle von einer Freundin, die schon volljährig war. Ich hatte schon mal mit Mum gesprochen, aber die nahm es ganz gelassen hin. Stattdessen meinte sie sogar „Ach ich hab nichts dagegen, wenn du auch so etwas lesen würdest.“ Womöglich war ich paranoid, aber das war doch eindeutig eine unterschwellige Aufforderung ihrerseits gewesen, mich näher mit diesem Thema zu beschäftigen.

Inzwischen war ich mir sicher, dass sie mir allein deshalb einen Mädchennamen gegeben hatte: entweder weil ich schwul werden sollte, oder weil sie damit bewirken wollte, dass ich mich auch irgendwann wie ein Mädchen fühle und mich dann einer Geschlechtsumwandlung unterziehe. Meine Mum war zwar eine wunderbare Mutter, aber was dieses Thema betraf, so war ihr verdammt viel zuzutrauen.
 

Nachdem ich mir ein Glas Orangensaft eingeschüttet hatte, seufzte ich leise und fuhr mir müde durchs Haar.

„Ich hab verschlafen, der Feldwebel hat mich zusammengestaucht und die halbe Uni weiß von dem Vorfall mit Katherine Bescheid. Und nicht wenige ziehen mich jetzt damit auf oder lachen mich aus.“ Seths mitleidiger Blick hinterließ sofort den bitteren Beigeschmack einer Tatsache, dass ich auch bemitleidenswert war. Das mochte vielleicht so sein, aber ich hasste es, bemitleidet zu werden. Ich wollte auch nicht länger darauf herumreiten und das Thema noch breiter treten. Nein, ich hatte jetzt endlich Feierabend und da wollte ich auch mal über etwas anderes reden. Und das merkte auch Seth, weshalb er auch nicht näher darauf einging. Stattdessen räusperte ich mich und fragte ihn „Wie ist eigentlich dein Date mit Raphael verlaufen? Meinst du, da wird mehr draus?“

Es war für mich am Anfang etwas schwierig gewesen, mit Seth über seine Beziehungen zu sprechen. Ich konnte mir so etwas eben einfach kaum vorstellen, aber mit der Zeit hatte ich gelernt, besser damit umzugehen und wenn man oft darüber sprach und locker damit umging, dann schwand auch diese Hemmschwelle, die einen daran hinderte. Außerdem war Seth mein bester Freund und es lag mir auch sehr am Herzen, dass er glücklich war und er hatte es verdient, genauso glücklich zu werden wie alle anderen. Zwar hatte Seth oft genug betont, dass ich nicht extra für ihn über solche Themen sprechen musste, aber es war auch ein Stück weit mein Wunsch gewesen. Denn es gehörte auch zu einer guten Freundschaft dazu, über Beziehungen zu reden, selbst unter Männern. Und wenn dann der beste Freund eben schwul war, dann musste man sich an so etwas gewöhnen. Inzwischen hatte ich eigentlich überhaupt keine Probleme mehr damit, wenn Seth mir über seine Dates und Beziehungen berichtete. Solange er keine Details nannte, was den Sex anbelangte, konnten wir über alles reden.

„Es ist ganz gut gelaufen“, antwortete er schließlich und sein Lächeln zeigte ganz eindeutig, dass er ziemlich verliebt war und sich große Hoffnungen machte. „Am Sonntag treffen wir uns und gehen dann im Anschluss zu ihm.“

„Wollt ihr etwa…“ Als Emily registrierte, was mein bester Freund damit andeuten wollte, wurden ihre Augen groß und als sie ein bestätigendes Nicken bekam, da konnte sie ihre Freude kaum zurückhalten. Sie jubelte regelrecht, stand auf und umarmte ihn stürmisch. „Oh das ist ja toll, Seth. Ich freu mich ja so für dich. Erzähl mal, wie ist er denn so?“

„Er ist groß, er trainiert viel… er hat ein paar Tattoos auf den Armen und ist gebräunt.“

„Und hat er ein Sixpack?“ hakte meine Schwester neugierig nach und als ein Nicken meines besten Freundes zur Antwort kam, konnte ich mir vorstellen, wie dieser Raphael aussah. Genau wie die Art von Typ, von der ich nur träumen kann, selbst einer von ihnen zu sein… Ich stellte mir bildhaft so einen Mann vor, der vielleicht noch etwas Südamerikanisches hatte und musste selbst als Hetero zugeben, dass mein bester Freund echt Geschmack hatte, was die Männer betraf. Und bei dem Gedanken, wie verliebt Seth gerade war, konnte ich mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen und hob daraufhin mein Glas wie zum Anstoß. „Na da drücken wir dir mal die Daumen, dass es auch funktioniert.“

„Wo hast du deinen Freund denn eigentlich kennen gelernt?“ fragte meine Mutter sofort nach und ich ahnte schon, was sie mit dieser Frage bezweckte. Seth hingegen würde meiner Mutter nie irgendwelche Hintergedanken zutrauen, da sie in seinen Augen die absolute Traummutter war und gab natürlich sofort Auskunft.

„Wir haben uns im Chat kennen gelernt.“

„Und wie heißt die Seite?“ hakte sie weiter nach und ihr Blick verriet ganz deutlich, dass sie nicht grundlos nachfragte. Aber auch das irritierte ihn nicht und er antwortete auf seine typische ehrliche Art „Die Seite hieß Romeo Loves Jules.“

Und wie nicht anders zu erwarten war, wandte sich meine Mutter mir zu und hatte diesen erwartungsvollen Blick, als hoffte sie nur darauf, dass ich mich gleich an den Computer setzen und nach dieser Seite suchen würde.

„Hast du gehört, Schatz? Die Seite heißt Romeo Loves Jules. Wenn du mal Zeit hast, kannst du dir das ja gerne mal ansehen. Wäre doch interessant, oder?“

Ich gab nur ein Seufzen von mir und erwiderte darauf „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich hetero bin und nicht auf Kerle stehe?“ Doch in diesem Moment hob Emily den Blick von ihrem Manga und kommentierte ganz unverfroren „Also ich finde, du und Seth würdet ein süßes Paar abgeben.“

Damit platzte mir der Kragen und ich versuchte ihr klarzumachen, dass Seth und ich bloß Freunde seien und zwischen uns nie etwas laufen würde. Und was tat mein bester Freund? Der kriegte sich vor Lachen kaum ein. Dabei lachte er nicht mal wegen der Vorstellung, wir zwei würden etwas miteinander haben, sondern weil Emily so direkt über solche Themen sprach und das mit solch einer Unverfrorenheit, die schon kriminell war. Wütend funkelte ich zu meiner Mutter herüber, die fröhlich lächelte und wahrscheinlich denselben Gedankengang hatte wie meine Schwester.

„Mum, du hast sie echt verdorben“, knurrte ich missmutig und aß mein Stück Apfelkuchen. „Und hört gefälligst auf, mich mit Seth verkuppeln zu wollen.“

„Aber Schatz, wir wollen doch nur, dass du weißt, dass es für uns kein Problem wäre, wenn du schwul wärst.“

Das sagte sie immer wieder. Fast jeden Tag, so als warteten sie nur auf mein Coming-Out, was aber niemals erfolgen würde. Aber meine Mutter wusste alles besser und meine 16-jährige Schwester ließ sich da auch nichts sagen. Wirklich schlimm war es eigentlich geworden, nachdem sich unsere Eltern getrennt hatten. Dad war ein notorischer Fremdgeher gewesen und hatte Mum schließlich für eine blonde Masseuse verlassen. Wahrscheinlich war es auch eine Kellnerin… so wirklich kann ich mich nicht mehr daran erinnern, weil er sie kurz darauf wieder verlassen und mit Mums ehemals bester Freundin durchgebrannt war. Für unsere Mutter war dies einer der schwersten Momente in ihrem Leben. Nicht nur, dass sie nach so vielen Jahren Ehe knapp zwei Jahre lang mit irgendeiner dahergelaufenen Masseuse oder Kellnerin betrogen wurde. Nein, er behandelte sie dann auch noch wie ein Fußabtreter und wir waren einfach abgeschrieben. Vor allem, als auch noch Mums beste Freundin Debbie von ihm schwanger wurde. Schlimmer hätte es sie echt nicht treffen können und sowohl Emily, ich als auch Seth waren für sie da gewesen und inzwischen ging es ihr wieder richtig gut. Ja sie überlegte sogar, ob sie sich nicht vielleicht wieder mit Männern treffen sollte. Mir konnte es nur recht sein. Vielleicht hörte sie ja dann auch endlich mal auf, mich verschwulen zu wollen.
 

„Sag mal Fay, hast du eigentlich noch mit Katherine gesprochen?“ fragte Seth nach einigem Zögern und wahrscheinlich war er sich auch nicht sicher gewesen, ob er mir die Frage stellen sollte oder nicht. Wohl aus Rücksicht auf meine Gefühle. Zugegeben, ich wollte auch nicht mehr darauf angesprochen werden, aber Seth konnte ich sowieso nie nein sagen. Nicht mal, als er mich gebeten hatte, ihn mal in eine Schwulenbar zu begleiten, weil er nicht ohne Begleitung hingehen wollte. Was machte man nicht alles für seine Freunde…

„Nein, ich bin ihr aus dem Weg gegangen“, antwortete ich und fühlte wieder diesen schmerzenden Stich in der Brust und hätte am liebsten geheult. Es tat mir so weh, dass das zwischen uns nicht geklappt hatte, aber solange ich dieses verdammte Ohnmachtsproblem nicht im Griff hatte, würde es immer darauf hinauslaufen, dass meine Beziehungen scheiterten.

„Was hätte ich ihr denn auch sagen sollen? Wir hatten schon lang und intensiv miteinander gesprochen und ich wollte nicht, dass sich die anderen noch über sie lustig machen. Sie kann ja wohl am allerwenigsten dafür. Und ich glaube, es war ihr ebenso unangenehm wie mir.“

Allein wenn ich daran zurückdachte, wie besorgt sie mich angesehen hatte, schnürte es mir die Brust zu. Ich war wirklich verliebt in sie, aber konnte einfach nicht vernünftig mit ihr zusammen sein. Nicht wenn ich immer wieder Ohnmachtsanfälle bekam, wenn es zum Kuss kam. Und insbesondere nicht, wenn ich gerade mal die absoluten Mindestanforderung für einen richtigen Mann erfüllte. Liebeskummer war echt beschissen. Vor allem wenn man selber dafür verantwortlich war.

„Schon schade, dass es nicht geklappt hat“, meinte Emily schließlich. „Ich fand sie ganz nett. Natürlich ist es scheiße, dass du sofort beim Küssen umkippst, aber deswegen gleich mit ihr Schluss zu machen, ist doch etwas übertrieben, findest du nicht?“

„Vielleicht war sie ja auch nicht die Richtige“, kam es von meiner Mutter, die nun damit beschäftigt war, schon mal den Salat fürs Abendessen vorzubereiten. Da Seth wohl bei uns bleiben würde, bereitete sie noch eine vierte Portion vor. Er kam immer zum Essen und meiner Mutter war das nur recht. Nachdem er zu seiner Familie keinen Kontakt mehr hatte, war er froh, dass meine ihn mit offenen Armen aufnahm und das trotz der Tatsache, dass er schwul war. „Es kann ja sein, dass es einfach nicht die große Liebe war. Wer weiß…“

Ich wusste ja, dass Mum es nur gut meinte, aber bei ihr hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass sie damit nur wieder etwas anspielen wollte.

„Ich hab sie geliebt“, rief ich und kam mir irgendwie so vor, als müsste ich mich vor den anderen rechtfertigen. „Aber nach meinem Zusammenbruch in der Mensa will ich nicht, dass sie Probleme kriegt und wie soll eine vernünftige Beziehung klappen, wenn ich bei so etwas direkt aus den Latschen kippe?“

„Vielleicht solltest du mal zum Arzt oder zum Psychologen“, schlug Seth nun vor. „Ich meine… das ist doch nicht normal.“
 

Als ob bei mir auch nur irgendetwas normal wäre, dachte ich mir. Im Grunde hatte er ja Recht und ich sollte vielleicht mal darüber nachdenken, ob das nicht eventuell ein psychisches Problem bei mir war. Ich war schon deswegen beim Arzt gewesen, nachdem ich vor knapp elf Jahren das erste Mal zusammengebrochen war. Man vermutete niedrigen Blutdruck als Ursache und auch im Laufe der Jahre wurde ich immer wieder darauf untersucht, aber gesundheitlich war mit mir alles in Ordnung. Naja fast, wenn man winzige Kleinigkeiten ignorierte, die aber nicht weiter erwähnenswert waren, dann war ich kerngesund. Trotzdem wurde mir jedes Mal sofort schwarz vor Augen, wenn ich jemanden küsste oder umgekehrt. Allerdings hing es auch stark von der Art des Kusses ab. Im Grunde waren es immer Küsse auf den Mund, bei denen mein Körper komplett versagte. Wann genau es angefangen hatte, konnte ich nur spekulieren. Das erste Mal war mit 12 oder 13 Jahren gewesen, als ich Cindy Albert aus der Parallelklasse geküsst habe, nachdem ich ihr meine Liebe gestanden hatte.

„Der Arzt hat gemeint, es wäre alles in Ordnung mit mir und ich sehe auch keinen Sinn darin, mich von einem Seelenklempner untersuchen zu lassen. Ich bin doch nicht verrückt.“

„Das hat ja auch niemand gesagt“, erwiderte Seth beschwichtigend. „Aber es kann doch sein, dass dich irgendetwas belastet. Von alleine wird dein Problem ja wohl nicht gekommen sein und womöglich kann ein Psychologe dir auch helfen, was deine Komplexe betrifft.“

„Ich hab keine Komplexe“, grummelte ich und legte den Kopf auf die Tischplatte, wusste aber, dass ich niemandem etwas vormachen konnte. Ja verdammt, ich hatte ziemliche Komplexe aufgrund meines Aussehens. Ich hatte einfach Angst davor, niemals als Mann wahrgenommen zu werden und immer nur ein Mischwesen aus Mann und Frau zu sein. Und ich wusste auch, dass es ungesund war, nicht mit sich selbst zufrieden zu sein.

„Mich nervt nur die Tatsache, dass ich offenbar zu viel Östrogen im Körper habe. Vielleicht sollte ich mal etwas mehr Sport machen. Womöglich kann ich so genug Muskeln aufbauen, dass ich auch endlich mal vernünftige Klamotten tragen kann.“

„Ach ich finde, du siehst auch so ganz toll aus“, kam es von Emily und auch wenn ich wusste, dass es wirklich sehr lieb gemeint war von ihr, so konnte ich es ihr in diesem Moment einfach nicht glauben. „Es gibt viele androgyne Männer, die absolut toll aussehen und die auch stolz darauf sind. Viele von ihnen sind zum Beispiel Models.“

„Was dir einfach fehlt, ist ein bisschen mehr Selbstwertgefühl“, mischte sich nun meine Mutter ein, die nun damit begann, Pinienkerne in einer Pfanne anzurösten. „Es verlangt doch niemand von dir, wie ein Bodybuilder auszusehen. Und wenn du etwas für deinen Körper tun willst, kannst du ja ins Fitnessstudio gehen. Ich glaube der Grund, warum du keine Beziehung dauerhaft halten kannst, liegt einfach darin, weil du dich nicht selbst liebst und dir selbst im Weg stehst.“ Ich seufzte genervt, weil ich im Moment wirklich keine Lust hatte, darüber zu sprechen.
 

Nachdem ich meinen Apfelkuchen aufgegessen hatte, stand ich auf und ging in mein Zimmer. Wenigstens war dieses nicht mädchenhaft, so wie der Rest an mir. Ich hatte ein Doppelbett, was aber auch daran lag, weil ich es liebte, mich möglichst auszustrecken. In meinem Regal fanden sich diverse CD-Alben, angefangen von Green Day, Linkin Park und Simple Plan bis hin zu Get Scared und Mindless Self Indulgence. Meine Raufasertapete war in einem warmen und hellen Türkis gestrichen und es fanden sich einige Poster von meinen Lieblingsspielen wieder. Auch wenn ich nicht danach aussah, ich zockte auch ganz gerne. Entweder saß ich dafür an der Playstation, oder aber am Computer. Meist waren es ganz einfache Ego-Shooter oder Beat ’em Up Games, wie zum Beispiel Call of Duty oder Tekken. Vorletztes Jahr hatte ich noch leidenschaftlich das Newcomer-Onlinespiel Extend Gear gespielt und auch an der Weltmeisterschaft teilgenommen. Aber gegen den Grim Reaper von Eren Gale Verice war ich nicht angekommen und hatte es letzten Endes nur auf Platz 37 geschafft. Ab und zu spielte ich mit Eren, der ein wahres Genie in Online-Games war, irgendwelche Ego-Shooter, aber ansonsten hatte ich meine Spielzeiten aufgrund des Studiums immer weiter reduziert. Es lag aber auch ein Stück weit daran, weil ich zwischendurch im Blumenladen aushalf, der Seths Tante gehörte und bei dem mein bester Freund auch fest arbeitete. Dabei verdiente ich eigentlich kaum etwas, aber es war für mich eine freiwillige Hilfe, weil ich Rachel sehr mochte und wusste, dass sie nicht mehr so gut arbeiten konnte, seitdem sie einen Bandscheibenvorfall erlitten hatte. Und ihre andere Angestellte war derzeit im Mutterschaftsurlaub und Seth konnte die ganze Arbeit kaum alleine bewältigen. Also kam ich immer wieder vorbei, wenn es stressig wurde und erledigte kleine Arbeiten.

Müde ließ ich mich aufs Bett fallen und hatte das Gefühl, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Außerdem fühlte ich mich völlig antrieblos und hätte mich am liebsten sofort schlafen gelegt, da öffnete sich die Tür und Seth kam herein. Seine sanften und dennoch so tiefgründigen dunkelbraunen Augen hatten etwas sehr Warmherziges und Beruhigendes an sich.

„Die Trennung geht dir ziemlich nah, oder? Hör mal, ich kann verstehen, wenn ihr noch nachtrauerst. Aber du darfst dich nicht davon runterziehen lassen, okay?“ Damit setzte er sich zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Wenn es mit euch beiden nichts mehr wird und du es dir nicht noch mal überlegen willst, solltest du auf andere Gedanken kommen, bevor du noch in ein emotionales Tief fällst.“

Das wusste ich ja auch, aber ich hatte einfach keine Lust. Meine gute Laune war meine Motivation suchen gegangen und jetzt waren beide weg. Ich wollte einfach nur im Bett bleiben und morgen genauso. Hauptsache, ich musste Katherine nicht mehr sehen, geschweige denn, den blöden Feldwebel nicht mehr ertragen.

„Wie wäre es denn, wenn wir morgen Abend mal wieder richtig rausgehen? Das hatten wir schon lange nicht mehr und dann kommst du auch auf andere Gedanken.“ Rausgehen? In Seths Fall hieß es, dass er vorhatte, einen Club besuchen zu gehen.

„Das ist jetzt aber nicht schon wieder eine Schwulenbar, oder?“ fragte ich misstrauisch, woraufhin Seth wieder lachen musste. Normalerweise würde ich auch so einen Schuppen nie im Leben aufsuchen und ich hatte es auch nur Seth zuliebe gemacht, weil er nicht alleine hingehen wollte und sonst niemanden gehabt hätte, der freiwillig mitgegangen wäre. Und als Heterosexueller von mehreren warmen Brüdern angebaggert zu werden, war weiß Gott kein Vergnügen für mich.

„Nein, es ist ein ganz normaler Club“, versicherte er mir und da ich ihn schon seit dem Kindergarten kannte, glaubte ich ihm auch. Normalerweise hätte ich mich zu einem Clubbesuch auch sofort einverstanden erklärt, aber meine Stimmung war wegen Katherine sowieso momentan auf dem absoluten Tiefpunkt. Nicht zuletzt wegen dem Spott meiner Kommilitonen.

„Und wie heißt der Club?“

„Das ist das Black Amethyst“, antwortete Seth mit einem leicht amüsierten Lächeln, denn es war allzu offensichtlich, dass er sich einen Spaß mit mir erlaubte.

„Haha, sehr witzig“, grummelte ich und verpasste ihm einen leichten Schlag gegen den Oberarm. „Das ist doch auch so eine Schwulenbar. Jetzt mal im Ernst…“

„Schon gut… ich hab ja nur Spaß gemacht. Erinnerst du dich noch an den Club Moonflower?“

Moonflower? Da dämmerte doch etwas, aber gerade kam ich einfach nicht drauf, weshalb Seth mich mal näher aufklären musste.

„Wir waren doch zur großen Eröffnung dort gewesen. Weißt du, Raphael arbeitet dort als Barkeeper und dort habe ich ihn kennen gelernt.“

Aha, so war das also. Ich funkelte meinen besten Freund misstrauisch an und setzte mich auf.

„Du willst doch sicherlich nur hin, um wieder mit ihm herumzuturteln, nicht wahr? Und jetzt wag es bloß nicht, das abzustreiten! Ich sehe doch ganz deutlich, dass du genau das vorhast, du Arsch!“

Hieraufhin wusste mein bester Freund nicht mehr, was er dazu noch sagen sollte. Aber er musste mir dann doch Recht geben, dass er die Gelegenheit nutzen wollte, um seinen Schwarm wiederzusehen. Nicht, dass ich ihm das nicht gönnte, aber wenn man sich selber gerade von seiner Freundin getrennt hatte und darunter noch litt, dann war man natürlich erst mal sauer. In diesem Moment hatte Seth wirklich nicht sonderlich viel Feingefühl.

„Ich werde ja nicht die ganze Zeit mit ihm verbringen. Aber da wir zusammen sind, komme ich ohne Probleme in den Club rein. Und ein bisschen feiern lenkt dich auch von deinem Liebeskummer ab. Na was ist? Dann machen wir zwei einen drauf, so wie in der Schule. Was hältst du davon?“

Feiern wie zu Schulzeiten und einfach mal den ganzen Ärger und Frust vergessen? Ja, der Gedanke war gar nicht mal so schlecht und sofort war mein anfänglicher Ärger wieder verflogen. Auch wenn ich immer noch vollkommen demotiviert und niedergeschlagen war, so stimmte mich die Aussicht auf eine ausgelassene Partynacht doch deutlich besser.

„Ja, die Idee ist nicht schlecht. Dann lass uns wieder einen draufmachen, so wie in der High School. Aber spar dir das Geturtel mit deinem Freund für später auf, ja?“

Seth versprach es mir hoch und heilig und damit war ich zufrieden. Nachdem das geklärt war und wir noch etwas Zeit hatten, schaltete ich die Playstation ein und zusammen spielten wir ein paar Runden Dead or Alive, wobei mich mein bester Freund aber gnadenlos abzockte, weil er schon damals immer der bessere Spieler von uns war. Aber wir hatten trotzdem unseren Spaß und erzählten uns, während wir unsere Finger über die Controllertasten springen ließen, irgendwelche Sachen, die noch nicht mal eine tiefere Bedeutung hatten. Welche Spiele wir gezockt oder welche Filme wir uns angesehen hatten, was wir Neues in unseren Lieblingsforen erfahren hatten. Ein einfacher Austausch unter Freunden und ich war froh über diese Abwechslung. Bei Seth hatte ich das Gefühl, dass ich mich immer bei ihm ausheulen konnte und er würde doch immer da sein. Dafür schätzte ich ihn wirklich und es bewies auch, wie sehr wir eigentlich einander als Freunde brauchten. Er schaffte es immer, mich von meinen Selbstzweifeln runterzubringen und er fand bei mir und meiner Familie immer Zuflucht, wenn er sich nach der Aufmerksamkeit einer Familie sehnte und fand hier vor allem Akzeptanz und Verständnis.

Nachdem seine Eltern den Kontakt zu ihm mieden, seit er sein Coming-Out hatte, fehlte ihm seit knapp neun Jahren diese familiäre Zuwendung. Ich war zwar nicht direkt dabei, aber es hing der Verdacht im Raum, dass Seths Vater ihn im Streit sogar geschlagen hatte. Wahrscheinlich wäre Seth an diesem Bruch mit seiner Familie noch zerbrochen, wenn Mum, Emily und ich nicht da gewesen wären, um ihn aufzufangen. Eine Zeit lang hatte er sogar bei uns gewohnt, bis er alt genug war und sich ein Zimmer gemietet hatte. Inzwischen hatte er eine kleine Zweizimmerwohnung über dem Blumenladen seiner Tante. Meine Mutter mochte zwar etwas durchgeknallt sein, weil sie ständig versuchte, mir einzureden, ich sei vielleicht doch schwul. Und meine Schwester war da auch nicht besser. Aber letzten Endes war es ihrer Einstellung zu verdanken, dass mein bester Freund sich nicht ganz allein und verlassen fühlen musste.

A Suspicious Call

Wie sehr liebte ich doch die Universität dafür, dass es samstags keinen Unterricht gab. Zwar hatte ich den Feldwebel zu ertragen und durfte mir am Montag mit großer Sicherheit wieder den üblichen Spott anhören, aber jetzt hatte ich ja glücklicherweise erst einmal Wochenende und das war auch ganz praktisch. Mit ganz viel Glück legte sich dann ab Montag auch die ganze Aufregung wieder und ich war aus dem Schneider. Und ich freute mich schon wahnsinnig auf den Abend im Club. Ich war schon lange nicht mehr mit Seth feiern, was auch daran lag, dass wir beide sehr viel mit Beziehungskram beschäftigt gewesen waren. Er sprang von einem One-Night-Stand zum anderen und ich war mit Katherine zusammen gewesen. Zwar hatten wir uns dennoch oft gesehen, waren aber ansonsten nicht wirklich mal abends um die Häuser gezogen. Nachdem ich mit Seth noch nach dem Abendessen ein wenig gezockt hatte, musste er dann gehen, weil er den halben Samstag noch arbeiten musste. Ich hingegen durfte ausschlafen und ich genoss es auch wirklich. Zwar zählte ich nicht wirklich zu den Langschläfern, die den Eindruck erweckten, als würden sie nicht schlafen, sondern in einem tiefen Koma liegen, aber neun Stunden Schlaf waren wirklich ein Segen.

Am liebsten wäre ich noch länger im Bett geblieben und hätte es genossen, einfach in meinem kuscheligen Bett zu liegen, mir um nichts und niemanden Gedanken zu machen und auch nicht an das Desaster mit Katherine zu denken. Aber dazu sollte es nicht kommen. Denn die schönsten Momente endeten für gewöhnlich immer dann, wenn man endlich damit begann, es zu genießen. Sei es der Schlaf oder wenn man ein riesiges Stück Schokoladentorte verputzt hatte. Denn das Klingeln unseres Telefons klang so furchtbar schrill, dass man es wirklich in jeder Ecke des Hauses mitgekriegt hätte. Laut, metallisch scheppernd und es hatte einen furchtbaren Klang. Ein wenig erinnerte es mich an eine Kuhglocke, die irgendjemand wie ein Irrer bimmelte, nur um anderen Leuten gehörig auf den Sack zu gehen. Ich zog die Decke über den Kopf und beschloss, liegen zu bleiben und nicht ranzugehen. Warum auch? Meine Schwester war eh früh auf, weil sie sich mit ein paar Freundinnen verabreden wollte und meine Mutter zählte ebenfalls zu den Frühaufstehern.

Zuerst fragte ich mich, welcher Blödmann denn bitte am frühen Morgen anrief, bis ich den Leuchtziffern meines Weckers entnahm, dass es knapp neun Uhr war. Folglich also konnte von „früh“ ja wohl kaum noch die Rede sein. Aber meinem Gefühl nach war es das eindeutig und da ich mit Katherine alles geklärt hatte und Seth arbeiten war, fiel mir auch niemand ein, der mich um diese Uhrzeit anrufen würde. Also musste es demnach auch ein Anruf für meine Mutter oder für Emily sein. Ich wälzte mich schließlich auf die andere Seite und hörte nur am Rande, wie die Tür meines Zimmers vorsichtig geöffnet wurde und wie Emily in den Hörer „Nein, er schläft noch“ sprach.

Normalerweise hätte ich sofort gesagt, ich dass ich wach wäre und hätte das Telefonat angenommen. Aber momentan hatte ich einfach keine Lust dazu. Und außerdem hatte ich die leise Angst, dass es Katherine sein könnte. Also lag ich noch ein wenig im Bett, bis ich dann doch endlich einsah, dass es langsam mal Zeit wäre, aufzustehen. Und nachdem ich mich aus meinem Doppelbett erhoben hatte, schlurfte ich müde zu meinem Fenster und zog die Jalousien hoch und öffnete dann das Fenster, um frische Luft reinzulassen. Dieses Ritual hatte Mum uns schon früh eingebläut, weil sie es hasste, wenn sich die Luft im Zimmer staute und es unangenehm roch, wenn sie hereinkam. Zu unserem Leidwesen hatte unsere Mutter sehr strenge Regeln und Rituale, was die Reinlichkeit anging. Darum war das Erste, was wir nach dem Aufstehen taten, die Fenster aufzumachen und das Zimmer durchzulüften. Danach bereitete der erste, der aufstand, das Frühstück vor. Müde streckte ich mich noch mal und bemerkte, dass es draußen strahlendes Wetter war und es sah deutlich nach Sommerwetter aus und das stimmte mich mehr als glücklich. Denn was konnte es Schöneres geben, als warmes Sommerwetter? Wenn es noch weiter anhielt, dann lohnte es sich mit Sicherheit, nachher mal eine Runde Rad zu fahren. Aber erst mal wollte ich in die Küche und etwas essen, denn mein Magen knurrte laut und vor lauter Hunger wurde mir schon fast schlecht.
 

Also ging ich direkt in die Küche, wo bereits meine Mutter saß und ihre Kreuzworträtsel löste, während Emily auf ihrem Smartphone herumtippte und Nachrichten schrieb. Ich murmelte ein müdes „Guten Morgen“, goss mir ein Glas Orangensaft ein, weil ich als Einziger in diesem Haushalt keinen Kaffee trank und setzte mich. Es dauerte einen Moment, bis ich eine Antwort bekam, da beide Damen in ihre Tätigkeiten vertieft waren. Dann aber, als Emily mit dem Schreiben fertig war, schaute sie kurz vor ihrem Handy auf und sah mich mit ihren hellbraunen Augen an.

„Da hat jemand für dich angerufen, Fay.“

Ja, ich hatte mir das schon irgendwie gedacht, nachdem sie mit dem Telefon am Ohr in mein Zimmer reingeschaut hatte. Und wieder kehrten all die Sorgen und negativen Gefühle zurück, die ich wenigstens für diesen Morgen vergessen wollte.

„War es Katherine?“

Emily dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf.

„Das war so ein Typ, der dich wohl von der Schule her kennt. Er will dir offenbar einen Job anbieten.“

„Und wie hieß er?“

Hierauf zuckte Emily mit den Schultern und erklärte, dass der Typ seinen Namen nicht direkt genannt hatte.

„Jedenfalls soll ich dir ausrichten, dass er um zwölf Uhr im Café Zodiac auf dich wartet.“

Irgendwie klang das Ganze mehr als dubios. Irgendjemand rief mich an, nannte nicht mal seinen Namen und bot mir einen Job an?

„Und was für ein Job wäre das?“

„Das wollte er mit dir im Café besprechen.“

Na großartig. Das hieß dann also, ich hatte überhaupt keine Informationen darüber, wer mit mir reden wollte und ich wusste nicht mal, um was für einen Job es ging. Das konnte ja alles Mögliche sein. Zeitungsjunge, Anzeigenverkäufer, Callboy, Proband für Aphrodisiaka… Die Auswahl war riesig, genauso wie die der Leute, die ich noch von der Schule her kannte. Aber das war auch typisch Emily: sie fragte nie nach mehr Informationen, sondern gab alles einfach weiter und man hatte dann von nichts eine Ahnung. Ärgerlich für uns, aber Emily interessierte das nicht wirklich. Hauptsache, sie hatte ihren Job erledigt. Eigentlich durfte man sie gar nicht ans Telefon lassen, weil man ihr oft genug etwas sagen konnte, sie machte es ja sowieso nicht. Kurzerhand nahm ich das Telefon und durchsuchte die Anrufliste, stellte aber fest, dass es sich um eine unterdrückte Nummer handelte. Na großartig. Das machte es mir unmöglich herauszufinden, wer mich angerufen hatte und das machte es auch nicht gerade seriöser. Ich fragte mich ernsthaft, was das alles sollte und ob sich da nicht vielleicht jemand nur einen Scherz mit mir erlauben wollte, oder ob ich irgendwie das Opfer einer Telefonwerbung wurde. So etwas kannte ich ja schon zur Genüge aus meinen diversen Spam-Mails, die mir den ganzen Laptop ruiniert hatten. Es wurde ein gut bezahlter Job angeboten, für den man nicht mal sein Haus verlassen musste und was passierte? Der PC wurde dermaßen mit Viren, Trojanern, Worms, Malwares und weiß der Teufel noch alles bombardiert, dass da nicht mehr viel zu retten war.Das war mir so was von peinlich, als ich Seth davon erzählte, der meinen Laptop daraufhin zu einem Bekannten brachte, der wohl im IT-Bereich arbeitete und zumindest ein wenig retten konnte. Aber die meisten meiner Dateien waren hoffnungslos verloren gewesen. Am allerpeinlichsten war es dann auch noch gewesen, als mich dieser Ike gefragt hatte, was ich mit meinem Laptop denn bitte angestellt hatte, dass dieser dermaßen verseucht war. Und als ich ihm gestand, dass ich meine Spams durchlas, da hatte er verständnislos den Kopf geschüttelt und nur gemurmelt „Wer ist denn auch so blöd und liest Spams? Es weiß doch jeder heutzutage, dass man das nicht tun sollte.“

Tja, ich wusste das offenbar nicht, weil ich für Technik einfach zu blöd war.
 

Nachdem ich mir mein Brot mit Marmelade bestrichen hatte, aß oder besser gesagt schlang ich mein Frühstück herunter und wandte mich an meine Mutter.

„Hatte schon mal jemand wegen einem Jobangebot für mich angerufen?“

Ohne von ihrem Kreuzworträtsel aufzusehen, schüttelte sie den Kopf und meinte nur „Nein, nicht dass ich wüsste.“

Tja, nun stellte sich die Frage, was ich jetzt tun sollte. Diese Sache einfach vergessen, oder doch lieber der Einladung zu folgen und nachzusehen, wer mich denn angerufen hatte und was für einen Job mir dieser Unbekannte anbieten wollte. Rein vom Bauchgefühl her hätte ich mich fürs Ignorieren entschieden. Aber meine Neugier war dann doch zu groß. Ich wollte wissen, welcher ehemalige Klassenkamerad mir einen Job anbieten wollte und vor allem, wie er ausgerechnet auf mich gekommen war. Zu den meisten hatte ich schon lange keinen Kontakt mehr und diejenigen, zu denen ich noch Kontakt hatte, schieden aus. Die hätten nicht so auf geheimnisvoll getan, sondern gleich mit der Sprache rausgerückt oder später noch mal angerufen. Oder aber sie hätten mich einfach aus dem Bett geholt, was ich einigen tatsächlich zugetraut hätte. Also entschied ich mich dafür, um zwölf Uhr ins Café Zodiac zu gehen und herauszufinden, wer mich denn unbedingt sprechen wollte.
 

Nachdem ich noch mein zweites Marmeladenbrot gegessen und mein zweites Glas Orangensaft geleert hatte, stand ich auf und ging direkt ins Bad. Ich brauchte sowieso nicht allzu lange, da ich mich nicht stundenlang frisieren musste wie meine Schwester. Zwar zählte sie nicht zu den eingebildeten Mädchen, denen ihr Aussehen wichtiger war als alles andere, aber seit kurzem träumte sie von einer großen Modelkarriere und da musste man eben auf sein Aussehen achten. Und so hatte sie sich erst mal ein gewaltiges Make-up-Arsenal zugelegt und brauchte auch ewig lange, um sich zu frisieren und zu schminken. Deswegen hatten wir unseren Tagesablauf so organisiert, dass entweder Mum oder ich als Erstes ins Bad gingen und Emily dann als Letzte. So gab es wenigstens kein Gedrängel, was ja selten ausblieb, wenn man mit zwei Frauen in einem Haus leben musste und man gezwungen wurde, sich beim Toilettengang auch hinzusetzen. Ein einziges Mal hatte ich mich nicht daran gehalten… mit dem Ergebnis, dass meine Mutter mich dazu verdonnerte, drei Wochen lang Bad und Toilette zu putzen. Seitdem wusste ich, in welchen Dingen ich lieber nicht die Regeln brechen sollte, denn erstens erleichterte es das Leben hier als sprichwörtlicher Hahn im Korb und zweitens kam man sowieso nicht als Mann gegen zwei Frauen an, die gerne das Kommando hatten. Ich ging in mein Zimmer zu meinem Kleiderschrank, der für einen Mann etwas sehr groß war. Womöglich lag es ja an dem vielen weiblichen Einfluss, dem ich seit Jahren ausgesetzt war, aber ich hatte gerne eine größere Klamottenauswahl. Zugegeben, sie war nicht ganz so groß wie bei Emily oder bei anderen Mädchen, aber ich fand für jeden Anlass ein passendes Outfit und das genügte ja wohl auch. Es war nur schwer, auch etwas Passendes zu finden, denn meist passten meine Shirts nicht, weil ich vom Körperbau her zu schmal war oder weil ich nicht so breite Schultern hatte. Ich überlegte kurz, was ich denn am besten tragen sollte. Normalerweise würde ich mich ja schick anziehen, was also ein Hemd und ein Jackett beinhaltete. Immerhin ging es um einen Job. Aber da es sich um jemanden aus meiner Schulzeit handelte, war das wiederum auch nicht wirklich nötig und so entschied ich mich für ein weißes Shirt mit buntem Aufdruck, eine Streetstylejeans mit passendem Gürtel und im Anschluss würde ich noch ein Lederarmband anziehen. Irgendwo hatte ich mal gehört, dass Lederarmbänder wirklich männlich waren. Mit den ganzen Klamotten ging ich ins Bad, um nicht zwischendurch halbnackt in mein Zimmer rennen zu müssen. Das konnte ich nämlich überhaupt nicht ab. Vor allem nicht, weil dann zwischendurch entweder Emily oder Mum das Bad besetzten und ich warten musste.Tja, mit einem Mann und zwei Damen war das Bad eben der begehrteste Ort im ganzen Haus. In Momenten wie diesen war ich wirklich froh, dass ich nicht noch eine Schwester hatte. Eine reichte mir völlig.

Nachdem ich die Badezimmertür abgeschlossen hatte, zog ich meine Sachen aus und gönnte mir eine heiße Dusche. In der Hinsicht hatte die Erziehung meiner Mutter bewirkt, dass ich auch sonst recht reinlich war. Mein Dad war da eher recht gleichgültig in der Erziehung gewesen und hatte den Job lieber Mum überlassen. Meist hatte er sich lieber mit seinen eigenen Sachen beschäftigt, was mich dann doch oft zu der Frage kommen ließ, ob er überhaupt jemals Kinder gewollt hatte. Vor allem als er dann auch noch einfach eine neue Familie gründete und uns seitdem niemals besuchen kam, geschweige denn, dass wir je einen Anruf von ihm erhalten hätten oder wenigstens einen Brief. Er hatte uns einfach abgeschrieben und besonders für Emily, die ein richtiges Vaterkind war, war es verdammt hart und sie hatte auch lange darunter gelitten. Und manchmal beschlich mich das Gefühl, als würde sie immer noch ein Stück weit unter der Tatsache leiden, dass wir Dad egal waren. Ich hatte das Ganze deutlich besser verarbeitet, weil ich ja auch acht Jahre älter war als Emily und ich sowieso nie das beste Verhältnis zu ihm gehabt hatte. Das Einzige, was ich für ihn noch empfand, war Wut und sonst nichts.
 

Als ich schließlich mit dem Duschen fertig war, stieg ich aus der Dusche aus und kippte das Fenster, um den Dunst ein wenig rauszulassen. Während ich mir die Haare trocknete, betrachtete ich mich im Spiegel und dabei blieb mein Blick an meinem Oberkörper haften. Zugegeben, er war nicht sonderlich hässlich und ich war weder so dürr, dass bei mir die Rippen zu sehen waren, noch ließ sich sonst irgendetwas erkennen, was mich eher als jene Sorte schmaler Kerl aussehen ließ, die besser ihr Shirt anbehalten sollten. Und zum Glück auch nicht wie jene Sorte, die man in der Schule verprügelte. Es war nicht so, dass ich eine schlechte Figur hätte. Oft hatte ich irgendwie den Eindruck, als hätte ich den Körperbau eines kleinen Asiaten. Wenn ich denn wenigstens so sportlich wie ein Asiate wäre. Aber ich war einfach verdammt zierlich. Meine Arme und Beine waren sehr schlank, meine Schultern schmal und auch sonst sah ich nicht ganz so übel aus. Mich störte einfach nur die Tatsache, dass ich wirklich nirgendwo richtige Behaarung hatte. Weder an den Armen und Beinen, noch im Gesicht, auf der Brust, oder auf dem Rücken. Wobei ich aber zugeben musste, dass ich für letzteres ja doch sehr dankbar war. Haare auf dem Rücken waren absolut unsexy. Und ich bezweifelte, dass ein Mann freiwillig so etwas haben wollte.

Manchmal staunte ich ein wenig über mich selbst, dass ich, obwohl ich kaum Sport betrieb und eine Schwäche für Schokolade hatte, eigentlich keinen so hässlichen Körper hatte. Wenn da nur nicht die Tatsache wäre, dass er einfach nicht wirklich männlich aussah. Und das trübte meine Stimmung deutlich, als ich wieder an das denken musste, was Mum gestern gesagt hatte. Im Grunde stimmte es ja. Ich konnte meinen Körper, so wie er jetzt war, einfach nicht lieben. Ich hätte wirklich alles dafür gegeben, nicht mehr so klein und zierlich wie ein Mädchen zu sein. Und vor allem hasste ich meine schwarzen Haare, die mich noch blasser machten, als ich ohnehin schon war. Das Einzige, was ich aber wirklich an mir liebte, waren meine Augen. Sie hatten ein so strahlendes Türkisblau, dass manche Leute mich schon gefragt hatten, ob ich nicht vielleicht farbige Kontaktlinsen trug. Ja meine Augenfarbe war etwas außergewöhnlich, aber ich war auch stolz darauf. Meine Augen waren eine der wenigen Dinge, die ich an mir selbst mochte. Und ich war ohnehin der Meinung, dass die Augen doch das Schönste am Menschen waren.

Nachdem ich mich abgetrocknet, angezogen und mir die Haare geföhnt hatte, öffnete ich das Badezimmerfenster nun ganz, um frische Luft hereinzulassen. Vor der Tür wartete schon meine Mutter, die mich neugierig musterte und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.

„Na so was. Du hast dich ja hübsch angezogen. Hast du vielleicht ein Date, von dem du mir noch nicht erzählt hast?“

Oh Mann… Manchmal konnte meine Mutter wirklich aufdringlich sein, was das Thema Liebe und Beziehung betraf. Und sonderlich taktvoll empfand ich es in diesem Moment auch nicht von ihr, dass sie mich nach so etwas fragte, wo ich doch gerade erst mit Katherine Schluss gemacht hatte.

„Nein, Mum“, antwortete ich mit leichter Verärgerung in der Stimme. „Ich will nachher ins Café gehen und sehen, wer mich anrufen und mir einen Job anbieten wollte. Und hör jetzt bitte auf, immer von Beziehungen zu reden, wenn ich mich doch gerade mies genug wegen der Sache mit Katherine fühle.“

Meine Mutter hatte es mit großer Sicherheit nicht einmal böse gemeint, aber in dem Moment war ich einfach nur sauer deswegen und wollte über dieses leidige Liebesthema auch nicht sprechen. Und als sie selbst merkte, dass das nicht wirklich die beste Idee von ihr gewesen war, legte sie eine Hand auf meinen Arm und sah mich mit schuldbewusstem Blick an. Seltsamerweise erinnerte mich dieser gerade irgendwie an den eines Hundes, der genau wusste, dass er die Couch nicht zerfleddern durfte, es trotzdem gemacht hatte und traurig winselnd und mit schuldbewusster Miene da saß. Leider gehörte es zu den Waffen meiner Mutter, dass sie diesen Blick so gut drauf hatte, dass man ihr einfach nicht lange böse sein konnte. Wahrscheinlich hatte sie diesen Blick schon als Kind ziemlich gut beherrscht…

„Tut mir leid, Schatz. Das sollte jetzt nicht böse gemeint sein.“

„Schon gut“, seufzte ich und schüttelte den Kopf. „Aber tu mir einfach den Gefallen und sprich mich die nächste Zeit nicht auf dieses Thema an.“

Sie versprach es mir hoch und heilig und damit gab ich mich zufrieden. Gerade wollte ich zurück in mein Zimmer gehen und mein Lederarmband holen gehen, da klingelte das Telefon erneut. Dieses Mal aber beschloss ich ranzugehen, denn ich war sicher, dass es wieder dieser ominöse Jobfritze war. Also schnappte ich mir den Hörer und drückte die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen.

„Ja, hier Brightside.“

Ein kurzes Zögern war am anderen Ende zu hören, aber dann war endlich eine Stimme zu hören. Und es war eindeutig die eines Mannes, der knapp mein Alter haben musste, vielleicht auch ein kleines bisschen älter.

„Guten Tag, ist Fayette da?“

„Am Apparat“, antwortete ich und glaubte so etwas wie ein leises belustigtes Schnauben durchs Telefon zu hören, als würde sich da jemand amüsieren.

„Ah, das trifft sich gut“, hörte ich die Person am anderen Ende der Leitung sagen. „Es geht um das Treffen für die Jobbesprechung. Wäre es möglich, dass wir uns vielleicht schon um halb zwölf treffen? Mir ist ein Termin dazwischengekommen, den ich bedauerlicherweise nicht absagen kann.“

„Entschuldige mal, wer ist da überhaupt dran und um welchen Job handelt es sich denn bitteschön?“

Das Ganze wurde immer suspekter für mich und irgendwie hatte ich das vage Gefühl, da wollte mich irgend so ein Idiot verarschen. Und anstatt einfach Antwort zu geben, erklärte der Anrufer nur

„Das erkläre ich dir alles im Café, Fayette. Pass aber auf, dass du dich nicht noch verspätest.“

Und damit legte der Typ einfach auf und alles, was mir dazu noch einfiel war: was war dass denn für ein Arsch? Erst zwei Mal anrufen und dann nicht mal seinen Namen nennen. Für mich stand fest, dass ich diesem Blödmann ordentlich ein paar Takte sagen würde, wenn sich herausstellte, dass das Ganze nur ein Scherz war und mich irgendein Vollidiot verarschen wollte. Na der konnte sich auf was gefasst machen. Zwar durfte ich mir oft genug anhören, ich würde sogar zuschlagen wie ein Mädchen, aber dann konnte ich ihm ja auch ordentlich zwischen die Beine treten wie ein Mädchen. Mal sehen wie ihm das schmeckte und ob er sich dann immer noch traute, mich zu verarschen. Allein der Gedanke war wirklich befriedigend. Ich grinste in mich hinein und fühlte mich sogleich wieder besser. Also legte ich das Telefon wieder weg, ging in mein Zimmer zurück und legte mir das Lederarmband und meinen Gürtel an. Da es draußen sehr sommerlich war, hatte ich mich für eine etwas kürzere Hose entschieden und zog mir dann noch bequeme Sneakers an. Zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel und merkte erst zu spät, dass Emily durch die Zimmertür lugte und amüsiert grinste.

„Ein paar Ohrringe würden dir auch ganz gut stehen, Fay. Vielleicht noch eine Kette dazu.“

„Ja und am besten noch Make-up und falsche Brüste“, gab ich sarkastisch zurück. Es war doch jedes Mal das Gleiche mit meiner Schwester.

„Was denn? Ich hab letztens so ein Model im Fernsehen gesehen und der Typ sah verdammt schick aus mit dem Schmuck. Er hat sich sogar die Fingernägel lackiert und Make-up getragen.“ Ich seufzte und schloss die Schranktür.

„Mag ja sein, aber ich werde definitiv nicht meine Fingernägel lackieren, geschweige denn dass ich Make-up tragen werde. Ich bin doch keine Transe und schwul bin ich erst recht nicht.“

„Ach ich finde, du würdest einen tollen Schwulen abgeben.“

Für diesen Kommentar griff ich mein Shirt, welches ich für die warmen Sommernächte als Pyjamaoberteil verwendete und bewarf meine Schwester damit. Aber da sie als Volleyballspielerin sehr gute Reflexe hatte, konnte sie den Angriff mühelos abwehren. Doch den direkt darauf folgenden zweiten Angriff konnte sie nicht vorhersehen, als ich erfolgreich eine meiner alten Socken auf sie werfen konnte.

„Igitt, Fay! Musste das sein?“ rief sie und warf die Socke mit Ekel weg, als würde es sich um eine Spinne handeln.

„Selbst schuld“, gab ich schadenfroh zurück und hob mein Shirt wieder auf. „Langsam bin ich diese Kommentare auch leid. Hast du nicht auch mal ein anderes Thema, über das du reden kannst?“

Und nachdem sie kurz nachgedacht hatte, nickte sie und fragte mich sogleich „Du und Seth, ihr wollt doch heute Abend in diesen Club, oder? Kann ich da mitkommen?“

Irgendwie hatte ich schon geahnt, dass Emily mir diese Frage noch stellen würde. Und vielleicht hätte ich sie ja mitgenommen, wenn nicht genügend Argumente dagegen gesprochen hätten.

„Emily, du bist erst 16 Jahre alt und in den Club kommen nur Volljährige rein. Und außerdem würde Mum mir den Hals umdrehen, wenn ich dich trotzdem mitnehme.“

„Ach bitte, Fay!“ bettelte sie und setzte ihren Hundeblick auf, um mich umzustimmen. „Bitte, bitte! Komm, jetzt sei doch nicht so spießig. Nur dieses eine Mal!“
 

Zugegeben, ich hätte vielleicht ein Auge zugedrückt und sie mitgenommen, aber da Seth mitkommen würde, wäre das eh sinnlos gewesen. Denn Seth war schon immer sehr verantwortungsbewusst gewesen und hätte es nie im Leben zugelassen, dass Emily mitkommen würde. Und da würde er sich nicht mal vom Hundeblick meiner Schwester einlullen lassen. Ich seufzte und fuhr mir durchs Haar.

„Emily, du kannst doch mit deinen Freunden in die Disko gehen. Aber in Clubs kommen Minderjährige nicht rein und du weißt doch, dass Seth da nie und nimmer mitmachen würde.“

Und als das nichts half, sprang meine Schwester gleich zur nächsten Strategie über. Denn wenn das Betteln nicht half, dann versuchte man es natürlich mit Verhandeln.

„Jetzt sei nicht so gemein, Fay. Ach komm schon! Wenn du mich mitnimmst, dann mach ich auch die nächsten zwei Monate deinen Dienst im Haushalt.“ Und nach kurzem Überlegen fügte sie noch hinzu „Und du kriegst meinen Nachtisch!“

Zugegeben, es war ein wirklich mehr als verlockendes Angebot. Aber ich hatte keine Lust auf Streit mit meiner Mutter und sie konnte wirklich furchteinflößend sein, wenn sie wütend wurde. Außerdem würde mir auch Seth eine Standpauke halten und das konnte ich zusätzlich zu meinem Liebeskummer auch nicht wirklich gebrauchen. Es gab ja auch noch einen weiteren triftigen Grund, warum ich Emily nicht mitnehmen wollte: sie kannte nämlich kein Maß, was den Alkoholkonsum betraf. Es war leider schon ein Mal vorkommen, dass sie so hemmungslos getrunken hatte, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste. Und da machte ich mir eben auch große Sorgen. Ich wollte außerdem auch nicht den Babysitter spielen, weil das eben ein Abend mit Seth werden sollte und ich keine Lust hatte, die ganze Zeit auf sie aufzupassen.

„Tut mir leid, aber nein. Erstens will ich keinen Ärger und zweitens will ich auch endlich mal wieder mit Seth einen drauf machen.“ Natürlich reagierte Emily nicht gerade mit Begeisterung auf meine Entscheidung. Sie warf mir einen wütenden Blick zu, meinte nur „Du bist so ein Arsch!“ und verließ mein Zimmer, woraufhin sie die Tür laut zuknallte.

Nun, dass sie jetzt beleidigt war, konnte ich ihr auch nicht übel nehmen, aber mein Entschluss stand fest und ich würde ganz sicher nicht zulassen, dass mein Leben noch schwerer wurde, als es momentan eh schon war. Nachdem die Woche schon so schrecklich gewesen war, weil ich unter der Trennung von Katherine so gelitten hatte, da wollte ich mir nicht auch noch mein Wochenende vermiesen lassen. Also würde ich nicht zulassen, dass mir auch noch der Samstag und der Sonntag ruiniert wurden.
 

Schließlich, als ich meine Schuhe angezogen hatte, ging ich zu meiner Mutter in die Küche, die nun mit ihrem Kreuzworträtsel fast fertig war und nun mit ihren Sudokus begonnen hatte. Lediglich ein paar Stellen waren ausgelassen worden, von denen sie nicht wusste, was da bitteschön reinkam. Aber sie war auch nicht der Typ Mensch, der bei so etwas direkt im Internet suchte. Nein, sie würde die Stellen einfach frei lassen in der Hoffnung, dass es ihr vielleicht doch einfiel. Ich schaute kurz drüber und konnte sogar ein wenig helfen.

„Die japanische Blumensteckkunst heißt Ikebana und der Name des Präsidenten mit dem Spitznamen „Ike“ war Eisenhower.“

Sofort beendete sie ihr Sudoku und ergänzte nun die fehlenden Kästchen.

„Ach das ist ja super. Danke, Schatz. Sag mal, wo willst du denn hin?“

Ich seufzte angesichts der Tatsache, dass sie es in der kurzen Zeit wieder vergessen hatte. Naja, es war ja auch morgens und wenn meine Mutter ihre Kreuzworträtsel und Sudokus löste, hatte sie sowieso schon alles wieder vergessen. Sie war halt manchmal ein wenig zerstreut.

„Ein ehemaliger Klassenkamerad hat angerufen und will mir einen Job anbieten. Ich treffe mich mit ihm im Café Zodiac.“

„Ach das ist ja schön. Dann wünsch ich dir mal viel Spaß.“

Damit ließ ich meine Mutter weiter ihre Sudokus lösen und verabschiedete mich dann noch mal laut. Von Emily kam aber keinerlei Antwort, weil sie noch sauer auf mich war. Naja, dann ließ ich sie halt schmollen. Sie würde sich schon bald wieder beruhigen. Als ich zur Tür rausging und meine Sonnenbrille aufsetzte, strahlten mir auch schon die herrlich warmen Sonnenstrahlen entgegen. Der Himmel war strahlend blau und es war nicht eine Wolke am Himmel zu sehen. Dieses herrliche Wetter besserte meine Stimmung deutlich und aus Gründen, die ich mir nicht mal wirklich erklären konnte, war mir so, als würde ich von einer Euphorie und Glückseligkeit erfüllt werden, als würde dies der schönste Tag meines Lebens werden. Ich grinste übers ganze Gesicht, als ich mich auf den Weg machte und kam gleich am Haus unserer Nachbarn vorbei. Ich sah Charity Wyatt zusammen mit ihren beiden Söhnen Fate und Angel im Kinderwagen rauskommen und sie wurde von ihrem Mann begleitet. Die Familie war vor knapp einem Jahr hergezogen und hin und wieder griffen wir mal auf die Hilfe von Charitys Mann Jesse zurück, wenn wir mal jemanden brauchten, der uns technische Hilfe geben konnte. Denn ich war vollkommen unfähig in diesen Dingen. Ja, ich war eine einzige wandelnde Katastrophe und bekam es nicht einmal hin, meinen Computer alleine einzurichten. Für einen Mann eigentlich komplett peinlich, weil das ja normalerweise von uns erwartet wurde, dass wenigstens wir eine Ahnung von Technik hatten. Naja… ich hatte zumindest Ahnung davon, wie man einen PC so dermaßen durcheinander brachte, dass da eigentlich nur noch die Euthanasie angebracht war. Und das bekam ja auch nicht jeder hin. Nur war es nicht gerade etwas, womit man wirklich angeben konnte. Ich grüßte die Wyatts im Vorbeigehen, hielt einen kurzen Smalltalk mit Jesse und ging dann weiter in Richtung Innenstadt, die glücklicherweise nicht allzu weit entfernt war. Allerdings achtete ich schon darauf, mich etwas mehr zu beeilen. Ansonsten lief ich noch Gefahr, mich zu verspäten und das war etwas, was ich überhaupt nicht leiden konnte.
 

Aber letzten Endes erreichte ich das Café doch ein wenig zu früh und so setzte ich mich in eine gemütliche Ecke und bestellte mir gleich eine Cola. Ich war schon richtig gespannt, wer mich denn unbedingt treffen wollte und um welchen Job es ging.

Damn Old Enemies

Ich hätte wirklich lügen müssen, wenn ich behauptet hätte, dass ich nicht nervös gewesen wäre. Dabei war es nicht mal etwas Weltbewegendes wie ein Vorstellungsgespräch in einem namenhaften Unternehmen. Nein, ich würde einen alten Schulkameraden wiedersehen und der würde mich wegen eines Jobs bequatschen und mehr nicht. Aber ich war verdammt neugierig und wahrscheinlich trug dies einiges dazu bei, dass ich so unruhig war und immer wieder suchend aus dem Fenster starrte. Unzählige Gedanken kreisten durch meinen Kopf, aber seltsamerweise handelte keiner von diesen Gedanken von Katherine. Die Neugier über die Identität des geheimnisvollen Anrufers war einfach viel zu groß, als dass mir in diesem Moment mein Liebeskummer in den Sinn gekommen wäre. Ungeduldig schaute ich auf die Uhr und stellte fest, dass ich immer noch zehn Minuten zu früh war. Insgesamt wartete ich schon eine Viertelstunde, weil ich viel zu früh losgegangen war und ärgerte mich auch dementsprechend darüber, dass ich irgendwie kein Talent dafür hatte, was das Zeitmanagement betraf. Entweder war ich immer zu früh oder zu spät.

Naja was soll’s, dachte ich und bestellte mir gleich noch einen Milchshake, da ich jetzt Lust auf etwas Süßes hatte. Es ist zumindest eine gute Ablenkung. Nur eines beschäftigte mich: wer kam denn bitteschön als der geheimnisvolle Anrufer infrage? Ich dachte angestrengt nach, wem diese Stimme gehören könnte, aber ich konnte sie einfach nicht zuordnen. Immerhin war ich ja auch schon knapp sechs Jahre aus der High School raus und da war es schwer, sich noch an alle Gesichter mit Namen zu erinnern und vor allem, wie ihre Stimmen geklungen hatten. Eine Theorie war, dass es vielleicht Tommy Myers sein konnte. Dessen Vater hatte einen kleinen Laden und womöglich brauchte er eine Aushilfe. Ich hatte mir damals etwas Taschengeld dazuverdient, indem ich im Buchladen ausgeholfen hatte.

Eine andere Alternative könnte Harvey C. Dahmer sein, der momentan sein Psychologiestudium absolvierte und meinen Informationen nach mit dem Dramaturgen Chris Dullahan verlobt war. Er spielte auch im Theater und vielleicht suchten sie ja irgendjemanden, der womöglich beim Design des Bühnenbilds helfen konnte. Immerhin studierte ich ja nicht völlig umsonst Kunst. Ja, das waren so die Kandidaten, die mir gerade am ehesten einfallen würden und ich war mir auch ziemlich sicher, dass es einer der beiden sein würde. Also begann ich gezielt nach den beiden Ausschau zu halten und fragte mich, was die sechs Jahre wohl äußerlich mit ihnen gemacht hatten. Ich für meinen Teil kam mir jedenfalls so vor, als wäre ich seitdem nicht gealtert. Seth hingegen schien deutlich gealtert zu sein und das im positiven Sinne. Rein äußerlich hatte er das perfekte Alter erreicht, in dem man nicht zu jung, aber auch nicht zu alt war. Man hatte genau das Mittelmaß, wo man für die meisten am attraktivsten aussah. Und Seth war sehr attraktiv. Zumindest würde ich das so aus der Sicht einer Frau sehen. Ich hätte es aber nie laut ausgesprochen, da es ja sonst sehr merkwürdig geklungen hätte. Für Mum und Emily wäre es jedenfalls ein gefundenes Fressen gewesen.

Ob schon welche aus meiner alten Klasse geheiratet hatten? Inzwischen hatten wir das gewisse Alter erreicht, wo man nicht mehr zu jung für so etwas war. Auch nicht für die Familienplanung. Und mich interessierte es ja schon, ob noch die Paare von der High School zusammen waren. Sofort fielen mir Angie und Zack ein, die wirklich zu den leidenschaftlichsten Pärchen gezählt hatten. In jeder Pause hatte Angie auf seinem Schoß gesessen und ihm ihre Zunge in den Hals gesteckt, während er seine Hand nicht von ihrem Hintern nehmen konnte und wenn man den beiden zugeschaut hätte, dann hätte man echt geglaubt, man wäre in einem Softporno gewesen. Sie knutschten und fummelten mitten auf dem Gang und es war auch kein Geheimnis gewesen, dass sie sogar zum Quickie auf die Schultoilette verschwanden. Und das hatte ihnen so einen gewissen Ruf eingebracht. Nämlich dass sie beide wohl sehr viel Notstand gehabt haben mussten. Teilweise ging es sogar so weit mit ihnen, dass der Principal sie beide zeitweilig vom Unterricht suspendiert oder ihnen Nachsitzen aufgebrummt hatte. Nun gut, wir waren Teenager gewesen und in dem Alter spielten die Hormone eben halt verrückt. Ich selbst hatte mit 16 Jahren auch mein erstes Mal mit Gina Enstin gehabt und durfte mir kurz danach eine Riesenstandpauke von meiner Mutter anhören, weil ich ihrer Meinung nach zu jung dafür war und in der Hitze des Moments nicht mal an Verhütung gedacht hatte. Sogar Seth meinte, dass ich echt Glück gehabt hatte, dass Gina nicht schwanger geworden war. So etwas konnte ja schneller passieren, als einem lieb war. Andy und Juliet hatten leider weniger Glück. Sie war mit 15 Jahren von ihm schwanger geworden und hatte gucken müssen, wie sie klar kam. Andy hatte sie, nachdem der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war, eiskalt sitzen lassen. Okay, ein wenig konnte ich ihn verstehen. Mit 15 Jahren war man noch definitiv zu jung für so viel Verantwortung. Aber wenn es ums eigene Kind ging, musste man ja Verantwortung übernehmen. Alles auf die werdende Mutter zu schieben, war ja auch nicht wirklich anständig. Was wohl aus den beiden inzwischen geworden war?

In dem Moment verlor ich mich völlig in den Erinnerungen von früher und meinen Schulzeiten. Auf die Weise ließ sich die Wartezeit ja auch ganz gut überbrücken. Und dabei merkte ich erst einen Moment später, dass jemand meinen Namen rief und gegenüber von mir Platz nahm.

„Oh Hallo, ich…“

Die nächsten Worte schluckte ich hinunter, als ich erkannte, wer das war. Zugegeben, ich musste mich ein klein wenig anstrengen, da die Brille nicht mehr da war… Aber diese blonden Haare, die aus dem Gesicht gekämmt waren und mit einigen schlichten Haarklammern gehalten wurden, diese eisblaue listige Augenpaar, das mich anfunkelte und dieses hochmütige Lächeln… Das hätte ich unter tausenden wiedererkannt.

Innerlich verkrampfte sich wirklich alles in mir und ich war für einen Moment wie erstarrt, als ich in das Gesicht von Rion McAlister blickte.
 

„Wie ich sehe, bist du sogar mal sehr pünktlich, Fayette“, bemerkte er und ich erkannte diese Stimme sofort als die aus dem Telefonat wieder. Doch so wirklich glauben konnte ich es nicht. Warum nur ausgerechnet Rion McAlister? Warum ausgerechnet jener Kerl, der mich in der Middle School und in der High School so schikaniert hatte? In diesem Moment, als ich seine Stimme hörte und dieses herablassende Grinsen bei ihm sah, kam alles wieder hoch. Die Wut darüber, dass er mich beim Sport aus der Jungenumkleide rausgeschmissen, mir ständig ein Bein gestellt oder mir sogar mal vor allen Anwesenden im Sportunterricht die Hose heruntergezogen hatte. Wie er mich ausgelacht hatte, als Ryan und seine Freunde mich gezwungen hatten, ein Kleid anzuziehen.

Rion McAlister war der Schlimmste von allen gewesen und allein seine Visage zu sehen, trieb mich zur Weißglut, bevor ich überhaupt auch nur mit ihm gesprochen hatte. Ich wollte diesen Mistkerl nie wieder sehen und nun besaß er die unfassbare Dreistigkeit, mich anzurufen und hierher zu bestellen.

„Was willst denn hier?“ fragte ich wütend und ging sofort in den Kampfmodus über, denn Rion war jede Art von Gemeinheit zuzutrauen. Das wusste ich aus Erfahrung. Doch Rion blieb ganz entspannt und bestellte sich bei der Kellnerin einen Espresso. Rion McAlister stammte aus einer ziemlich wohlhabenden Familie und hatte mal einen Bruder, bevor dieser starb, als Rion elf Jahre alt war. Inzwischen war er ein sehr erfolgreicher Fotograf und war mal eine Zeit lang für eine Modelagentur tätig gewesen, bevor er selbst gekündigt hatte. Er verdiente nicht schlecht und hatte sich einen Namen gemacht, was mir dann doch die Frage aufkommen ließ, ob es überhaupt Gerechtigkeit gab, wenn dein alter Schulpeiniger so erfolgreich im Job war. Karma? Am Arsch…

„Freut mich auch, dich zu sehen“, gab Rion unbeeindruckt zurück und sein Lächeln blieb. Und das machte mich noch wütender und am liebsten hätte ich ihm das Glas an den Kopf geworfen, um mich für all die Dinge zu rächen, die er mir während meiner Schulzeit angetan hatte. Doch ich beherrschte mich, auch wenn es mich sehr viel Kraft kostete.

„Was willst du?“ fragte ich ihn und wollte dieses Gespräch am liebsten so schnell wie möglich hinter mich bringen. Je schneller ich diesen Blödmann los war, desto besser. Rion gab etwas Zucker in seinen Espresso und meinte „Ich dachte mir, dass du vielleicht nicht kommen würdest, wenn ich dir meinen Namen am Telefon verrate.“

„Frag dich mal warum“, gab ich wütend zurück und mein ganzer Körper spannte sich an. Ich hatte so einen Hass auf diesen Kerl, dass ich keine Lust hatte, länger als nötig hier zu bleiben. Und inzwischen konnte ich mir sogar vorstellen, dass dieses vermeintliche Jobangebot nur dazu diente, damit er sich wieder über mich lustig machen konnte. Zuzutrauen war ihm ja alles.

„Du hast mir an der Schule das Leben zur Hölle gemacht und mir im Sport sogar die Hose runtergezogen.“ Doch selbst das schien diesen aalglatten Möchtegernschnösel nicht im Geringsten zu interessieren. Stattdessen wirkte er sogar ein wenig gelangweilt.

„Das sind doch alles alte Kamellen und das war vor über sechs Jahren. Lass es doch einfach gut sein und lass uns wie Erwachsene reden.“

„Du hast doch überhaupt keine Ahnung“, gab ich zurück und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Und von erwachsen brauchst du mir nicht reden. Diese ganzen Mobbingaktionen damals von deiner Seite aus waren doch alles andere als erwachsen und nur weil du jetzt mit einer Kamera herumfuchtelst, bist du noch lange nichts Besseres, klar?“

Ich musste mich wirklich beruhigen, ansonsten hätte es noch Tote gegeben. Ich trank deshalb meinen Milchshake weiter und funkelte ihn böse an. Oh wie gerne hätte ich ihn windelweich geprügelt, aber leider war der Kerl nicht nur gut und gerne 15cm größer als ich, nein er mir auch sonst körperlich überlegen. Viel eher würde ich also im Krankenhaus landen, wenn ich eine Prügelei provozierte. Naja… vielleicht bekam ich ja ein Bonus, weil er Kerl keine Mädchen schlug. Das Aussehen dafür hatte ich ja zumindest.
 

„Also komm zum Punkt. Was willst du von mir?“

Rion blieb immer noch die Ruhe selbst und lockerte ein wenig seine dunkelblaue Krawatte. Er hatte sich ein Hemd und eine schwarze Weste angezogen, wobei er die Ärmel seines Hemdes etwas hochgekrempelt hatte. Auf diese Weise sah er gleichzeitig seriös als auch lässig aus. Und ich konnte leider auch nicht leugnen, dass er gut aussah. Mit Sicherheit war er auch sehr beliebt bei den Frauen. Bei der Ausstrahlung würde es mich nicht wundern. Frauen standen ja total auf gut aussehende, erfolgreiche und charismatische Typen. Rion hatte rein äußerlich wirklich alles. Er war groß, etwas gebräunt, gut aussehend und sicherlich auch sehr sportlich. Aber vom Charakter her war er ein totales Ekel und ich würde mich ganz sicher nicht von seinem falschen Charme einlullen lassen. In der Hinsicht war der Typ wie eine Schlange.

„Ich will dich für ein Fotoshooting engagieren.“

Mit deutlicher Verwunderung runzelte ich die Stirn und war erst mal völlig perplex, denn mit so etwas hätte ich jetzt nicht gerechnet. Aber andererseits… der Typ war Fotograf. Was für einen Job hätte er mir sonst denn schon angeboten? Viel eher stellte sich mir eine völlig andere Frage.

„Warum ausgerechnet ich?“

Ich betrachtete diese eisblauen Augen, die gleichzeitig so leuchteten und doch so kalt wie Gletscher erschienen. Und beim näheren Hinsehen fiel mir auch sofort auf, dass Rion Kontaktlinsen trug. Wahrscheinlich wäre eine Brille für ihn als Fotograf nur hinderlich gewesen. So ganz ohne Brille erschien er mir irgendwie fremd und wie ein völlig neuer Mensch, aber ich blieb dabei, dass er trotzdem ein Arsch war.

„Ich suche gezielt einen androgynen jungen Mann, der nicht älter als 27 Jahre alt ist und da bin ich auf dich gekommen.“

„Nein danke, kein Interesse“, sagte ich direkt, um deutlich Stellung zu beziehen. Ich hatte auch überhaupt keine Lust, mit genau jenem Kerl zusammenzuarbeiten oder besser gesagt für ihn zu arbeiten, der zu den schlimmsten meiner Peiniger gehört hatte. „Such dir doch irgendein Model, was deine Erwartungen erfüllt. Ein professionelles eben.“

Doch da kam ein Kopfschütteln von Rion und er erklärte mir „Ich brauche ein neues Gesicht. Jemand, der das gewisse Etwas hat und du erfüllst meine Anforderungen. Und ich würde dich für den Job auch angemessen entlohnen. Wenn du deine Sache gut machst, können 500$ für dich dabei rauskommen.“

Mein Atem stockte, als ich hörte, wie viel Geld mir Rion da gerade anbot. Und fast wäre ich auch schwach geworden, doch ich ahnte sogleich, dass ein Haken bei der Sache war.

„Willst du etwa Nacktfotos von mir machen?“

„Es könnte eventuell dazu kommen“, antwortete er und im ersten Moment bewunderte ich auch seine Ehrlichkeit. Doch bei dem Gedanken, jemand könnte Fotos von mir sehen, auf denen ich nackt war, da hörte bei mir endgültig der Spaß auf.

„Das kannst du dir abschminken“, rief ich sauer und begann abwehrende Gesten mit den Händen zu machen. „Ich zieh mich doch nicht nackt aus und lass mich ablichten. Machst du jetzt Erotikkalender oder was?“

„Nein, in dem Falle würde ich ganz sicher nicht dich fragen“, erwiderte er und ich merkte so langsam, dass auch er ein wenig ungehalten wurde. Insbesondere aber wurde mir so langsam klar, dass er ein einfaches Nein wahrscheinlich nicht akzeptieren würde. Schon damals in der Schule hatte er es verstanden, sich immer durchzusetzen und zu bekommen was er wollte. Aber bei mir würde er sich eindeutig die Zähne ausbeißen. „Ich beschränke mich auf authentische Kunstfotografie. Angefangen von Hochzeitsfotos, Landschaftsfotos und anderweitigen Darstellungen. Und ebenso fotografiere ich auch eben Menschen als Teil einer Kunstform. Es ist nun mal so, dass androgyne Menschen wie du ein immer beliebteres Kunstmotiv werden. Auch als Models, weil sie sehr wandlungfähig sind. Deine Fotos werden selbstverständlich vertraulich behandelt, wir können auch gerne einen Vertrag aufsetzen.“

Er redete wie ein professioneller Verkäufer oder Vertreter, aber ich würde garantiert nicht darauf reinfallen. Nie und nimmer würde ich für den Kerl arbeiten, das konnte der sich getrost abschminken.

„Was an dem Wort Nein hast du nicht verstanden, Rion? Ich will diesen Job nicht.“

„Weil du dich nicht ausziehen willst?“

Meine Wangen begannen ein wenig zu glühen und allein bei dem Gedanken, ich müsste mich ausziehen und fotografieren lassen, wurde ich ganz verlegen. Dann aber sammelte ich mich wieder und erklärte „Nein. Es liegt einfach daran, weil ich mit dir nicht zusammenarbeiten will, klar? Du hast dich damals ständig über mich lustig gemacht und mich gehänselt, weil ich so mädchenhaft aussehe. Da kannst du doch nicht allen Ernstes verlangen, dass ich diesen Job annehme.“

Doch Rion hatte immer noch diese völlige Gleichgültigkeit im Gesicht, als würde es ihn überhaupt nicht interessieren, was ich ihm sagte. Und so langsam fragte ich mich auch ernsthaft, warum ich nicht einfach das Gespräch an dieser Stelle abbrach, meine Getränke bezahlte und dann ging und diesen Lackaffen einfach zurückließ. Rion trank seinen Espresso aus und warf mir einen hochmütigen Blick zu.

„Du solltest mal ernsthaft lernen, private und berufliche Dinge voneinander zu trennen, Fayette. Oder hast du etwa wieder deine Tage?“

Da war es wieder. Genau jene Art von Bemerkungen, die ich mir damals in der Schule anhören durfte. Und hier wurde mir auch klar, dass sich Rion kein Stück geändert hatte und immer noch derselbe Mistkerl wie damals war.

„Ich sehe einfach nicht ein, warum ich mit dir zusammenarbeiten sollte. Dein Geld kannst du dir sparen“, rief ich und kümmerte mich in diesem Moment gar nicht um die anderen Gäste des Cafés, von denen nun einige zu uns herüberblickten. Rion hingegen schien eher amüsiert darüber zu sein, dass ich mich aufregte.

„Ach ja?“ fragte er mich listig. „Verdient man als Kunststudent denn so viel?“

Natürlich nicht und wäre der Collegefond meiner Eltern nicht, dann hätte ich nebenbei jobben müssen. Viel Geld bekam ich nicht, aber es reichte. 500$ konnte ich tatsächlich gut gebrauchen, aber ich wollte sie nicht von ihm. Ich hatte immerhin meinen Stolz und den wollte ich mir auch nicht nehmen lassen. Besonders nicht von Rion.

„Meine Finanzen lass mal schön meine Sorge sein. Ich mach diesen Fotojob nicht, den kannst du dir in die Haare schmieren. Ich glaub, du hast sie nicht mehr alle. Seit der Middle School hast du mich nur schikaniert und dich über mich lustig gemacht. Ich sehe keinen Grund, warum ich diesen Job annehmen sollte. Ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest, klar? Also lass mich in Ruhe und ruf mich nie wieder an.“

Damit erhob ich mich und wollte zu der Kellnerin gehen, um meine Getränke zu bezahlen, doch da erhob sich Rion und hielt mich am Handgelenk fest. Für einen Moment war ich wie erstarrt. Plötzlich fühlte ich mich wieder in die Schule zurückversetzt und wie Rion mir mal wieder auflauerte und mit der nächsten Schikane ankam. Ich verfiel wie in eine Schockstarre, in der ich nichts tun oder sagen konnte, sondern einfach wie festgefroren war. Leider zählte auch das zu meinen Schwächen, dass ich bei so einer Konfrontation plötzlich die komplette Kontrolle verlor und nicht mal mehr weglaufen konnte. Ich sah in seine eisblauen Augen und rechnete mit allem. Dass er mich bedrohte oder mich auf irgendeine andere Art und Weise bedrängen wollte. Immerhin kannte ich ja von der Schule her nichts anderes. Und selten war ich so glücklich gewesen, als ich auf die Uni kam und Rion nicht mehr sehen musste. Doch meine Reaktion schien ihn sogar noch zu amüsieren. Er lächelte überlegen und schien mich regelrecht mit seinem Blick zu durchbohren, als versuche er in meine Seele hineinzuschauen. „Du hast dich wirklich nicht verändert, Fayette. Immer noch ein ängstliches kleines Mädchen. Irgendwie bist du ja doch ganz niedlich.“

Ich spürte eine Hand an meinem Kinn und so zwang mich Rion, ihm direkt in die Augen zu sehen. In diesem Moment wusste ich wirklich nicht, was er nun vorhatte. So tief, wie er mich anblickte, kam ich mir irgendwie so hilflos vor. Mein Herz schlug schneller und ich wollte nur noch weglaufen. Am besten so weit weg wie möglich und ich wollte diesen Mistkerl nie wieder sehen. Als hätte ich nicht schon genug Pech die letzte Zeit gehabt.

Dann aber ließ er mich wieder los und schob mir eine Visitenkarte in die Hosentasche.

„Falls du es dir anders überlegen solltest, ruf mich an. Meine Privatnummer steht auch drauf. Ich zahl schon die Getränke.“
 

Damit ging er zu der Kellnerin hin, zahlte die Rechnung und verabschiedete sich. Ich selbst blieb vollkommen regungslos stehen und in diesem Moment hatte ich so ein Chaos in meinem Kopf, dass ich nicht mehr wusste, was ich fühlen, denken oder tun sollte. Ich war so durcheinander, dass ich noch eine ganze Weile wie vom Donner gerührt da stand. Als ich das Café verließ und auf die Straße hinaustrat, da sah ich nur flüchtig Rion in einem schwarzen Chevrolet vorbeifahren. Der Wagen sah neuwertig und teuer aus. Offenbar schien er nicht schlecht zu verdienen. Aber irgendwie begriff ich immer noch nicht so wirklich, was diese Aktion da gerade von ihm sollte. Ich konnte mich irren, aber als er mich festgehalten und mich angesehen hatte, da war er auf einmal nicht mehr dieser arrogante Blödmann gewesen, der mich ständig in der Schule schikaniert hatte. Ich konnte es mir auch nicht erklären und nachdem ich eine Weile lang durch die Stadt gelaufen war, um meine Gedanken wieder zu sortieren, kam ich auf die einzig logische Schlussfolgerung: es war wieder mal nur eine Strategie gewesen, mit der er mich verunsichern wollte, nur um sich wieder mal über mich lustig zu machen. Oh Mann, warum nur musste so etwas immer mir passieren? Ich hatte wirklich gehofft gehabt, wenigstens am Wochenende würde etwas Ruhe einkehren. Aber so wie es aussah, verfolgte mich selbst hier das Pech. Erst die Trennung von Katherine, dann der Spott an der Uni und nun auch noch dieses mehr als unangenehme Treffen mit Rion, meinem alten Peiniger aus der Schule. In diesem Moment war mir so, als würde mir wirklich alles über den Kopf zusammenstürzen. Meine ganze Kraft und Energie war dahin und ich schaffte es auch nicht mehr, mich noch weiter zusammenzureißen. Tränen sammelten sich in meinen Augen und so setzte ich mich an einer Bushaltestelle hin und gab es auf, noch weiterhin gegen diesen Drang zum Weinen anzukämpfen. Es hatte ja eh keinen Sinn. Vielleicht war es auch genau das, was ich einfach mal brauchte, immerhin hatte ich selbst nach der Trennung von Katherine kaum geweint, sondern immer versucht, mich zusammenzureißen. Echte Männer heulten eben nicht und was nun? Ich weinte wie ein kleines Mädchen. Aber im Moment kümmerte mich dies auch nicht so wirklich, denn ich fühlte mich völlig beschissen und einfach mal zu weinen, fühlte sich auch ein Stück weit befreiend an. Zumindest ging es mir danach ein klein wenig besser.

Nachdem ich genug geheult hatte, wischte ich mir die Tränen weg, atmete ein paar Male tief durch und ging zurück nach Hause. Der Marsch bis dahin tat mir auch ganz gut, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und insgeheim schämte ich mich auch dafür, dass ich geheult hatte. Zum Glück hatte es niemand mitbekommen, den ich kannte. Das wäre das Allerletzte, was ich gebrauchen konnte. Außerdem war das Wetter schön, da sollte man sich auch nicht die Stimmung verhageln lassen. Und ich konnte ja auch ein Stück weit stolz auf mich selbst sein. Immerhin hatte ich diesem Blödmann Rion die Meinung gegeigt und nun konnte der gerne sehen, wo er ein anderes Model für sein bescheuertes Fotoshooting herbekam. Ich jedenfalls hatte nicht die Absicht, mich von ihm um den Finger wickeln zu lassen. Da musste der sich schon etwas einfallen lassen.

Als ich zuhause war, fand ich Mum und Emily im Wohnzimmer. Beide waren in einer lautstarken Diskussion und ich ahnte schon, worum es ging. So wie ich meine Schwester kannte, hatte die nicht lange geschmollt und war daraufhin meiner Mutter auf die Nerven gegangen, was den Clubbesuch betraf. Und so wie ich heraushören konnte, ließ sich Mum nicht umstimmen und blieb bei ihrem Verbot. Um die Diskussionen der beiden nicht länger zu stören, ging ich in mein Zimmer und setzte mich an den Computer. Um mich ein wenig abzulenken, wollte ich ein wenig mit Eren chatten. Hin und wieder tauschten wir uns über irgendwelche Dinge aus und auch wenn wir uns noch nie wirklich getroffen hatten, war da eine gewisse Freundschaft zwischen uns beiden. Und tatsächlich hatte ich Glück. Ich traf Eren im Chatroom an und schrieb ihn sogleich an. Es dauerte nicht lange, bis er mir antwortete. Ich berichtete ihm von meinem Treffen mit Rion und was daraufhin passiert war. Und zu meiner Erleichterung war auch Eren der Meinung, dass Rion sich gefälligst zum Teufel scheren und sich einen anderen Depp für den Modeljob suchen sollte.

„Ich kenne diese Probleme mit dem Mobbing selbst aus meiner Schule. Ich sag dir nur: lass dir das nicht gefallen und wenn er noch mal kommt, hau ihm eine rein oder tritt ihm in die Eier. Vielleicht kapiert er es dann.“

Ja, den Gedanken hatte ich auch schon gehabt, aber ich war nicht wirklich der Typ Mensch, der direkt mit Gewalt antwortete. Ganz einfach aus dem Grund, weil ich sowieso nicht gewinnen konnte.

Ich schrieb noch eine ganze Weile mit Eren, bis Mum zum Essen rief. Also verabschiedete ich mich, schaltete den Computer aus und kam in die Küche. Allein vom Geruch her wusste ich sofort, dass Mum Steaks gemacht hatte und dazu gab es noch Thymiankartoffeln. Auch Emily kam dazu und wir setzten uns. Sogleich fragte meine Mutter mich neugierig „Und? Wie ist das Treffen denn gelaufen?“ Ich seufzte leise, während ich damit begann, mein Steak klein zu schneiden.

„Ein absoluter Reinfall. Erinnerst du dich noch an Rion?“

„Der Rion, der dich immer geärgert hat?“ fragte sie und setzte sich nun ebenfalls dazu. Ich nickte und schob mir den ersten Bissen in den Mund.

„Genau“, bestätigte ich. „Rion McAlister, dieser arrogante Arsch, der mich ständig schikaniert hat.“

Als meine Schwester den Namen hörte, war ihre schlechte Laune schlagartig aus ihrem Gesicht verschwunden und ihre Augen wurden groß. Ich wusste natürlich, dass der Name Rion McAlister ihr ein Begriff war. Immerhin war er berühmter Modelfotograf, zumindest bis vor einer Weile noch. Und da sie selber eines Tages Model werden wollte, war sie natürlich hellauf begeistert, weil ich einen Promi kannte. Naja… was man eben halt unter Promi verstehen konnte.

„Du kennst allen Ernstes Rion McAlister?“ platzte es aus ihr heraus und Mum musste sie ermahnen, ruhiger am Tisch zu sein. Doch die Begeisterung meiner Schwester war natürlich riesig.

„Ja“, murmelte ich und wollte eigentlich gar nicht weiter darüber sprechen, aber ich wusste, dass sie trotzdem nicht locker lassen würde. „Er war in meiner Klasse und kam damals mehr oder weniger mitten im Schuljahr zu uns. Er hat mich geschubst, mir im Sportunterricht die Hosen runtergezogen, mich beschimpft und sich über mich lustig gemacht. Der Kerl ist ein absolutes Arschloch und jetzt hatte er auch noch die Dreistigkeit besessen, mich zu fragen, ob ich mich von ihm ablichten lasse.“
 

Emilys Kinnlade klappte runter und Fassungslosigkeit, Staunen und Neid waren in ihrem Blick zu sehen.

„Er… er hat dir echt einen Job angeboten? Oh Mann Fay, das ist doch klasse. Wenn du dann bei ihm bist, kannst du ihn vielleicht fragen, ob er mir vielleicht helfen kann, wie man ein berühmtes Model wird?“

Doch sofort kassierte sie einen strafenden Blick von der Seite von meiner Mutter.

„Emily, das Thema hatten wir schon längst und ich erlaube es dir nicht.“

Und dann wandte sie sich mir zu, wobei sie mahnend mit dem Zeigefinger auf mich deutete. „Und du unterstehst dich, das zu machen!“

Was das anbetraf, konnte ich sie ja zum Glück beruhigen.

„Schon gut. Ich werde den Job sowieso nicht annehmen und hab diesen Blödmann auch gleich zum Teufel geschickt.“

„Wieso das denn?“ rief Emily und klang nun mehr wütend, als bloß neidisch. Vermutlich konnte sie einfach nicht glauben, dass jemand tatsächlich einen Job bei einem Prominenten einfach ablehnen würde. Vor allem, wenn es dabei noch um etwas ging, wovon sie selbst gerade träumte. Aber ich wollte ihr auch mal meine Sicht der Dinge klar machen und da war es mir auch völlig egal, ob sie dafür Verständnis hatte oder nicht.

„Emily, der Kerl ist ein arroganter Sack und er hat mir das Leben an der Schule zur Hölle gemacht. Selbst jetzt nach sechs Jahren hält er es nicht für nötig, sich bei mir wenigstens mal zu entschuldigen. Ich hasse den Typen und es ist mir scheißegal, ob er Fotograf oder Präsident der Vereinigten Staaten ist. Ich will nichts mit ihm zu tun haben und da ist mir auch das Geld egal.“

Verständnislos schüttelte Emily den Kopf und aß nun ebenfalls ihr Mittagessen, wobei meine Mutter noch dazu sagte „Dein Bruder hat Recht und es ist allein seine Entscheidung.“

Na wenigstens war Mum mit mir einer Meinung. Trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl, als sei Emily jetzt noch schlechter auf mich zu sprechen als ohnehin schon. Na zum Glück war sie gleich mit ihren Freundinnen unterwegs und ich war heute Abend mit Seth im Club. Meine Schwester würde sich schon wieder beruhigen.

Club Moonflower

Seth kam um knapp 17 Uhr vorbei und hatte sich ein schwarzes Hemd angezogen, dazu eine ebenso schwarze Jeans. Er sah wirklich verdammt gut aus und es hätte mich nicht gewundert, wenn die Frauen bei seinem Anblick schwach geworden wären. Ich hatte mich für ein türkises T-Shirt mit Aufdruck entschieden. Türkis war ohnehin schon immer meine Lieblingsfarbe gewesen. Nicht zuletzt, weil dies auch die Farbe meiner Augen war. Ich konnte es kaum erwarten, endlich mal wieder mit meinem besten Freund in einen Club zu gehen und ordentlich zu feiern. Meine Laune war jedenfalls auf dem absoluten Höhepunkt und ich war mir sicher, dass der Abend unvergesslich werden würde. Nicht zuletzt, weil ich nach langer Zeit mit meinem besten Freund einen draufmachen ging. Der Club Moonflower war sehr zentral gelegen und hatte erst vor zwei Jahren eröffnet. Wir waren schon bei der Eröffnungsfeier dabei gewesen und hier hatte mein bester Freund auch seine jetzige große Liebe kennen gelernt. Raphael hatte ich persönlich bis jetzt noch nicht kennen gelernt, weil ich nur ein Mal im Moonflower war und an dem Abend ein anderer Barkeeper gearbeitet hatte. Aber so wie Seth von Raphael schwärmte, schien dieser ein absoluter Traummann zu sein. Wenn er an diesem Abend im Club arbeitete, dann hatte ich ja wenigstens die Chance, ihn mal kennen zu lernen.

„Und?“ fragte ich Seth, während wir mit dem Bus in Richtung Innenstadt fuhren, um so zum Club zu kommen. Denn wir beide waren vernünftig genug, um später lieber mit dem Taxi nach Hause zu fahren, als betrunken mit dem Auto durch die Gegend zu fahren. „Wie war denn der Tag im Laden? War viel los?“

Mir entging nicht, dass Seth übers ganze Gesicht strahlte und das lag mit großer Sicherheit daran, dass er mir gleich seinen Liebsten vorstellen wollte und er ohnehin über beide Ohren verliebt war. Natürlich freute ich mich für ihn, aber im Grunde war es doch eine blanke Ironie. Seth war glücklich in einer Beziehung, nachdem er so viele One-Night-Stands und kurze Affären hatte und ich? Ich hatte gerade erst eine Beziehung beendet und hatte Liebeskummer und obendrein noch eine gewaltige Wut im Bauch wegen meinem Wiedersehen mit Rion, auf welches ich nur allzu gerne verzichtet hätte.

„Ach es war gut besucht“, antwortete er zufrieden. „Wir haben zwei Großaufträge reinbekommen und sollen den Blumenschmuck für eine Hochzeit ausrichten. Für den zweiten sollen wir den Blumenschmuck für eine Beisetzung vorbereiten.“

„Na hoffentlich nicht für ein und dasselbe Paar“, scherzte ich und auch Seth musste lachen. Einen Großauftrag für eine Hochzeit und dann noch einen für eine Beerdigung zu bekommen, war doch auf eine etwas makabere Art und Weise ironisch. Schließlich aber erkundigte sich Seth bei mir nach dem Rechten und wie mein Tag so verlaufen wäre. Mit einem erschöpften Seufzer erzählte ich ihm von der Sache mit Rion und auch Seth war recht erstaunt, als er das hörte und schüttelte sprachlos den Kopf. Er kannte Rion nicht direkt, da er eine Jahrgangsstufe höher gewesen war als ich. Aber er wusste schon, was das für ein Kerl war und etwas verständnislos meinte er dazu „Also entweder ist er sehr dreist, oder aber es ist seine Art, sich für das Mobbing zu entschuldigen.“

An der zweiten Wahl hatte ich meine ernsten Zweifel. In dem Fall hätte sich Rion doch direkt entschuldigen können, aber stattdessen hat er genau da weitergemacht, wo er vor sechs Jahren aufgehört hatte.

„Er ist einfach nur dreist, arrogant und selbstverliebt, außerdem ist er ein Sadist. Aber ich hab ihm gesagt, was Sache ist und damit hat es sich erledigt.“ Verständnisvoll nickte Seth, wirkte aber doch ein wenig besorgt und ich wusste schon warum. Vorsichtig legte er eine Hand auf meine Schulter und sah mich mit seinen tiefbraunen Augen an.

„Wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du jederzeit zu mir kommen. Sollte dir dieser Rion Probleme machen, dann rede ich mal mit ihm.“ Es war auch wirklich erleichternd zu hören, dass ich nicht ganz alleine da stand und klar kommen musste. Denn auch wenn ich mich durchaus in der Lage sah, auch meine Meinung zu sagen, manchmal hatte ich doch so meine Schwierigkeiten mit anderen, die größer und stärker waren als ich. Und dass ich mich an Seth wenden konnte, der um einiges größer und stärker war, gab mir auch ein Stück weit Sicherheit.

„Danke, Seth. Wenn ich dich nicht hätte…“ Ich gab ihm einen freundschaftlichen Stoß in die Seite, woraufhin er schmunzeln musste. Wir beide waren wirklich wie Brüder und verstanden auch die Scherze des anderen. So auch, als Seth mir durch die Haare wuschelte und meinte „Jetzt übertreib nicht gleich, sonst fall ich gleich noch über dich her.“

Natürlich wusste ich, dass er das nicht ernst meinte und ich vertraute ihm auch. Nach seinem Coming-Out hatten wir ein langes und offenes Gespräch geführt, um alle Karten offen auf den Tisch zu legen und eventuelle Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Und dabei hatte mir Seth auch versichert, dass er keinerlei Gefühle für mich hegte, sondern lediglich einen fast schon brüderlichen Freund in mir sah. Für mich war das natürlich eine große Erleichterung gewesen, denn ich hätte seine Gefühle einfach nicht erwidern können und außerdem wollte ich ihn nicht als Freund verlieren. Da das geklärt gewesen war, ließ ich mir auch solche Späße von ihm gefallen. Immerhin ärgerte ich ihn auch manchmal ganz gerne mit seiner Homosexualität. Uns beide verband nämlich auch die Eigenschaft, dass wir auch über uns selbst lachen und unsere Makel immer noch mit einer Selbstironie betrachten konnten. Darum war mein Konter darauf auch „Und ich dachte, du stehst nur auf echte Kerle.“
 

Die Stimmung war gelockert und wir hatten gute Laune. Den Ärger mit Rion hatte ich längst vergessen und als wir schließlich an der Bushaltestelle ausstiegen und den Club Moonflower erreichten, freute ich mich schon fast wie ein kleines Kind an Weihnachten. Wir gingen zum Eingang hin, wo wir auch den Türsteher trafen. Ein Schrank von einem Menschen, der solche Muskeln hatte, dass ich mich ernsthaft fragte, ob sein Spitzname nicht vielleicht Terminator war. Bei dem ernsten Gesicht rutschte mir augenblicklich das Herz in die Hose und ich hatte einen Heidenrespekt vor dem Kerl, der gut und gerne über zwei Meter groß war. Seine Hände erinnerten mich an Baggerschaufeln und ich war mir sicher, dass der sich nicht mal anstrengen müsste, um mir das Rückrad zu brechen. Seth ging direkt zu ihm hin, sprach kurz mit ihm und sogleich schaute der Schrank mit seinen finsteren Augen zu mir herunter. Dann fragte er „Ist das deine Freundin?“ Obwohl ich enormen Respekt vor diesem Monstrum von Kerl hatte, so konnte ich diesen Kommentar doch nicht so auf mir sitzen lassen.

„Ich bin sein Kumpel, klar?“

Ich versuchte zwar selbstbewusst auszusehen, aber bei diesem tödlichen Blick begannen mir nun doch die Knie zu schlottern. Hilfe… wenn der Kerl mal aus den Latschen kippte, würde mit Sicherheit Erdbebenalarm ausgelöst werden. Doch dann schwand der finstere Blick und sogleich war mir so, als würde der Türsteher-Terminator nun doch nicht mehr so furchteinflößend sein. „Oh, entschuldige. Das tut mir leid…“

Wow, der entschuldigte sich sogar bei mir. Nun, im Grunde waren Türsteher ja auch nur Menschen und in der Vergangenheit hatte ich ja auch schon die Erfahrung gemacht, dass sie eigentlich ganz nett waren, wenn man ihnen friedlich begegnete und keinen Streit suchte. Aber dieses bedrohliche Auftreten gehörte für sie eben zum Job dazu. Für sie war es ein Mittel, um sich auch gegen schwierige Individuen durchzusetzen. Nun hatte ich zwar keine Angst mehr vor dem Kerl, aber mein Respekt war nicht minder groß. Und so ließ uns Herkules 2.0 hindurch und wir betraten den Club Moonflower. Es war bereits einiges los und die Musik spielte laut. Eine Lasershow wurde gerade veranstaltet und eine Gruppe tanzte bereits auf der Tanzfläche. Wir steuerten als erstes die Bar an, da ich ja auch Raphael kennen lernen wollte. Und tatsächlich stand er da und mixte gerade einen Batida Brazil. Wie ich mir schon gedacht hatte, war Raphael südamerikanischer Abstammung, hatte einen Bart und schwarzes Haar. Wie Seth schon erzählt hatte, war er gut trainiert und sah wirklich aus wie der Traum einer jeden Frau. Ich war wirklich sprachlos, denn es erstaunte mich immer wieder, was für einen Geschmack mein bester Freund da hatte. Ich wandte mich an Seth und rief ihm durch den Lärm zu „Wie zum Teufel schaffst du es bloß, dir einen Typen zu angeln, der der Inbegriff von Sexiest Man Alive ist?“

„Er hat eher mich angesprochen“, gab Seth zu und lächelte verlegen. „Von alleine hätte ich mich nicht getraut, ihn anzusprechen.“

Kein Wunder, dachte ich mir so, als mein Blick wieder zu Raphael wanderte, der uns schon bemerkt hatte und uns zuwinkte. Bei so einem gut aussehenden Kerl musste man auch enormes Selbstbewusstsein haben, um ihn anzusprechen. Zwar hatte Seth Selbstbewusstsein, aber dafür hätte es eindeutig nicht gereicht. Als wir dann endlich die Bar erreicht hatten, grüßte Raphael uns gut gelaunt, unterließ aber jeglichen zärtlichen Austausch mit Seth und ich konnte mir schon denken wieso: wahrscheinlich hatte Raphael sehr viele weibliche Fans und da war es eben auch lukrativ, wenn man sie im Glauben ließ, er wäre noch zu haben. Und mit Stolz verkündete Seth „Fay, das ist Raphael. Raphael, das ist mein bester Freund Fay.“

Raphael und ich grüßten uns mit einem Händedruck und zum Glück drückte er nicht allzu fest zu.

„Ist mir eine Freude, Fay“, rief Raphael und wirkte auf Anhieb sehr sympathisch auf mich. „Seth hat mir ja schon so einiges über dich erzählt.“

„Nur Gutes, will ich hoffen.“

Ich merkte sofort, dass die beiden wirklich das perfekte Paar waren und ich das sagte ich den beiden auch, als ich sichergegangen war, dass das sonst keiner an der Bar mitkriegen würde. Sogleich bestellte ich mir, um mir ein wenig zusätzliche Partystimmung anzutrinken, einen Tequila Sunrise, während Seth einen Long Island Ice Tea wählte. Wir verabschiedeten uns dann wieder von Raphael, suchten uns einen Platz und tranken unsere Cocktails, bevor wir dann auf die Tanzfläche gingen.
 

Die Musik hämmerte laut und überall leuchteten Lichter in allen Farben und heizten die Stimmung auf. Ich wurde regelrecht von der Musik fortgerissen und als ich meinen zweiten oder sogar schon dritten Cocktail hatte, da wandte ich mich an Seth und rief ihm zu, er könne gerne zu Raphael gehen. Mit genügend Alkohol im Blut konnte ich mich schon alleine amüsieren und wenigstens einer von uns sollte sein Liebesglück auskosten. Die Musik dröhnte aus den Lautsprechern und ich war wie in eine Art ekstatische Trance verfallen. Ich tanzte auf der dichten Tanzfläche, wo sich unzählige Körper dicht an dicht drängten und mir auch inzwischen vollkommen egal war, ob mich irgendwelche Typen antanzten, weil sie mich erst ursprünglich für ein Mädchen hielten. Schließlich aber, als ich merkte, dass mir so langsam doch ein klein wenig schwindelig wurde und ich eine kurze Pause brauchte, ging ich zu eine der Bars hin. Da das Moonflower sehr groß war, gab es zwei Bars. Die Hauptbar, wo Raphael arbeitete und eine andere nahe des V.I.P.-Bereichs. Ich bestellte mir einen Cuba Libre und merkte erst, dass Rion fast direkt neben mir saß, als er mich ansprach.

„Bist du dir sicher, dass du Cocktails trinken solltest, Fayette? Frauen vertragen ja nicht so viel Alkohol wie Männer.“

„Was willst du denn hier? Verfolgst du mich etwa?“ giftete ich ihn an und inzwischen hatte der Alkohol den größten Teil meiner Vorsicht und Zurückhaltung ausgemerzt und ich war durchaus bereit, mich mit diesem Kerl anzulegen.

Dummerweise machte da meine Motorik nicht mehr ganz so gut mit, wie ich eigentlich wollte. Und auch mein Sichtfeld war nicht mehr ganz klar. Mein Blick schweifte schließlich zu seinem Drink und ich stellte fest, dass es ein Cosmopolitan war. Passte irgendwie zu ihm.

„Nein“, antwortete er und wirkte genauso wie im Café. Er hatte immer noch diesen herablassenden und überlegenen Blick und dieses hinterlistige Lächeln. „Ich wollte mich nur nach einem ereignisreichen Arbeitstag ausspannen. Und was führt dich her? Bist du auf Männerfang?“

Normalerweise hätte ich ihm keine Antwort darauf gegeben, aber dummerweise machte Alkohol ja auch irgendwie redseliger. „Ich hab gerade eine Trennung hinter mir und will mich ablenken. Und außerdem wollte ich den Ärger mit dir vergessen, mein Freund.“
 

Ich trank meinen Cocktail in wenigen Zügen aus und fühlte mit einem Male eine schleichende Trägheit über mich kommen, gepaart mit einer gewissen Müdigkeit. Mir war schwindelig und ich merkte auch, dass ich wohl nicht mehr wirklich in der Lage war, anständig geradeaus zu laufen. Das würde noch einen ordentlichen Kater geben, aber wenigstens war ich nicht mehr imstande dazu, mir wegen irgendetwas noch Gedanken zu machen. Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand und versuchte mich irgendwie zu sammeln, doch das war leichter gesagt als getan. So langsam dämmerte es mir, dass ich vielleicht doch ein wenig zu viel getrunken hatte. Aber die Erschöpfung und Benommenheit hielten zum Glück auch nicht lange an.

„Wow, du hattest echt eine Beziehung?“

„Klar hatte ich die“, rief ich, wobei ich auch feststellte, dass es selbst mit dem Sprechen nicht mehr so wirklich klappen wollte. Vier Drinks hatte ich schon und das war schon einiges.

„Ob du es wusstest oder nicht, aber ich hatte schon drei.“

Und um meine Aussage zu unterstreichen, hielt ich ihm die entsprechende Anzahl von Fingern hoch. Nur da ich mittlerweile so einiges doppelt und dreifach sah, fiel es mir natürlich schwerer, auch selbst zu erkennen, wie viele Finger ich gerade hochhielt. Und tatsächlich korrigierte mich Rion auch sogleich, indem er erklärte „Du hältst gerade vier Finger hoch.“

Um mich zu vergewissern, ob Rion wirklich Recht hatte, sah ich mir meine Finger genau an, doch ich war nicht mehr wirklich in der Lage, die Anzahl zu bestimmen und so beließ ich es einfach dabei.

„Und was ist mit dir?“ fragte ich und trank meinen Cocktail trotz der Tatsache weiter, dass ich vielleicht doch besser aufhören sollte. „Hast du eine Freundin?“

„Nein, derzeit bin ich Single.“

Das kaufte ich ihm nicht wirklich ab und meinte dann natürlich direkt, ohne überhaupt großartig zu registrieren, was ich da gerade von mir gab: „Wieso das denn? Du siehst heiß aus und ich bin mir sicher, so ein Typ wie du hat locker zehn Frauen an einem Finger. Wenn ich mal so verdammt scharf aussehen könnte. Stattdessen hält mich selbst der Türsteher für ein Mädchen! Dabei will ich doch auch nur, dass mich irgendjemand liebt, auch wenn ich keine Muskeln hab und nicht so groß bin. Aber irgendwie will keine Beziehung halten, weil ich einfach unfähig bin. Warum kann ich kein richtiger Kerl sein, warum?“
 

Ohne es zu wollen, flossen bei mir die Tränen. Ich hatte mit einem Male einen richtig heftigen Heulkrampf bekommen, was auch eine der vielen Nebenwirkungen des Alkohols war. Im nüchternen Zustand hätte ich nie und nimmer so etwas zu Rion gesagt, geschweige denn dass ich vor ihm geheult hätte. Aber mir war das vollkommen egal und ich war auch nicht mehr nüchtern genug, um meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Und da war es mir auch herzlich egal, ob es ausgerechnet mein schlimmster Feind war, bei dem ich mich ausheulte.

„Ich bin in jeder Hinsicht ein kompletter Vollversager. Ich bin ein verdammter Schwächling und ich werde niemals als Mann wahrgenommen werden. Nicht mal küssen kann ich.“

Nur halbwegs realisierte ich, was ich da eigentlich gesagt hatte und dass ich tatsächlich solche Sachen zu Rion sagte, wo dieser doch keine Gelegenheit ausließ, um sich über mich lustig zu machen. Und deshalb rechnete ich auch damit, dass er gleich wieder einen dummen Kommentar vom Stapel lassen würde, mit dem er mich dann wieder aufziehen konnte. Umso verwirrter war ich, als nichts dergleichen kam und Rion dann stattdessen sagte „Womöglich hast du diese richtige Person noch nicht gefunden. Und es liegt nicht unbedingt am Aussehen. Selbst damit kannst du absolutes Pech haben und von einem Beziehungsflop in den anderen rutschen.“

„Liebe ist für’n Arsch“, pflichtete ich ihm bei und trank meinen Cocktail aus. „Und irgendwann haben auch wir Glück. Wenn selbst Seth sich einen so heißen Barkeeper anlachen kann, dann werde ich garantiert auch nicht als Junggeselle sterben.“

Ich wollte aufstehen und wieder zur Tanzfläche gehen, doch ich stellte fest, dass es nicht mehr so einfach war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alles verschwamm vor meinen Augen und um mich herum drehte sich alles. Auch mit meiner Fähigkeit, klar zu denken, war es nicht weit her und für mich gab es nur eine Lösung, etwas gegen dieses Problem zu unternehmen: noch mehr Alkohol! Also wandte ich mich an den Barkeeper, der mir in Folge meines Suffs mehr und mehr wie Leonardo di Caprio in seinen jungen Zeiten zu Titanic aussah und rief ihm zu „Einen Tequila Sunrise bitte!“

„Du hattest genug“, kam es vom Leonardo-Doppelgänger und Diskutieren war auch nicht mehr mit ihm möglich. Er blieb dabei und so ging ich beleidigt von dannen und machte mich auf den Weg zu den Toiletten. Etwas Kaltes Wasser ins Gesicht konnte ja vielleicht helfen, wieder ein wenig klarer im Kopf zu werden. Ich drängte mich an den anderen vorbei und erreichte tatsächlich die Herrentoiletten. Nachdem ich mich erleichtert hatte und mir im Anschluss die Hände wusch, betrachtete ich mich im Spiegel. Und man sah mir deutlich an, wie angesäuselt ich eigentlich war. Aber ich hatte keine Lust, jetzt schon zu gehen. Die Nacht war noch jung und ich wollte weiter feiern. Das Schlimmste aber war, dass man mir sogar ansah, dass ich geheult hatte. Meine Augen waren gerötet und wirkten ein wenig aufgequollen. Um ein wenig klarer im Kopf zu werden, wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser und tatsächlich hatte ich den Eindruck, als würde es ein wenig helfen. Doch ich wusste selbst, dass logisches Denken für den Rest des Abends eindeutig nicht mehr möglich war. Deshalb wäre mir auch nie in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht doch besser nach Hause gehen und meinen Rausch ausschlafen sollte. Nein, das kam für mich in diesem Moment überhaupt nicht infrage. Ich wollte weiterfeiern, ganz egal wie sehr ich auch betrunken war. Plötzlich bemerkte ich, dass Rion wieder neben mir am Waschbecken stand. Was wollte der denn wieder hier?

„Verfolgst du mich etwa?“ fragte ich ihn und schaute ihn durch den Spiegel grimmig an. Doch er blieb unbeeindruckt und erklärte ganz einfach „Ich brauch ja wohl kaum deine Erlaubnis, um auf die Toilette zu gehen, Fayette. Aber meinst du nicht auch, dass es langsam mal an der Zeit wäre, nach Hause zu gehen? Du kannst ja kaum noch vernünftig laufen.“

„Ach und du bist noch völlig nüchtern, oder was?“

„Nein, aber im Gegensatz zu dir kenne ich mein Maß.“

Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Denn ich war der festen Überzeugung, dass ich mein Maß ganz eindeutig kannte und so baute ich mich, so gut es mir in meinem Zustand noch möglich war, vor ihm auf und sah kampfbereit und entschlossen aus.

„Ach ja? Nur damit du es weißt, du bist nicht so ein toller Hecht, wie du denkst. Mag sein, dass du andere mit deinem guten Aussehen blenden kannst, aber ich weiß, was für ein Arsch du wirklich bist. Mich führst du nicht hinters Licht und mein Entschluss steht fest: das Fotoshooting kannst du dir an den Hut stecken, okay? Du bist… du bist…“

Mir fiel in dem Moment einfach nichts mehr Gescheites ein, was ich ihm noch zusätzlich an den Kopf werfen konnte. Ich konnte auch nicht mehr vernünftig nachdenken und mir war es in dem Moment auch vollkommen egal, ob sich Rion wieder über mich lustig machen würde oder nicht. Doch stattdessen seufzte dieser nur kopfschüttelnd, ergriff mich am Arm und zerrte mich zur Tür.

„Du bist auch echt ein unverbesserlicher Vollidiot“, gab er nur zurück und ich, der ich keine Ahnung hatte, was er nun im Schilde führte, versuchte mich von ihm loszureißen.

„Lass mich los, verdammt. Wo willst du mit mir hin?“

„An die frische Luft“, erklärte er mir und schleifte mich in Richtung Eingang und ich war nicht mehr wirklich imstande, mich gegen ihn zu wehren. Auch im nüchternen Zustand wäre das wohl kaum möglich gewesen, aber ich wollte nicht nach draußen gehen. Nein, ich wollte verdammt noch mal im Club bleiben und weiterfeiern. Und doch… als ich diesen festen Griff um meinen Arm spürte und Rion etwas näher betrachtete, da erschien er mir plötzlich nicht mehr so ein Ekelpaket zu sein. Nein, irgendwie wirkte er mit einem Male ganz süß und so verabschiedete sich auch der Rest meines logischen Denkvermögens. Stattdessen warf ich mich auf ihn und drückte mich fest an ihn, wobei ich mir ein süffisantes Kichern nicht verkneifen konnte. Und diese Reaktion meinerseits brachte auch Rion völlig aus der Bahn, der mich daraufhin losließ und anscheinend nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Jetzt hatte ich ihn. Verschlagen grinste ich ihn an und kicherte.

„Ja, da bist du jetzt sprachlos, oder? Damit hättest du wohl nicht gerechnet.“

Mit großer Genugtuung sah ich, wie perplex mein alter Feind war und dass er scheinbar nicht wusste, was er darauf wohl erwidern sollte. Mir sollte es nur recht sein und ich beschloss, dieses Spielchen noch ein wenig weiterzuspielen. Einfach nur, um ihn in Verlegenheit zu bringen und mal zu sehen, wie er die Fassung verlor und nicht mehr der charismatische und stets beherrschte Überflieger war, der immer dieses kalte und siegessichere Lächeln auf den Lippen hatte. Ich wollte mehr davon sehen und ich war dafür bereit, aufs Ganze zu gehen. Einfach nur, um ihn zu ärgern. Doch so einfach wollte Rion wohl nicht mit sich spielen lassen. Er versuchte sich aus meiner Umklammerung zu lösen und schien deutlich ungehaltener zu werden.

„Jetzt lass mich endlich los und hör auf mit diesem Quatsch, Fayette. Du musst dich ernsthaft ausnüchtern.“

„Was denn?“ fragte ich ihn herausfordernd und grinste schief. „Machst du dir vielleicht Sorgen um mich?“

Rion seufzte und ich glaubte so etwas wie Verlegenheit bei ihm zu sehen. Und das fand ich irgendwie faszinierend an ihn, denn dieser Blick war mir so neu an ihm. Er wirkte nicht mehr so unantastbar und als würde ihn wirklich gar nichts beeindrucken. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, dann hätte ich wirklich gesagt, dass Rion „menschlicher“ wirkte. Es war irgendwie amüsant, auch mal eine andere Seite zu sehen und nicht immer die eines eiskalten Mistkerls, der wie ein abgebrühter Firmenchef wirkte. „Oh Mann, du bist aber auch echt eine Nervensäge“, knurrte er und schien es offenbar aufgegeben zu haben, mich nach draußen zu bringen. Tja, die Runde ging dann ja wohl eindeutig an mich.

Schließlich holte Rion sein Smartphone heraus und begann eine Nummer zu wählen.

„Was machst du da?“ fragte ich und immer noch hielt ich ihn fest umklammert, was wahrscheinlich auf manche Leute gewirkt hätte, als wäre ich ein Kind, das sich an seinem Vater geklammert hätte. Oder eben halt wie ein abgrenzungsbehinderter Stalker. „Ich hole ein Taxi. In dem Zustand kannst du ja wohl kaum alleine laufen.“

„Alte Spaßbremse“, grummelte ich und zog eine beleidigte Schmollmiene. „Du schickst mich einfach nach Hause wie ein Baby, nur weil du Schiss vor mir hast? Und ich dachte, du bist ein echter Kerl, du Blödi!“

Diesen Kommentar wollte er scheinbar nicht auf sich sitzen lassen. Entweder lag es daran, weil ich seine Männlichkeit infrage gestellt hatte, oder ich hatte ihn mit der Bemerkung zu sehr provoziert, dass er irgendwie Angst vor mir hätte. Ehe ich mich versah, hatte sich Rion nämlich aus meinem Griff befreit und kurz darauf stand ich mit dem Rücken zur Wand und meine Handgelenke wurden festgehalten, sodass es mir nun kaum möglich war, mich zu befreien oder mich zu wehren. Doch das fiel mir in dem Moment auch nicht so wirklich ein, denn dazu war ich viel zu betrunken. Stattdessen sah ich in Rions eisblaue Augen und sagte und tat nichts. Irgendwie schienen mich diese Augen zu hypnotisieren wie bei einer Schlange. Ich hatte noch nie in meinem Leben so hellblaue Augen gesehen, die wie Kristalle leuchteten. Sie wirkten auf der einen Seite so kalt… genauso wie er das vom Charakter her auch ausstrahlte. Aber sie beherbergten ein solches Licht, das fast schon unnatürlich war. Ja es war, als würde etwas aus seinem Innersten heraus leuchten und nur in seinen Augen zu sehen sein. Und das war es auch, was mich letztendlich schwach werden und mich wirklich alles vergessen ließ. Vielleicht wollte ich ihn mit meiner Aktion auch noch mal zusätzlich schocken und ihn durcheinander bringen, um seine starke Ausstrahlung zu brechen und den Mensch in ihm hervorzulocken. Obwohl ich eigentlich wissen sollte, dass ich es nicht tun sollte, beugte ich mich vor und küsste ihn. Ich spürte seine Lippen auf den meinen, die sich erstaunlich zart anführten und ich roch sein Aftershave. Aber dann trat genau das ein, was immer bei mir passierte, wenn sich meine Lippen mit denen einer anderen Person berührten. Mir wurde schwindelig, mein Körper versagte augenblicklich und mir wurde schwarz vor Augen. Ich bekam nur noch mit, wie Rion erschrocken meinen Namen rief und mich auffing, bevor ich das Bewusstsein verlor. So wie es mir immer in solchen Situationen passierte, seit ich zwölf Jahre alt war.

Ich kam aber kurz darauf wieder zu mir und ich saß auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand gelehnt. Nur verschwommen sah ich Rion, wie er sich über mich beugte und mit mir redete. Doch so wirklich war ich noch nicht bei Sinnen, um zu verstehen, was er sagte. Mir war immer noch furchtbar schwindelig und ich bezweifelte, dass ich jetzt noch die Kraft hatte, aufzustehen. Schließlich aber zog Rion mich hoch und nahm mich auf den Rücken.

„Du bist wirklich anstrengend, weißt du das? Du bist echt schlimmer als 16-jährige Mädchen“, hörte ich ihn grummeln und ich merkte so langsam, dass er richtig sauer war. Ich bekam am Rande mit, wie er mich nach draußen brachte und ein Taxi ansteuerte, welches in der Nähe des Eingangs parkte. Ehe ich mich versah, verfrachtete er mich auf den Rücksitz, bevor er selbst Platz nahm und dem Fahrer die Adresse nannte, zu der er hinfahren sollte. Und auch wenn ich stockbesoffen war und gerade einen Ohnmachtsanfall hinter mir hatte, so war ich dennoch inzwischen wieder aufnahmefähig genug um mitzukriegen, dass es nicht meine Adresse war, die Rion da nannte. Im Normalfall hätte ich ja etwas gesagt, aber da fielen auch schon meine Augenlider zu und ich schlief direkt ein.

One-Night-Stand

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

The Hangover

Es gibt manchmal Situationen, in denen man echt Angst vor dem Aufwachen hat. Nämlich wenn man insgeheim wusste, dass nichts Gutes auf einen warten würde, wenn man die Augen öffnete. Und das Gefühl kam mir genau in dem Moment, als ich diese Satinbettwäsche an meiner Haut spürte und ich trotz meines Katers merkte, dass das eindeutig nicht meine Bettwäsche war. Und eine Sekunde später realisierte ich auch, dass ich vollkommen nackt war. Ich brauchte kein Genie zu sein, um zu begreifen, dass das nur bedeuten konnte, dass ich mich in meinem Suff auf einen One-Night-Stand eingelassen hatte. Nur stellte sich mir die Frage, wer es denn war. Denn erschwerend zu meinem Kater und diesem fremden Bett kam noch zusätzlich dazu, dass ich echt nicht mehr wusste, was gestern Abend alles passiert war. Ich hatte einen kompletten Filmriss. Alles was ich wusste war, dass ich mit Seth in den Club gegangen war und er mir seinen Freund Raphael vorgestellt hatte. Ab diesem Zeitpunkt fehlte jede Erinnerung und ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo ich jetzt war und was denn passiert war, nachdem ich Raphael kennen gelernt hatte.

Ich öffnete langsam meine Augen und sah nur diesen großen Raum, der mir überhaupt nicht bekannt vor kam und ich fühlte mich in diesem Moment völlig orientierungslos. Langsam setzte ich mich auf, biss mir dann aber auf die Unterlippe, als ich einen stechenden Schmerz spürte, der von meinem Anus ausging. Heilige Scheiße, was war denn bitte passiert, dass mir der Arsch so wehtat? Tausend Gedanken kreisten durch meinen Kopf und ich fühlte mich hundeelend. Und als ich dann auch noch ein leises Atmen neben mir hörte, wurde mir klar, dass da wohl die Person neben mir liegen musste, mit der ich geschlafen hatte. Oh Gott, dachte ich und erkannte erst jetzt das ganze Ausmaß meiner Trinkerei. Ich bin mit irgendeiner Frau ins Bett gegangen, hab mit ihr geschlafen und im allerschlimmsten Fall nicht mal verhütet. Wenn da noch eine Schwangerschaft dabei herauskommen sollte, dann konnte ich endgültig einpacken. Das wäre die absolute Katastrophe. Hoffentlich war es keine von der Uni oder sonst jemand, den ich kannte. Nun, um das herauszufinden, brauchte ich einfach nur zur Seite zu blicken, doch ich hatte Angst. Was, wenn es schlimmstenfalls Katherine war? Zwar wusste ich, dass ihr Schlafzimmer ganz anders aussah als dieses und auch sonst die Wahrscheinlichkeit mehr als gering war, aber ich hatte dennoch erst mal totale Panik. Und das auch zu Recht, immerhin konnte ich mich an rein gar nichts erinnern und wusste nicht, was ich noch alles getan hatte. Und ein One-Night-Stand, bei dem man komplett betrunken war, konnte nichts Gutes bedeuten. Das hatte schlimmstenfalls noch schwerwiegende Folgen.

Warum nur? Warum musste es auch immer mich treffen? Ausgerechnet ich, der einen Nachnamen hatte, der doch „Sonnenseite“ bedeutete. Was für eine blanke Ironie, denn irgendwie kam es mir so vor, als würde ich mich immer weiter von der Sonnenseite des Lebens weg bewegen. Ich stand kurz davor durchzudrehen und entweder einen Schrei- oder einen Heulkrampf zu bekommen. Vielleicht sogar beides zum selben Zeitpunkt, wenn sich zu meinem größten Unglück herausstellen sollte, dass die Person, die da neben mir im Bett schlief, tatsächlich jemand war, den ich kannte. Ich atmete tief durch und schaffte es schließlich dann doch, mich zur Seite zu drehen und zu sehen, wer denn da neben mir schlief.

Nun… es war jedenfalls nicht Katherine. Denn die Person, die da neben mir schlief, war nicht mal eine Frau. Das trug nicht sonderlich dazu bei, dass ich mich besser fühlte. Nein, es machte es sogar noch schlimmer. Denn das stellte mich wiederum vor der Frage, was ich denn bei einem Kerl im Bett zu suchen hatte.
 

Mein Blick ruhte nun auf dem Gesicht des Mannes und mein Herz setzte einen Schlag aus. In diesem Moment wäre mir wirklich jede Person recht gewesen, die sich als mein One-Night-Stand entpuppte. Sogar Seth wäre mir schlimmstenfalls recht gewesen, auch wenn dies vielleicht das Ende unserer Freundschaft bedeutet hätte. Irgendwie wünschte ich mir sogar, dass es Katherine wäre. Aber stattdessen lag ausgerechnet Rion neben mir. Und meine größte Frage lautete: was machte ich ausgerechnet in seinem Bett? Wirklich alles setzte in mir aus, als ich ihn neben mir schlafen sah. Entsetzen überkam mich, ich schrie laut auf und von meinem Schrei aufgeweckt fuhr er aus dem Schlaf hoch, doch bevor er irgendetwas machen konnte, trat ich ihn mit aller Kraft aus dem Bett heraus und bedeckte meinen Körper bis zur Brust mit der Decke. Dass dies in diesem Moment komplett mädchenhaft aussah, interessierte mich nicht die Bohne. Viel schlimmer war die Erkenntnis, dass ich nackt neben Rion im Bett lag. „Scheiße noch mal“, knurrte er und stand auf. Er selbst war nur halbnackt, da er zumindest Shorts anhatte. Benommen tastete er nach der Kommode neben dem Bett und bekam schließlich eine Brille in die Hand, die er sich aufsetzte.

„Was schreist du denn wie ein Verrückter herum und warum trittst du mich aus meinem Bett raus?“

„Ach, das ist also dein Bett?“ rief ich empört und dabei war es mir völlig egal, dass mein Schädel dröhnte und sich meine Kehle vollkommen ausgetrocknet anfühlte.

„Was zum Teufel habe ich bitteschön in deinem Bett zu suchen, wo sind meine Klamotten und was hast du Scheißkerl mit mir gemacht, dass mir der Arsch so wehtut?“

Rion schnappte sich ein etwas zerknittertes Hemd, das auf dem Boden lag und zog auch sogleich seine Hose an. Er blieb von meinem Wutausbruch relativ unbeeindruckt und erklärte ganz trocken „Du bist doch gestern einfach eingeschlafen. Also hab ich dich schlafen lassen.“

Wütend funkelte ich ihn an und hätte ihn am liebsten eigenhändig erwürgt. Wie ich diesen Dreckskerl doch hasste und jetzt, da ich nackt, verkatert und mit schmerzendem Hintern in seinem Bett lag, umso mehr.

„Das beantwortet nicht meine Fragen. Was hast du mit mir gemacht? Wieso liege ich splitterfasernackt in deinem Bett?!“

Ich schrie so laut, dass ich mir sicher war, ich würde die gesamte Nachbarschaft aufwecken, doch das war mir in diesem Moment auch vollkommen egal. Ich war einfach nur wütend und war mir sicher, dass Rion irgendeine Masche bei mir angewendet hatte, nur um an sein blödes Fotoshooting zu kommen, oder weil er mich wieder demütigen wollte so wie damals. Doch Rion schien mir nicht sonderlich Beachtung zu schenken und erklärte in seiner typisch arroganten Art „Du hast dich doch gestern an mich geklammert und mich geküsst. Und bei unserer gemeinsamen Nacht schienst du ja auch nicht sonderlich viele Hemmungen gehabt zu haben.“

Ich starrte ihn fassungslos an und begriff erst nicht, was er mir damit sagen wollte. Gemeinsame Nacht? Geküsst? Hemmungen? So langsam kam die Erkenntnis, was der Schmerz in meinem Hintern zu bedeuten hatte und das war für mich der wohl größte Horror von allem, was mir je hätte passieren können. Ich spürte, wie alles Blut mir aus dem Kopf wich und wie sich mein Magen verkrampfte. Mir war schlecht und ich befand mich nun endgültig in einem Schockzustand. Das alles konnte doch nicht wahr sein… Wirklich alles wäre mir lieber gewesen als das hier. Warum nur mussten mir immer die schlimmsten Dinge passieren? Womit hatte ich das verdient? Was hatte ich nur in meinem letzten Leben getan, dass ich ausgerechnet mit dem Kerl in der Kiste landen musste, den ich am liebsten nie wieder sehen wollte? Und dann ausgerechnet ein Mann. Dabei war ich doch hetero! Ich stand nicht auf Männer und das hatte ich auch nie. Ich hätte am liebsten geheult. „Wir… wir hatten… Sex?“

Rion nickte und entnahm wohl meinem Gesicht, dass etwas nicht in Ordnung damit war. „Klar, ist das ein Problem für dich?“

„Und ob!“ schrie ich wutentbrannt und begann nun nach meinen Sachen zu suchen. Ich wollte nicht eine Sekunde länger als nötig hier bleiben. „Ich steh nicht auf Männer, klar? Besonders nicht auf dich!“

Nun wirkte mein alter Feind ein wenig verwundert und fragte mich „Soweit du mir gesagt hast, hattest du doch bereits drei Beziehungen, oder irre ich mich da?“

Drei Beziehungen? Dann musste ich wohl mit ihm über meinen Liebeskummer erzählt haben. Oh Mann… warum nur musste ich auch einen Filmriss haben? Aber andererseits war das vielleicht auch besser so. Dann musste ich mich wenigstens nicht daran erinnern, was er alles mit mir gemacht hatte. Allein bei dem Gedanken wurde mir schlecht. „Und wie du dich geirrt hast“, giftete ich ihn an und fand schließlich mein T-Shirt und auch die anderen Sachen verstreut auf dem Boden liegen. Ich stand auf und wollte mich anziehen, doch der Schmerz jagte durch meinen Rücken und meine Hüften. Leise stöhnend knickte ich ein und realisierte, dass ich mich kaum bewegen konnte. Doch ich riss mich zusammen, denn vor Rion wollte ich keine Schwäche zeigen. „Meine Beziehungen waren alles Frauen, kapiert? Ich bin nicht schwul!“ Nun war selbst Rion verwundert, doch er versuchte es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Aber mir entging das durchaus nicht. „Das heißt, du hattest nie etwas mit Männern?“ „Nein!“ rief ich und versuchte aufzustehen, doch meine Beine fühlten sich wie Gummi an. Ich fühlte mich hundsmiserabel und mich beschlich das ungute Gefühl, dass dieser Zustand noch etwas länger andauern würde. „Dafür bist du aber gestern ganz schön rangegangen.“

„Ich will es nicht wissen“, gab ich sofort zurück, um ihm das Wort abzuschneiden. „Und dann noch meinen Zustand ausnutzen und mich so ins Bett zu kriegen. So eine miese Tour passt aber auch zu dir. Und ich kaufe dir echt nicht ab, dass ich da freiwillig mitgemacht haben soll. Wahrscheinlich hast du mich abgefüllt und dich an mir vergangen, als ich bewusstlos war. Am liebsten würde ich dich echt anzeigen.“

Doch Rion zeigte sich immer noch völlig unbeeindruckt und das regte mich nur noch mehr auf.

„Du kannst aber auch echt eine Dramaqueen sein, Fayette. Und ich bleibe dabei: du hast dich gestern an mich geklammert und mich geküsst und es regelrecht gewollt. Also spiel dich hier nicht als Opfer auf. Es war ein One-Night-Stand.“
 

Ich biss die Zähne zusammen und ignorierte die Schmerzen und begann mich anzuziehen. Dabei überlegte ich tatsächlich für einen Moment, diesen Dreckskerl anzuzeigen, aber ich ließ dann doch von dem Gedanken ab. Ich wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass ich mit dem Typen im Bett gelandet war, der mich in der Schule ständig gemobbt hatte und den ich mehr als alles andere auf der Welt hasste. Das wäre die allergrößte Blamage für mich und ich könnte mich nirgendwo mehr blicken lassen. Es wäre für mich eine einzige Katastrophe.

„Das bleibt auch ein einmaliger Ausrutscher“, sagte ich ihm klipp und klar und zog noch meine Hose an. Immer noch tat mir alles weh und auch kein Kopf dröhnte furchtbar von dem Kater. Am liebsten hätte ich mich hingelegt und noch weiter geschlafen, aber ich wollte schnellstmöglich weg von hier und vor allem weg von Rion. „Das ist nie zwischen uns passiert und wehe, du erzählst jemandem davon. Dann zeig ich dich nämlich an.“

Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde er mir nicht einmal zuhören. Ich war so stinksauer, das ich wirklich kurz davor stand, ihm an die Gurgel zu gehen und ihm den Hals umzudrehen. Dieser Mistkerl spielte wirklich mit dem Feuer. Erst füllte er mich ab, riss mir den Arsch auf und ignorierte mich einfach. Stattdessen holte er sein Handy raus und meinte nur „Ich ruf dir eben ein Taxi. In dem Zustand kommst du ja eh nicht weit.“

Ich sagte nichts und zog noch meine restlichen Sachen an, dann wankte ich mehr oder weniger durch den Raum, um die Treppen runterzugehen. Doch ich befürchtete schon, dass ich es in dem Zustand kaum die Stufen hinunterschaffen würde und das sollte sich auch direkt bewahrheiten, als ich nach den ersten Stufen mit dem Knöchel umknickte und stürzte. Geistesgegenwärtig genug konnte ich mich am Treppengeländer festhalten, um nicht die ganze Wendeltreppe hinunterzufallen, doch da spürte ich auch schon einen festen Griff an meinem Arm. Es war Rion.

„Oh Mann, du machst aber auch nichts als Ärger, Fayette.“

Ich riss mich los und warf ihm einen feindseligen Blick zu. „Nimm deine Finger von mir, klar? Ich schaff das auch alleine.“

„Bist du etwa sauer, weil du Angst hast, ich hätte dich geschwängert oder was?“

Diesen Seitenhieb ließ ich unkommentiert, denn ich hatte nicht wirklich die Energie dafür, einen verbalen Schlagabtausch mit ihm anzufangen. Mit Mühe kam ich wieder auf die Beine, allerdings fiel mir das Treppenlaufen immer noch unheimlich schwer und so brauchte ich deutlich länger runter. Als ich unten angelangt war, musste ich mich an der Wand abstützen, da mir alles so wehtat, dass ich mich ernsthaft fragte, was dieser Bastard mit meinem Körper angestellt hatte.

„Was zum Teufel hast du mir gemacht?“

„Wir haben ganz normal Sex gehabt. Aber das erste Mal ist immer schmerzhaft. Wegen deinem Rausch scheinst du das aber nicht ganz wahrgenommen zu haben.“

„Ja super“, gab ich sichtlich verärgert zurück. „Als wäre nicht allein schon die Tatsache schlimm genug, dass du mich anal entjungfert hast, dann musst du auch noch dafür sorgen, dass ich mich kaum bewegen kann. Ich schwöre dir, das wirst du noch bitter bereuen.“

Doch Rion wirkte sogar noch amüsiert darüber, was ihn nun noch unausstehlicher machte als ohnehin schon.

„Du regst dich auf und schimpfst wie ein Bierkutscher und dabei hast du doch gestern beim Sex die ganze Zeit meinen Namen gerufen.“

Allein die Vorstellung war grässlich und innerlich fasste ich den Entschluss, nie wieder mehr als einen Drink zu trinken. Am liebsten wollte ich dieses Ereignis gleich ganz ungeschehen machen, denn allein der Gedanke, ich könnte tatsächlich mit diesem Mistkerl geschlafen haben, obwohl ich ihn nicht ausstehen konnte, war schlimm genug. Insbesondere durch die Tatsache, weil ich gar nicht auf Männer stand und auch nie mit einem Mann ins Bett gehen wollte. Was hatte mich bloß dazu getrieben, so etwas zu tun? War es vielleicht der Liebeskummer mit Katherine, dass ich völlig die Kontrolle verloren hatte? Mir blieb nur die einzig logische Erklärung, dass Rion mich in meinem Vollrausch völlig um den Finger gewickelt, mich abgefüllt und dann gefügig gemacht hatte. Wenn das wirklich der Fall war, dann wäre es wirklich die einzig vernünftige Lösung, ihn anzuzeigen. Aber würde Rion wirklich so weit gehen? Nun gut, er hatte sich in der Schule so einiges erlaubt, doch er hatte sich meist nur auf die üblichen Mobbingattacken konzentriert. Er hatte mich herumgeschubst, mir ein Bein gestellt oder mich beschimpft, aber er hatte nie etwas Kriminelles gemacht. Er hatte mir nie mein Essensgeld oder mein Handy geklaut, geschweige denn, dass er meine Sachen je zerstört hätte. Zwar war er ein Arsch, aber er hatte es nie so weit eskalieren lassen, dass man von Zerstörungswut reden konnte. Und richtig verprügelt hatte er mich auch nie. Körperliche Gewalt war einfach nicht seine Art. Stattdessen liebte er es nur, Macht über andere zu haben und sie auch zu demonstrieren. Auch wenn ich ihn hasste wie die Pest, aber ein Gewaltverbrechen konnte ich ihm nicht so wirklich zutrauen. Ach ich wusste einfach nicht mehr, was ich überhaupt noch denken oder fühlen sollte. Ich wollte nur noch nach Hause, mich hinlegen und das alles einfach vergessen.

„Du lügst doch, wenn du nur den Mund aufmachst. Warum sollte ich ausgerechnet mit dem Menschen ins Bett gehen, der mir an der Schule das Leben zur Hölle gemacht hat?“

„Erklär du es mir“, meinte Rion nur. „Immerhin war ich nicht derjenige, der angefangen hat.“

Ich fragte mich ernsthaft, warum er mir hinterherlief. Wollte er sich nur an meinem Anblick ergötzen, oder hatte es etwas anderes zu bedeuten? Vielleicht wollte er ja sichergehen, dass ich nicht endgültig zusammenbrach. Aber meine Hand hätte ich dafür nicht ins Feuer gelegt.

„Als ob ich freiwillig mit dir etwas anfangen würde. Ich bleib dabei: du hast mich abgefüllt und dann irgendwie ins Bett gekriegt.“

Rion seufzte und schien es wohl aufgegeben zu haben, mit mir diskutieren zu wollen. Und mir war das auch ganz recht so. Ich hatte darauf auch nicht die geringste Lust. Ich schleppte mich zur Haustür und als ich diese geöffnet hatte, sah ich auch schon das Taxi warten. Na wenigstens etwas… Mit Mühe schaffte ich es, halbwegs aufrecht zu gehen und ins Taxi einzusteigen. Rion drückte dem Fahrer ein paar Scheine in die Hand und ich nannte daraufhin meine Adresse. Damit setzte sich das Taxi in Bewegung und ich lehnte mich in den Sitz zurück. Mir war übel, immer noch hämmerte mein Kopf wie verrückt und ich hatte immer noch nicht so ganz den Schock verdaut, dass ich tatsächlich mit einem Kerl Sex hatte… mit Rion. Ich wusste echt nicht, ob ich darüber lachen oder weinen sollte. Das war wirklich das Allerschlimmste, was mir je hätte passieren können. Zwar wusste ich, dass ich manchmal ein wenig über die Stränge schlug, wenn ich zu viel getrunken hatte. Ich wurde frecher und vorlauter und legte es dann manchmal auch auf Ärger an, aber bedeutete das wirklich, dass ich wirklich freiwillig mit meinem schlimmsten Feind ins Bett gestiegen wäre? Vor allem stellte ich mir die Frage, warum sich Rion auch noch darauf eingelassen hatte, wenn er mich doch nicht ausstehen konnte. Wieso hatte es ihn nicht gestört, mit einem Mann im Bett gelandet zu sein?

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dass Rion offenbar schwul war so wie Seth… oder eben bisexuell. Na toll, das machte es auch nicht sonderlich besser. Er brauchte sich ja überhaupt keine Gedanken zu machen, aber für mich war es weitaus schlimmer. Denn ich war heterosexuell, das wusste ich ganz genau. Noch nie hatte ich mich zu Männern je sexuell hingezogen gefühlt, höchstens zu Frauen. Und der einzige Kuss, den ich je mit einem Mann hatte, war mit Seth und das auch nur, weil ich wegen meinem Ohnmachtsproblem ein Experiment machen wollte. Da waren weder Gefühle meinerseits noch seinerseits da gewesen. Ansonsten hatte ich nie irgendeine Form von zärtlichem Austausch mit anderen Männern gehabt. Und dass ich dann direkt mit meinem schlimmsten Feind Sex haben musste und dabei noch der Untere war… Irgendwie schien ich wohl ein absolutes Talent dafür zu haben, mich immer weiter in die Scheiße zu reiten. Ganz egal worum es gerade ging. Erst das Beziehungs-Aus mit Katherine, dann der Stress an der Uni und jetzt auch noch das. Wieso nur hatte ich nicht einfach an diesem einen Tag im Bett liegen bleiben können, als ich Katherine um ein Date bat? Dann wäre ich nicht mitten in der Mensa zusammengebrochen und ich hätte jetzt keinen Liebeskummer. Ich wäre nicht ins Visier des Feldwebels geraten und Seth wäre nicht auf die Idee gekommen, mit mir im Moonflower feiern zu gehen. Dann hätte ich mich nicht so betrunken und wäre nicht mit Rion im Bett gelandet. Irgendwie kam ich mir so vor, als wäre mein Leben dabei, sich in einen einzigen gewaltigen Scherbenhaufen zu verwandeln und ich wusste nicht, wie ich das wieder in Ordnung bringen sollte, geschweige denn, ob es überhaupt noch möglich war. Die Frage war ja, wem ich das überhaupt erzählen konnte. Emily und meine Mutter schieden komplett aus. Die würden mir sicher nicht auf die Weise weiterhelfen, wie ich es mir vielleicht erhoffen würde und dann würden sie auf den Trichter kommen, ich würde vielleicht doch auf Männer stehen. Und irgendjemanden meiner Bekannten von der Uni konnte ich es noch weniger erzählen. In dem Moment fiel mir nur Seth ein. Da er ja selbst schwul war, würde er mich nicht gleich schief angucken. Wir kannten uns schon lange genug und ich vertraute darauf, dass er mir zuhören würde, ohne mich gleich zu verurteilen.
 

Als ich endlich wieder zuhause war, empfing mich schon meine Mutter, die natürlich verwundert war, dass ich erst jetzt nach Hause kam, insbesondere als sie meinte „Seth hat angerufen, weil er dich gestern nicht mehr gefunden hat. Er dachte, du wärst nach Hause gegangen. Wo warst du?“

Sie sah natürlich, dass es mit mir gerade nicht zum Besten stand, aber sonderlich Rücksicht nahm sie deswegen auch nicht. Ich ging in die Küche und goss mir ein Glas Wasser ein. Meine Kehle schmerzte und fühlte sich staubtrocken an. Bei der ganzen Schreierei vorhin war es ein Wunder, dass ich überhaupt noch sprechen konnte.

„Ich hab es mit dem Feiern ein wenig übertrieben, das ist alles. Ich gehe gleich erst mal duschen. Mum, könntest du Seth anrufen und ihn bitten, herzukommen? Ich muss dringend mit ihm reden.“

Ich holte aus dem Schrank die Schmerztabletten und schluckte gleich zwei davon herunter und trank das Glas aus. Nachdem der Ärger bei meiner Mutter abgeflaut war, kam dann doch die mütterliche Sorge bei ihr durch und als sie sah, dass ich mich kaum bewegen konnte, da machte sie sich ja natürlich Gedanken.

„Hast du irgendwie Ärger gehabt?“

Doch ich wollte ihr nicht näher davon erzählen. Es war mir einfach zu peinlich und ich schämte mich auch für das, was gestern passiert war.

Nach einer erfrischenden heißen Dusche merkte ich auch, wie so langsam aber sicher die Schmerzen nachließen. Die Tabletten wirkten wunderbar und ich fühlte mich auch ein kleines bisschen besser. Das änderte sich aber, als ich die Knutschflecke an meinem Körper sah. Nicht nur am Hals, sondern auch an ein paar anderen Stellen. Und dummerweise würden sie auch nicht so schnell verschwinden. Das Beste war, ich überdeckte den am Hals mit einem Pflaster. Das fiel dann wenigstens nicht allzu sehr auf. Zum Glück hatte Mum mich nicht darauf angesprochen, aber wahrscheinlich dachte sie sowieso erst mal, dass ich vielleicht ein wildes Techtelmechtel mit einer Clubbesucherin hatte. Schließlich kam nach einer Viertelstunde Seth endlich vorbei. Ich kochte uns beiden eine Tasse Kaffee und dann zogen wir uns in mein Zimmer zurück.

„Du siehst gar nicht gut aus, Fay“, bemerkte mein bester Freund besorgt und nahm neben mir auf dem Bett Platz. „Wohin bist du eigentlich gestern verschwunden? Ich hab von Mike dem Barkeeper gehört, dass du mit einem blonden Typ weggegangen bist und ich hab versucht dich anzurufen. Aber du hast mal wieder dein Handy vergessen.“

Zugegeben, es fiel mir immer noch verdammt schwer, darüber zu sprechen, weil ich mich einfach ziemlich schämte. Aber nun hatte ich Seth extra herbestellt, also sollte ich es ihm auch endlich sagen.

„Ich hatte gestern vier oder fünf Drinks gehabt und war ziemlich hackevoll. Ich bin mit einem Filmriss in einem anderen Bett aufgewacht und kann mich an rein gar nichts erinnern. Und der Typ, mit dem ich mitgegangen bin… das war kein Unbekannter…“

Seth sah mich ratlos an und schien noch nicht so wirklich zu verstehen, worauf ich hinauswollte. Naja, die Informationen waren bis jetzt auch sehr dürftig, aber es kostete mich halt eine große Überwindung, offen darüber zu sprechen. Also atmete ich tief durch und nahm all meine mentale Kraft zusammen.

„Seth, ich bin in Rions Bett aufgewacht… nackt… Und er sagte, wir hätten miteinander geschlafen.“

Tja, da war mein bester Freund endgültig sprachlos. Mit unbewegter Miene starrte er mich an und sagte nichts. Sicherlich wusste er auch nicht, was er sagen sollte. Er kannte mich gut genug um zu wissen, dass das, was ich ihm da erzählte, gar nicht ich war. Ein One-Night-Stand mit einer 30-jährigen wäre viel wahrscheinlicher gewesen als das, was mir da passiert war.

„Du… du nimmst mich auf den Arm“, kam es von ihm und immer noch starrte er mich ungläubig an. Eine andere Reaktion hatte ich auch ehrlich gesagt nicht von ihm erwartet. „Sehe ich so aus, als würde ich dich verarschen?“ fragte ich und seufzte niedergeschlagen. „Mir tut alles weh und ich kann es ja auch nicht glauben, dass mir so etwas passieren musste. Ich bin aufgewacht und hab fast einen Herzinfarkt gekriegt, als ich nackt neben Rion im Bett gelegen habe.“

„Und was sagte er dazu?“ hakte Seth nach und ich war ihm wirklich dankbar, dass er sich vorerst mit seinen Kommentaren zurückhielt und ruhig wie sonst auch immer blieb. Ich seufzte leise und fuhr mir durchs Haar. „Er meinte, ich wäre ihm um den Hals gefallen und hätte ihn geküsst. Danach hat er mich zu sich nach Hause gebracht und dort ist es dann passiert. Ich weiß ja auch nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich hab ihm wohl erzählt, dass ich bereits drei Beziehungen hatte und aus irgendeinem Grund hat er es so interpretiert, dass ich schwul wäre und dann ist es eben so gekommen. Scheiße Mann… Schlimmer hätte es echt nicht kommen können.“

Diese Nachricht musste Seth erst mal verdauen und so wirklich schien er auch nicht zu wissen, was er dazu noch sagen sollte. Für ihn war es genauso verrückt wie für mich und er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Wahrscheinlich lag es am Alkohol“, vermutete er und dachte weiter nach. „Ich meine… ich hab dich ja schon mal betrunken erlebt und da kannst du eben auch sehr direkt und aufdringlich werden. Wahrscheinlich sind da irgendwelche falschen Signale gesendet worden und ich meine… ein Ausrutscher dieser Art ist wirklich sehr ungewöhnlich und passt auch überhaupt nicht zu dir. Kann es vielleicht sein, dass es mit deinen Männerkomplexen zu tun haben könnte?“

Da war ich selbst völlig überfragt und zuckte mit den Schultern. Ich trank meinen Kaffee aus, denn Koffein war jetzt genau das, was ich am allerdringendsten brauchte.

„Keine Ahnung. Ich kann mich an rein gar nichts erinnern, was nach dem Treffen mit Raphael passiert ist.“

Wieder dachte Seth nach und sein Blick wurde nun ernster. „Meinst du, er hat dich genötigt oder dir irgendetwas verabreicht?“

„Nein“, erwiderte ich sofort und stellte meine leere Tasse auf dem Boden ab. „Rion ist zwar ein mieser Arsch, aber er macht sich nur über andere lustig. Gewalt- und Sexualverbrechen sind gar nicht seine Art. Selbst in der Schule hat er mich nie verprügelt, höchstens mal ein Bein gestellt oder geschubst. Und ich kann mich auch nicht erinnern, wie er mal in der High School irgendjemanden belästigt haben sollte. Er hatte es immer nur auf mich abgesehen. Und es ist ja auch nicht so, dass sich je etwas zwischen uns geändert hätte. Ich hasse diesen Kerl und ich hab nach wie vor kein Interesse an Männern.“

Nun stellte auch Seth seine leere Tasse auf den Boden und meinte dazu nur „Nun, dann musst du dieses Erlebnis wohl oder übel als schlechte Erfahrung zum Thema Trinken verbuchen. Ich sag mal so: im betrunkenen Zustand können selbst die unmöglichsten Dinge passieren, eben weil der Verstand komplett lahm gelegt ist. Zieh es einfach als Lehre daraus, dass du beim nächsten Mal nicht so viel trinken solltest. Es war ein einmaliger Ausrutscher gewesen, der sich nicht wiederholen wird und es hat sich für dich nichts geändert. Nur weil du sturzbetrunken mit einem Mann geschlafen hast, macht dich das noch lange nicht schwul, da kann ich dich schon mal beruhigen. Und sehen wir es mal so: es hätte noch weitaus schlimmer kommen können.“

Was konnte denn bitteschön schlimmer sein als die Tatsache, dass man als Hetero mit einem anderen Mann ins Bett stieg, der zudem noch derjenige war, der dich jahrelang schikaniert hatte? Nun, als ich genau das fragte, war die Antwort eigentlich ganz einleuchtend.

„Stell dir vor, du hättest mit einer Frau ungeschützten Sex gehabt und sie wäre schwanger geworden. Du hättest dir noch irgendetwas einfangen können oder im betrunkenen Zustand an die Falschen geraten können. Wirklich alles hätte passieren können, da war der Sex mit Rion doch ein kleineres Übel, das wenigstens keine langfristigen Folgen nach sich zieht.“

So ganz Unrecht hatte er ja nicht. Ich musste ja auch wohl oder übel zugeben, dass ich an der ganzen Sache nicht ganz unschuldig war und es nicht so weit hätte kommen müssen, wenn ich nicht so viel getrunken hätte.

„Was für ein Scheiß“, seufzte ich und ließ mich aufs Bett fallen. „Ich hab auch echt eine Pechsträhne.“

Dem konnte mir Seth nur beipflichten. Da er merkte, dass ich wohl doch etwas Ruhe gebrauchen konnte, verabschiedete er sich und bot mir noch an, dass ich ihn jederzeit anrufen konnte, wenn etwas sein sollte. Insbesondere wenn Rion Ärger machen sollte. Ich war wirklich fertig mit den Nerven und wollte einfach nur schlafen und mich von dem Kater und den Schmerzen erholen. So verbrachte ich die meiste Zeit im Bett, kam zwischendurch in die Küche und aß etwas Leichtes, um nicht noch Gefahr zu laufen, mich zu übergeben. Das konnte ich überhaupt nicht gebrauchen.
 

Irgendwann wurde es mir doch ein wenig langweilig und ich schaltete den Fernseher ein. Und auf irgendeinem Kanal erfuhr ich von Ted Mosby aus der Lieblingsserie meiner Schwester, dass ab zwei Uhr nichts Gutes mehr passierte und man deshalb besser nach Hause fahren sollte, bevor noch ein Unglück geschah. Bei so viel Ironie konnte ich wirklich nur noch seufzen und den Kopf schütteln. Diesen Ratschlag hätte ich wirklich gut gebrauchen können, bevor ich in diesen Club gegangen bin. Blieb nur zu hoffen, dass ich Rion nie wieder sehen musste.

The Ice-Blue-Eyed Devil

Nachdem ich mich am Sonntag von der Horrorsamstagnacht erholt hatte, war ich am nächsten Morgen mit gemischten Gefühlen zur Uni gefahren. Ich war dieses Mal sogar pünktlich, woraufhin ich wenigstens nicht wieder zum Lieblingsopfer des Feldwebels auserkoren werden konnte. Zumindest für diesen Tag. Doch nach den Ereignissen konnte ich mich einfach nicht auf die Vorlesung konzentrieren und ich schien irgendwie unter ziemlicher Paranoia zu leiden. Denn jedes Mal, wenn ich sah, wie einige der Kommilitoninnen in meine Richtung schauten und leise kicherten, da packte mich die Angst, dass sie auf irgendeine Weise von meinem One-Night-Stand erfahren hatten und darüber lachten. Natürlich wusste ich, dass das absoluter Quatsch war. Immerhin wussten nur ich, Rion und Seth davon und das waren schon mehr als genug. Trotzdem war ich unruhig und konnte mich einfach nicht konzentrieren. Immer und immer wieder kreisten meine Gedanken um dieses böse Erwachen in Rions Bett und der Tatsache, dass ich tatsächlich mit ihm geschlafen hatte. Irgendwie kam ich mir so vor, als wäre das letzte bisschen meiner Selbstachtung und meiner Männlichkeit verloren gegangen und am liebten wäre ich an diesem Morgen einfach im Bett geblieben.

Mir war so verdammt flau im Magen, aber sonderlich Appetit hatte ich weder auf Frühstück, noch später auf Mittagessen. Ich zwang mich eher dazu, etwas zu essen, da ich wusste, dass es mir sonst nur noch schlechter gehen würde. Das heutige Mittagessen war eine Lasagne, was mich aber nicht sonderlich aufmunterte, denn genauso wie Couscous mochte ich auch keine Gerichte, die mit Käse überbacken waren. Außer vielleicht Pizza. Eher lustlos stocherte ich in meinem Essen herum und ich war wirklich dankbar, dass heute nicht ganz so viel los war und wir früher Feierabend hatten. Ich ärgerte mich, dass ich nicht mal die Konzentration aufgebracht hatte, mein Aquarellbild, an welchem ich schon seit Tagen arbeitete, fertig zu stellen. Stattdessen hätte ich es fast komplett ruiniert, wenn mich der Feldwebel nicht rechtzeitig aufgehalten hätte.
 

Ach Mann, heute war auch wirklich nicht mein Tag und ich wollte einfach nur nach Hause und mich in mein Bett verkriechen. Ich wollte auch am liebsten mit niemandem mehr reden. Nicht mal mit Seth. Ich brauchte einfach Ruhe, um das alles irgendwie verarbeitet zu bekommen. Um also noch ein wenig für mich allein zu sein, machte ich einen Spaziergang und machte dabei auch einen Umweg über den Park, um den Kopf frei zu bekommen. Wenigstens war das Wetter schön warm und sonnig und ich fühlte mich gleich viel besser, als ich die warmen Strahlen auf meiner Haut spürte. Außerdem ging ich auch gerne in den Park. Es mochte kitschig klingen, aber der Park hatte etwas Romantisches an sich. Es gab Springbrunnen, einen Teich mit Enten und sehr schön angelegte Blumengärten. Hier herrschte eine angenehme friedliche Ruhe und ich war schon als Kind oft hergekommen, wenn ich einfach mal meine ganzen Sorgen und Gedanken ablegen wollte. Man konnte schon fast sagen, dass der Park mein persönlicher Rückzugsort war, wo ich wieder neue Kraft tanken konnte. Meist hatte ich mich dann als Kind in den Büschen versteckt, wo mich keiner sehen konnte und dann hatte ich manchmal etwas gelesen, oder Musik gehört. An warmen Sommertagen im Gras zu liegen und von niemandem gestört zu werden, war für mich wahrer Balsam für die Seele.

Als ich den Springbrunnen erreichte, sah ich eine leere Bank und setzte mich, wobei ich mit einem etwas verträumten Lächeln den Springbrunnen betrachtete, der dem Stil der Renaissance nachempfunden war. Das Plätschern des Wassers hatte etwas sehr angenehmes und beruhigendes und ich fühlte mich sogleich viel besser. Es war wirklich so, als bräuchte es allein diese Dinge, damit ich mich besser fühlte. Meine Mutter pflegte auch manchmal zu sagen, dass eine Lichttherapie sogar sehr gut gegen Winterdepressionen half. Ich liebte die warmen Sonnenstrahlen und das herrliche Sommerwetter. Schon seit ich klein war, liebte ich diese Jahreszeit und das verlieh mir auch das Gefühl, mit meinem Familiennamen verbunden zu sein. Meine Mutter hatte trotz der Scheidung den Familiennamen meines Vaters beibehalten. Sie meinte, das wäre zu viel bürokratischer Aufwand, den sie sich nicht antun wollte. Zugegeben, der Nachname Roze wäre auch nicht so schlecht gewesen, aber ich bevorzugte doch lieber Brightside. Ich lächelte zufrieden und beschloss für mich, noch eine Weile hier zu bleiben, bevor ich nach Hause ging. Nicht weit entfernt sah ich eine alte Frau auf einer Bank sitzen, die die Tauben fütterte. Eigentlich ein fast schon alltäglicher Anblick, wäre da nicht jemand, der nicht weit entfernt mit einer Kamera und einem Dreibeinstativ stand und die Frau fotografierte. Es war Rion und ich wunderte mich zuerst, was er hier machte. Aber da er mit seiner Kameraausrüstung unterwegs war, schien er wohl gerade beruflich hier zu sein. Er sah sehr konzentriert aus und seine eisblauen Augen ruhten auf der alten Frau, die ein wenig verträumt wirkte, als sie die Tauben fütterte. Zuerst beobachtete ich ihn noch ein wenig, beschloss dann aber, doch lieber weiterzugehen. Ich wollte ihm nicht über den Weg laufen und Stress mit ihm bekommen. Also erhob ich mich von der Bank, schnappte mir meine Tasche und ging schnell weiter, wobei ich hoffte, er würde mich nicht ansprechen. Aber zum Glück schien er wohl zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt zu sein, als dass er die Zeit hatte, nach mir zu rufen und wieder auf Konfrontation zu gehen. Also ging ich doch nach Hause und war ein wenig enttäuscht, dass der Parkbesuch ein so jähes Ende haben musste. Aber zur Not konnte ich ja am Abend noch mal hingehen. Oder vielleicht morgen. Denn da hatten wir früher frei, weil danach die Semesterferien begannen. Danach hatte ich dann Zeit genug, um mich wieder voll und ganz der Malerei zu widmen. Zwar malten wir schon an der Uni genug und ich war schon gespannt darauf, wenn wir mit der Aktmalerei begannen, aber ich wollte auch mal etwas anderes malen. Ich hatte zuhause zum Glück eine Staffelei und ich hatte sowieso gerade ein Bild, an dem ich arbeitete. Ich wollte nämlich den Springbrunnen malen und hatte schon die Hintergründe teilweise ausgearbeitet. Der Brunnen selbst und ein paar andere Akzente fehlten mir noch, aber ich hatte in der letzten Zeit wegen der Sache mit Katherine nicht wirklich die Motivation zum Malen gehabt. Aber jetzt sollte ich mich langsam mal wieder aufraffen und weiter nach vorne sehen. Hauptsache war nur, dass ich Rion nicht schon wieder im Park begegnete. Ich hatte ja schon verdammt viel Glück gehabt, dass er mich nicht bemerkt hatte und ich dieser unangenehmen Konfrontation noch mal aus dem Weg gehen konnte. Immer noch schämte ich mich dafür, dass ich tatsächlich mit ihm geschlafen hatte und ich wusste auch nicht, wie ich das mit mir selbst vereinbaren sollte. Jedes Mal, wenn ich daran zurückdachte, kam ich mir so vor, als müsste ich einen Selbstkonflikt mit mir selbst austragen. Hoffentlich ging das bald wieder vorbei und ich konnte mich auch wieder anderen Dingen widmen, ohne ständig daran denken zu müssen, dass ich Sex mit Rion gehabt hatte. Ich brauchte einfach eine Ablenkung.
 

So hatte ich die nächsten zwei Tage Ruhe und konnte mich dann auch endlich auf die Semesterferien freuen. Drei Monate Zeit, um mich anderen Dingen zu widmen. Ich konnte Malen, Radfahren, bei Seths Tante im Blumenladen aushelfen und noch genügend andere Dinge tun. Vor allem aber brauchte ich weder Katherine, noch dem Feldwebel über den Weg zu laufen. Und dieser Gedanke heiterte mich gleich deutlich auf. Meine Stimmung besserte sich sogar so sehr, dass ich ein fröhliches Lächeln auf den Lippen hatte und ein Liedchen vor mich hinsummte. Doch meine Stimmung erhielt einen jähen Dämpfer, als ich am ersten Ferientag nach Hause kam, nachdem ich im Blumenladen ausgeholfen hatte. Ich rief wie immer ein „Bin wieder da!“ und wollte direkt in mein Zimmer gehen, da kam meine Mutter aus der Küche zu mir und von ihr erfuhr ich, dass ich Besuch hatte. Und ich ahnte schon, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Denn wenn sie von „Besuch“ sprach, dann konnte es sich jedenfalls nicht um Seth handeln. Den hatte ich ja sowieso schon den ganzen Tag lang gesehen.

Mit tausend Gedanken im Kopf ging ich in die Küche und sah Rion am Küchentisch sitzen. Mein Herz setzte fast einen Schlag aus und ich konnte nicht fassen, dass er tatsächlich hier war. Dieser Mistkerl saß wie selbstverständlich da und trank Kaffee und hatte offenbar schon mit meiner Mutter geredet.

„Was willst du denn hier?“ fragte ich ihn etwas schroff und bereitete mich innerlich darauf vor, mir wieder einen verbalen Schlagabtausch mit ihm liefern zu müssen. Doch er selbst blieb ganz entspannt und schien sich nicht sonderlich an meinem feindseligen Verhalten zu stören.

„Ich möchte nur ein wenig mit dir unter vier Augen reden, Fayette.“

Ich warf meiner Mutter einen Blick zu. Sie hatte schon verstanden und nickte, dann ließ sie uns beide allein. Ich schloss die Tür hinter mir, blieb aber stehen. Und als Rion auch noch meinte „Setz dich doch, ich beiß schon nicht“, da blieb ich erst recht stehen, woraufhin er nur amüsiert schmunzelte und fragte „Warum denn so zickig, Fayette? Hast du etwa deine Tage?“

„Sehr witzig“, fauchte ich zurück und setzte mich letztendlich dann doch. Einfach nur, damit er endlich Ruhe gab. Ich wollte diesen Kerl schnellstmöglich wieder loswerden, aber erst mal wollte ich wissen, was er wollte. Mich beschlich da nämlich das ungute Gefühl, dass es eventuell um unseren One-Night-Stand gehen könnte. Nachdem ich tief durchgeatmet und meine Unruhe bekämpft hatte, schaffte ich es doch, ruhig und ernst zu reden. „Was willst du?“ fragte ich direkt und sofort kam Rion ohne große Umschweife direkt auf den Grund seiner Anwesenheit zu sprechen. Ein Punkt, der schon mal für ihn sprach, denn ich hasste es, wenn Leute große Reden schwangen, ohne dass man wusste, was sie eigentlich sagen wollten.

„Ich wollte noch mal mit dir über das Fotoshooting sprechen.“

Fotoshooting? Das war das Einzige, was ihn interessierte? Und ich dachte schon, es ginge um etwas anderes. Ich seufzte und war auf der einen Seite erleichtert, aber auf der anderen Seite auch genervt.

„Ich hab doch gesagt ich mach das nicht. Such dir einen anderen Deppen.“

„Glaubst du, ich hätte das nicht?“ kam es von Rion, der nun die Arme verschränkte und mir einen hochmütigen Blick zuwarf. „Aber Fakt ist, dass du das ideale Gesicht dafür hast, dasselbe gilt für den Rest deines Körpers.“

Und als er mir das sagte und dabei noch so hinterhältig grinste, wurde mir heiß im Gesicht und ich wusste, dass ich errötete. Kurz wich ich seinem Blick aus, weil mir das Ganze zu peinlich war, aber sah ich ihn wieder fest an, nur um nicht verunsichert zu wirken. Doch Rion ging nicht darauf ein, sondern fuhr unbeirrt fort.

„Ich habe ganz konkrete Vorstellungen, die ich auch zu realisieren gedenke und dazu brauche ich dich. Ich habe lange und breit überlegt und werde mein Angebot auf 750$ erhöhen.“

Ich schluckte bei der Summe. Das war verdammt viel Geld und ich war misstrauisch.

„Warum so viel?“

Ich beobachtete wirklich jede Regung meines Feindes, doch er gab sich keine Sekunde lang auch nur die geringste Blöße. Er wirkte vollkommen unantastbar.

„Weil es eine gute Investition ist“, erklärte er sachlich. „Ich gedenke an einer Ausstellung in Chicago und anschließend an einer weiteren Ausstellung in Berlin teilzunehmen.“

„Berlin?“ platzte es aus mir raus. „Du… du willst echt nach Deutschland fliegen?“

„Ganz genau“, bestätigte er und ignorierte dabei meine überraschte Reaktion. So wie er darüber sprach, hätte man wirklich meinen können, es wäre eine unbedeutende Nebensache. „Für diese Ausstellungen brauche ich ein geeignetes Motiv und ich gedenke, dass mir eine mehrtägige Fotosession mit dir gute Chancen einbringt, genug Interessenten zu finden, die ich für meine Arbeit gewinnen kann. Und darum ist mir diese Investition auch alle Male wert. Immerhin ist dies nicht nur ein einfacher Kleinstadtwettbewerb. Künstler aus aller Welt werden dabei sein.“

Allein bei dem Gedanken daran wurde mir schwindelig und ich wusste nicht mehr, was ich dazu noch sagen sollte. Doch dann rief ich mir wieder meinen jahrelangen Disput mit Rion zurück ins Gedächtnis und fragte deshalb „Und was ist, wenn ich trotzdem ablehne?“

Hier aber spielte sich ein Lächeln auf seine Lippen, welches man nur als teuflisch bezeichnen konnte und seine eisblauen Augen funkelten gefährlich. Ich ahnte nichts Gutes und bereute insgeheim meine Frage. Und das sollte sich auch schnell bewahrheiten.

„Wissen eigentlich deine Mutter und deine Schwester von unserem kleinen Ausrutscher?“

Mein Magen verkrampfte sich augenblicklich und alles Blut wich mir aus dem Kopf. Mir wurde schlecht und ich stand kurz davor, die Fassung zu verlieren. „Wie bitte?“ fragte ich ihn erschrocken.

„Du… du willst mich erpressen?“

„Erpressen würde ich das nicht nennen“, korrigierte er mich direkt. „Nennen wir es einfach so, dass wir geschäftlich übereinkommen und ich dafür sorge, dass wir alle zufrieden sind. Ich bekomme was ich will und du kannst dein Geheimnis für dich bewahren. Und nebenbei kannst du dir genug Geld verdienen, um in deinen Semesterferien einen drauf zu machen.“

Ich schwieg und wusste nicht, was ich tun sollte. Irgendwie kam es mir so vor, als würde ein dicker Kloß in meinem Hals feststecken und mir fiel das Schlucken schwer. Wie ich Rion doch hasste. Dieser elende Bastard spielte mit mir und stellte mich vor die Wahl, entweder abzulehnen und riskieren, dass Mum und Emily von meinem One-Night-Stand mit ihm erfuhr, oder aber ich gab nach und er bekam seinen Willen. Wie immer. Was für ein verdammter Teufel er doch war.

Innerlich zerknirscht von der Entwicklung sagte ich erst mal nichts und ich warf ihm hasserfüllte Blicke zu.

„Du bist echt das Allerletzte“, knurrte ich, aber schließlich zwang ich mich dazu, mich wieder zu beruhigen. „Also schön, dann mach ich dieses bescheuerte Shooting eben. Wenn du mich dann endlich in Ruhe lässt und niemandem davon erzählst, was zwischen uns gelaufen ist…“

„Das ist kein Problem. Ich habe auch schon einen Vertrag vorgefertigt, der alles genauestens festhält.“

Damit holte Rion aus seiner Tasche tatsächlich einen Vertrag hervor, den ich genau studierte, um auch bloß keine versteckten Fallen zu entdecken. Was das betraf, da konnte man nie vorsichtig genug sein. Doch wie sich herausstellte, war der Vertrag sehr sachlich und dennoch leicht verständlich geschrieben. Es wurde festgehalten, dass ich Mitrechte an den Fotos und somit auch Mitbestimmrecht hatte, wer meine Bilder zu sehen bekommen sollte. Rion erklärte mir zu dem Punkt, dass das eine Absicherung seiner Kunden wäre, damit bestimmte Fotos nicht auf einschlägigen Seiten hochgeladen wurden und man auch verfolgen konnte, wer die Fotos zu sehen bekam. Nun, mir war das ganz recht. Des Weiteren wurde mir als Fotomodel eine Aufwandsentschädigung von 750$ zugesprochen, wenn ich mich dafür bereit erklärte, für eine Zeitspanne von zwei Wochen (nach Bedarf auch sogar bis zu vier Wochen) an den Fotosessions teilzunehmen und mich an die weiteren Rahmenbedingungen zu halten. Das waren beispielsweise die üblichen Vorschriften bei Krankheitsfällen, Verletzungen und dass Drogen und Alkohol während der Fotosession nicht konsumiert werden durften und einen Vertragsbruch darstellten. Als nächstes folgte noch eine Verschwiegenheitserklärung, was Geschäftsgeheimnisse betraf und im Gegenzug versicherte Rion laut Vertrag, ebenfalls Verschwiegenheit über die Privatsphäre seines Kunden zu wahren. Zudem musste ich eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass ich mich an die Anweisungen des Fotografen halten würde und auch mit den Vertragsbedingungen einverstanden wäre.

Nachdem ich den Vertrag in aller Ruhe noch ein zweites Mal durchgelesen hatte und an einzelnen Punkten noch mal nachfragte, setzte ich schließlich meine Unterschrift. Dann reichte Rion mir noch ein Exemplar, was dann für mich war.

„Machst du für all deine Kunden solche Verträge?“ erkundigte ich mich, nachdem ich meinen Vertrag eingesteckt hatte. Ich sah Rion an, dass er sehr zufrieden damit war, dass er seinen Willen bekommen hatte. Und das regte mich fast schon wieder auf.

„Nicht immer. Hauptsächlich, wenn ich Models engagiere oder wenn ich prominente Kundschaft habe.“

„Prominent?“ Ich war, ohne es zu wollen, neugierig geworden bei diesem Wort. Ich konnte es mir irgendwie nicht so wirklich vorstellen, dass Rion tatsächlich prominente Kunden hatte.

„Ja, ich habe für einige Modelagenturen als Fotograf gearbeitet und auch für wohlhabende Kunden Portraitfotos erstellt. Die Namen kann ich natürlich aus Datenschutzgründen nicht nennen.“ Bei dem Wort Model klingelte wieder etwas bei mir. Mir fiel wieder ein, dass Emily ja selber eines Tages Model werden wollte. Und sogleich wagte ich auch eine Frage.

„Meine Schwester würde eines Tages gerne Model werden und sie würde sich wahnsinnig freuen, wenn du mal ein paar Tipps geben könntest. Wäre das möglich?“

„Ist sie hier?“ Unsicher zuckte ich mit den Schultern und stand auf. Ich verließ die Küche und klopfte an Emilys Zimmertür. Ein genervtes „Verschwinde!“ kam von der anderen Seite, doch ich ignorierte das pubertäre Gezicke meiner Schwester und öffnete die Tür trotzdem. Emily lag auf ihrem Bett und schrieb mit ihren Freundinnen über Whatsapp. Genervt sah sie zu mir rüber und schien immer noch ziemlich sauer zu sein, weil ich sie nicht in den Club mitgenommen hatte und weil Rion ausgerechnet mir einen Modeljob angeboten hatte. In der Hinsicht konnte sie wirklich nachtragend sein.

„Was willst du? Verpiss dich.“

„Okay“, meinte ich nur in einem betont gleichgültigen Ton und blieb kurz an der Tür. Ich wusste schon, wie ich sie hervorlocken konnte. „Dann sag ich Rion, er soll ein anderes Mal kommen.“

Und bei dem Namen wurde sie natürlich sofort hellhörig und rief völlig aufgeregt „Rion McAlister ist hier?“

Noch nie hatte ich sie so schnell vom Bett aufspringen sehen. Sie war völlig aus dem Häuschen und hatte offenbar die ganze Zeit nicht mitgekriegt, dass er hier war. Vermutlich war sie direkt nach der Schule in ihr Zimmer gegangen und schmollte seitdem. Hastig eilte sie zu ihrem Spiegel am Schminktisch und richtete noch ein wenig ihre Haare, kontrollierte ihr Make-up und zupfte noch ein wenig an ihren Klamotten, bevor sie fragte „Wo ist er denn?“

Und als ich ihr antwortete, dass er in der Küche war, eilte sie wie der Blitz davon. Ich hingegen ging erst in mein Zimmer und legte den Vertrag auf meinen Schreibtisch, damit ich ihn später in meinen Ordner mit allen wichtigen Papieren einheften konnte. Dann stieß ich in die Küche dazu.
 

Emily hatte sich auf meinen Platz gesetzt und wirkte vollkommen aufgeregt, als sie doch tatsächlich eines ihrer großen Idole vor sich sah. Auf mich hingegen wirkte es wie eine blanke Ironie. Meine kleine Schwester vergötterte ausgerechnet den Kerl, der mich erst jahrelang schikaniert und mich dann abgefüllt und nach Strich und Faden rangenommen hatte. Wenn sie das erfahren würde… Aber ich freute mich auch ein wenig für sie, denn sie strahlte richtig über beide Ohren und sie erhoffte sich, dass er sie groß rausbringen könnte. Ich setzte mich dazu, um zu hören, was da so gesprochen wurde.

„So, du willst also Model werden?“ fragte Rion und musterte meine Schwester gründlich. Irgendwie kam es mir so vor, als würden seine Augen heute ein wenig trüb wirken, je mehr ich sie betrachtete. Hatten sie vorher immer so hell gestrahlt wie Kristalle, so wirkten sie nun irgendwie matt. Ob es ihm wohl nicht gut ging? Nun, wenn das der Fall war, dann bewies er absolutes Talent darin, es perfekt zu verschleiern. Emily hingegen begann lebhaft zu erzählen, was sie für Ziele und Träume hätte und irgendwie kam ich mir gerade wie in einem Bewerbungsgespräch vor. Schließlich forderte Rion sie auf, aufzustehen und sich ein wenig herumzudrehen. Meine Schwester folgte all seinen Anweisungen und ging dabei etwas hektisch vor, was wohl an ihrer Aufregung lag.

„Treibst du Sport?“ erkundigte er sich, woraufhin Emily antwortete „Ja, ich spiele im Verein Volleyball und gehe am Wochenende joggen.“

Ein bedächtiges Nicken, aber so wirklich ließ sich nicht erkennen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Dann aber stellte er eine Frage, die nicht nur mich, sondern auch Emily überraschte.

„Und wie sieht es mit deiner Ernährung aus?“

„Ich… äh…“, stammelte meine Schwester und war sichtlich irritiert. Aber dann fing sie sich wieder und erklärte, dass sie sich ganz normal ernähre. Weder sie noch ich wussten, inwieweit das jetzt relevant für Rion war, aber nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, erklärte er es uns.

„Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Emily, von der Größe her bist du etwas klein für ein Model und du bist zwar ein sehr hübsches junges Mädchen. Aber es gibt da ein Problem und das ist ein Thema, welches ich jedem Mädchen erläutere, das Model werden will. Allein hübsch auszusehen reicht nicht dazu, um reich und berühmt zu werden. Für deinen Körper musst du bereit sein, deine komplette Ernährung umzustellen, deine Sportart zu ändern und mit körperlicher und auch seelischer Belastung zu leben, die nicht sehr viele Mädchen schaffen. Model zu sein, klingt erst nach einem Traum, aber es ist sehr harte Arbeit und was mir besonders zu denken gibt, ist die Tatsache, dass du gerade erst 16 Jahre alt bist. Du bist noch zu jung, um Model zu werden.“

Dieser jähe Dämpfer saß tief bei Emily. Man sah ihr die Enttäuschung deutlich an und sie fand erst keine Worte. Rion wies sie an, sich zu setzen. Nur zögernd tat sie dies und sogleich holte er eine Mappe aus seiner Tasche, in der er offenbar Fotos aufbewahrte.

„Was würdest du tun, wenn du von einer Modelagentur gesagt bekommst, du bist viel zu dick, selbst mit dieser Figur?“

„Na ich würde abnehmen“, meinte sie und ich begann irgendwie zu ahnen, worauf das alles hinauslaufen würde. Und so blieb ich natürlich, weil ich gespannt war, wie sich die Sache noch entwickelte.

„Wie würdest du abnehmen?“

Wieder dachte Emily kurz nach. „Ich würde mehr Sport treiben und weniger essen.“

„Und genau darin liegt die Gefahr.“

Nun öffnete er die Mappe und zeigte ein paar Fotos. Und was ich sah, verschlug mir vor Schreck fast den Atem. Was ich da sah waren alles Frauen, die vollkommen abgemagert waren. Einige waren fast nur noch Haut und Knochen und sahen so verbraucht und kraftlos aus, dass man nicht glauben konnte, dass diese Frauen nicht älter als 30 Jahre waren. Und auch Emily war schockiert, als sie das sah.

„Was… was sind das für Fotos?“ fragte sie und schlug sich die Hand vor dem Mund, als sie ein junges Mädchen sah, das vielleicht so alt war wie sie und so ungesund mager aussah, dass man es schon als lebensbedrohlich bezeichnen konnte. Rions Blick wurde sehr ernst.

„Das sind alles Models“, erklärte er. „Sheila ernährt sich von einer Zitrone und drei Tassen ungesüßtem Tee pro Tag und Monica hier hatte sich nur von einem Stückchen Schokolade ernährt, mehr nicht. Models rutschen sehr schnell in diese so genannte Size Zero Zwangmaße hinein und um diese Maße zu erfüllen, hören sie einfach auf zu essen, um möglichst dünn zu sein. Natürlich gibt es auch Ausnahmen und es gibt Frauen, die seit Jahren gesund als Models leben. Aber es sind und bleiben Ausnahmen. Unglaublich viele junge Mädchen, die Models werden wollen, geraten sehr schnell in eine Essstörung rein und leiden an Anorexie, also Magersucht. Schlimmstenfalls führt so etwas auch zum Tod.“

Wir beide waren still geworden bei der Geschichte. Ich hatte zwar gehört, dass das Modelbusiness kein Zuckerschlecken war, wie viele Mädchen immer dachten. Aber dass teilweise so schlimme Zustände herrschten, hätte selbst ich nicht gedacht.

„Fakt ist, dass sehr viele berühmte Modedesigner Frauen bevorzugen, die möglichst wenig wiegen und möglichst dünn sind. Und das führt auf lange Zeit gesehen in einen Teufelskreis hinein, weil die Gesundheit leidet und man dafür noch Zuspruch bekommt und gut bezahlt wird. Ich hatte mal mit einem Model zusammengearbeitet. Ihr Name war Isabelle Templer. Sie war auch mit 16 Jahren Model geworden und hatte sehr viele Aufträge bekommen. Eine Modelagentur hatte sie entdeckt und sie wurde schnell erfolgreich. Aber sie war einfach zu dick.“

Damit legte Rion uns ein weiteres Foto hin, welches ein lebensfrohes hübsches Mädchen mit lockigen schwarzen Haaren zeigte. Doch das Bild daneben zeigte eine abgemagerte Gestalt, die einen erschreckenden Anblick bot. Als ich Isabelles Foto sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie zu dick war. Sie war ja noch dünner als Emily.

„Sie aß gar nichts mehr, sondern ernährte sich nur noch von Säften und Ballaststoffpräparaten. Das Ergebnis war, dass sie innerhalb von zwei Jahren rapide abnahm und dann schließlich während einer Session einen Kreislaufzusammenbruch erlitt. Sie fiel ins Koma und starb zwei Tage später an den Folgen der Unterernährung. Direkt danach habe ich aufgehört, weiterhin für Modelagenturen zu arbeiten und habe mich daraufhin selbstständig gemacht.“

Sowohl Emily als auch ich waren still geworden und mussten das erst mal schlucken. Ich sah die Fassungslosigkeit und das Entsetzen bei meiner Schwester. In dem Moment schien etwas in ihr zu zerbrechen. Ihr naiver Traum von einer Modelkarriere war zerstört worden und sie schien sich wohl erst jetzt wirklich darüber im Klaren zu sein, welche Schattenseiten dieses Leben so mit sich brachte. Schließlich aber begann sie nun selbst die Mappe durchzublättern und sah noch mehr dieser schockierenden Bilder.

„Sind alle diese Models tot?“

„Nein, nur Isabelle und Monica“, antwortete Rion und ich sah für einen kurzen Moment so etwas wie Bedauern und Reue in seinem Blick. Wenn die Fotos alle von ihm stammten, dann musste er Isabelle gekannt haben. Zumindest verriet dies sein Blick, wenn er ihr Foto ansah. Das von Monica hatte er nur kurz erwähnt. Sicher war das nicht ganz spurlos an ihn vorbeigegangen, dass sie an den Folgen ihrer Magersucht gestorben war. Ansonsten hätte er wohl nicht seinen Job gekündigt.

„Ich will dir deinen Traum nicht schlecht machen, Emily“, sagte er schließlich, als er die tiefe Enttäuschung bei ihr sah. „Es gibt auch Agenturen, die nicht in diese Richtung arbeiten und auch junge Frauen und Mädchen unter Vertrag nehmen, die nicht unbedingt Size Zero Größe haben. Lass dir das einfach mal durch den Kopf gehen und überleg dir das alles mal in Ruhe. Wenn du immer noch Model werden willst, kannst du mich ja anrufen und ich gebe dir ein paar Adressen. Vom Aussehen und von der Ausstrahlung her hast du jedenfalls einige Chancen.“

Da er wohl alles Wichtige gesagt zu haben schien, stand er nun auf, packte seine Tasche und verabschiedete sich von uns, da er noch ein paar wichtige Termine hatte. Er gab Emily noch seine Karte und versprach mir, dass er sich noch telefonisch bei mir für den ersten Sessiontermin melden würde. Damit ging er zur Haustür und war dann auch schon verschwunden. Ich war völlig sprachlos und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte nie und nimmer gedacht, dass Rion so etwas erzählen würde und Emily sogar noch ernsthaft davor warnte, Model zu werden. Stattdessen hätte ich wirklich geglaubt, er würde sie um den Finger wickeln, ihr irgendetwas versprechen und sie sofort an jemanden vermitteln… oder sich abschätzig über ihr Aussehen äußern. Stattdessen hatte er sie über die Risiken und Gefahren des Modelbusiness aufgeklärt und ihr nahe gelegt, ernsthaft darüber nachzudenken. Ich konnte mir nicht helfen, aber in diesem Moment erschien mir Rion nicht mehr allzu sehr als arrogantes Ekelpaket.

Make-Up War and Fotoshooting

Es gibt Tage, an denen man das Gefühl hat, dass er schon auf eine Katastrophe zusteuern wird, noch ehe man überhaupt mit dem Fuß aus dem Bett aufsteht. Entweder weil man eine verdammt gute Intuition hat, oder weil man ein absoluter Pessimist ist. Bei mir traf es, konnte man es Glück oder Unglück nennen, dass ich kein Pessimist war, auf die gute Intuition zu. Denn als ich am nächsten Tag aufstand, nachdem Rion mich mit einer hinterhältigen List dazu gebracht hatte, seinen Vertrag zu unterschreiben, erhielt ich auch schon einen Anruf. Rion rief mich um genau acht Uhr morgens an und bestellte mich für zehn Uhr zu seinem Atelier, wie er es nannte. Die Adresse konnte ich der Visitenkarte aufnehmen, die ich immer noch bei mir hatte, wobei es mir ein absolutes Rätsel war, warum ich sie nicht schon längst zerrissen und weggeworfen hatte.

Auf meine Frage, ob ich irgendetwas Bestimmtes anziehen sollte, meinte er nur, dass dies nicht nötig sei, da mir für das Fotoshooting Kleidung bereitgestellt werden würde. Wenn ich ehrlich war, wollte ich gar nicht hin. Wirklich alles in mir sträubte sich und auch meine Laune war auf dem absoluten Tiefpunkt und als ich mich ins Badezimmer verkroch, schaltete ich mein Smartphone an und spielte I don’t like Mondays, was mir in diesem Moment passend für meine Stimmung und den ganzen Tag erschien. Nur mit dem Unterschied, dass es nicht Montag war und ich auch nicht vorhatte, gleich Amok zu laufen. Da war es viel wahrscheinlicher, dass ich diesem Blödmann einen Schlag ins Gesicht verpasste und ihm die Nase brach. Und das würde wohl nie passieren, weil Rion schon seit der Middle School Karate trainierte und ich außerdem auch Muskeln wie ein Mädchen hatte. Während ich unter der Dusche stand und der Musik lauschte, drehten sich meine Gedanken darum, was wohl beim Fotoshooting passieren würde. Na hoffentlich musste ich nicht komplett nackt vor der Kamera posieren. Wenn das der Fall sein sollte, dann würde ich die ganze Aktion abbrechen, ganz egal wie viel Geld mir dieser Schnösel bot und da war es mir auch völlig Schnuppe, was im Vertrag stand. Ich ließ doch keine Erotikfotos von mir machen, damit irgendwelche Wildfremden meine Bilder begaffen konnten. Allein die Vorstellung war widerlich.

Na hoffentlich ging es gut und es gab nicht allzu viel Stress. Und hoffentlich dauerte das Fotoshooting auch nicht allzu lange! Ich hatte nämlich keine Lust, länger als nötig in Rions Nähe zu bleiben. Das lag nicht nur daran, weil ich ihn ohnehin nicht leiden konnte. Nach diesem One-Night-Stand wollte ich ihm lieber nicht über den Weg laufen. Zum Glück konnte ich mich immer noch nicht so wirklich erinnern, was alles passiert ist und was er mit mir gemacht hatte. Aber das Schlimmste war, dass ich letzte Nacht so einen abstrusen Traum hatte, in dem ich doch tatsächlich freiwillig mit Rion geschlafen hatte und wie er über mich hergefallen war. Das alles war so heiß, dass ich doch tatsächlich mit einer Erektion aufgewacht war. Konnte es noch etwas Peinlicheres geben? Warum zum Teufel hatte ich bloß einen erotischen Traum mit dem Kerl, dem ich am liebsten persönlich den Arsch aufreißen würde? Ich konnte mir das nur so erklären: dieser Bastard hatte mich endgültig verdorben. Ja, das war alles seine Schuld. Nur wegen ihm hatte ich doch tatsächlich einen Sextraum mit ihm gehabt und musste mit einem Ständer aufwachen. Ich war mir sicher, dass selbst Seth sich kaputtlachen würde, wenn ich ihm von diesem Vorfall erzählte. Für mich machte es das alles nur noch schlimmer.

Als wäre es nicht schon genug, dass ich mich so furchtbar dafür schämte, dass ich mit einem Mann geschlafen hatte, jetzt musste ich sogar noch davon träumen. Entweder hatte es mit meiner fehlenden Erinnerung zu tun, die sich vermutlich in meinem Traum abgespielt hatte, oder aber Seth hatte sich geirrt und ich wurde tatsächlich schwul. Nur konnte ich das ja nicht wirklich fragen. Da würde selbst bei ihm der Spaß aufhören und die Frage klang auch etwas diskriminierend. Irgendwie war das Ganze so verwirrend für mich und ich wusste einfach nicht, was mit mir los war. Irgendwo hatte ich auch mal gehört, dass es so etwas wie sexuelle Spannung geben konnte. Immerhin hatte ich mich gerade nach monatelanger Beziehung von Katherine getrennt und dann kam Rion und rückte mir so auf die Pelle. Und nach dem One-Night-Stand wusste ich vermutlich einfach nicht mehr, wohin mit mir selbst und da ich eh schon so durcheinander war wegen der ganzen Geschichten, die auf einmal auf mich einprasselten, da konnte ich selbst so einen verrückten Traum haben. Dass dies eventuell die Antwort war, warum ich träumte, Rion und ich hätten Sex, stellte für mich schon eine Erleichterung dar. Hauptsache war, dass ich nicht noch tatsächlich irgendwelche Gefühle für ihn entwickelte, die nicht mit Hass zu tun hatten. Aber dennoch hatte ich verrückterweise das Gefühl, als wäre das alles wirklich passiert und als hätte Rion mich tatsächlich so leidenschaftlich berührt, während ich geschlafen hatte.

Wie er meinen Körper liebkost und in mich eingedrungen war… und wie er dabei meinen Namen geflüstert hatte…
 

Als ich merkte, dass diese Bilder wieder hochkamen und mich schon wieder erregten, drehte ich das heiße Wasser ab, woraufhin es eiskalt unter der Dusche wurde. Ich musste mich dringend abkühlen und endlich wieder einen klaren Kopf bekommen. Und die kalte Dusche half tatsächlich. Nachdem ich mich abgetrocknet und eine einfache ¾-Jeanshose und ein kariertes Hemd angezogen hatte, föhnte ich noch meine Haare und ging im Anschluss in die Küche, wo meine Mutter wieder da saß und ihre Kreuzworträtsel bearbeitete. Ich machte mir ein Vollkornbrötchen mit Käse zum Frühstück und goss mir ein Glas Orangensaft ein.

„Was bist du denn so früh auf den Beinen?“ fragte sie überrascht, hielt aber ihren Blick auf die Zeitung, sodass es mir ein Rätsel war, wie sie mich trotzdem sehen konnte. Aber ich hatte sowieso schon immer den Eindruck gehabt, dass sie selbst Augen am Hinterkopf hatte.

„Rion hat mir einen Job angeboten. Er braucht wohl ein androgynes Model als Motiv für eine Ausstellung.“

„Ach das ist ja schön“, meinte sie begeistert. „Dann habt ihr euch also wieder vertragen?“

Ich verschluckte mich beinahe an meinem Saft, als sie mir diese Frage stellte, da ich erst nicht wusste, ob sie die Frage ernst meinte, oder ob sie sich nur einen Spaß mit mir erlaubte. Doch es schien tatsächlich so, als meinte sie das wirklich ernst.

„Als ob ich mich jemals mit diesem blöden Schnösel vertragen würde“, gab ich empört zurück. „Der macht sich doch selbst jetzt noch über mich lustig.“

Und außerdem war ich seit dem One-Night-Stand noch weiter davon entfernt, mich mit diesem Widerling zu vertragen. Nur konnte ich das ja wohl schlecht Mum sagen. Aber natürlich musste sie dann nachfragen, warum ich dann den Job angenommen hatte. Ich seufzte geschlagen und erklärte einfach „Ich bin ihm einen Gefallen schuldig, das ist alles.“

Zum Glück fragte sie nicht weiter nach, sonst wäre ich noch wirklich in Erklärungsnot geraten. „Na dann versuch dich aber wenigstens ein bisschen mit ihm zu vertragen. Wenn er dich provoziert, lass dich gar nicht erst darauf ein.“

„Ich bin kein Teenager mehr, Mum.“

Ich wusste ja, dass sie es gut meinte, aber manchmal konnte sie schon nerven, weil sie mich manchmal immer noch wie einen Minderjährigen behandelte. Wenn ich wenigstens genug Geld hätte, dann wäre ich auch schon längst ausgezogen, aber ein Job neben der Uni brachte einfach nicht genug Geld ein. Und so hatte meine Mutter gesagt, ich könnte noch zuhause wohnen, solange ich noch studierte. Für mich war das eine große Erleichterung, denn ansonsten hätte ich eine finanzielle Notlage und schlimmstenfalls noch einen Haufen Schulden gehabt. Aber manchmal gab es schon Tage, wo ich ernsthaft darüber nachdachte, mit Seth in eine WG zu ziehen.
 

Nachdem ich mit dem Frühstück fertig war, schnappte ich mir meine Tasche, zog meine Sneakers an und fuhr mit dem Fahrrad zu der Adresse, die in der City lag. Das Atelier befand sich knapp fünf Minuten Fußmarsch abseits der Einkaufspassage und sah auf dem ersten Blick wie eine normale Hausadresse aus. Doch dann entdeckte ich ein großes Schild, welches in geschwungenen Lettern „Atelier McAlister“ verkündete. Und zusätzlich abgebildet war wohl die „Marke“ des Besitzers, die sich auch auf der Visitenkarte wiederfand. Es zeigte eine schwarze Frauensilhouette mit wehendem Haar und Flügeln, was dann wohl wahrscheinlich eine Fee darstellen sollte. So gesehen erinnerte es mich auf dem ersten Blick an ein Tattoo. Die schwarze Silhouette war sehr dezent, aber dennoch kunstvoll. Man sah nur einfache Konturen und wir sie einen Arm unter ihrer Brust anwinkelte und den anderen Arm einfach herunterhängen ließ. Der Rest ihres Körpers war aber ausgelassen worden, aber ich fand das Bild so perfekt wie es war. Nur fragte ich mich, warum sich Rion ausgerechnet für solch ein Motiv entschieden hatte. Aber zumindest passte das Haus im gotischen Stil zu Rion. Der Kerl bewies wirklich Geschmack und allein schon von außen her gefiel mir das Atelier jetzt schon.

Ich klingelte an und schließlich wurde die Haustür geöffnet.

Ich sah direkt schon, dass das Haus ein Altbau mit sehr hohen Decken war. Alles war sehr hübsch eingerichtet. Rote Teppiche waren auf dem Boden ausgebreitet und die Türen als auch die Geländer waren aus hochwertigem Mahagoniholz. Die Wände waren in einem strahlenden Weiß gestrichen und alles wirkte fast schon vornehm. Sogleich hörte ich schon auch Schritte von Absätzen, die immer näher kamen. Eine große und gertenschlanke Frau mit langem schwarzem Haar, die wahrscheinlich um die 37 Jahre alt war, kam auf mich zu und hatte ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Sie grüßte mich mit einem freundlichen Händedruck und fragte mich direkt „Sind Sie Mr. Brightside?“

Ich war von dieser atemberaubenden Schönheit erst mal völlig hin und weg. Zwar stand ich nicht auf ältere Frauen, aber sie war wirklich ein Hingucker, ganz ohne Zweifel. Sie sah aus, als hätte sie mal als Model gearbeitet.

„Äh ja…“, stammelte ich und erwiderte die Geste. „Sie können auch gerne Fay zu mir sagen.“

„In Ordnung, Fay. Mein Name ist Clarissa Berger, ich arbeite als Assistentin für Mr. McAlister. Er erwartet Sie bereits in Atelier 1. Wenn Sie mir bitte folgen würden…“

Wir gingen die Stufen hinauf und mir fiel sofort auf, dass alles sehr hell und in einem schicken altmodischen Stil eingerichtet war, der auch perfekt zum Haus passte. Als wir das erste Stockwerk erreichten, sah ich auch schon eine Art Fotogalerie, wo Landschaften verschiedenster Art verewigt worden waren. Leuchttürme, Schiffe, Blätter im Regen, ein mit Tautropfen durchzogenes Spinnennetz oder auch ein Steg an einem großen See. Auch Frauen und Männer waren in den verschiedensten Situationen fotografiert worden und manche Bilder wirkten recht einfach gehalten, aber es schien irgendwie, als hätten sie eine unterschwellige Bedeutung. Ich sah sogar Tierbilder, wie zum Beispiel von einem Kolibri. Auffallend war aber, dass das Gefieder selbst in den schönsten Farben leuchtete, der Hintergrund aber in sehr farblosen dunklen Tönen gehalten wurde. Dadurch wurden die Farben besonders deutlich hervorgehoben. Ich staunte nicht schlecht darüber und fragte Clarissa „Diese Fotos hier… werden die später bearbeitet und wenn ja, wer macht das?“

„Das macht Mr. McAlister selbst. Er hat Grafikdesign und Fotografie studiert und macht den größten Teil der Arbeit selbst. Ich organisiere seine Termine und kümmere mich um die Maske.“

Ich sah sie überrascht an, denn ich hätte nicht gedacht, dass sie sich auch um solche Sachen kümmerte.

„Sie sind Visagistin?“

Sie nickte und führte mich schließlich weiter, wobei sie erklärte „Ich habe als Model angefangen, aber da ich aus gesundheitlichen Gründen nicht weitermachen konnte, habe ich stattdessen eine Ausbildung zur Visagistin gemacht und arbeite seitdem für Mr. McAlister. Wir haben schon zusammengearbeitet, als er noch für die Agentur Flawless Beauty tätig war.“
 

Schließlich erreichten wir eine große Doppeltür aus Mahagoni. Vergoldete Lettern an der Tür verkündeten, dass es sich um das Atelier 1 handelte. Clarissa ging vor und klopfte vorsichtig an, dann öffnete sie die Tür. Dahinter befand sich ein großer Raum, in welchem sich mehrere Kulissen befanden, die bereits aufgebaut waren. Es gab dazu noch einen großen Wandschirm, hinter dem man sich umziehen konnte und dazu auch einen Tisch mit mehreren Make-up-Utensilien. Das war dann wohl Clarissas Bereich. Rion selbst entdeckte ich auf der anderen Seite des Raumes, wo er gerade damit beschäftigt war, die Beleuchtung einzustellen und die Kamera vorzubereiten.

„Ah da bist du ja, Fayette. Und ich hatte schon fast die Befürchtung, du würdest dich drücken. Oder willst du vielleicht doch als Kunstfigur berühmt werden?“

Ich verzog verächtlich die Mundwinkel. „Das glaubst aber auch nur du. Ich mach dieses verdammte Fotoshooting, damit du bloß die Klappe hältst und mich danach auch in Ruhe lässt. Also was ist? Was soll ich machen?“

Damit verwies Rion auf den Wandschirm. „Dort kannst du deine Sachen ablegen. Ein Bademantel liegt für dich bereit.“

Einen Moment lang starrte ich ihn an und dachte, ich hätte da vielleicht etwas falsch verstanden.

„Wie jetzt?“ fragte ich ihn. „Ich soll… du willst…“

„Ganz recht“, antwortete er, ohne mich weiterreden zu lassen. „Alles ausziehen, danach beginnt Clarissa mit der Maske.“

Ich errötete bei dem Gedanken, dass mich gleich beide nackt sehen würden. Doch Clarissa lächelte freundlich und schien das alles ganz entspannt zu sehen. Wahrscheinlich war es für sie schon etwas völlig Alltägliches, weil Nacktaufnahmen wohl irgendwie auch zur Kunstfotografie dazugehörten. Trotzdem war mein Schamgefühl groß und das blieb auch Rion nicht verborgen.

„Jetzt stell dich nicht gleich so an, Fayette. Ich hab schon genug nackte Menschen vor der Linse gehabt.“

War ja klar, dass so ein Kommentar von ihm kommen musste. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und ging zum Wandschirm hin.

„Eines Tages bringe ich dich um…“, knurrte ich und begann dann mich auszuziehen. Tatsächlich lag ein Bademantel auf einem Hocker und ich stellte fest, dass es zum Glück kein rosafarbener Frauenbademantel war. So etwas hätte ich diesem Mistkerl ja echt zugetraut. Als ich mir diesen umgelegt hatte, kam ich hinter dem Wandschirm hervor und sogleich kam Clarissa zu mir, die mich bat, an diesem Tisch Platz zu nehmen, wo die ganzen Schminkutensilien lagen.

„Also gut, Fay. Jetzt wird es erst mal Zeit, dass wir dich ein wenig zurechtmachen, damit du auch für die Kamera entsprechen gut aussiehst. Wir werden ein wenig Puder verwenden und für deine Augen werden wir schwarzen Kayal und Eyeliner verwenden, um sie besonders zu betonen.“

Ich dachte echt, ich hätte mich verhört, als Clarissa sagte, sie wolle mich schminken. Und als sie dann auch noch meinte „Ein klein wenig Lipgloss könnte auch nicht schaden“, da platzte mir der Kragen und ich stand sofort wieder auf.

„Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein“, rief ich und blickte zu Rion. „Ich lass mich doch nicht schminken! Ich bin doch keine Frau!“

„Man muss keine Frau sein, um sich zu schminken“, erklärte mein alter Feind gelassen wie immer und ging zu einem Tisch, wo eine recht teure Kaffeemaschine stand. Er machte sich einen Cappuccino und wirkte eher amüsiert über meine Reaktion.

„Gothics und Emos zum Beispiel. Die schminken sich auch. Und auch männliche Models und Sänger. Nimm dir Marylin Manson als Beispiel.“

„Trotzdem schmiere ich mir keinen Lipgloss auf die Lippen. Ich bin doch keine Tunte.“

Ich fühlte mich arg in meiner Männlichkeit gekränkt, als allen Ernstes von mir verlangt wurde, mich schminken zu lassen. Ich hatte ja mit so einigem gerechnet, aber gewiss nicht mit so etwas. Da Clarissa merkte, dass die Stimmung zwischen mir und Rion ziemlich angespannt war, versuchte sie es zu erklären.

„Die Sache ist einfach die, dass wir mit dem Make-up deine Androgynität betonen wollen. Denn der Reiz liegt darin, dass du ein Mann bist, der aber so wandelbar ist, dass er auch die Rolle einer Frau ausfüllen kann. Und das macht dich zu einer Kunstfigur und als solche wirst du auch behandelt. Nur weil du dich vielleicht wie eine Frau kleiden und schminken wirst, denkt niemand von dir, dass du schwul oder transsexuell wärst. Es ist eine Rolle, die du spielst. Wie ein Schauspieler. Du musst diese Rolle nur eben sehr gut verkaufen, um möglichst authentisch zu wirken.“

Rion kam nun zu uns und reichte Clarissa eine Tasse Kaffee und mir ein Glas Wasser. Er war erstaunlich gastfreundlich, aber wahrscheinlich gehörte dies zu seinem Job dazu.

„Ganz genau“, bestätigte er und blieb neben Clarissa stehen. Irgendwie wirkten die beiden hier wie ein eingespieltes Team, auch wenn sie um die 12 Jahre älter war als er. „Du magst vielleicht deine androgyne Erscheinung hassen, aber in der Kunstfotografie ist sie deine stärkste Waffe, weil sie dich außergewöhnlich und besonders macht. Um es kurz zu machen: du bist exotisch und das ist dein Vorteil. Also trag deine Macken mit Stolz, anstatt sie zu verdammen. Denn deine Macken machen dich zu dem, was du bist.“

Mich verwunderte es wirklich, dass er so über mein Aussehen sprach, obwohl er sich doch stets und ständig über mich lustig machte. Aber vor allem erstaunte mich sein Spruch über Fehler und Macken. Denn das waren fast die gleichen Worte, wie meine Mutter sie verwendete. Schließlich musste ich aber doch ungläubig lachen.

„Ach… du willst mir mein Aussehen schön reden, wo du doch derjenige bist, der sich die ganzen Jahre schon über mich lustig macht?“

Doch selbst davon ließ er sich nicht beirren und erklärte ganz einfach „Ich kann Berufliches und Privates eben trennen, Fayette. Das würde ich dir auch anraten, ansonsten kommen wir hier gar nicht mehr weiter. Also wenn ich bitten darf… wir können den ganzen Tag weiter diskutieren, dann dauert es meinetwegen auch bis in die Nacht hinein. Aber mein Entschluss steht fest und du hast im Vertrag zugestimmt, dich an meine Anweisungen zu halten. Also lass das Weibergezicke endlich sein und reiß dich zusammen.“

Da es wohl keinen Sinn hatte, mit diesem Kerl weiter zu diskutieren, ließ ich mich widerwillig darauf ein. Dennoch sträubte sich jede Faser meines Stolzes dagegen, dass Clarissa mich mit Puder, Kayal, Eyeliner und dann auch noch Lipgloss schminkte. Bevor das aber kam, musste ich mir die Augenbrauen zupfen lassen und das war eine fast genauso schlimme Tortur. Ich spürte regelrecht, wie nach und nach jede Faser meiner Männlichkeit abgetötet wurde und ich schwor mir, es diesem Bastard heimzuzahlen, wenn sich die Gelegenheit bot.
 

Nachdem auch noch meine Haare etwas nachfrisiert wurden, ging es nun ums Eingemachte. Rion führte mich zu eine dieser arrangierten Kulissen hin. Es war ein schlichter Hintergrund und davor stand eine große Couch mit Kissen. Rion wies mich an, den Bademantel auszuziehen und mich auf die Couch zu legen, wobei ich die Arme etwas hochnehmen und meinen Oberkörper ein wenig zur Kamera drehen sollte. Irgendwie erinnerte mich das ein wenig an Titanic. Nur mit dem Unterschied, dass es eine altmodische schwarze Couch war. Ich ging hin, zögerte aber noch, als ich daran dachte, dass ich gleich komplett nackt vor der Kamera posieren würde. Und genauso schlimm war für mich die Tatsache, dass ich mich auch noch vor Rion und Clarissa so präsentieren würde. Wieder war da mein Schamgefühl, das mich zurückhielt.

„Was denn?“ fragte Rion und warf mir einen herausfordernden Blick zu. „Hast du Schiss, dich nackt vor mir zu zeigen? Glaub mir, da sehe ich eh nichts Neues. Nicht nach unserem kleinen „Ausrutscher“, wie du es nennst.“

Mein Gesicht begann zu glühen und beschämt senkte ich den Blick. Vor allem weil ich wusste, dass Clarissa das gehört hatte. Doch sie reagierte ganz souverän, als würde es sie nicht stören. Ich hingegen versuchte, mit Wut dagegen zu halten.

„Halt bloß die Klappe, oder ich stopf dir den verdammten Lipgloss in den Rachen rein!“

Rion ignorierte dies gekonnt und holte auf einmal eine Fernbedienung hervor. Als ich ihn fragte, was er damit wollte, erklärte einfach nur „Ich sorge für eine entsprechende Atmosphäre. Aus Erfahrung weiß ich, dass unerfahrene Models besser in die richtige Stimmung kommen, wenn ein wenig Musik gespielt wird. Am besten Ludovico Einaudi.“ Es klang irgendwie ziemlich merkwürdig, wenn er von „in die richtige Stimmung kommen“ sprach. Ob er das nur so gesagt hatte, oder wollte er auf irgendetwas anspielen, nur um mich in Verlegenheit zu bringen? Nun, diesem Blödmann war so einiges zuzutrauen. Selbst so etwas. Ich hörte, wie Klaviermusik gespielt wurde und ich wurde das Gefühl nicht los, sie schon mal gehört zu haben. Zugegeben, manchmal spielte ich auch klassische Musik, wenn ich malte. Das half mir bei der Inspiration. Ob es bei Rion auch so war? Kaum zu glauben, wenn wir wirklich mal etwas gemeinsam hätten. Da Diskutieren ja eh nichts half, gab ich schließlich nach und legte den Bademantel ab. Sofort hatte ich das Gefühl, von Clarissa und Rion angestarrt zu werden und schämte mich furchtbar. Vor allem war es mir vor Rion so unangenehm, eben weil mir wieder diese Erinnerung an die Tatsache zurückkam, dass ich mit ihm geschlafen hatte. Warum nur hatte ich diesem Fotoshooting bloß zugestimmt? Fehlte nur noch, dass Rion sich wieder über mich lustig machte. Und hoffentlich musste ich nicht schon wieder an diesen verdammten Traum denken. Wenn ich jetzt noch eine Erektion deswegen bekam, wo ich ohnehin schon nackt war, dann konnte ich mir doch gleich mein eigenes Grab schaufeln. Es wäre für mich der absolute Todesstoß.

„Okay, jetzt leg dich auf die Couch und positioniere dich so, wie ich es dir gesagt habe“, sagte Rion einfach, ohne großartig auf mein Aussehen einzugehen. Viel mehr schien er sich nun auf seine Arbeit konzentrieren zu wollen und das konnte mir nur recht sein. Ich versuchte seinen Anweisungen Folge zu leisten. Clarissa, die wohl gemerkt hatte, dass ich es lieber nicht wollte, dass sie mich anstarrte, hatte sich zurückgezogen und trank ihren Kaffee. So war es letztendlich nur Rion, dessen Augen auf meinem nackten Körper ruhten. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug und wie aufgeregt ich war.

„Versuch dich einfach auf die Musik zu konzentrieren und stell dir irgendetwas Passendes dazu vor. Meinetwegen stell dich selbst beim Malen vor und was du dir für ein Motiv aussuchen würdest, wenn dir das beim Ablenken von deiner Aufregung hilft.“

Und während er mir diese Ratschläge gab, kam er zu mir hin, korrigierte meine Haltung ein wenig und dann richtete dann noch ein paar Haarsträhnen so wie er sie haben wollte.

„Okay“, murmelte er und sah mich konzentriert an. Er achtete überhaupt gar nicht auf meinen nackten Körper und schien dagegen mehr auf meine Augen fixiert zu sein. „Das müsste gehen. Und jetzt nicht bewegen…“

Als nächstes holte er ein schwarzes Satintuch hervor, und legte es über meine Hüften und richtete es noch ein wenig.

„Konzentriere dich einfach auf die Musik und versuch deine Augen möglichst offen zu halten. Und versuche, dich möglichst nicht zu bewegen.“

Ich folgte seinen Anweisungen und während ich so da lag und seinen Worten zuhörte und im Hintergrund diese melodische und in einer gewissen Art und Weise auch beruhigende und träumerische Melodie spielte, da war mir auf einmal so, als wäre das gar nicht mehr Rion, der da stand und damit begann, mich zu fotografieren. Und als ich ihn so beobachtete, sah ich auch, wie das Arrogante und Distanzierte in seinem Blick gewichen war. Seine Augen, die so hell waren und wie Eiskristalle funkelten, waren von Emotionen gezeichnet. Emotionen, die ich nicht alle deuten konnte, doch es lag etwas Sehnsüchtiges und sogleich Schwermütiges in seinem Blick. Das war ein Blick an ihm, den ich gar nicht kannte und den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Etwas Sensibles und Verletzliches lag darin. Ehe ich mich versah, hatte ich die Musik längst vergessen. Stattdessen war ich vollkommen von seinem Blick gebannt und was er mir verriet. Mein Herz begann schneller zu schlagen und ich fühlte mich nicht mehr direkt unwohl in seiner Gegenwart, sondern es war eine andere Aufregung in mir, die ich aber nicht direkt deuten konnte. So langsam wich meine Anspannung, als ich merkte, dass Rion nicht mehr der arrogante Dreckskerl war, der mich ständig wegen meinem Aussehen aufzog. Nein, er war auf einmal wie ausgewechselt und lobte mich sogar, wenn ich meine Sache gut machte und er zeigte sich ruhig und einfühlsam.
 

Schließlich, als er genug Aufnahmen gemacht hatte, ließ mich Rion wieder aufstehen. Ich durfte schon mal meine Hose wieder anziehen, musste aber meinen Oberkörper frei lassen. Wieder wurde ich von Clarissa geschminkt und bekam ein sehr helles Puder aufgetragen, welches mich doch recht blass machte. Außerdem hatte sie sich noch etwas für mich überlegt: sie holte eine Art Blütenschmuck heraus, der sich aber als Federarrangement herausstellte, welches wie eine Blüte aussah. Er sah wirklich sehr schön aus und war sogar in Türkis. Allerdings brauchte es eine Weile, bis der Schmuck so in meinem Haar saß wie er sollte. Dann wandte sich Clarissa an Rion und fragte „Soll ich Lidschatten dazunehmen?“

Rion betrachtete mein Gesicht kurz, schüttelte dann aber den Kopf.

„Nein, das wäre zu viel. Wir lassen das so. Fayette, kommst du?“

Ich erhob mich und folgte Rion, der mich mit einer Handbewegung anwies, auf einem Hocker Platz zu nehmen. Nun hatten wir die Kulisse gewechselt und der Hintergrund war schwarz. Nun holte er das Satintuch, mit welchem er zuvor meine Hüften bedeckt hatte und legte es mir um, wobei er aber versuchte dafür zu sorgen, dass meine Schultern frei lagen.

„Halt das Tuch vor deiner Brust fest und heb die Schultern ein wenig an. Den Kopf ein klein wenig nach unten neigen und dafür etwas mehr nach oben schauen… ja sehr schön. Das sieht wunderbar aus.“

Inzwischen waren meine anfänglichen Vorbehalte verschwunden und ich hatte mich so langsam aber sicher daran gewöhnt, vor der Kamera zu posieren und dabei auch etwas Haut zu zeigen. Auch wenn ich immer noch nicht hundertprozentig von der ganzen Sache überzeugt war, aber so professionell, wie Rion das alles machte, war mir so, als wäre das alles nicht so schlimm. Und ich kam mir tatsächlich wirklich schön vor, ohne dabei eitel zu werden. Aber während ich vor der Kamera posierte, hatte ich wenigstens nicht mehr diese ganzen Komplexe und stellte meine Männlichkeit aufgrund meiner Androgynität in Frage. Nein, ich erhielt tatsächlich Zuspruch und positive Aufmerksamkeit dafür, eben weil ich androgyn war und damit eine Kunstfigur war. Aber vor allem merkte ich eines: ich sah in diesem Moment einfach nicht mehr meinen alten Peiniger aus Schulzeiten vor mir, sondern einen Fotografen, der seinen Job machte und dabei erstaunlich viel Einfühlungsvermögen bewies. Und ich konnte nicht leugnen, dass von diesem „anderen“ Rion eine gewisse Faszination ausging, die selbst mich erfasste. Ganz anders als der Rion den ich kannte und den ich am liebsten für immer aus meinem Leben streichen würde.
 

Schließlich war auch das vorbei und wir wechselten wieder die Szene. Mir fiel sofort auf, dass all die Kulissen sehr farbarm gehalten wurden. Auf meine Frage hin, warum das so war, erklärte Rion „Atelier 1 ist hauptsächlich für Akt- und dezente Effektaufnahmen. Meist werden es Schwarzweißaufnahmen, in denen bestimmte Akzente in den Vordergrund gesetzt werden. Darum sind die Hintergründe sehr schlicht gehalten. So, an der Stelle machen wir erst mal eine Pause. Ich bin gleich wieder da.“

Damit verließ Rion das Atelier, wobei er die Kamera mitnahm. Ich selbst war erst mal froh über die Pause und zog mich wieder an. Danach setzte ich mich wieder an den Tisch und trank ein Glas Wasser. Clarissa gesellte sich zu mir und lächelte amüsiert.

„Und Sie kennen Mr. McAlister noch von der Schule?“ Ich nickte und überlegte, ob ich ihr die Geschichte erzählen sollte. Immerhin war Rion ihr Chef und sie war seine Angestellte.

Dann aber rückte ich doch mit der Sprache raus:„Wir haben uns nie wirklich gut verstanden. Er hat sich in der Schule ständig über mein Aussehen lustig gemacht und mich als Mädchen bezeichnet. Er ist meist ein ziemlich arroganter Arsch…“

Clarissa hob die Augenbrauen und sah etwas erstaunt aus. Dann aber spielte sich ein dezentes Lächeln auf ihre schönen Lippen und sie gab etwas Zucker in ihren Kaffee.

„Mr. McAlister kann tatsächlich sehr distanziert gegenüber seinen Mitmenschen sein, das stimmt. Aber eigentlich ist er ein sehr mitfühlender und liebenswerter Mensch. Mich wundert allerdings, dass er Ihnen gegenüber so kühl und distanziert ist. Naja, ich will mich auch nicht sonderlich in die Privatangelegenheiten meines Chefs einmischen.“

„Er kann mich einfach nicht ausstehen, das ist alles. Das konnte er noch nie“, erklärte ich einfach und trank mein Glas aus. Ich sah aber, wie sich Clarissas Gesichtsausdruck veränderte. Sie sah zur Seite und schwieg, doch ich konnte ihr ansehen, dass sie etwas wusste, was sie aber vor mir verschwieg.

„Sie müssen wissen, dass Mr. McAlister Schwierigkeiten hat, offen über persönliche Dinge zu sprechen. Und ich denke, dass…“

Die Tür wurde geöffnet und Rion kam zurück. Clarissa verstummte.

„So“, rief er und hatte wieder seine Kamera bei sich. „Ich denke, wir machen noch ein paar Aufnahmen, dann können wir für heute Schluss machen. Fayette, ich will dich morgen wieder um zehn Uhr hier sehen. Nur damit du schon mal Bescheid weißt.“

Ich war sehr überrascht, dass von ihm keiner seiner dummen Sprüche kam. Stattdessen hätte ich wirklich damit gerechnet, dass er mit so etwas kommt wie „Na, veranstalten die Damen ein Kaffeekränzchen?“ und das irritierte mich so sehr, dass ich erst gar nicht wusste, was ich sagen sollte. Mir war in diesem Moment, als hätte jemand Rion durch eine Art Zwilling ersetzt. Er redete nicht mehr herablassend und hatte auch sein arrogantes Auftreten abgelegt. Stattdessen redete er ganz normal mit mir. Fast schon, als wären wir gute Bekannte. Das war fast schon beängstigend für mich. So setzten wir das Fotoshooting fort und immer noch war Rion wie verwandelt. Und ich fragte mich ernsthaft, ob es wirklich nur daran lag, dass er Berufliches und Privates so gut trennen konnte. Aber dann erinnerte ich mich daran, als er mit Emily über ihren Traum als Model gesprochen hatte und wie unendlich traurig der Blick in seinen Augen war, als er von Isabelle erzählte. Es war, als würde Rion in gewissen Momenten eine Art Maske tragen. Aber welches Ich von ihm war real und welches war eine Maske?

Confusing Thoughts and Feelings

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass das Fotoshooting so lange dauert und es mir dennoch vorkam, als wären nur eine halbe Stunde vergangen. Doch wie sich herausstellte, war ich tatsächlich dreieinhalb Stunden bei ihm gewesen und fühlte mich danach auch ein wenig gerädert. Dabei hatte ich mich nicht mal viel bewegt, sondern hauptsächlich still da gesessen oder gelegen. Und obwohl ausgerechnet Rion das Fotoshooting gemacht hatte, so hatte es mir tatsächlich gefallen. Er hatte seinen Job als Fotograf ziemlich gut gemacht und auch wenn ich es nur ungern zugab, aber ich war schon sehr gespannt auf das nächste Fotoshooting. Als ich wieder nach Hause kam, wollte meine Mutter natürlich sofort wissen, wie es gelaufen war, nur Emily ging mir aus dem Weg und sprach auch kein Wort mit mir. Sie war wahrscheinlich immer noch eifersüchtig auf mich, weil ich als Fotomodel für Rion arbeiten durfte, den sie ihrerseits so sehr vergötterte. Ich ließ sie schmollen, da ich auch keine Lust hatte, mit mir zu streiten. Außerdem würde sie sich sowieso schon irgendwann wieder beruhigen. Am Abend traf ich mich mit Seth und erzählte ihm alles. Und als es mir versehentlich mit meinem erotischen Traum herausrutschte, verschluckte er sich an seiner Cola und musste erst mal einen Hustanfall hinter sich lassen, bevor er überhaupt in der Lage war zu sprechen.

„Du… du hast geträumt, du hättest mit Rion geschlafen?“

„Sag es noch lauter und selbst Mum und Emily wissen es“, gab ich verärgert zurück und seufzte laut. „Ich glaub, es ist nur wegen diesem dummen One-Night-Stand mit ihm und ich hoffe echt, dass das nur dabei bleibt. Oder kann es sein, dass ich irgendwie doch zum anderen Ufer wechsle?“

Seth schüttelte entschieden den Kopf und konnte mich in der Hinsicht beruhigen.

„Nur wegen einem Sextraum wirst du nicht gleich schwul. Manchmal passiert so etwas einfach. Als ich 17 Jahre alt war, hatte ich einen solchen Traum mit unserem Sportlehrer.“

Entgeistert starrte ich meinen besten Freund an und hatte direkt Kopfkino und das, was ich sah, war nicht sonderlich schön und heftig schüttelte ich den Kopf. Einfach nur, um diesen Gedanken schleunigst wieder loszuwerden.

„Oh Gott nein! Verschone mich bitte mit Details. Sag bloß, du warst in Mr. Duncan verknallt…“

„Nein“, entgegnete Seth und winkte schnell ab, wobei er aber ein klein wenig entrüstet wirkte, dass ich ihm so etwas tatsächlich zutraute. „Der Kerl war unser Lehrer. Aber was ich damit sagen will ist, dass ein Traum nichts zu bedeuten hat. Oder hast du unbedingt den Wunsch, mit Rion zu schlafen?“ Allein die Tatsache, dass Seth das so direkt aussprach, ließ mich rot im Gesicht werden und ich bekam kaum ein Wort hervor.

„Überhaupt nicht“, sagte ich sofort. „Ich kann ihn immer noch nicht ausstehen. Wobei ich aber zugeben muss, dass ich nicht gedacht hätte, dass er auch eine ganz andere Seite hat. Beim Fotoshooting war er wie ausgewechselt und hat sich kein einziges Mal über mich lustig gemacht, oder einen dummen Spruch gerissen. Stattdessen hat er mich sogar gelobt, wenn ich alles richtig gemacht habe. Das Verrückteste aber war, als das Shooting vorbei war. Da hat er mir auf die Schulter geklopft und gesagt, ich hätte meine Sache sehr gut und sehr professionell für einen Anfänger gemacht.“ Auch Seth war verwundert darüber, denn er wusste, was für ein arroganter Arsch Rion sein konnte und dass dieser während des Shootings so freundlich gewesen war, klang für ihn natürlich erst mal merkwürdig. Etwas ratlos zuckte er mit den Schultern und vermutete „Vielleicht ist er ja doch nicht so ein schlechter Kerl.“

„Ach was“, entgegnete ich und trank meine Cola. „Er meint, dass er Berufliches und Privates trennt.“ Wieder dachte Seth nach, schien aber dennoch nicht ganz durchzublicken. Wie denn auch, wenn ich es nicht mal selber schaffte?

„Na da hast du doch deine Antwort, Fay. Wenn er so gestrickt ist, dann würde das ja erklären, warum er sich so verhält.“ Aber so ganz zufrieden war ich mit der Antwort auch nicht, auch wenn ich nicht wusste wieso. Wenigstens wusste ich jetzt, dass ein einziger erotischer Traum mich nicht gleich schwul machen würde. Wenigstens eine Erleichterung. Als hätte Seth meine Gedanken gelesen, lächelte er milde und klopfte mir auf die Schulter. „Mach dir mal nicht so viele Gedanken, Fay. Es ist unmöglich, dass du komplett schwul wirst, immerhin liebst du doch Frauen, oder? Das Schlimmste, was dir also passieren kann ist, dass du allerhöchstens bisexuell bist. Aber so schlimm ist das doch nicht. Immerhin hast du doch auch nichts dagegen, mit einem Schwulen wie mir befreundet zu sein, oder? Du warst ja sogar dazu bereit, mit mir in die Schwulenbar zu gehen.“

Als er das erwähnte, konnte ich nicht anders und versetzte ihm einen leichten Schlag gegen den Oberarm.

„Hör mir bloß damit auf. Dieser Besuch hat mir auf deprimierende Art und Weise mehr als deutlich gezeigt, dass mehr Männer als Frauen auf mich stehen…“

Für Seth war das natürlich wiederum lustig und er konnte darüber lachen, im Gegensatz zu mir.

„Ach jetzt mach dir keinen Kopf deswegen und versuch es so zu sehen: Das Fotoshooting ist nicht ganz so schlimm geworden und du bist Rion bald wieder los. Dann hat er seine Fotos und hat keinen Grund mehr, dich zu belästigen.“

Stimmt, das wäre wiederum ein Grund zum Feiern für mich und Rion würde auch Stillschweigen über die Sache mit dem One-Night-Stand bewahren.

„Hast auch wieder Recht. Morgen ist direkt das nächste Fotoshooting und ich frag mich echt, was er da vorhat.“

„Lass ihn doch mal ein paar Fotos von dir ausdrucken. Mich würde ja echt interessieren, ob er wirklich so ein guter Fotograf ist, wie alle sagen.“ Nun, da konnte ich ja wohl schlecht nein sagen. Aber ich würde garantiert keine Fotos herumzeigen, wo ich nackt zu sehen war. Das stand schon mal fest.
 

Am nächsten Morgen wurde ich überraschenderweise von Rion empfangen, der wie immer lässig und doch zugleich stilvoll gekleidet war und mich mit demselben arroganten Lächeln begrüßte, was ich von ihm kannte. Doch ich merkte sofort, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Seine Augen wirkten irgendwie traurig und unglücklich und ich sah sofort, dass das Lächeln nur eine Maske war und er sich schwer tat, diese aufrecht zu erhalten. Es passte mir gar nicht, ihn so zu sehen. Denn ich kannte ihn als stets beherrschten und unantastbaren Menschen, der sich durch nichts verunsichern ließ. Doch heute wirkte er auch sonst etwas angeschlagen. Er war blass und zuerst glaubte ich, dass er vielleicht krank wäre.

„Gut, dass du da bist, Fayette. Dann können wir gleich schon mal ins Atelier gehen.“

Ich schloss die Tür hinter mir und folgte ihm, wobei ich verwundert fragte „Ist Clarissa gar nicht da?“

„Ihre Tochter ist krank und sie muss sich um sie kümmern. Deshalb bin ich heute alleine. Aber da ich heute sowieso keine anderen Termine habe, geht das schon in Ordnung.“

Wir gingen dieses Mal nicht die Treppe hoch, sondern den Flur links entlang, bis wir einen großen hellen Raum erreichten, der eine einzige große Kulisse hatte und ich sah, dass die Wände mit Planen abgedeckt waren. Auch Teile des Bodens. Ich war ein wenig verwundert über diesen Anblick und sah auch, dass der Hintergrund der Kulisse in Farbe war. Es war ein sehr heller Hintergrund in Gelb- und Grüntönen und ich war schon gespannt, was Rion wohl dieses Mal vorhatte. Als könnte er meine Gedanken lesen, fragte er mich „Hast du schon mal vom indischen Holi-Fest gehört?“

Da ich den Begriff schon mal irgendwo gehört hatte, aber sonst nichts weiter damit anzufangen wusste, verneinte ich sicherheitshalber die Frage und erfuhr, dass das so genannte Holi-Fest eine Veranstaltung war, in welcher Farbpulver innerhalb der Menge verstreut wurde, als Symbol für die Gleichheit aller Menschen, trotz des Kastensystems. Auch sollten die Farben das Leben und den Beginn des Frühlings symbolisieren.

„Das Holi-Fest ist auch international immer beliebter geworden und dieses farbenfrohe Spiel gibt auch wunderbare Motive. Aus diesem Grund werden wir heute auch mit Farbpulver arbeiten. Ich werde schon mal etwas Farbe auftragen, damit es ungefähr den Vorstellungen entspricht, danach werden um dich herum solche Pulverbomben platzen, um das Bild abzurunden.“

Das klang eigentlich ganz witzig, nur stellte sich mir eine Frage, die ich auch sogleich an Rion stellte.

„Und danach soll ich so wieder auf die Straße, oder wie stellst du dir das vor?“

„Mein Atelier verfügt über Duschräume. Immerhin arbeite ich auch mit Bodypainting und ich kann meiner Kundschaft doch nicht allen Ernstes abverlangen, bemalt nach Hause zu fahren. Kleidung liegt für dich auch bereit. Du kannst dich dort umziehen.“

Er verwies damit auf einen Wandschirm in einer Ecke. Da ich nach den gestrigen Erlebnissen nicht mehr allzu viele Vorbehalte hatte, ging ich mich umziehen, wunderte mich dann aber doch, als ich die Tunika sah.

„Das ist… eine Frauentunika“, rief ich und ließ das Kleidungsstück wieder sinken. „Ist das dein Ernst?“

Ich hörte ein entnervtes Seufzen und wie Rion daraufhin in einem ebenso entnervten Ton erwiderte: „Die Diskussion hatten wir doch gestern schon, Fayette. Du kannst ja wohl schlecht ein Tanktop anziehen. Das passt nicht zu dir, außerdem soll es doch authentisch wirken. Da müsste übrigens auch Schmuck liegen.“

Tatsächlich fand ich Schmuck mit Türkisen. Wenn ich mir so die Sandalen und die Klamotten so ansah, wurde mir langsam klar, dass ich mich wohl im Hippie-Look fotografieren lassen musste. Naja… zumindest war es besser, als sich nackt fotografieren zu lassen. Nachdem ich mich umgezogen und den Schmuck angelegt hatte, kam ich hinter den Wandschirm hervor und Rion musterte mich aufmerksam. So prüfend von ihm angestarrt zu werden, gab mir wieder das Gefühl, vollkommen nackt zu sein, selbst mit der Kleidung. Mein Herz schlug wie verrückt und ich merkte wieder, dass ich nervös wurde. Ich konnte mir selbst nicht erklären, wieso es mich jedes Mal so nervös machte, wenn er mich auf diese Weise ansah und ich wandte etwas beschämt den Blick ab. „Sieht soweit ganz gut aus. Dann wollen wir mal damit beginnen, dir etwas Farbe zu verpassen.“ Rion führte mich zu einem Stuhl hin, auf dem ich Platz nahm. Er selbst holte nun verschiedene kleine Schalen hervor, in denen sich Farbpulver befand.

„Mach besser die Augen zu.“

Ich folgte seinen Anweisungen und spürte, wie er nun damit begann, das Farbpulver auf meine Haut aufzutragen. Auf meine Wangen, meine Stirn, meine Augenlider. Meist benutzte er einen Pinsel, manchmal strich er aber auch vorsichtig mit den Fingern nach. Nichts zu sehen und dann noch zu wissen, dass er es war, der mich so berührte, ließ mich wieder an meinen Sextraum denken, den ich gehabt hatte. Wie Rion und ich uns leidenschaftlich geküsst und einander im Arm gehalten hatten, als er tief in mir drin war. Vor meinen Augen begann sich alles wieder abzuspielen und mir war so, als würde es wieder passieren. Ich spürte seine Hand an meinem Hals und meiner Brust und vernahm ein leichtes Kribbeln. Es waren nur kurze Berührungen, doch sie fühlten sich dennoch so zärtlich an. Mir war, als würde ich plötzlich all das wiedererleben, was ich geträumt hatte und es am eigenen Leib spüren. Und das war nicht gut. Ich musste versuchen, diese Gedanken verdrängen und mich konzentrieren. Doch als ich wieder die Augen öffnete und in Rions Augen sah, da schien es mir fast gänzlich unmöglich zu sein. Verlegen wandte ich den Blick ab und sagte nichts.

„Okay, ich präpariere noch ein wenig deine Haare, dann können wir anfangen.“

Damit streute Rion mir noch etwas Farbpulver in die Haare und begann es dann zu verteilen. Zu spüren, wie er mir durchs Haar strich, ließ mein Herz nur noch schneller schlagen und es fiel mir schwer, nicht an diesen Traum zu denken, wo er genau dasselbe getan hatte. Schließlich aber wagte ich eine Frage.

„Kannst du mir vielleicht ein paar der Fotos von mir mal mitgeben? Ich würde schon gerne sehen, wie sie aussehen.“

„Das dürfte etwas schwierig werden“, murmelte er und strich mir nun ein wenig Farbe von der Stirn weg. „Ich bearbeite die Bilder abends bei mir zuhause am Computer. Du kannst gerne heute Abend vorbeischauen und ich kann dir schon mal zwei oder drei Bilder mitgeben. Mehr werde ich aber heute wohl nicht mehr schaffen, da ich noch private Termine habe.“

Schließlich erhob er sich und führte mich zu dem Platz hin, wo ich mich hinstellen sollte. Zuvor aber schaltete er wieder Musik an und dieses Mal war es nichts Klassisches, sondern richtige Partymusik, wie man sie auch tatsächlich auf solchen Festivals hörte. Passende Musik schien wohl ein regelrechtes Ritual von ihm zu sein.

„Da das Thema Sommer und leuchtende Farben im Raum steht, solltest du dementsprechend auch ein möglichst strahlendes Gesicht haben. Denk dir einfach, dass dies dein perfekter Tag ist und es der schönste in deinem Leben ist. Am besten wäre es sogar, wenn du ein wenig zur Musik tanzt. Schließ dabei am besten die Augen, denn es kann gleich sein, dass du noch etwas von dem Pulver ins Gesicht bekommst.“

Ich atmete tief durch und versuchte mich zu konzentrieren. Zugegeben, mir half es tatsächlich, dass die Musik gespielt wurde. Sie war regelrecht ansteckend und als ich die Augen schloss, stellte ich mir vor, ich wäre auf einem Festival zusammen mit Seth und den anderen von der Uni und würde feiern. So begann ich tatsächlich zum Rhythmus der Musik zu tanzen und bekam richtig gute Laune dabei. Aber das war eben auch ein Stück weit meine Persönlichkeit. Ich konnte mich selbst richtig schnell in Stimmung bringen und war auch sonst eigentlich ein recht fröhlicher Mensch, wenn da nicht diese ganzen anderen Sachen gewesen wären. In dem Moment fiel mir auch das Lächeln überhaupt nicht schwer. So vergaß ich alles um mich herum und geriet immer mehr in Partystimmung und als Rion mir zurief, den Kopf zurückzulegen und die Arme auszubreiten, da kam noch mal eine ordentliche Farbwolke von vorne und ich musste aufpassen, dass ich diese nicht noch einatmete. Schließlich wurde die Musik leiser gestellt und als ich die Augen vorsichtig öffnete, sah ich erst, wie viel Farbe ich abgekriegt hatte. Rion kam mit einem Spiegel herbei und zeigte mir, wie bunt ich eigentlich war.

„Und? Wie gefällst du dir?“

Ich sah mich selbst, mein Gesicht in allen möglichen Farben leuchten und sogar meine Haare waren von einem hübschen blauviolett durchzogen. Da konnte ich einfach nicht anders, als breit zu grinsen und zu lachen.

„Das sieht ja stark aus. Da ist ja mehr Farbe an mir dran, als in meinem Malkasten.“

Auch Rion lächelte und wirkte zufrieden mit dem Ergebnis. Auch das Traurige in seinem Blick war gewichen und dieses Lächeln war so anders als das, was ich sonst immer bei ihm sah. Es wirkte so ehrlich, so menschlich. Irgendwie wirkte er schon fast sympathisch auf mich.

„Das war sehr gut, Fayette. Du besitzt etwas sehr Natürliches und es wirkte auch nichts gespielt. Du besitzt wirklich Talent.“

Seine lobenden Worte klangen so seltsam und ungewohnt und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Immerhin sah es ihm eigentlich überhaupt nicht ähnlich, mich zu loben. Für gewöhnlich fing ich mir ja eine Stichelei nach der anderen ein.

„So, wir machen noch ein paar Nahaufnahmen.“ Damit holte Rion einen Hocker und begann die Beleuchtung noch mal neu einzustellen, was ein paar Minuten in Anspruch nahm, da er wohl zu den Perfektionisten gehörte. Aber daran konnte man auch erkennen, wie sehr ihm seine Arbeit am Herzen lag. Aus Neugier fragte ich: „Woher hattest du die Idee?“

„Ich war im Frühling auf einem solchen Festival, weil ich auch große Gruppen fotografieren wollte und da hatte ich auch den Entschluss gefasst, auch Einzelaufnahmen zu machen und dazu gehörst auch du. Bei der Ausstellung wird es immer eine Massenaufnahme, eine kleine Gruppenaufnahme und einige Einzelaufnahmen geben. Und du wirst die Einzelaufnahmen darstellen.“

Das klang nach ziemlich viel Arbeit und ich stellte mir bildlich vor, wie aufwendig das Ganze war.

„Und seit wann arbeitest du schon dran?“

„Seit Anfang des Jahres. Im Grunde bin ich schon in der Endphase.“

Schließlich führte mich Rion zum Bad, gab mir ein paar Handtücher mit und so konnte ich mir bei einer heißen Dusche die ganze Farbe abwaschen. Doch ich konnte selbst da nicht aufhören, an sein Lächeln zu denken, welches ich vorhin bei ihm gesehen hatte.
 

Nach der Farbaktion war das Fotoshooting vorbei und Rion sagte mir zum Abschied noch, ich könne um 20 Uhr bei ihm in der Lancesterstreet vorbeikommen. Dann hätte er bis dahin wenigstens schon mal zwei oder drei Fotos fertig. Ich war einverstanden damit und fuhr am Abend, da es noch angenehm warm draußen war, mit dem Fahrrad zu der Adresse. Rions Haus wieder zu sehen, war irgendwie komisch für mich und weckte Erinnerungen an den Morgen, als ich mit einem Blackout in seinem Bett aufgewacht war. Und in dem Moment stellte sich mir wieder die Frage, wieso sich Rion seinerseits auf diesen One-Night-Stand eingelassen hatte, wenn er doch keine Gefühle für mich hegte.

Ich stellte mein Fahrrad neben der Garage ab, schloss es ab und ging zum Hauseingang. Es dauerte eine Weile, bis Rion auf mein Klingeln hin öffnete. Er trug selbst jetzt noch ein Hemd, nur hatte er jetzt keine Krawatte mehr an und trug jetzt statt der Kontaktlinsen eine Brille. Das irritierte mich ein bisschen, als ich ihn so sah und fragte „Wieso trägst du jetzt die Brille?“

„Meine Augen werden trocken, wenn ich die Kontaktlinsen zu lange trage. Ich brauche sie auch nur für die Arbeit. Komm rein.“

Rion führte mich direkt nach oben und wieder kamen diese Bilder zurück. Von dem bösen Erwachen, aber auch von meinem Sextraum. Ich kam mir irgendwie so vor, als wäre ich nicht wegen der Fotos hier und ich verstand selbst nicht mehr, was mit mir los war. Vor einigen Tagen hatte ich Rion noch regelrecht gehasst und auch jetzt konnte ich ihn nicht ausstehen. Zumindest war ich mir dessen sicher. Dieser Kerl hatte mich abgefüllt und war daraufhin über mich hergefallen, ohne dass ich es wollte. Er machte sich über mich lustig und war ein arroganter Dreckskerl. Und dennoch hatte ich davon geträumt, mit ihm zu schlafen und wenn ich an diesen Traum zurückdachte, fühlte ich mich seltsamerweise nicht mal so unbedingt schlecht deswegen. Zwar schämte ich mich und konnte nicht fassen, dass ich als Hetero tatsächlich so etwas träumte, aber es war nicht so, dass sich alles in mir sträubte und als würde ich es unangenehm finden. Nein, stattdessen suchte mich dieser Traum immer aufs Neue heim und ich spürte dann wieder diese wachsende Erregung. Ach ich verstand meinen eigenen Körper nicht mehr, was der eigentlich noch wollte. Mein Kopf hasste Rion und würde ihn am liebsten in Stücke reißen. Aber ganz offensichtlich wollte mein Körper allen Ernstes Sex mit ihm. Noch einen Grund mehr, meinen Körper zu hassen…

Wir waren wieder in diesem großen Raum, der gleichzeitig Arbeitszimmer und Schlafzimmer zu sein schien. Sofort fiel mein Blick auf das Bett mit der Satinbettwäsche. Offenbar hatte Rion eine gewisse Schwäche für Satin. Er ging zu seinem Schreibtisch hin und ich sah dort eine Schneidemaschine, womit er die Fotos zurechtgeschnitten hatte. Er hatte einen Umschlag vorbereitet, auf dem mein Name stand.

„Deine Fotos sind soweit fertig. Die restlichen werde ich noch am Wochenende bearbeiten und du kriegst natürlich Abzüge.“

„Danke“, murmelte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was gerade in mir vorging. Ich streckte schon meine Hand nach dem Umschlag aus, doch da ergriff Rion mein Handgelenk und ehe ich mich versah, wurde ich gegen die Wand gedrückt. Für einen Moment war ich viel zu erschrocken und überrascht, als dass ich hätte reagieren können und ich sah wieder in Rions eisblaue Augen, die von dieser schwarzen Brille eingerahmt wurden. Wieder war da dieses überlegene und arrogante Lächeln zurück, welches fast schon beängstigend auf mich wirkte.

„Rion… was soll das? Lass mich los!“

Obwohl ich eigentlich entschlossen sprechen wollte, brachte ich nur ein erschrockenes Gestammel hervor. Und als er meinem Gesicht immer näher kam, da begann mein Herz fast schon zu rasen und mein Gesicht glühte regelrecht. Oh Gott, ich wurde ganz rot im Gesicht!

„Na so was… wirst du etwa rot, weil ich dir so nahe komme, Fayette?“ fragte er mich mit dieser Stimme, die mich schon so viele Male verhöhnt und provoziert hatte. Und das ließ mich wieder wütend werden.

„Rück mir gefälligst nicht so auf die Pelle“, rief ich und versuchte ihn wegzudrängen, aber das schaffte ich nicht. Mein Körper schien mir einfach nicht mehr gehorchen zu wollen und ich verlor jegliche Kraft, um vernünftig Widerstand leisten zu können. Rion schmunzelte amüsiert über meine hilflosen Versuche und wirkte in diesem Moment wie ein Hüne auf mich, während ich immer mehr zusammenschrumpfte.

„Was denn? Ist da jemand etwa nervös, weil ich schlimmstenfalls erfahren könnte, wonach du dich sehnst?“

Wonach ich mich… Ich brachte kein einziges Wort hervor und hatte wieder dieses vermaledeite Kopfkino und mein ganzer Körper schien verrückt zu spielen. Warum war ich nur so aufgeregt, wenn Rion mich so ansah und mir dermaßen nahe kam? Was war nur mit mir los? Ich wich seinem Blick aus und versuchte immer noch, ihm wenigstens verbal die Stirn zu bieten.

„Das einzige, was ich mir wünsche ist, dass du Hämorriden kriegst, damit dir auch mal der Arsch brennt!“

„Jetzt wirst du aber unverschämt, Fayette. Und vielleicht solltest du mal etwas ehrlicher zu dir selbst sein, denn es ist doch ganz offensichtlich, wonach sich dein Körper sehnt.“

Und damit beugte er sich zu mir herunter. Da ich unbedingt vermeiden wollte, dass er mich direkt küsste und ich dadurch wieder ohnmächtig wurde, wandte ich mich von ihm ab, woraufhin er meinen Hals küsste. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können und mir wurde auf einmal so heiß. Und als Rion auch noch sagte „Wenn du es nicht willst, musst du es schon klar und deutlich sagen“, fühlte ich mich völlig hilflos in dem Moment. Verdammt noch mal ich wollte ja sagen, dass er damit aufhören sollte und ich wollte ihn auch von mir stoßen und abhauen, aber ich schaffte es einfach nicht. Stattdessen ließ ich einfach zu, dass Rion wieder meinen Hals küsste und eine Hand unter mein T-Shirt schob und meinen Oberkörper streichelte. Seine Hand an meiner Haut zu spüren, ließ mich wieder an diesen Traum denken und wie es sich angefühlt hatte. Doch das hier passierte gerade wirklich. Rion drückte mich gegen die Wand und war dabei, über mich herzufallen. Jeder Funken Vernunft riet mir, das Ganze sofort abzubrechen und sofort abzuhauen. Das hier war nicht richtig. Ich stand nicht auf Männer und Rion war immerhin derjenige, der mir die Schulzeit seit der Middle School zur Hölle gemacht hatte. Das hier durfte nicht noch weiter gehen als ohnehin schon. Allein schon der One-Night-Stand war zu viel des Guten gewesen und nicht mit meinem reinen Gewissen vereinbar, weil ich nun mal nicht schwul war und mich noch nie zu Männern hingezogen gefühlt hatte. Auch nicht zu Rion. Zumindest dachte ich so… Denn mein Körper sagte mir etwas ganz anderes.

Ein Schauer überkam mich, als ich seine warme und feuchte Zunge an meinem Ohr spürte und wie seine Hand sich von meinem Oberkörper entfernte und nun stattdessen meinen Schritt zu kneten begann. Verdammt noch mal, ich sollte irgendetwas dagegen tun und zwar möglichst schnell.

„Hö-hör auf…“, brachte ich hervor und versuchte mich zu befreien, aber es war zwecklos. Gegen diesen Kerl, der gut und gerne 15 bis 20cm größer war als ich, konnte ich einfach nicht ankommen. Mir war so, als würde meinem Körper jegliche Widerstandskraft und auch jede Kontrolle entzogen werden. Ich verstand es einfach nicht. Ich verstand mich selbst nicht mehr und ich war so durcheinander, dass es mir zusätzlich jede Chance nahm, mich Rions Liebkosungen zu entziehen. Außer ihm hatte mich noch nie jemand so angefasst. Stattdessen war ich es immer gewesen, der aktiv war. Immerhin waren meine Beziehungen und Bettgeschichten allesamt Mädchen gewesen und die verlangten natürlich, dass man als Kerl ranging. Doch nun schien es so, als hätte ich jetzt den Platz dieser Mädchen eingenommen und nun war es ein Mann, der mich so küsste und berührte.

Normalerweise hätte ich mich sofort zur Wehr gesetzt und wenn ich mich wie ein durchgedrehter Irrer aufgeführt hätte. Aber jetzt? Ich ließ es einfach zu, dass ein Mann so etwas mit mir machte… und dann auch noch Rion. Und rein körperlich fühlte es sich dabei so gut an.

Schließlich suchte ich doch seinen Blickkontakt und fühlte mich in diesem Moment irgendwie fiebrig. Mir wurde so heiß und ich spürte, wie sich meine Erregung steigerte, während er unaufhörlich meinen Schritt massierte. Ich versuchte ihn an den Schultern zu packen und wegzudrücken, doch letztendlich klammerte ich mich mehr oder weniger an ihn und hielt mich an ihm fest.

„Wa-warum tust du das?“ fragte ich ihn mit leisem Keuchen in der Stimme. Hierauf spielte sich ein verschlagenes und überlegenes Lächeln auf seine Lippen und seine Augen ruhten auf den meinen. Sie wirkten in diesem Moment gefährlich und tiefgründig und eine unbeschreibliche Faszination ging von ihnen aus.

„Ich hab es mir anders überlegt, Fayette“, erklärte er mit dieser tiefen und ruhigen Stimme, die fast schon hypnotisch auf mich wirkte. „Ich will nicht bloß ein Fotoshooting mit dir. Ich will dich.“

„Was?“ Hierauf begann er wieder meinen Hals zu küssen. Er saugte sich regelrecht fest und hinterließ einen Knutschfleck. Er war kaum noch zu bremsen und ein intensiver Schauer durchfuhr meinen Körper.

„Du hast schon richtig verstanden“, flüsterte er in mein Ohr. „Ich will, dass du mir verfällst…“

Ich ihm verfallen? Wieso ausgerechnet ich und seit wann… seit wann plante er das alles bitteschön? Waren das Fotoshooting und der One-Night-Stand etwa nur ein Trick gewesen, um mir den Kopf zu verdrehen? Und wieso wollte Rion denn bitteschön, dass mich in ihn verliebte, wenn er doch nichts anderes tat, als sich über mich lustig zu machen und mich zu provozieren? Ich verstand ihn nicht… nicht mal sich selbst. Rein gar nichts verstand ich mehr in diesem Moment und in mir herrschte ein unvorstellbares Chaos. Es gelang mir nicht, weder meine Gedanken, noch meine Gefühle in Ordnung bringen. Stattdessen war mein Verstand wie gelähmt und versetzte mich in einen Zustand vollkommener Hilflosigkeit und Starre. Warum nur? Warum war es ausgerechnet Rion, der mich so dermaßen durcheinander brachte? Es gelang mir dann aber doch, halbwegs Worte zu formulieren.

„Du spinnst wohl“, rief ich und drückte ihn weg, oder zumindest versuchte ich es, denn meine Arme waren inzwischen nur noch wie aus Gummi. „Als ob ich mich jemals in dich verlieben würde.“

„Das wird sich schon noch zeigen. Jedenfalls scheint dir das hier doch nicht so unangenehm zu sein, wie du mir weismachen willst. Und was du da sagst, stimmt nicht so ganz mit dem überein, was dein Körper sagt. Und dieser erscheint mir wesentlich ehrlicher als dein Mund, Fayette. Also ist es wohl besser, ich schließe ihn dir, damit du mir keine halbherzigen Widerworte mehr geben kannst, die sowieso nicht ehrlich sind.“

Ich ahnte, was das bedeutete und geriet in Panik. Wenn es zwischen uns zu einem richtigen Kuss kam, dann war meine nächste Ohnmacht vorprogrammiert. Dann war ich für ein oder zwei Minuten komplett außer Gefecht gesetzt und würde vollkommen wehrlos sein.

„Nein, ich will nicht…“, rief ich und versuchte ihm so gut es ging auszuweichen, doch da hielt er meinen Kopf fest und küsste mich. Für einen Moment war ich wie in eine Schockstarre verfallen und mir war, als würde mein Herz einen Schlag aussetzen. Ich spürte seine Lippen auf den meinen und wie seine Zunge sich langsam Einlass in meinen Mund suchte. Selbst sein Kuss war so fordernd, dass ich es nicht schaffte, diesen zu beenden. Stattdessen wurde mir schwindelig, mit einem Mal verließ mich jede Kraft in meinem Körper und vor meinen Augen wurde alles schwarz.

You Wanna Make Me Love You?

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

What's Wrong With Me?

Kaum, dass ich wieder zuhause war, hatte mich meine Mutter natürlich wieder mit Fragen gelöchert, wo ich denn so lange gewesen war. Ich wich ihren Fragen mehr oder weniger aus und sagte ihr einfach, ich wäre noch irgendwo gewesen und dann ging ich auch schon in mein Zimmer. Ich hatte wirklich keine Lust zum Reden, denn erst einmal musste ich selbst damit klarkommen und das für mich selbst einsortiert bekommen. Den Abend verbrachte ich am Computer. Ich wollte wieder mit Eren zocken und etwas Ablenkung finden. Ein bisschen sinnloses Geballere tat richtig gut und besserte auch ein wenig meine Laune. Vor allem, weil ich währenddessen nicht an den Sex mit Rion denken musste. Dann aber schrieb mich Eren über Skype an und erkundigte sich bei mir nach dem Stand der Dinge. Zuerst wusste ich noch nicht, ob ich über mein Problem schreiben sollte, dann aber entschied ich mich doch dazu. Ich brauchte jetzt jemanden, dem ich davon erzählen konnte. Eine neutrale Person, die das alles aus einer ganz anderen Sicht sah.

Also schrieb ich ihm, dass ich momentan in einem totalen Gefühlschaos steckte, weil ich nicht wusste, was ich tun oder fühlen sollte. Natürlich fragte Eren sofort nach und ich gestand ihm, dass ich zweimal mit jemandem geschlafen hatte, den ich eigentlich hasste und für den ich eigentlich nichts empfand. Dabei verschwieg ich aber, dass es ein Mann war und behauptete einfach, es wäre eine Frau. Ich wollte es nicht noch komplizierter machen, als es ohnehin schon war. Es dauerte eine Weile, bis ich Antwort bekam:

„Wenn du doch mit dieser Frau schläfst und dir so viele Gedanken machst, dann scheinst du ja doch was für sie zu empfinden, so wie ich das sehe. Jedenfalls kann es kein Hass sein, ansonsten würdest du dich ja wohl kaum zu ihr hingezogen fühlen. Aber ich kenne so was. Ich hab wirklich Schwierigkeiten gehabt, mich auf meine Freundin einzulassen und dachte zuerst, die würde mich verarschen und wäre nur auf eine schnelle Nummer aus. Aber letzten Endes habe ich mich eines Besseren belehren lassen. Vielleicht gibt es ja irgendwelche Dinge an ihr, die du doch magst. Ich meine… ihr seid immerhin aus der Schule raus und keine Teenies mehr. Da ändert sich die Sicht der Dinge auch.“

Nachdenklich las ich mir die Zeilen durch und obwohl Eren ja eigentlich Recht hatte, hatte ich dennoch das Gefühl, komplett auf dem Schlauch zu stehen. Ich wusste nicht weiter und fühlte mich innerlich vollkommen zerrissen. Als ich Eren das mitteilte, hielt er es auch für das Beste, wenn ich mir erst mal die Zeit und die Ruhe nahm, um einen klaren Kopf zu bekommen.
 

Ich blieb recht lange wach und stand am nächsten Morgen erst um halb elf Uhr auf. Die Nacht hatte ich nicht sonderlich gut geschlafen und mir ließ diese Sache einfach keine Ruhe, dass ich freiwillig mit Rion geschlafen hatte. Und das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass nicht einmal Alkohol im Spiel war und ich es irgendwie ja auch gewollt hatte. Aber warum? Was war nur mit mir los? Mir war, als könnte ich immer noch seine Stimme hören, wie er meinen Namen rief, als wir beide unseren Orgasmus hatten. Selbst jetzt konnte ich noch seine Lippen auf meiner Haut und seinen heißen Atem im Nacken spüren und sogar das Aftershave riechen, welches er immer benutzte. Mit Fragen in meinem Kopf, die ich nicht zu beantworten vermochte, ging ich in die Küche und setzte mich an den Tisch. Aber irgendwie hatte ich keinen großen Appetit. Und meiner Mutter entging natürlich nicht, dass mich irgendetwas beschäftigte.

„Was ist denn los, Fay? Du wirkst irgendwie bedrückt. Ist gestern irgendetwas passiert?“

Im Normalfall hätte ich vielleicht alles erzählt, aber ich hatte einfach keine Lust darauf, dass meine Mutter mir noch den Floh ins Ohr setzte, ich wäre vom anderen Ufer. Und da Emily auch am Tisch saß, wollte ich sowieso nicht unbedingt davon erzählen, wie Rion über mich hergefallen war. Mit Sicherheit hätte sie mich aus Eifersucht noch glatt erwürgt. Aber wenn ich überhaupt nichts sagte, würde meine Mutter sich nur irgendetwas wieder zusammendichten und das endete nicht selten in einer Katastrophe. Nachdem ich mir Toast mit Marmelade gemacht und einen Bissen gegessen hatte, begann ich zögernd zu erzählen.

„Ich bin gerade ratlos, das ist alles. Da sind ein paar Sachen, die mich beschäftigen und ich weiß nicht, wie ich das regeln soll.“

Während Emily wie immer mit ihren Freundinnen auf dem Handy schrieb, hatte meine Mutter ihre Kreuzworträtsel beiseite gelegt und wandte sich mir zu.

„Möchtest du darüber reden?“

Eigentlich nicht, dachte ich, sprach es aber nicht laut aus. Stattdessen erklärte ich ihr „Es gibt da jemanden, mit dem es gerade ein komplettes hin und her ist. Ich sag mal so: ich hab da eine gewisse Beziehung zu der Person und mit der hatte ich auch den One-Night-Stand gehabt. Zwischen uns ist es ziemlich kompliziert und diese Person will etwas von mir und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich gut geht. Ich weiß selbst nicht, was ich fühle und ob ich die Gefühle dieser Person überhaupt erwidern kann. Es war schon schwierig gewesen, bevor wir miteinander geschlafen hatten, aber jetzt ist es total kompliziert geworden und ich weiß selber gerade nicht, wo mir der Kopf steht. In meinem Kopf herrscht ein totales Chaos und… naja…“

Ich wusste nicht, wie ich das Ganze näher erklären sollte, ohne verraten zu müssen, dass ich von Rion sprach. Meine Mutter trank einen Schluck Kaffee und fragte „Und wenn ihr zwei miteinander redet?“

Reden? Irgendwie war ich mir nicht so sicher, ob das eine gute Idee war. Vor allem weil ich ja nicht mal wusste, wie ich mit Rion darüber sprechen sollte, wenn ich doch überhaupt keine Ahnung hatte, was ich in seiner Nähe fühlen sollte.

„Wie denn, wenn ich keinen Plan habe, was ich will? Ich glaube, reden hilft da auch nicht wirklich.“

Nun aber seufzte Emily und legte ihr Handy weg, wobei sie überraschend das Wort erhob.

„Das ist ja mal wieder so typisch Mann. Anstatt einfach mal das Gespräch zu suchen, schweigt ihr euch aus.“

Auch Mum nickte beipflichtend und erklärte „Deine Probleme werden sich ganz sicher nicht davon lösen, dass du den Kopf in den Sand steckst. Ihr seid doch gute Freunde, da könnt ihr doch sicher eine Lösung finden.“

Etwas irritiert von dem Wort „Freund“ runzelte ich die Stirn. Was zum Teufel reimte sich meine Mutter denn wieder bitteschön zusammen?

„Wie jetzt?“

Und daraufhin antwortete sie doch tatsächlich „Na du sprichst doch von Seth, oder etwa nicht?“

Ich wusste nicht, ob ich in diesem Moment genervt oder gleich wütend sein sollte. Irgendwie kam ich mir ein wenig verarscht vor und das regte mich schon auf. „Mum, kannst du nicht ein einziges Mal damit aufhören, mir und Seth irgendetwas andichten zu wollen?“

„Ja entschuldige Mal“, rief sie sofort und man konnte schon heraushören, dass sie sich auf eine Konfrontation gefasst machte. „Du hast von einer Beziehung gesprochen und dass es kompliziert geworden ist. Für mich hört es sich eben danach an, als hätten du und Seth etwas.“

Ich versuchte ruhig zu bleiben und ihr diesen Schwachsinn wieder auszureden: „Wie denn bitteschön, wenn er mich nicht mal liebt und mit diesem Raphael zusammen ist?“

Und als wäre das nicht schon genug, nein jetzt musste auch noch Emily einen draufsetzen.

„Ach was. Ich bin mir sicher, dass er nur mit Raphael zusammen ist, weil er einen Ersatz sucht. Und so dicke, wie ihr beide seid, ist es doch glasklar, dass er was für dich empfindet.“

Mir war das nun endgültig zu viel und ich stand auf. Der Appetit war mir nun endgültig vergangen und als Mum mir noch hinterher rief, ich solle doch da bleiben, da antwortete ich nur „Vergiss es. Das ist mir endgültig zu blöd. Mit euch kann man doch echt nicht vernünftig reden.“
 

Mir reichte es und ich ging ins Bad, um zu duschen. Ich war wütend auf Mum und Emily und hatte auch keine Lust mehr zum Reden. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, als würden sie mich auch nicht sonderlich ernst nehmen. Da konnte ich genauso gut mit einem katholischen Pfarrer reden. Nach der heißen Dusche verzog ich mich in mein Zimmer, schloss die Tür ab und baute die Staffelei auf. Die beste Art, mich abzulenken, war das Malen. Das hatte ich sowieso vorgehabt. Da ich aber gerade Lust auf etwas Neues verspürte, holte ich eine neue Leinwand heraus und suchte als erstes meinen Stift, um die Linien vorzuzeichnen. Stellte sich nur die Frage, was für ein Motiv ich nehmen sollte. Einfach etwas Impressionistisches? Die klassische Obstschale? Ein Fantasiegemälde? Lange überlegte ich, bis ich dann zu dem Entschluss kam, doch kein Öbild zu malen. Stattdessen wollte ich zur Ausnahme mit Aquarellfarbe malen. Ich legte also die Keilrahmenleinwand beiseite und holte das Papier, welches ich für Aquarellbilder nahm. Zugegeben, ich malte vorzugsweise mit Ölfarbe und Kohlestiften. Aquarell nahm ich äußerst selten, da ich nicht gerade das beste Händchen dafür hatte. Aber heute hatte ich einfach Lust dazu. Ich hatte sogar schon eine Vorstellung, was ich als Motiv malen könnte und welche Farben ich dafür nehmen würde. Aber zuerst begann ich mit einem Stift die Linien vorzuzeichnen. Mir schwebte das Bild direkt vor Augen und ich begann zu zeichnen. Ich malte die starken und breiten Schultern, den kräftigen Hals und dieses fein geschnittene Gesicht, welches eine so starke Ausstrahlung hatte. Normalerweise hätte ich ein listiges und verschlagenes Lächeln dazu gemalt, welches eiskalte Überlegenheit ausstrahlte, doch ich entschied mich anders. Denn ich erinnerte mich an dieses warmherzige Lächeln, das er mir gezeigt hatte. Ein Lächeln, welches so menschlich wirkte und sich tief in mein Gedächtnis gebrannt hatte, sodass ich es selbst sah, wenn ich die Augen schloss.

Nach und nach verteilten sich warme leuchtende Farben auf dem Bild. Kalte und dunkle Blautöne, die sich mit kräftigen Rot- und Orangetönen vermischten und ein sehr stimmiges Bild ergab. Die Augen betonte ich besonders. Ich malte die eisblaue Iris, welche so hell war, als wären es leuchtende Kristalle. Nach und nach zeichnete sich ein leuchtendes farbenfrohes Bild ab und ich sah wieder sein Gesicht… Rions Gesicht. Oh Mann, dachte ich und seufzte leise. Jetzt male ich ihn sogar schon und bin keinen Schritt weiter, was meine Gefühle betrifft.

Ich beschloss, im Blumenladen vorbeizuschauen und versteckte das Bild, nachdem ich die Farben weggeräumt hatte. Wenn Emily oder meine Mutter es noch zu Gesicht bekamen, dann machten sie alles nur noch schlimmer. Also legte ich es oben auf den Kleiderschrank, wo sie es nicht finden konnten und wo es vor allem in aller Ruhe trocknen konnte. Da dies erledigt war, zog ich meine Schuhe an, schnappte meine Fahrradschlüssel und ging. Da ich immer noch sauer auf Mum und Emily war, sagte ich nur „Bin weg“ und verließ das Haus.
 

Ich fuhr in Richtung Innenstadt und hielt direkt vor dem Blumenladen. Dort war Seth gerade dabei, die Rosen herauszustellen. Ich grüßte ihn und winkte ihm zu. Und er schien sich sichtlich zu freuen, dass ich mal vorbeischaute.

„Ach da bist du ja, Fay. Und ich hatte schon Sorgen, dass Rion dir die Hölle heiß macht.“

Ich versuchte zu lachen, aber so ganz wollte es mir nicht gelingen und ich half Seth dabei, die Blumen rauszustellen. „Wo warst du denn gestern Abend? Ich wollte dich anrufen, aber du warst nicht da.“

Da ich ihm vertrauen konnte, erzählte ich ihm, dass ich ein zweites Mal mit Rion geschlafen hatte und was Rion zu mir gesagt hatte. Seth seinerseits war so überrascht, dass er beinahe einen Blumentopf fallen ließ. Er starrte mich einen Augenblick lang sprachlos an, bevor er das für sich sortiert bekam. Aber dann schüttelte er den Kopf und meinte „Also das erste Mal kann ich ja noch verstehen, weil du betrunken warst. Aber das zweite Mal… War es wegen dem Traum, dass du es ausprobieren wolltest?“

Unsicher zuckte ich mit den Schultern.

„Mein körperliches Verlangen war da wohl irgendwie stärker als mein Kopf. Typisch Mann, was? Wir sind eben alle komplett triebgesteuert.“

Doch Seth sah mich aufmerksam an und sein Blick hatte etwas Prüfendes. „Aber du musst noch an ihn denken…“

Wir gingen wieder gemeinsam in den Blumenladen ich erzählte ihm von meinem Dilemma. Seth zeigte sehr viel Verständnis und hörte mir aufmerksam zu. Auch er riet mir, in Ruhe über alles nachzudenken und dann das Gespräch mit Rion zu suchen. Dann aber, als wir das Thema wechseln wollten, fiel ihm noch etwas ein, worauf er mich direkt ansprach. „Hast du eigentlich die Fotos?“

Erst da fiel mir ein, dass ich sie gestern gar nicht den Umschlag mit den Fotos mitgenommen hatte. Die mussten noch bei Rion zuhause liegen.

„Oh verdammt, die habe ich total vergessen. Die liegen noch bei Rion. Ich fahr eben vorbei und hol sie.“ Damit wollte ich wieder losgehen, aber Seth hielt mich noch kurz auf. „Es eilt ja nicht, Fay. Wegen mir brauchst du dir da keinen Stress machen.“

Aber ich schüttelte den Kopf und meinte nur „Ich hol sie nur ab und verschwinde wieder. Er hat eh gesagt, dass er zu tun hat.“

Zugegeben, ich wäre Rion am liebsten erst mal aus dem Weg gegangen, aber dann hatte ich das wenigstens erledigt und konnte dann abschalten. Und zwar richtig. Doch dann sagte Seth etwas, was mich dann doch zum Nachdenken brachte: „Suchst du vielleicht einen Grund, um wieder zu ihm gehen zu können?“

Tat ich das? Wollte ich wirklich unbedingt zu ihm, dass ich mir extra die Umstände machte, nur um die Fotos abzuholen, obwohl ich genauso gut bis Montag warten konnte? War das auch der Grund, warum das erste Motiv, was mir beim Malen in den Sinn gekommen war, auch ausgerechnet Rion sein musste? Ich blieb stehen und dachte nach. Was zum Teufel war nur mit mir los? Konnte es vielleicht tatsächlich sein, dass ich drauf und dran war, mich in Rion zu verlieben, den ich immer als arroganten Mistkerl betrachtet hatte und den ich schnellstmöglich wieder aus meinem Leben streichen wollte? War ich denn tatsächlich so schnell über Katherine hinweg? Nein… ich liebte sie immer noch oder zumindest war ich mir dessen sicher. Und die Trennung tat mir immer noch weh, wenn ich daran zurückdachte. Ich seufzte und fuhr mit meiner Hand durchs Haar.

„Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Seit das mit Katherine zu Ende gegangen ist, hab ich das Gefühl, dass mein Leben komplett durcheinandergeworfen wird und sich in ein einziges Chaos verwandelt.“

Immer noch betrachtete Seth mich aufmerksam, so als versuche er aus meinem Gesicht irgendwelche Gedanken und Emotionen abzulesen.

„Seit der Trennung von Katherine, oder nicht vielleicht, seit Rion wieder aufgekreuzt ist?“

Tja, das wusste ich leider auch nicht. Bei dieser komplizierten Geschichte war es ohnehin schwierig, da noch irgendwie durchzublicken.

„Verdammt… ich weiß es doch auch nicht. Ich meine, das Ganze ist doch sowieso schon schwer genug für mich und ich hab gerade erst die Trennung von Katherine hinter mir. Es ist, als hätte Rion einfach den Moment abgepasst, um mir auf die Pelle zu rücken. Und dann sagt er noch solche Sachen. Ich weiß doch selber nicht, was ich denken oder fühlen soll.“

Seth nickte verständnisvoll. Bei ihm war es nicht so schwer gewesen, als er das erste Mal als Teenager in einen anderen Jungen verliebt gewesen war. Für ihn als bekennender Schwuler war das kein Problem gewesen, aber bei mir war es etwas anderes. Ich war heterosexuell und hatte nie etwas Tieferes für andere Männer empfunden und das tat ich auch jetzt nicht. Der Gedanke, mit einem Mann zusammen zu sein, erschien mir noch genauso fremd und absurd wie eh und je, trotzdem konnte ich Rion nicht vergessen. In mir herrschte ein Konflikt, den ich so schnell nicht lösen konnte. Warum auch musste das Leben nur so verdammt kompliziert sein?

„Hast du versucht, mal mit deiner Mutter zu reden?“

Bei diesen Worten schnaubte ich laut und schüttelte den Kopf. „Die denkt, dass ich von dir rede. Sie und Emily können immer noch nicht damit aufhören, uns beide verkuppeln zu wollen. Glaub mir, ein Gespräch mit denen ist doch vollkommen zwecklos. Da kann ich doch genauso gut mit dem Papst über meine Probleme reden. Von dem krieg ich genauso eine gescheite Antwort. Nein, das bringt mit denen überhaupt nichts. Ich muss das irgendwie alleine klären. Wenn ich denn wenigstens wüsste wie. Ach verdammt… als wäre das alles nicht eh schon kompliziert genug, dass ich einen One-Night-Stand mit dem Kerl hatte, der mich in der Schule ständig schikaniert hat. Jetzt sagt er auch noch, dass er will, dass ich mich in ihn verliebe.“

Ich lehnte mich gegen den Verkaufstresen und seufzte leise. Selten hatte ich mich je so ratlos gefühlt und ich fragte mich, wie das alles nur so weit hatte kommen können. „Klingt für mich ganz stark danach, als würde er dich lieben.“

„Ja aber… er hat mich bis zu unserem Abschluss an der High School tyrannisiert und sich ständig über mich lustig gemacht. Danach haben wir uns sechs Jahre lang nicht gesehen. Wie soll er sich da in mich verliebt haben?“

Seth brauchte nicht lange nachzudenken, um auf eine Antwort zu kommen. „Vermutlich ist es ja nach eurem One-Night-Stand passiert. Das wäre ja auch möglich. Oder aber er hat sich verliebt, nachdem er dich im Café getroffen hat. Die Möglichkeit besteht auch.

„Nachdem ich ihn so angefahren habe?“ fragte ich ungläubig, doch Seth hielt an dieser Theorie fest.

„Wahrscheinlich ist da einfach irgendetwas an dir, was er doch sehr anziehend findet. Ich meine, du siehst echt süß aus und ich kann es schon verstehen, wenn er ein Auge auf dich geworfen hat.“

Na toll, das machte es aber auch nicht besser. Am liebsten würde ich in diesem Moment einfach nur laut schreien, wenn ich wenigstens auf diese Weise wieder etwas Ordnung in meinen Kopf kriegen konnte. Schließlich aber legte Seth eine Hand auf meine Schulter.

„Vergiss einfach mal, was alle anderen darüber denken und was sie von dir erwarten. Es mag jetzt ziemlich abgedroschen und kitschig von mir klingen, aber es ist besser, wenn du allein auf das hörst, was du wirklich willst und vor allem ehrlich zu dir selbst bist. Was genau spricht denn alles dagegen, dass du dich auf eine Beziehung mit ihm einlässt?“

Da brauchte ich nicht lange nachzudenken. „Er ist ein arroganter Dreckskerl, der mir in der Vergangenheit genug Ärger gemacht hat, er provoziert mich auch jetzt immer noch, ich liebe noch Katherine und außerdem stehe ich nicht auf Männer.“

Und als Seth mich fragte, was denn dafür sprach, da musste ich schon etwas nachdenken.

„Er sieht gut aus, er hat Kohle, er ist ein sehr erfolgreicher Fotograf, er hat eine einfühlsame Seite und er ist gut im Bett…“

Als mir das letzte so herausrutschte, wandte ich verlegen den Blick ab und errötete, aber Seth ging sehr souverän damit um und nickte. Und dann zog er sein Fazit: „Also so wie ich das höre, lässt du dich nur von der Vergangenheit davon abhalten, mit ihm zusammenzukommen. Du klammerst dich so sehr an den Gedanken, dass ihr immer eingeschworene Feinde sein werdet, dass du sogar in Kauf nimmst, selber dadurch unglücklich zu werden. Fay, du bist ein Sturkopf und wahrscheinlich genauso ein großer wie Rion. Nur bei ihm ist es der Unterschied, dass er bereit ist, sich auf diese Gefühle einzulassen und den ersten Schritt zu wagen. Mag sein, dass das vielleicht nicht ganz die richtige Art und Weise von ihm ist, aber letzten Endes lässt du dich von der Vergangenheit ausbremsen. Und das Sprichwort sagt ja auch: wer nur in der Vergangenheit lebt, der kann auch nicht nach vorne schauen. Ich will dir nicht unbedingt anraten, dass du dich direkt auf ihn einlässt und ihr wieder im Bett landet. Aber du solltest mal darüber nachdenken, ob es Gegenargumente gibt, die nicht auf die Vergangenheit beruhen. Und das ist doch eigentlich nur jenes, dass du hetero bist. Aber wenn du dich zu Rion hingezogen fühlst und sei es auch nur in sexueller Hinsicht, dann bleibt eigentlich nur die Schussfolgerung, dass du bisexuell bist und hauptsächlich zu Frauen tendierst und Rion sozusagen die Ausnahme von der Regel ist.“

Ich hatte irgendwie befürchtet, dass es darauf hinauslief, dass ich doch nicht so hetero war, wie ich mir immer einreden wollte. Und genau das wurmte mich. Immerhin war es das Einzige, was mir wirklich das Gefühl gab, ich wäre ein Mann. Mit der Ausnahme von der Tatsache, dass ich einen Penis statt Brüsten hatte. Die Tatsache, dass ich zu Frauen und zu Männern eine Neigung hatte, machte für mich alles nur noch schlimmer. Das war auch so wieder ein ewiges hin und her, genauso wie mit meinem Aussehen.

„Was genau ist denn eigentlich dein Problem?“ fragte Seth und verschwand nach hinten, um die auf dem Boden liegenden Stängel und Blätter wegzufegen. Ich schnappte mir ebenfalls einen Besen und half ihm.

„Na sieh mich doch an“, seufzte ich frustriert. „Rein optisch bin ich weder ganz Mann noch ganz Frau, sondern irgendein undefinierbares Zwischending. Und jetzt soll ich nicht schwul oder hetero, sondern bisexuell sein? Das ist doch auch nur so ein verdammtes Zwischending. Meine Liebe für Frauen war doch im Grunde genommen das Einzige, was mich zu einem richtigen Kerl gemacht hat. Ausgenommen von meinem Geschlecht halt.“

Doch mein bester Freund hatte dafür nicht viel Verständnis und ich sah schon an seinem Blick, dass er mich gleich noch ordentlich zurechtstutzen würde.

„Heißt das etwa, dass die Tatsache, dass ich Männer liebe, mich nicht mehr zum Mann macht?“

Ich erkannte so langsam, dass ich das ziemlich ungünstig formuliert hatte und versuchte das richtig zu stellen.

„Nein, so meinte ich das nicht“, versuchte ich ihm zu erklären. „Es war eher auf mich bezogen.“

Doch Seths Blick blieb weiterhin und nachdem wir den Boden gefegt hatten, begann er nun damit, die Scheren und Werkzeuge einzuräumen. „Du lässt dich zu sehr von deinen Komplexen beherrschen und von dem, was andere von dir denken. Es kann dir doch egal sein, was andere über dich denken. Und ebenso kann es dir egal sein, dass du androgyn bist. Du könntest dir so vieles einfacher machen, wenn du endlich mal damit aufhörst, dir selbst einzureden, du seiest kein richtiger Mann. Ansonsten müsstest du dir mal Gedanken machen, ob du nicht vielleicht professionelle Hilfe in Anspruch nehmen solltest, um dein Problem in den Griff zu bekommen. Ansonsten wirst du dir immer dein Glück auf diese Weise verbauen. Ich sage ja nicht direkt, dass du mit Rion zusammenkommen sollst. Das ist allein deine Sache. Aber bisher haben deine Komplexe dafür gesorgt, dass wirklich jede deiner Beziehungen gescheitert ist, weil du dir immer einredest, dass sie sowieso irgendwann den Bach runtergehen, weil deine Freundinnen irgendwann einen Typen finden werden, der besser ist als du. Fay, du hat eine so große Blockade in deinem Kopf, dass sie dir immer wieder aufs Neue ein Bein stellt und wenn du nicht langsam mal deine Einstellung zu dir selbst änderst, dann wirst du noch wirklich unglücklich werden. Und das will weder ich noch du selbst.“

Ja, da hatte er wohl nicht ganz Unrecht. Ich sah ja auch ein, dass mein Männlichkeitskomplex ein ziemlich großes Problem war und ich etwas dagegen unternehmen musste. Aber es fiel mir einfach schwer zu akzeptieren, dass ich vielleicht bisexuell sein könnte. Ich wollte das nicht, ich wollte einfach nicht, dass ich mich in einen Mann verliebte. Man konnte es als Trotz oder Sturköpfigkeit bezeichnen, aber wenn man sein ganzes Leben lang hetero war und jetzt auf einmal gleich zwei Mal mit einem Mann ins Bett sprang und ein Mal davon vollkommen nüchtern und freiwillig war, da war es eben schwer, so etwas auch zu akzeptieren.

„Das ist alles nicht so einfach…“

Ich setzte mich auf einem Hocker und hatte irgendwie das Gefühl, als würde ich in einer mentalen Sackgasse stecken. „Die ganzen Jahre über lief bei mir alles normal. Naja… was man eben halt als normal bezeichnen kann. Aber kaum, dass Rion wieder auftaucht, ist bei mir alles komplett durcheinander geraten. Was soll ich denn machen, Seth?“

„Vielleicht mal ein bisschen ehrlicher zu dir selbst sein.“ Na toll, das half mir auch weiter. Ich fühlte mich ziemlich unmotiviert und fragte mich ernsthaft, wie das denn bitte weitergehen sollte.

„Was soll das denn bitte für eine Zukunft haben, wenn ich mich wider Erwarten auf so etwas einlasse? Was, wenn ich eines Tages eine Familie gründen will und auch mal eigene Kinder haben will? Wie soll das denn bitte funktionieren?“

Nun änderte Seth seinen Gesichtsausdruck und er schien wohl nicht mehr darauf aus zu sein, mir die Leviten zu lesen. Viel eher schaute er mich an, als wollte er mich fragen „Das ist doch jetzt wirklich nicht dein Ernst, oder?“

Er verschränkte die Arme und wirkte ein wenig ungehalten. „Fay, du verarschst mich doch jetzt langsam, oder? Du weißt doch genau, dass es für solche Fälle immer noch die Möglichkeit einer Adoption oder Leihmutterschaft gibt. Und wir haben auch die Möglichkeiten einer Homo-Ehe. Du steigerst dich komplett in irgendwelche Spinnereien hinein und verplanst dein ganzes Leben schon, obwohl du ja noch nicht einmal weißt, ob du überhaupt diese Beziehung mit ihm führen willst. Komm erst mal zur Ruhe, anstatt gleich so hysterisch zu werden und aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Das ist nämlich auch eine deiner Stärken: die Probleme noch größer zu machen, als sie eigentlich sind.“

Da neue Kunden in den Laden kamen, mussten wir das Gespräch beenden und ich bedankte mich bei Seth für die Hilfe. Zwar wusste ich nicht wirklich, ob mir das auch weiterhalf, aber zumindest war mir so, als hätte ich ein kleines bisschen Ordnung in meinen Kopf bekommen. Aber so ganz gelöst war mein Dilemma auch nicht. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken, zu Rion zu fahren und die Fotos abzuholen. Aber irgendwie war mir dann doch nicht so ganz danach. Stattdessen fuhr ich zum Laden für Kunstzubehör, kaufte mir ein paar Farben und neue Pinsel, die ich dringend benötigte und auch einen neuen Kohlestift. Danach kehrte ich wieder nach Hause zurück, um für den Rest des Tages zu malen.

Family Affairs

Sonntage waren so die Art von Tage, an denen sich meist nichts Besonderes ereignete. Die Läden hatten geschlossen und meist war meine Mutter den ganzen Tag mit Putzen beschäftigt. Draußen war das Wetter ziemlich bewölkt und es donnerte auch in der Ferne. Auch in den Nachrichten war Regen angekündigt, vielleicht sogar ein Unwetter. Die Nacht hatte ich fast genauso schlecht geschlafen wie die letzte, weil ich nicht aufhören konnte, an Rion und den Sex mit ihm zu denken. Es beschäftigte mich einfach und stellte mich vor die Frage, ob ich tatsächlich dabei war, mich in ihn zu verlieben. Aber warum? Warum musste es ausgerechnet er sein?

Nach dem Frühstück hatte ich meiner Mutter ein wenig im Haushalt geholfen, da sie wieder über Rückenschmerzen klagte. Emily musste lernen und schied deshalb aus. Während ich das Bad putzte, war meine Mutter mit Staubsaugen beschäftigt und so hatte ich den Morgen ganz gut hinter mich gebracht. Allerdings konnte ich kaum an etwas anderes denken, als an Rion. Ich wollte ja noch die Fotos abholen, die ich bei ihm vergessen hatte, doch ehrlich gesagt fragte ich mich, ob das wirklich so eine gute Idee war. Immerhin wusste ich nicht, ob Rion schon wieder über mich herfallen würde und das wollte ich lieber nicht. Es war besser, wenn wir voneinander Abstand nahmen und so etwas nicht noch einmal passierte wie vorgestern. Für mich stand fest, dass es nichts werden würde, vor allem weil wir beide Männer waren und wir auch nicht wirklich etwas gemeinsam hatten. Wir waren komplett verschiedene Menschen und lebten in verschiedenen Welten. Er war ein reicher Fotograf und ich ein einfacher Kunststudent. Ich sollte ihm klar machen, dass es nie etwas werden würde und damit war es dann auch hoffentlich ein für alle Male gegessen. Ich würde den Job mit dem Fotoshooting zu Ende bringen und Abstand nehmen. Das war das Beste und ich konnte wieder zu meinem normalen Leben zurückkehren, bevor ich mich noch tiefer in die Scheiße ritt.

Diese ganze Sache beschäftigte mich dermaßen, dass ich mich kaum auf meine Aufgabe konzentrieren konnte und meine Mutter deshalb ziemlich schimpfte als sie sah, wie schlampig ich geputzt hätte. Also durfte ich alles noch mal machen. Gerade war ich dabei, das Waschbecken zu putzen, da kam plötzlich Emily rein.

„Wann bist du denn wieder beim Fotoshooting?“ fragte sie und etwas überrascht hielt ich mit der Arbeit inne, denn es war das erste Mal, dass sie mich auf den Job ansprach, weil sie ja doch ziemlich eifersüchtig war und seitdem kaum ein Wort mit mir geredet hatte. Aber offenbar hatte sie sich inzwischen wieder eingekriegt. Trotzdem fragte ich nach: „Wieso interessierst du dich auf einmal dafür?“

Sie wirkte noch ein klein wenig eingeschnappt und zuckte nur mit den Schultern. „Darf ich denn nicht mal nachfragen?“ blaffte sie zurück und da ich keine Lust auf Streit hatte, entschärfte ich die Situation wieder. „Ist ja gut… wir haben ein paar Aufnahmen gemacht und wir machen morgen weiter. Rion will erst mal die Fotos alle bearbeiten. Er hatte zwar schon ein paar fertig, aber ich hab sie vergessen.“

„Dann hol sie doch nachher mal ab. Ich will echt mal sehen, wie er dich abgelichtet hat. Mum brennt ja auch schon darauf und hat mich die ganze Zeit damit genervt.“

Ich schwieg, denn ich konnte ja wohl kaum sagen, dass ich ihn nach dem Sex vor zwei Tagen lieber nicht mehr sehen wollte. Insbesondere, weil mein Gefühlschaos schon schlimm genug war.

„Ich fahr nachher zu ihm, wenn ich hier fertig bin.“

Emily sah mich schweigend an und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, als würde sie mir etwas sagen wollen, doch sie rückte nicht mit der Sprache heraus, sondern behielt es für sich und ging wieder. Ob sie immer noch sauer war, weil ich für ein Fotoshooting engagiert wurde und Rion ihr eine Absage erteilt hatte? Tja, manchmal waren Schwestern im Alter von 16 Jahren nicht immer sonderlich einfach zu verstehen. Denn im Grunde verstanden sie sich meist selber nicht so wirklich. Das hatte ich oft genug miterlebt gehabt. Doch ich hielt mich nicht lange damit auf, denn ich hatte genug andere Probleme, um die ich mich kümmern musste. Und das waren mein Gefühlschaos und mein Dilemma mit Rion. Immer und immer wieder kreisten meine Gedanken um das, was Seth mir gestern gesagt hatte.
 

Nachdem ich das Bad noch mal geputzt hatte, drückte Mum mir noch den Müll in die Hand, den ich dann nach draußen brachte. Bei den Mülltonnen angekommen sah ich unseren Nachbarn Jesse auf der Veranda sitzen und eine Zigarette rauchen. Ich grüßte ihn und erkundigte mich nach dem Stand der Dinge bei ihm. Jesse war eigentlich ein netter Kerl, allerdings auch einer von der etwas zurückhaltenden Sorte. Ein eher verschlossener Typ. Aber wir hatten einen ganz guten Draht zueinander. Was man eben halt unter guter Nachbarschaft verstand.

„Bei uns läuft es bestens. Die Jungs halten uns ziemlich auf Trab und Cherry ist ihre Großmutter besuchen gegangen. Und wie läuft es bei dir?“

„Großes Gefühlschaos. Irgendwie hab ich so ein ganz merkwürdiges hin und her mit jemandem, mit dem ich mich eigentlich nicht verstehe aber dennoch scheint da noch was anderes zu sein. Ich habe auch noch keine Ahnung, wie ich das in den Griff kriegen soll und meine Mutter ist mir da auch keine große Hilfe.“

Jesse nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den blauen Dunst aus. Sein Gesicht war immer von einer gewissen Spur Ernst gezeichnet, was darauf schließen ließ, dass er in der Vergangenheit sehr viel erlebt hatte, dabei war er nur ein paar Jahre älter als ich. Sein Gesicht war von Piercings geziert, auch seine Arme waren tätowiert und sein rotbraunes Haar hatte er sich etwas länger wachsen lassen. Er war nicht gerade eine „Normalerscheinung“, hatte aber einen sehr hilfsbereiten Charakter und meine Mutter nahm seine Hilfe besonders dann in Anspruch, wenn es irgendwelche technischen Probleme gab. Für so etwas hatte er ein besonderes Händchen. Und manchmal hatte er für bestimmte Sachen ein ziemlich gutes Gefühl, die noch gar nicht passiert waren. Man konnte es als verdammt gute Intuition bezeichnen, was aber nicht selten wirkte, als könne er in die Zukunft sehen. Manchmal war es schon etwas gruselig, aber man konnte sich auf sein Gefühl immer verlassen.

„Dann geh doch am besten gleich los und klär das. Wenn du es länger vor dir her schiebst, wird es doch nur schlimmer werden. Und versuch es einfach mal mit einer neuen Perspektive.“

„Wie meinst du das?“

Jesse drückte nun seine Zigarette aus und seine grasgrünen Augen fixierten mich. „Wenn du den Sachverhalt aus der Sicht der anderen Person betrachtest, wird es dir sicher helfen, die Dinge besser zu verstehen. Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, dann sollte man einfach mal die Sichtweise wechseln. Natürlich ist das nicht immer einfach. Ich spreche da aus Erfahrung.“

„Ach echt?“ fragte ich überrascht und Jesse nickte. „Ich war knapp ein Jahr jünger als du, als ich mich in Cherry verliebte. Und dabei habe ich es nicht mal gemerkt. Ich war nicht fähig, Gefühle zu erkennen und zu verstehen und ohne Therapie hätte ich das sicher nicht in den Griff gekriegt. Aber egal was auch war, Cherry blieb immer hartnäckig und sie pflegt auch zu sagen: jeder Mensch verdient eine zweite Chance und wenn man sich wirklich liebt, dann kann man alle Probleme überwinden. Und ich…“

Jesse unterbrach kurz und wandte sich um. Irgendetwas war wohl los und dann sagte er schließlich „Entschuldige Fay, aber ich muss rein und nach den Jungs sehen.“

Damit verabschiedete sich Jesse und ging wieder ins Haus rein. Ich sah ihm noch kurz nach und ging dann wieder rein. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, als sollte ich Jesses Ratschlag besser befolgen. Naja… ich hatte ja sowieso vorgehabt, zu Rion zu fahren und die Fotos abzuholen. Da konnte ich ja gleich eben losfahren. Nachdem ich also wieder ins Haus gegangen war, verabschiedete ich mich kurz, schnappte mir meine Tasche und die Fahrradschlüssel und machte mich auf den Weg. Dummerweise vergaß ich dabei, sicherheitshalber einen Regenschirm mitzunehmen und merkte erst viel zu spät mein Versäumnis. Es donnerte schon und ich hoffte nur, dass ich auch schnell genug wieder zu Hause war, bevor es noch anfing zu regnen. Zum Glück brauchte ich nur knapp eine Viertelstunde mit dem Rad zu Rions Adresse, doch als ich ankam, sah ich ihn auch schon in einem heftigen Streit vor der Haustür mit einem Mann, der um die Mitte fünfzig sein musste. Er war untersetzt, hatte sein langsam ergrauendes Haar zurückgekämmt und sah etwas verlottert und ungepflegt aus. Irgendwie passte er so gar nicht hierher und ich fragte mich, was da wohl los war und was so ein schmieriger Typ von Rion wollte. Ich stieg von meinem Fahrrad ab und kam langsam näher, wobei ich natürlich mitbekam, wie sie stritten. Und ich sah, wie wütend Rion war als er erklärte „Ich hab es dir schon hundert Mal am Telefon gesagt, dass das nicht meine Angelegenheit ist, okay? Sie will doch nur wieder Geld haben, damit sie sich wieder betrinken kann und ich sehe nicht ein, warum ich das noch unterstützen soll.“

Doch der Mann, dessen Gesicht etwas aufgequollen wirkte, ließ sich nicht so leicht abwimmeln und erklärte „Du hast doch Geld und nach allem, was wir für dich getan haben, solltest du uns auch mal unterstützen, mein Junge. Verdammt noch mal, wir sitzen bald auf der Straße!“

Irgendwie ahnte ich, dass das wohl eine Familienangelegenheit sein musste, die sich hier gerade abspielte. War dieser Mann vielleicht sein Vater? Und wenn ja, wieso stritten sie dann so heftig?

„Was habt ihr denn je für mich getan?“ kam es von Rion, dessen Blick feindselig, abweisend und unbarmherzig erschien. So wütend hatte ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen. „Ihr habt mich und Louis doch einfach uns selbst überlassen und du warst doch nie zuhause und wenn, dann hast du dich doch wie der reinste Tyrann aufgeführt. Und Mum war es doch gewesen, die mir direkt ins Gesicht gesagt hat, dass Louis’ Tod allein meine Schuld sei. Für euch war ich doch nie wichtig gewesen und deshalb könnt ihr meinetwegen unter einer Brücke schlafen. Du hast doch Mums Trinkerei finanziert und die Familie war dir immer scheißegal. Alles, was du konntest war, uns herumzukommandieren oder…“

„Red nicht in diesen Ton mit mir, du undankbarer Rotzbengel!“ rief der Mann und wollte Rion packen und es sah wirklich danach aus, als wolle er ihn schlagen. In dem Moment ließ ich mein Rad stehen und eilte zu ihm hin. Auch wenn ich wusste, dass ich nicht sonderlich etwas ausrichten konnte, so wollte ich nicht zulassen, dass dieser Kerl Rion schlug.

„Lassen Sie Rion in Ruhe!“ rief ich und wollte mich schon dazwischenstellen, doch da war Rion schneller. Er fing den Schlag ab und drehte dem Mann den Arm auf den Rücken. Erst da erinnerte ich mich wieder daran, dass er ja Kampfsport beherrschte.

„Ich lasse mich nie wieder von dir schlagen, klar?“ sprach Rion mit fester Stimme und seine eisblauben Augen funkelten gefährlich. Und dieser Blick schien den Kerl tatsächlich ein klein wenig einzuschüchtern. „Und jetzt mach, dass du verschwindest, oder ich rufe die Polizei. Ich will dich hier nie wieder sehen und wag es nicht noch einmal, hierher zu kommen.“

Damit ließ er den Mann los, der lieber nachgab und ging. Ich sah ihm noch nach und blieb erst mal stehen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ohne es zu wollen, war ich in eine ziemlich heftige Familienfehde geraten und stand nun vor Rion da und wusste in diesem Moment auch nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Ich wich seinem Blick aus und wagte es nicht, etwas zu sagen. Das war eine ziemlich unangenehme Situation für uns beide und ich vergaß auch völlig, wieso ich eigentlich hier war. Dann aber half mir Rion auf die Sprünge.

„Du bist sicher wegen der Fotos hier, oder?“

Ich nickte und wurde daraufhin ins Haus geführt.

„Ich hol sie eben.“

Damit verschwand er nach oben und mir entging nicht, dass seine Stimme bedrückt und müde klang. Und ich kam mir selbst ziemlich mies vor. Immerhin hatte ich den Streit mit seinem Vater belauscht und dabei einige unschöne Sachen gehört. Mir war nie klar gewesen, dass Rion aus einer zerrütteten Familie stammte. Zwar wusste ich, dass sein Bruder gestorben war, als er elf Jahre alt war, aber ansonsten war nicht viel bekannt gewesen. Und die Male, wo er in elterlicher Begleitung bei den Elternsprechtagen war, da konnte ich mich entsinnen, dass sein Vater irgendwie anders ausgesehen hatte und auch deutlich freundlicher gewirkt hatte. Offenbar schien in Rions Leben doch nicht alles so perfekt zu sein, wie ich es mir wohl gedacht hatte. Eine recht ernüchternde Erkenntnis.

Schritte kamen die Wendeltreppe hinunter und Rion hatte einen Umschlag in der Hand. Doch im Moment waren sie mir nicht so wichtig, denn da war etwas anderes, was mir Sorgen machte. Rion wirkte ziemlich übermüdet, war blass im Gesicht und hatte dicke Augenringe. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen.

„Rion, geht es dir nicht gut? Du siehst echt furchtbar aus…“

Doch er winkte nur ab und meinte „Ich hab ein wenig zu lang an den Bildern gearbeitet, das ist alles.“

Doch so leicht wollte ich mich nicht von ihm abwimmeln lassen und gab deshalb zu bedenken „Ich glaube, du solltest dich besser hinlegen. Du siehst aus, als würdest du gleich zusammenklappen.“ Aber immer noch winkte er alles ab und meinte „Das sieht schlimmer aus, als es ist. Du hör mal, ich muss noch arbeiten. Wir sehen uns ja morgen im Atelier um zehn.“

Offenbar wollte er nicht darüber sprechen, wie es ihm vielleicht zu unangenehm war. Nun, sonderlich verdenken konnte ich es ihm ja nicht. Da ich mich auch nicht zu sehr aufdrängen wollte und auch keinen Grund dazu sah, gab ich schließlich auf und ging zur Haustür. Doch kaum, dass ich sie öffnete, sah ich auch schon, dass es anfing zu regnen. Na toll, das Timing hätte auch nicht besser sein können. Ach was, dann fuhr ich halt im Regen nach Hause. Also ging ich nach draußen, nur um dann von einer regelrechten Sintflut überrascht zu werden, die mit einem Male hereinbrach und ganze Sturzfluten vom Himmel herabprasselten. Binnen weniger Sekunden war ich komplett nass und auf ein Rufen Rions hin eilte ich ins Haus zurück.

„Scheint so aus, als würde es gleich gewittern“, bemerkte er und rückte seine Brille zurecht. „Du kannst auch hier warten, bis es aufhört. Ich hol dir eben ein Handtuch.“

Obwohl ich nur kurz im Regen gewesen war, klebte mein Shirt wie eine zweite Haut an mir und Wasser tropfte mir von den Haaren. Nie hätte ich gedacht, dass es so heftig regnen könnte. Und natürlich musste es ausgerechnet dann passieren, wenn ich bei Rion war. Oh Mann, das Wetter konnte aber auch ein echt mieses Timing haben. Ich wartete im Flur und sah, wie Rion mit einem großen Handtuch zurückkam.

„Dein Shirt hängen wir über die Heizung, dann ist es schnell wieder trocken. Möchtest du etwas trinken?“

Er war erstaunlich gastfreundlich, auch wenn er eher danach wirkte, als wolle er mich wieder loswerden, damit ich bloß keine Gelegenheit zum Nachfragen bekam, was das vorhin für eine Szene war. Ich nahm sein Angebot dankend an und während Rion in die Küche verschwand, zog ich mein durchnässtes Shirt aus und begann mich abzutrocknen. Dabei sah ich mich ein wenig im Wohnzimmer um und sah sofort, dass es einen Kamin, einen riesigen Fernseher (der nach meinen Einschätzungen nach eine halbe Kinoleinwand war) und auch teure und hochwertige Möbel gab. Eine Glastür führte nach draußen in einen Wintergarten und wieder mal musste ich schlucken, als ich erkannte, dass Rion echt viel Geld haben musste. Ich nahm auf einer schwarzen Ledercouch Platz, musste dabei aber wieder an das Fotoshooting denken und errötete ein wenig. Selbst jetzt fiel es mir immer noch schwer zu glauben, dass ich tatsächlich nackt vor einer Kamera posiert hatte… Ich schüttelte den Kopf und verdrängte diesen Gedanken wieder, stattdessen öffnete ich nun den Umschlag und holte sogleich das erste Foto heraus. Ich erkannte es sofort als jenes wieder, wo ich diesen komischen Federblumenhaarschmuck getragen hatte.

Auch wenn ich mich schon auf vielen Fotos gesehen (und gehasst) habe, so war ich dennoch sprachlos. Ich sah mich selbst auf einem Schwarzweißfoto, wo aber die Farbe meiner Augen als einzige belassen wurde. Sie leuchtete in einem strahlenden Türkis, genauso wie der Haarschmuck. Die Farbe, die ich schon immer geliebt hatte, schien in ihrer reinsten Form auf dem Foto zu leuchten und auch meine Augen, die ich als einzige wirklich an meinem Körper liebte, waren am meisten betont worden. Eingerahmt von dezentem Make-up, das Gesicht schmal und blassgrau und der Blick auf diesem Foto erschien mir so tief und unergründlich. Noch nie hatte ich die Fotos von mir sonderlich gemocht, weil ich mich selbst nicht auf ihnen leiden konnte. Aber das hier… das war anders. Irgendwie konnte ich mich einfach nicht auf diesem Foto hassen, sondern dachte zum ersten Mal tatsächlich, dass ich gut aussah. Ja, ich mochte mich so, wie ich auf diesem Bild zu sehen war und war wirklich beeindruckt. Konnte es wirklich sein, dass dieses Foto widerspiegelte, wie Rion mich vielleicht sah? Ich hätte nicht gedacht, dass ich auf einem Foto so aussehen könnte. Und auch das Bild, auf dem ich auf der Couch lag, sah nicht weniger schön aus. Selbst das dritte Foto, wo ich mit Farbpulver überdeckt war und in die Kamera strahlte, war beeindruckend. Selten hatte ein Foto so einen Eindruck auf mich hinterlassen, aber es waren so viele Emotionen erkennbar. Und zwar in vielerlei Hinsicht. Freude, Tiefgründigkeit und Sehnsucht… Ich musste in diesem Moment erkennen, was für ein talentierter Fotograf Rion wirklich war. Er hatte es wirklich geschafft, dass ich mich selbst sehen konnte, ohne denken zu müssen, ich sähe zu weiblich aus. Nein… stattdessen war meine Androgynität auf diesen Fotos so perfekt in Szene gesetzt worden, dass ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben stolz darauf war, androgyn zu sein. Zum ersten Mal sah ich mich selbst mit ganz anderen Augen…
 

Ein lautes Scheppern ließ mich aufschrecken. Ich legte die Fotos beiseite und eilte in die Küche, wo ich Rion fand, dem wohl ein Glas heruntergefallen war. „Warte, ich helfe dir…“

Damit wollte ich anfangen, den Scherbenhaufen aufzusammeln, doch Rion winkte nur ab und meinte, er würde es schon allein schaffen. Nachdem alle Glassplitter beseitigt waren, goss er mir ein Glas Wasser ein und gab es mir. Er selbst nahm sich einen Kaffee und ging mit mir ins Wohnzimmer. Ich fühlte mich irgendwie nervös und wusste nicht, wie ich ihn ansprechen und ob ich überhaupt etwas sagen sollte. Aber dann riskierte ich dann doch die Frage, die mir eigentlich schon die ganze Zeit auf der Zunge lag.

„Was war das eigentlich vorhin für ein Streit mit diesem Mann da gewesen? War das dein Vater?“

Man sah Rion deutlich an, dass dieses Thema wohl eines war, über das er überhaupt nicht sprechen wollte und so rechnete ich auch erst nicht mit einer Antwort. Aber dann entwich ihm ein leiser Seufzer und ein bitteres Lächeln zog sich über seine Lippen.

„Gegen Blutsverwandtschaft kann man leider nicht machen. Ja, der Mann von vorhin war mein Vater. Er hat mich um Geld angepumpt, weil er und meine Mutter hohe Schulden haben und die Hypothek nicht abbezahlen können. Darum wird ihr Haus bald von der Bank zwangsversteigert und sie stehen bald auf der Straße.“

Als er das so sagte, schien ihn das nicht sonderlich zu berühren. Es schien ihm sogar vollkommen egal zu sein. Deshalb fragte ich ihn auch „Und wieso hilfst du ihnen nicht? Sie sind doch deine Eltern.“

„Weil sie nie etwas für mich getan haben und ich nicht einsehe, warum ich ihnen helfen sollte“, erklärte er mit leichter Verbitterung. „Meine Mutter wird das ganze Geld doch sowieso für ihre Trinkerei ausgeben und eine Entziehungskur will sie auch nicht machen. Und mein Vater hat sich sowieso nie um die Familie gekümmert, sondern immer nur untätig herumgesessen, wenn er nicht als LKW-Fahrer unterwegs war. Und wenn er mal nicht faul auf dem Sofa saß, hat er seinen Frust an uns ausgelassen und das gab dann auch mal Schläge mit dem Gürtel.“

Ich war sprachlos, als ich das hörte, denn ich hatte nie gewusst, dass Rions Familie so drauf war. In der Schule waren sie doch immer ganz anständige Leute gewesen. Sympathisch, redselig und ich hatte auch nicht den Eindruck gehabt, als wäre die Mutter eine Trinkerin.

„Das… das ist mir nie so wirklich aufgefallen. Deine Eltern wirkten immer so normal auf mich“, murmelte ich und wandte etwas beschämt den Blick ab, weil mich das schlechte Gewissen plagte. Doch die Erklärung dazu war umso unglaublicher: „Das waren ja auch nicht meine Eltern gewesen, sondern meine Pflegefamilie, die mich auch später adoptiert hat. Nach dem Tod meines Bruders Louis kam das Jugendamt vorbei, nahm mich mit und steckte mich in eine Pflegefamilie. Und da sich die Zustände in meinem Elternhaus nicht besserten, blieb ich bei den McAlisters und als meine Eltern mich zur Adoption freigaben, bekam ich den Namen meiner Adoptivfamilie. Mein eigentlicher Geburtsname ist Maeweather.“

Ich atmete laut aus bei den Neuigkeiten. Das war ein ziemlich starkes Stück, was er mir da erzählte und so ganz konnte ich das nicht glauben. Rion war damals zu einer Pflegefamilie gebracht und von dieser adoptiert worden? Wieso wusste ich nichts davon? Tja… eigentlich konnte ich mir die Frage ja selbst ziemlich gut beantworten: weil mich Rions Leben damals nie interessiert hatte. Immerhin war er es gewesen, der mich ständig schikaniert hatte. Wer würde dann etwas über das Leben seines Peinigers wissen wollen? Ich wusste damals nur, dass Rions Bruder gestorben war, das war aber auch schon alles.

„Meine Familie war recht schwierig“, fuhr er schließlich fort und gab noch etwas Zucker in den Kaffee. „Mein zwei Jahre jüngerer Bruder Louis und ich waren größtenteils auf uns allein gestellt. Unsere Mutter hatte schon kurz vor Louis’ Geburt ein Alkoholproblem entwickelt und unser Vater war nie zuhause. Doch wir beide haben zusammengehalten und uns immer zu helfen gewusst. Aber dann…“ Rion schwieg kurz und senkte den Blick. Ich sah ihm an, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. „Es war am ersten Weihnachtstag gewesen. Es hatte geschneit und auch gefroren. Louis und ich waren draußen vor dem Haus spielen, ich hab ihn mit dem Schlitten hinter mir hergezogen. Wir haben im Garten getobt, während unser Vater mal wieder nicht da war und Mum mal wieder das ganze Haushaltsgeld versoffen hatte und so betrunken war, dass sie nicht mal mehr geradeaus laufen konnte. Es gab vor dem Haus einen großen Teich, der zugefroren war. Louis rannte auf die Eisfläche und ich versuchte noch, ihn davon abzuhalten. Denn ich wusste, dass es gefährlich war, aber er ist einfach auf die Eisfläche gelaufen. Also rannte ich ihm hinterher, aber die Eisschicht war nicht dick genug, um uns beide zu tragen. Wir brachen ein und wurden in die Tiefe gezogen. Ich versuchte noch verzweifelt, meinen kleinen Bruder zu retten, aber ich schaffte es ja selbst kaum, an die Oberfläche zu schwimmen, weil meine nassen Klamotten so schwer waren. Das Schlimmste aber war, dass Louis nicht schwimmen konnte und ich mit elf Jahren nicht die Kraft dazu hatte, um uns beide aus dem Wasser zu retten. Ich schaffte es mit knapper Not, mich mit Louis an die Oberfläche zu kämpfen und schrie um Hilfe, aber Mum kam nicht, weil sie zu betrunken war, um überhaupt irgendetwas mitzukriegen. Erst die Nachbarn hörten mich und zogen uns beide heraus. Ich kam mit einer Unterkühlung und einem Schock davon, aber Louis überlebte das nicht. Er war schon tot, als der Krankenwagen eintraf und alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.“

Eine unangenehme Stille herrschte zwischen uns. Ich fühlte mich furchtbar und mir tat das alles so unendlich leid, dass Rion so etwas passiert war. Allein der Gedanke, dass mir so etwas widerfahren wäre, war schlimm und in diesem Moment konnte ich Rion einfach nicht mehr hassen. Ganz egal, was er alles zu mir gesagt hatte, wie oft er mich damals geschubst und mir ein Bein gestellt hatte. Ich konnte einfach keinen Hass mehr für ihn empfinden. Stattdessen begann ich ihn langsam zu verstehen, warum er damals immer ein Einzelgänger war und warum er so war wie er war. Er war damals auf sich allein gestellt gewesen, hatte alleine klar kommen müssen und war dann nach dem tragischen Tod seines Bruders seiner Familie weggenommen und in ein völlig fremdes Umfeld gesteckt worden. Seine Mutter war eine Alkoholikerin, sein Vater hatte ihn sogar geschlagen. Und er hatte seinen Bruder nicht retten können, als sie im Eis eingebrochen waren. Da war es doch kein Wunder, wenn er als Kind vielleicht etwas schwierig war und andere schikanierte. Er hatte wohl einfach ein Ventil gebraucht, um irgendwie mit seinen Gefühlen fertig zu werden. Mit Sicherheit hatte er sich all die Jahre schwere Vorwürfe gemacht und sich selbst die Schuld für den Tod seines Bruders gegeben. Und von seinen Eltern hatte er weder Liebe noch Trost erfahren…

Je mehr ich so darüber nachdachte, desto stärker wurde der Wunsch in mir, Rion in den Arm zu nehmen und ihn aufzumuntern. Aber ich konnte mich letzten Endes nicht dazu durchringen, weil mein Kopf es nicht als richtig ansah.

„Muss echt heftig gewesen sein, oder?“

„Das war es in der Tat“, gab Rion zu und lehnte sich zurück. Er sah aus, als würde er gleich vor Erschöpfung zusammenbrechen. „Aber die McAlisters waren dennoch gute Eltern und auch wenn ich nicht ihr leibliches Kind war, so haben sie mich mit offenen Armen aufgenommen.“

Als ich das Wort „waren“ hörte, fragte ich nach und erfuhr, dass das Ehepaar McAlister vor knapp drei Jahren bei einem Flugzeugabsturz verunglückt war. Und da sie keine anderen Kinder gehabt hatten, war Rion Alleinerbe ihres Vermögens geworden. Dieser zusätzliche Schicksalsschlag war fast zu fiel für mich. Auch wenn ich es verdammt noch mal hasste zu weinen, so war mir in dem Moment einfach danach zumute. Irgendwie kam mir dieses Haus hier mehr wie eine traurige Fassade vor, die nur die Illusion eines perfekten Lebens in Erfolg und Wohlstand erzeugte. Rion hatte dafür einen sehr hohen Preis zahlen müssen. Zuerst hatte er seinen Bruder verloren, wurde von seiner Horrorfamilie weggeholt und seine Adoptiveltern, die ihn liebevoll aufgenommen hatten, waren jetzt auch tot. Und als er dann Modelfotograf war, da musste er miterleben, wie zwei Models an den Folgen einer Unterernährung starben. Das alles hatte ihn zu einem Einzelgänger gemacht.

Rion war alleine.

Er hatte schon in der Schule kaum bis gar keine Freunde gehabt, weil er lieber allein geblieben war und nun war auch noch seine Adoptivfamilie tot und seine leibliche wollte nur Geld und sonst nichts. Wenn ich daran denken würde, dass mir so etwas passieren könnte… ich hätte auf all das Geld verzichtet, wenn ich dann wenigstens nicht allein wäre.
 

„Hast du sonst niemanden?“

Müde rieb sich Rion die Augen und murmelte „Ich bin mit Isabelles Bruder gut befreundet. Das war das Model, von dem ich dir und Emily erzählt habe. Clarissa schaut auch mal nach dem Rechten, aber sonst sind die Kontakte auch spärlich. Ich hab eh die meiste Zeit viel zu tun. Da kann ich mir meist nur geschäftliche Beziehungen erlauben…“

Mit anderen Worten er war ein Workaholic, um zu kompensieren, dass er kaum jemanden hatte, an den er sich wenden konnte und der für ihn da war. Vor ein paar Tagen hätte ich ja noch gesagt „Das geschieht dir ganz recht“ und „du hast es eh nicht anders verdient“, aber jetzt konnte ich das nicht mehr. Nicht nach dem, was in jüngster Zeit zwischen uns passiert war.

Eine Weile lang herrschte bedrücktes Schweigen zwischen uns. Ich war völlig hin und her gerissen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Auf der einen Seite wollte ich ihm ein paar tröstende Worte zusprechen und ihn im Arm halten, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Aber ich wollte auch nicht einfach so gehen und ihn einfach so zurücklassen. Schließlich aber wagte ich eine andere Frage: „Warum ausgerechnet ich? Wieso hast du ausgerechnet mich…“

Ich ließ die Frage unbeendet, als ich zu Rion herüberschaute und sah, dass er eingeschlafen war. Offenbar war er einfach zu müde gewesen, um weiterhin wach bleiben zu können. Ich entschied mich dazu, ihn lieber schlafen zu lassen. Ich wartete, bis mein Shirt über der Heizung getrocknet war und der Regen draußen aufgehört hatte. Ich steckte die Fotos wieder zurück in den Umschlag und verstaute diesen in meiner Tasche. Bevor ich aber ging, legte ich Rion vernünftig auf die Couch hin und deckte ihn zu. So wie ich die Sache einschätzte, brauchte er wirklich dringend Schlaf. Als ich ihn so auf der Couch liegen sah und wie tief und fest er schlief, da erschien er mir so friedlich in diesem Moment. Wie ein schlafender Engel. Vorsichtig nahm ich ihm die Brille ab und legte sie auf den Tisch. Hoffentlich ging es ihm morgen wieder besser. Diese Sache mit seinen Eltern musste ihn ja ziemlich beschäftigen und um sich abzulenken, hatte er wahrscheinlich die Nacht durchgearbeitet und kaum geschlafen. Kein Wunder, dass er jetzt so erschöpft war.
 

Nachdem es wieder aufgehört hatte zu regnen, verließ ich das Haus und schloss die Tür hinter mir. Immer noch kreisten meine Gedanken um die Dinge, die Rion mir erzählt hatte. Es musste furchtbar schwer sein, in einer solchen Familie aufzuwachsen und dann den Bruder auf solch eine tragische Art und Weise zu verlieren und dann starben auch noch seine Adoptivfamilie und eine gute Freundin. Das Leben hatte es mit ihm wohl nicht sehr gut gemeint. Ich stellte mir die einsamen Weihnachtstage vor, an denen er daran erinnert wurde, dass er seinen Bruder nicht retten konnte. Für mich war nun klar, dass ich Rion ab heute nicht mehr mit denselben Augen sehen würde wie all die Jahre zuvor. Aber eines verstand ich immer noch nicht bei der ganzen Geschichte: warum hatte er sich ausgerechnet mich als Opfer ausgesucht und wieso hatte er sich ausgerechnet in mich verliebt?

I Hate Being A Coward

Am nächsten Morgen erreichte ich mit leichter Verspätung das Atelier, nachdem mich meine Mutter mal wieder festgequatscht hatte. Zum Glück waren es nur fünf Minuten und als ich am Atelier klingelte, erwartete mich eine hübsche schwarzhaarige Frau, die sich mir als Mallory Whitmore vorstellte, die während Clarissas Sonderurlaub die Vertretung übernahm. Sie war eine resolute junge Frau meines Alters, hatte schwarzes schulterlanges Haar und man sah ihr an, dass sie nicht zu der Sorte Frau gehörte, die einen Mann an ihrer Seite brauchte. „Du bist also Fay, das Model von dem Clarissa gesprochen hat, oder?“

Ich bejahte die Frage und folgte Mallory die Treppe hoch. Aus reiner Neugier fragte ich sie, wie sie denn zu dem Job hier gekommen sei und wie sich herausstellte, war Mallory eine sehr redselige Person und erzählte mir, dass sie in derselben Modelagentur wie Rion früher als Sekretärin gearbeitet hatte. Danach sei sie allerdings ebenfalls ausgestiegen, als Isabelle und Monica starben und arbeitete seitdem in der Firma ihrer Adoptiveltern im Büro. Allerdings half sie auch gerne mal im Atelier McAlister aus, da Clarissa eine sehr gute Freundin von ihr sei. Als ich die Geschichte hörte, konnte ich mir einen Kommentar nicht verkneifen. „Da scheinen ja wohl so einige gekündigt zu haben…“

„Wenn du wüsstest“, rief Mallory und lachte. „Diese Agentur musste dichtmachen, als ans Tageslicht kam, dass sie die Models regelrecht zum Hungern genötigt und sogar Kurpfuscher beauftragt hat, ihnen Medikamente zu verschreiben, mit denen die zu dicken Models möglichst schnell abnehmen. Das Ganze ist erst ans Tageslicht gekommen, nachdem Rion, Clarissa, Ellen, MacKenzie, Lucy, Sunny und ich ausgestiegen sind. Rion hat quasi den Stein ins Rollen gebracht.“

Rion… ich fragte mich wirklich, wie es ihm heute ging und ob er immer noch in so einer schlechten Verfassung wie gestern war. Allein wenn ich an gestern zurückdachte, wo er einfach im Sitzen eingeschlafen war…

„Wie geht es Rion eigentlich?“ folgte die Frage von Mallorys Seite aus und etwas unsicher zuckte ich mit den Schultern und antwortete: „Er wirkte gestern ziemlich überarbeitet und ganz schön neben der Spur.“

Die schwarzhaarige Schönheit nickte und ich sah ihr deutlich an, dass es sie nicht sonderlich verwunderte. „Das ist leider immer der Fall, wenn entweder der Todestag seiner Eltern, seines Bruders oder der von Isabelle ansteht. Letztes Jahr habe ich für Clarissa die Vertretung gemacht, weil sie Weihnachten mit ihrer Familie in Vancouver verbracht hat. Da ist er vor Erschöpfung zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus. Das ist seine Art, sich abzulenken. Dabei haben Clarissa und ich schon gesagt, dass ihn sein Arbeitseifer noch eines Tages ins Grab bringen wird.“

Wir betraten einen Raum, der allerdings rein gar nichts von einem Atelier hatte. Es sah aus wie ein großer Umkleideraum und ich wurde auch schon von Rion und einem tätowierten Glatzkopf erwartet, der nicht gerade vertrauenserweckend wirkte. Rion wirkte wieder vollkommen fit und es schien so, als hätte es diese gestrige Szene gestern nicht gegeben. Er hatte wieder das gleiche arrogant anwirkende Lächeln und diese kühle und überlegene Ausstrahlung.

„Ein paar Minuten zu spät würde ich sagen…“

Ja, er war wieder ganz der alte. Ich seufzte und versuchte, cool zu bleiben. „Jetzt krieg dich mal ein. Das waren gerade mal fünf Minuten. Und wer ist das?“

Ich wies damit auf den tätowierten Glatzkopf, der für mich den Anschein erweckte, als würde er auch in einem Tattoostudio arbeiten. Doch zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass Steve Bennett, so der Name des Typen, ein Maskenbildner war und die Aufgabe hatte, das Bodypainting zu übernehmen.

„Bodypainting?“ fragte ich überrascht, denn mit so etwas hatte ich jetzt nicht gerechnet. Ich dachte wirklich, ich müsse wieder Frauenkleider anziehen oder nackt posieren. Doch stattdessen sollte ich mich anpinseln lassen?

„Äh… okay…“, murmelte ich und sogleich gab mir Steve zur Begrüßung die Hand.

„Keine Bange“, versuchte dieser mich zu beruhigen. „Das ist fast dasselbe wie Spray Tanning, das ist die schnellste Methode. Wichtig ist halt nur, dass du still hältst und aufpasst, solange die Farbe noch nicht trocken ist.“

Nachdem sich Mallory verabschiedet hatte, begann nun die Arbeit. Ich musste mich bis auf meine Unterhose entkleiden und daraufhin wurde ich oben rum mit dunkelblauer Farbe eingesprüht. Es war eine etwas kalte Angelegenheit und die Prozedur zog sich knapp eineinhalb Stunden hin, da noch weitere Blautöne dazukamen und dazu noch sehr feine helle Akzente gesetzt wurden, sodass meine Haut an manchen Stellen dezent glänzte. Wirklich jeder einzelne Zentimeter war mit Farbe bedeckt, dass ich mir fast wie der Nightcrawler aus dem zweiten X-Men Film vorkam. Lediglich meine untere Hälfte sah noch ganz normal aus. Nachdem die Farbe vollständig getrocknet war, gingen wir ins Atelier nebenan. Dort war alles vollkommen dunkel und nur wenige Lampen gaben ein sehr schwaches Licht ab. Im Hintergrund hörte ich, wie Ozeanklänge abgespielt wurden. Tatsächlich war alles so hergerichtet, als wären wir auf dem tiefsten Grund des Ozeans. Als Kunststudent war ich wirklich beeindruckt und mir verschlug es glatt die Sprache.

„Wow…“, murmelte ich und sah mich um. Alles war in einer so wunderbaren Atmosphäre, dass allein schon das Atelier selbst als Kunstwerk betrachtet werden konnte. „Du machst aber auch keine halben Sachen, oder?“

„Ich bin eben Perfektionist und ein Künstler, das ist das Geheimnis meines Erfolges“, erklärte Rion und führte mich zu einer kleinen Bühne hin, wo ein Scheinwerfer alles gut ausleuchtete. Aus einer dunklen Ecke holte er etwas hervor, das wie eine Schwanzflosse aussah. Ich ahnte so langsam, worauf das ganze hinauslief. „Soll ich etwa die kleine Meerjungfrau spielen?“ fragte ich und dieses Mal war die Frage nicht negativ gemeint, eher im Scherz. Rion schmunzelte leicht und erklärte „Meerjungfrauen sind sehr beliebte Motive. Meist werden die Aufnahmen unter Wasser gemacht, um die Anmut und Eleganz der Frauen zu betonen, aber das gab es meiner Meinung nach schon viel zu oft. Also habe ich mich für ein Tiefseemotiv entschieden und dafür das alles hier dementsprechend hergerichtet.“

Mir stockte der Atem und ich sah ihn ungläubig an. „Das hast alles du gemacht?“ platzte es aus mir heraus. Er nickte und erklärte, dass er den ganzen Samstag bis spät daran gearbeitet hatte. Danach war er direkt nach Hause gefahren und hatte dort an den Fotos gearbeitet. Heute Morgen war er dann um acht Uhr hier und hatte die Beleuchtung eingestellt. Zugegeben, ich war nun noch beeindruckter und kam nicht umhin, ihn zu bewundern. Rion war wirklich ein Genie, nicht nur als Fotograf, sondern auch was die Kulissengestaltung anbelangte. Man sah wirklich, dass er hier sein ganzes Herzblut hineinsteckte.

„Viele Fotografen arbeiten mit Effekten und Greenscreen. Ich gehöre da eher zu der altmodischen Sorte, die lieber alles selbst macht, damit es umso authentischer wirkt. So etwas macht einen guten Fotografen auch aus.“

Ja, in der Hinsicht war Rion wirklich ein Künstler. Zu zweit schafften wir es, mich in diese Schwanzflosse reinzubekommen. Danach trug er mich, da ich in dem Ding eh nicht laufen konnte, zu genau dem Platz, wo ich fotografiert werden sollte. Er gab mir genaue Anweisungen wie immer, korrigierte zwischendurch meine Haltung und fotografierte mich von vorne, von der Seite und sogar von oben, da es eine Art Hebebühne gab, von der er aus perfekt Aufnahmen aus der Vogelperspektive machen konnte. Es verlief genauso wie in den letzten Tagen und ich fand immer mehr Spaß daran, vor der Kamera zu posieren. Insbesondere nachdem ich gesehen hatte, wie schön meine Fotos eigentlich waren. Während ich die meiste Zeit still hielt, erledigte Rion die ganze Laufarbeit, trug mich von einem Punkt zum anderen und es war ein einziges hin und her, aber er wirkte nicht eine Sekunde lang hektisch. Als ich dann schließlich von dieser Schwanzflosse befreit wurde und wir eine Pause einlegten, ging ich duschen, da wohl genug Bilder gemacht worden waren. Nach einer ausgiebigen Dusche, bei der ich mir die ganze Farbe vom Körper waschen konnte, ging ich wieder zurück in das Atelier 3, da ich mich nun genauer umsehen wollte, wo ich endlich die Chance dazu hatte. Ich bemerkte schnell, dass hier spezielle Scheinwerfer benutzt wurden, um fließende Lichteffekte zu erzeugen, wie man sie im Meer beobachten konnte. Wirklich alles war perfekt arrangiert und selbst die Atmosphäre stimmte. Rion legte verdammt viel Wert darauf, dass möglichst viel echt war und nur Feinheiten mit dem Computer nachbearbeitet werden mussten. Er war wirklich ein Künstler. Schließlich setzte ich mich in eine Ecke und ließ diese Ruhe auf mich wirken. Es war für mich wirklich so, als befände ich mich auf dem tiefsten Grund des Meeres.

„Wie ich sehe, scheint dir die Kulisse hier zu gefallen.“

Ich hob den Blick und war überrascht, Rion zu sehen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er hereingekommen war.

„Ich finde das Ganze hier beeindruckend. Allein diese Kulisse ist schon ein Kunstwerk und man hat wirklich das Gefühl, hier in der Tiefsee zu sein.“

Rion kam zu mir hin und reichte mir ein Glas Cola. Er selbst hatte einen Latte Macchiato.

„Meine Adoptivmutter Susan McAlister war Schauspielerin und konnte mir gute Ratschläge geben. Angefangen hatte sie nämlich im Theater und war mit der Bühnentechnik gut vertraut.“

Er setzte sich zu mir auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken zur Wand. Es war so, als würde diese friedliche und beruhigende Atmosphäre des Raumes auf uns übergehen und die Stimmung deutlich lockern. Und doch waren da immer noch diese Gefühle, die ich nicht einzuordnen wusste und die mich ratlos machten. Eine Weile lang schwiegen wir, dann aber merkte ich, wie meine Beine langsam einschliefen und so stand ich auf und Rion tat es mir gleich. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, als würde das Raubtier sich gleich auf die Beute stürzen. Und tatsächlich stellte er sich direkt vor mir hin, sah mir direkt in die Augen und legte eine Hand an die Wand, als wolle er mich in die Enge treiben. Sein Blick nahm wieder dieses kühle und arrogante an, was ich so an ihm hasste.

„Du hast dich lange genug gedrückt, Fayette. Wie lange willst du eigentlich noch davonlaufen?“ Etwas irritiert blickte ich ihn an und verstand erst gar nicht, was er von mir wollte. Und ein wenig fühlte ich mich auch unwohl, dass er mich so in die Ecke drängte. „Was meinst du damit?“ fragte ich ihn, doch da kam Rion mir noch näher, sodass wir einander fast berührten.

„Du weißt, was ich meine, Fayette. Warum sträubst du dich so sehr dagegen, dich auf diese Sache zwischen uns einzulassen?“

Ach darum ging es ihm… Nun, wie sollte ich da antworten? Ehrlich gesagt war ich mir selbst nicht mehr so sicher, warum ich mich noch mal so sehr dagegen sträubte. Mir fielen nur meine alten Argumente ein, die ich aber, nachdem ich das von Rions Vergangenheit erfahren hatte, nicht mehr als überzeugend genug empfand. Aber wieder war da mein Stolz, der mich dazu zwang, diese laut auszusprechen: „Na weil wir beide Männer sind, okay? Ich stehe nicht auf Kerle und außerdem warst du es doch, der mich jahrelang schikaniert und herumgeschubst hat. Du hast mich in der Schule ständig wegen meinem Aussehen aufgezogen, mich herumgeschubst und selbst jetzt machst du dich doch über mich lustig, weil ich deiner Meinung wie ein Mädchen aussehe.“

„Ja und weiter?“ Ich wusste nicht, ob diese Frage jetzt provozierend gemeint war oder nicht, aber dem Tonfall nach zu urteilen waren diese Argumente nicht überzeugend genug für ihn. Und das verunsicherte mich wiederum und ich wusste nicht, wie ich ihm weiterhin die Stirn bieten konnte.

„Du spielst dich hier die ganze Zeit als arroganter Dreckskerl auf und bei dir wird doch keiner schlau draus, was in deinem Kopf vor sich geht. Woher soll ich wissen, dass diese Aktion nicht vielleicht irgendein mieser Trick ist, mit dem du dich nur mal wieder wie schon so oft über mich lustig machen willst?“

Ich wusste, dass das nicht fair war und ich bereute es auch, dass ich ihm so etwas sagte. Aber ich wollte ihn einfach nur schnellstmöglich abwimmeln und aus dieser Situation schleunigst wieder raus. Und als er mich wieder „Und weiter?“ fragte, da wusste ich endgültig nicht mehr, was ich noch dagegen halten sollte. Rion fixierte mich mit seinen eisblauen Augen wie ein Raubtier, was nun in der Falle saß und seinem Jäger hilflos ausgeliefert war. Ich wusste, dass ich unrettbar verloren war, wenn mir nichts einfiel. Und dann platzte mir etwas heraus, was ich eigentlich nicht sagen wollte und was ich eine Sekunde später auch zutiefst bereute. „Du willst mich doch bloß wieder fertig machen so wie damals und der Sex und diese… diese Situation hier gerade ist doch nur wieder irgendein Mittel für dich, um dich über mich lustig zu machen und mich wieder so herumzuschubsen.“

Und hier veränderte sich der Blick ins seinen Augen. Ich sah Wut und Enttäuschung und ehe ich mich versah, drückte Rion mit einer Hand meine Handgelenke über meinem Kopf gegen die Wand und küsste meinen Hals, während seine andere Hand zwischen meine Beine wanderte. „Traust du mir wirklich so etwas zu, Fayette? Denkst du echt, ich würde zu meinem Vergnügen mit den Gefühlen anderer spielen, um mich selbst zu belustigen?“

Ich drehte den Kopf zur Seite, um zu vermeiden, dass er den Versuch wagen würde, mich direkt auf den Mund zu küssen. Normalerweise hätte ich mich auch befreit und wäre geflüchtet, aber das fiel mir aus irgendeinem unerklärlichen Grund nicht ein und so ließ ich zu, wie Rion nun seine Hand unter mein Shirt schob und mir über die Brust streichelte, bevor er sich dann dazu entschloss, seine Strategie zu ändern. So wurde ich, ehe ich mich versah, zu Boden gerungen und immer noch hielt er meine Handgelenke fest, während er beinahe schon gierig meinen Oberkörper mit seinen Lippen liebkoste und mit seiner Zunge über mein Ohrläppchen fuhr, was sich irgendwie auf eine sehr merkwürdige Weise erregend anfühlte. Ich wehrte mich nicht einmal, als er mein Shirt hochschob und zärtlich meinen Oberkörper liebkoste. Mein Kopf sagte zwar, ich solle diesen verdammten Perversling von mir runterschubsen und abhauen, aber eine andere Stimme stellte sich dagegen. Ja ich wollte mehr… Und in diesem Moment war es mir auch vollkommen egal, wo wir waren und dass wir Gefahr liefen, jemand könnte hier reinkommen und uns stören.

War ich denn wirklich bereits dermaßen verkorkst, dass ich es so dringend wollte, dass Rion so etwas mit mir tat? Hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, dass ich bereit war, meinen Stolz abzulegen und nicht über die Konsequenzen nachzudenken, die meine Entscheidung mit sich bringen könnte? Wenn ich wenigstens die Antwort darauf hätte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um auf die Weise meine Stimme irgendwie zu unterdrücken. Doch Rion machte es mir nicht gerade einfach, das zu bewerkstelligen. Dann aber wurde ich hochgezogen und umgedreht, dann schlang er von hinten einen Arm um mich und biss mir leicht ins Ohr, während er meine Brustwarzen knetete. Ich spürte seinen heißen Atem im Nacken und war völlig hin und her gerissen.

„Dafür, dass du nichts für mich fühlst, leistest du erstaunlich wenig Gegenwehr“, bemerkte er und küsste daraufhin meinen Nacken. „So wie ich das sehe, bist du doch nur zu stolz und voreingenommen, um dich darauf einzulassen.“

Es fiel mir schwer, die Worte und die Energie zu finden, um dagegen zu argumentieren. Tief in meinem Inneren wusste ich irgendwie, dass er Recht hatte. Aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich versuchte mich von ihm zu befreien, doch Rion war einfach zu stark und mein Körper war auch schon längst nicht mehr auf meiner Seite und gehorchte nur noch seinem eigenen Willen. Doch als Rion damit begann, meine Hose zu öffnen, schaffte ich es, mich von ihm zu befreien und ihn wegzustoßen. Und meine Reaktion schien ihn mehr als zu verwundern. „Fayette, was ist denn los? Was ist dein Problem?“

„Was mein Problem ist?“ rief ich und war so durch den Wind, dass ich ungewollt laut wurde und auch ziemlich wütend klang. Und ich bereute es auch, dass ich ihn so anfuhr, auch wenn es ja im Grunde seine Schuld war, dass ich so durcheinander war. „Du spielst hier mit mir und bringst mein ganzes Leben durcheinander. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass wir zwei Male miteinander geschlafen haben, du sagst mir auch noch, ich soll mich in dich verlieben. Dabei warst du doch derjenige, der mich damals fertig gemacht und mich als Mädchen bezeichnet hat. Wegen Typen wie dir hab ich doch erst diese ganzen Komplexe. Alles war in Ordnung, bis du wieder aufgetaucht bist und mein Leben in ein einziges Chaos verwandelt hast, sodass ich inzwischen gar nicht mehr weiß, was ich noch denken oder fühlen soll!“

Rion sah mich an und sagte nichts. In seinen Augen lag eine solche Tiefe, dass man sich darin verlieren konnte und ich fragte mich, was ihm wohl durch den Kopf ging, als ich ihm das sagte. Ich jedenfalls wollte einfach nur weg hier und dieser Situation entkommen, solange ich noch die Chance dazu hatte. Ich stand auf und wollte zur Tür, doch Rion hielt mich fest und hinderte mich daran, einfach abzuhauen.

„Jetzt warte doch mal, Fayette…“

Doch ich wollte nichts mehr hören. Ich wollte, dass das alles aufhörte und alles so wie früher war. Dass Rion und ich immer noch dieselben Feinde waren, die sich immer stritten, wenn sie sich über den Weg liefen. Ich wollte nichts mehr hören und ich hatte auch ein Stück weit Angst davor, was Rion sagen würde, wenn ich das hier nicht schnellstens beendete. Ja, ich war in diesem Moment ein verdammter Feigling, der vor Tatsachen davonlief, weil er sich diesen nicht stellen wollte. Und das auch nur aus falschem Stolz. Doch als ich Rions Blick sah, zögerte ich. Ich sah so viele Emotionen in seinem Blick. Traurigkeit, Angst, Sehnsucht… den Wunsch nach Nähe. Es war für mich fast wie der Blick eines Kindes, das man ganz alleine in der Dunkelheit zurückgelassen hatte und das verzweifelt nach jemandem suchte, der ihm Trost und Zuwendung spendete. Rion hielt meine Hand fest und ich konnte deutlich sehen, wie er kämpfte. Vor allem mit sich selbst und der Fassade, die er nicht mehr länger aufrechterhalten konnte.

„Es tut mir leid…“

Diese vier Worte ließen mich kurz vergessen, dass ich weglaufen wollte. Es war das allererste Mal, dass ich so etwas wie eine Entschuldigung von ihm hörte und das riss mich nun völlig aus der Bahn. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte und als ich ihn so sah, verspürte ich nur noch den Wunsch zum Weinen.

„Glaubst du, damit ist es getan?“ fragte ich und musste mich beherrschen, trotzdem bebte meine Stimme. Wie ich es doch hasste, immer so emotional zu sein wie ein Mädchen. „Seit Jahren schikanierst du mich schon, obwohl ich dir nie etwas getan habe. Du hast meinen betrunkenen Zustand ausgenutzt, um über mich herzufallen… Und dann erwartest du einfach, dass ich alles vergebe und vergesse? Und dann fällst du wieder über mich her und selbst hier noch und bringst mich komplett durcheinander. Ich weiß doch inzwischen gar nicht mehr, was ich denken oder fühlen soll. Auf der einen Seite will ich dich einfach nur für immer aus meinem Leben streichen und dich nie wieder sehen. Und ebenso würde ich dir am liebsten eine reinhauen, verdammt noch mal. Aber auf der anderen Seite machst du mich ganz konfus. Mal bist du der arrogante Dreckskerl, dem ich am liebsten ins Gesicht sagen würde, er soll sich zum Teufel scheren und mich in Ruhe lassen. Und dann bist du wieder so anders… so aufmerksam und einfühlsam und ich kann dich dann nicht hassen. Es ist einfach so verwirrend für mich, okay? Ich kenne dich schon so lange und weiß selbst jetzt noch nicht, wer du wirklich bist.“

Ich hörte auf zu sprechen, da ich befürchtete, dass ich ansonsten noch in Tränen ausbrechen würde. Rion war still und sah mich immer noch mit diesen Augen an, die wie die eines allein gelassenen verzweifelten Kindes aussahen. Er wirkte so verletzlich und so unendlich traurig in diesem Moment. Und es tat mir weh, ihn so zu sehen. Dann aber sagte er mit einer ruhigen und von tiefen Emotionen bewegten Stimme, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.

„Ich liebe dich, Fayette. Ich habe dich immer geliebt…“

Ich war wie erstarrt und mir war, als würde in diesen Moment eine ganze Welt auf mich herabstürzen und unter sich begraben. Alles kam mir in diesem Moment so falsch und wie eine einzige Lüge vor. Die letzten Jahre des Disputs und der Auseinandersetzungen zwischen uns wirkten nun wie eine fragwürdige Illusion, die ich nicht verstand und ich wusste nicht, was ich in diesem Moment glauben sollte. Das war alles zu viel für mich und ich konnte in diesem Moment nicht vernünftig reagieren. Ich riss mich von Rion los und flüchtete aus dem dunklen Raum. Ich rannte die Stufen hinunter an Mallory vorbei und verließ fluchtartig das Atelier. Natürlich wusste ich, dass das nicht richtig und vor allem auch nicht fair gegenüber Rion war. Aber ich musste einfach raus, weil ich fürchtete, sonst noch völlig erschlagen zu werden.
 

Ich lief die Straße entlang, bis ich mich an einer Bushaltestelle hinsetzte und tief durchatmete. Doch ich konnte mich nicht beruhigen, stattdessen flossen ungehindert Tränen meine Wangen hinunter und ich fühlte mich furchtbar elend. Warum nur hatte Rion mir ausgerechnet jetzt seine Liebe gestehen müssen? Wieso hatte er es überhaupt getan? Das machte alles doch nur noch komplizierter als eh schon und ich wusste nun gar nicht mehr, was ich jetzt tun sollte. Mein erster Gedanke war Flucht. Jetzt, da Rion mir seine Liebe gestanden hatte, konnte ich ihm nicht mehr unter die Augen treten. Wie sollte ich ihm eine ehrliche Antwort darauf geben? Es würde doch eh nicht funktionieren, genauso wie alle meine Beziehungen nicht funktioniert hatten. Früher oder später würde es wie sonst immer darauf hinauslaufen, dass es in die Hose ging. Wieso liebte er mich denn schon? Doch bloß nur, weil ich eben so mädchenhaft aussah und er den Kick suchte, das war doch alles. Und selbst wenn es nicht so war, es hatte einfach keine Zukunft mit uns beiden. Nicht nach den Dingen, die zwischen uns passiert waren.

Ich kehrte wieder zurück, holte mein Fahrrad und fuhr nach Hause. Ich wollte so schnell wie möglich weg von Rion und einfach nur alleine sein. Und kaum, dass ich zuhause angekommen war und ich mich in mein Zimmer verkrochen hatte, legte ich mich ins Bett und sprach kein Wort. Ich fühlte mich selbst wie das allerletzte. Ich war einfach so davongelaufen, weil Rion mir seine Gefühle gestanden hatte. Was war ich denn bitteschön für ein unsagbarer Feigling? Ich musste wieder an den Blick denken, mit dem er mich angesehen hatte. Allein der Gedanke daran, wie verletzt er jetzt wohl war, nachdem ich einfach so abgehauen war, tat mir selbst weh. Ich bereute meine Feigheit und wünschte, ich könnte den Mut aufbringen, zurückzugehen und mich zu entschuldigen. Aber ich konnte es einfach nicht tun, weil ich zu viel Angst hatte. Angst davor, dass es wieder nicht funktionieren würde und dass ich es wieder kaputt machen würde. Ich und meine verdammten Komplexe und mein Kussproblem. Seth hatte vollkommen Recht: ich stand mir in wirklich allen Lebenslagen komplett selbst im Weg und bewies mir selbst, was für ein gottverdammter Vollidiot ich eigentlich war. Oh Mann, warum musste auch alles so verdammt kompliziert sein?

Sein Geständnis hatte mich völlig aus der Bahn geworfen, aber sonderlich überrascht hatte es mich ja auch nicht so wirklich, wenn ich ganz ehrlich war. Irgendwie war es doch ganz klar gewesen… Aber das Schlimmste an der ganzen Situation war, dass ich noch etwas erkannt hatte: ich liebte ihn auch. Verdammt noch mal ich liebte diesen Scheißkerl und das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Wie konnte ich mich denn nur in einen Mann verlieben, obwohl ich doch noch eine Frau liebte? Ich liebte Katherine und dieser Zwiespalt machte mich noch echt fertig. Denn ich wusste nicht, was ich tun sollte. Für wen sollte ich mich entscheiden? Ich stand auf und holte die Aquarellzeichnung von Rion, die ich gemalt hatte. Wieder kamen mir die Tränen, als ich fühlte diesen stechenden Schmerz in meiner Brust. Wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment, Rion wäre hier bei mir und er würde mich im Arm halten und mir noch mal sagen, dass er mich liebt. Warum nur musste ich auch immer so eine Angst, dass es schief laufen könnte? Nur weil ich zwei Mal verlassen wurde, weil ich zu mädchenhaft aussah und ich jedes Mal zusammenbrach, wenn es zum Kuss kam? Ja verdammt, ich hatte Angst vor einer Beziehung und ich lief meist immer weg, wenn es ernst wurde.

Ich hasste mich selbst für meine Feigheit und meine Angst. Und nun stellte sich mir die Frage, wie ich Rion je wieder unter die Augen treten sollte. Da war immer noch der Vertrag zwischen uns und ich war immer noch für das Fotoshooting engagiert. Sollte ich die ganze Sache endgültig abbrechen und ebenso auch den Kontakt zu Rion vermeiden, selbst wenn ich dann wieder mit einem gebrochenen Herzen da stand? Das alles nur, weil ich Angst davor hatte, dass es nicht klappen könnte und es wegen mir wieder scheiterte? Ach verdammt… Warum musste ich das alles nur immer komplizierter machen, als es ohnehin schon war? Wieder betrachtete ich die Zeichnung. Jene, die Rions warmherziges Lächeln trug. Ich hatte wirklich grausame Dinge zu ihm gesagt, die ich eigentlich nicht so gemeint hatte. Warum nur musste ich ihn auch immer wieder verletzen, nachdem ich doch gesehen hatte, dass er kein schlechter Mensch war und im Grunde mehr zu leiden hatte als ich. Ich jammerte immer nur und war unzufrieden mit mir selbst und was war mit Rion? Er hatte lieblose Eltern, sein Bruder war vor seinen Augen gestorben, während er damals selbst knapp dem Tod entronnen war und dann war auch noch Isabelle gestorben, mit der er gut befreundet gewesen war. Er sehnte sich doch auch nach jemanden, der ihm die Liebe geben konnte, welche er brauchte. Im Grunde waren wir uns in der Hinsicht doch sehr ähnlich. Aber trotzdem gerieten wir immer wieder aneinander und verletzten uns gegenseitig. Ob Rion auch so viel Angst hatte wie ich, dass er versagen könnte?

Love Is Complicated

Ich hatte Rions Anrufe ignoriert und ich blieb auch die meiste Zeit zuhause. Auch seine Kurzmitteilungen via SMS blieben ungelesen und wurden deshalb auch nicht beantwortet. Da meine Mutter meistens arbeiten war, bekam sie nicht allzu viel von all dem mit, was mich derzeit beschäftigte und das war auch ganz gut so. Ich wollte auch nicht darüber sprechen und nach meinem letzten Versuch hatte ich es auch schon aufgegeben, mit ihr darüber sprechen zu wollen. Allerdings merkte dafür meine Schwester Emily, dass etwas nicht mit mir stimmte und sie bot mir deshalb auch an, dass sie Seth anrufen könne, damit wir beide mal reden konnten. Ich lehnte aber ab und erklärte ihr, dass es ein Problem war, bei dem er mir nicht helfen konnte. Lustlos saß ich die meiste Zeit am PC oder an der Playstation, zwischendurch malte ich und verbarrikadierte mich hauptsächlich in meinem Zimmer. Zumindest so lange, bis ich dann doch raus musste, weil ich dringend Terpentin brauchte. Den letzten Rest hatte ich schon für die Reinigung meiner Pinsel komplett aufgebraucht und wenn ich weitermalen wollte, brauchte ich neues. Also nutzte ich die Gelegenheit, um nach zwei Tagen kompletter Isolation wieder nach draußen zu gehen. Ich hatte ja auch nicht so wirklich Lust, als Hikikomori zu enden, so wie Emily jene Menschen bezeichnete, die niemals ihr Haus verließen und zu recht sonderbaren Gestalten wurden. Das war ja auch nicht so ganz das, was ich wollte. Also schnappte ich mir meine Tasche und wollte zuerst mit dem Fahrrad zum Laden für Kunst- und Bastelbedarf fahren, bis sich dann aber herausstellte, dass mein Fahrrad einen platten Reifen hatte und ich deshalb wohl oder übel zum Laufen genötigt war. Naja, so schlimm war das ja auch nicht. Ein bisschen Laufen schadete ja sowieso nicht, nachdem ich die letzten zwei Tage nur in meinem Zimmer gehockt hatte.

Das Wetter war ziemlich durchwachsen und es ließ sich nur schwer sagen, ob es regnen würde. Sicherheitshalber nahm ich deshalb einen kleinen Regenschirm mit und hörte unterwegs ein wenig Musik auf meinem MP3-Player. Es tat wirklich gut, mal wieder frische Luft zu schnappen und ein wenig Abwechslung zu bekommen. Vielleicht machte ich danach noch einen Abstecher in den Musikladen, um mir die neueste CD meiner Lieblingsband zu kaufen. Während ich die Straßen entlangging und der Musik lauschte, dachte ich darüber nach, was wohl Rion machte und wie es ihm ging. Mit Sicherheit ging es ihm nicht sonderlich gut, nachdem ich einfach so abgehauen war und seitdem seine Anrufe ignorierte, obwohl er mir gesagt hat, dass er mich liebte. Ich war wirklich nicht fair zu ihm. Er gestand mir seine Gefühle und ich lief einfach weg wie ein Feigling. In den letzten zwei Tagen hatte ich ja genug Zeit gehabt, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und mich irgendwie wieder zu beruhigen, aber ich wusste leider immer noch nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Ja man konnte fast sagen, ich drückte mich ein wenig vor der Konfrontation mit ihm und traute mich nicht, ihm unter die Augen zu treten. Was sollte ich ihm sagen und wie sollte ich mich entscheiden? Für ein Leben mit ihm? Aus einer neutralen Sicht gesehen war das ja auch nicht ganz einfach. Zwar hatten wir ähnliche Interessen und konnten gut zusammenarbeiten… ganz zu schweigen davon, dass Rion erfolgreich und vermögend war. Aber andererseits würden wir dann auch mit den Schwierigkeiten leben müssen, die so eine Beziehung mit sich brachte. Wir wären als schwul abgestempelt und müssten mit dem Spott und der Ablehnung unseres Umfeldes leben. Außerdem hätten wir auch mit Vorurteilen zu kämpfen und das würde uns beide betreffen. Aber wenn ich mir Seth so ansah… der kam gut damit klar und sonderlich unglücklich darüber, dass er nicht überall Zuspruch fand, war er ja auch nicht. Selbst über die heftige Reaktion seiner Eltern war er ja eigentlich ganz gut hinweggekommen und er stand auch zu seiner Sexualität und schämte sich auch nicht dafür. Manchmal fragte ich mich echt, woher er bloß diese Stärke nahm. Ich wünschte echt, ich wäre das auch und würde mich nicht immer so sehr verunsichern lassen. Das würde so einiges einfacher machen. Nachdem ich das Terpentin besorgt hatte, machte ich noch einen kurzen Abstecher zum Musikladen, kaufte mir das neueste Album meiner Lieblingsband und wühlte noch ein wenig herum und ließ mir Zeit. Es tat gut, mal wieder aus dem Haus rauszukommen und mal wieder unter die Leute zu kommen. Und es besserte auch meine Laune wieder ein wenig. Ich glaube, ich mir wäre ansonsten noch echt die Decke auf den Kopf gefallen…
 

„Hey Fay…“

Ich zuckte zusammen, als ich diese vertraute Stimme hörte, die mich jedes Mal so nervös machte, dass ich ins Stottern geriet. Langsam wandte ich mich um und sah doch tatsächlich Katherine. Ihre großen braunen Augen wirkten ein kleines bisschen schüchtern und ausnahmsweise trug sie mal die Haare offen, anstatt sie immer zu einem Zopf zu binden. Sie sah wie immer bildschön aus und trug ein cremefarbenes T-Shirt mit Schmetterlingsaufdruck, eine helle Jeanshose und Sandalen mit Absätzen. Etwas zögernd kam sie auf mich zu und hatte wie immer ein offenherziges und wunderschönes Lächeln auf den Lippen.

„Oh… Hallo Kathy…“, stammelte ich und war völlig überrumpelt. Was machte sie denn hier? Ach Mann, das hatte mir zu meinem Glück jetzt auch noch gefehlt. So langsam hatte ich echt das Gefühl, der liebe Gott machte das mit Absicht.

Wir grüßten uns mit einer kurzen Umarmung und schwiegen. Keiner von uns wusste zuerst, was der andere sagen sollte, aber dann wagte Katherine den ersten Schritt. „Wie geht es dir denn eigentlich, Fay?“

Ich zuckte unsicher mit den Schultern und murmelte „Es geht. Aber es ging mir schon mal besser. Und bei dir?“

Sie gab zu, dass es ihr nicht anders erging. Da wir im Musikladen schlecht miteinander reden konnten, suchten wir uns ein Café und setzten uns an einen Tisch. Wir bestellten uns beide Milchshakes und wussten erst nicht, wie wir miteinander reden sollten. Es war irgendwie schwierig, obwohl die Trennung bereits drei Wochen her war und ich auch nicht mehr damit gerechnet hatte, dass Katherine tatsächlich noch mal mit mir reden würde. Und jetzt das… ausgerechnet dann, wenn in meinem Kopf sowieso schon ein komplettes Chaos war, sodass Sigmund Freud seinen Heidenspaß mit mir gehabt hätte.

„Du hör mal, Fay“, begann Katherine schließlich und sah mich mit ihren dunkelbraunen Augen an. „Ich habe über das alles nachgedacht und mir tut es auch leid, dass du meinetwegen so viel Ärger hattest. Ich hätte hinter dir stehen und dich unterstützen sollen, anstatt nur zuzusehen und mich rauszuhalten. Das war nicht fair von mir und ich möchte, dass du weißt, dass ich uns nicht so einfach aufgeben will. Hör mal, wenn du ein Problem hast, dann werde ich dir helfen. Ich bin mir sicher, dass es eine Lösung dafür gibt und gemeinsam können wir sie auch finden, Fay. Aber ich möchte nicht, dass es zwischen uns so enden muss.“

Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, als wäre ich mental mit dem Wagen mit Karacho gegen die Wand gefahren. Nun war wohl die größte Katastrophe von allen eingetroffen, die mir wohl überhaupt hätte passieren können: ich musste eine Entscheidung treffen. Und die Frage war groß, für wenn ich mich entscheiden sollte. Für Katherine oder für Rion? Wenn es nach meinem Kopf gegangen wäre, hätte ich mich sofort für Katherine entschieden. Immerhin stand sie selbst jetzt noch hinter mir und sagte, dass sie mich liebte und mit ihr zusammen zu sein, war die vernünftigste Entscheidung, die ich aus logischer Sicht treffen konnte. Sie war eine Frau, ich konnte sie heiraten und eines Tages vielleicht sogar eine Familie mit ihr gründen. Sie war wunderschön, sympathisch, verdammt attraktiv und…

Weiter konnte ich nicht ausformulieren, denn als ich so mit ihr sprach und sie dabei meine Hand hielt, da merkte ich etwas und es tat mir verdammt weh: es fehlte etwas. Ich fand sie immer noch attraktiv und liebenswert, aber ich spürte einfach, dass es nicht genug war, um ihrer Bitte nachzugeben, dass wir wieder ein Paar wurden. Zwar waren da noch Gefühle, aber sie waren nicht mehr so stark, wie ich es mir erhofft hatte. Zwar liebte ich sie noch, aber ich liebte sie nicht mehr genug, um mir wirklich noch ernsthaft eine Beziehung zwischen uns beiden vorzustellen. Und das war das Schreckliche an dieser Situation. Mein Herz hatte sich eigentlich schon längst entschieden…

„Kathy“, begann ich und versuchte zu schlucken, doch mir war, als würde da ein dicker Kloß in meinem Hals stecken. Ich versuchte tief durchzuatmen, doch mir fiel das Ganze mehr als schwer. Ich wollte ihr nicht wehtun, aber ich wusste auch, dass mir wohl keine andere Wahl blieb. Selbst wenn ich mich für sie entscheiden und mit ihr wieder zusammenkommen würde, ich konnte Rion nicht vergessen und Fakt war, dass ich ihn liebte. Ja verdammt, ich liebte ausgerechnet jenen Kerl, der mir im Alter von 13 Jahren vor versammelter Mannschaft im Sport die Hose heruntergezogen hatte. Ich konnte mir auch nicht erklären, welcher Wahnsinn mich nur geritten hatte, mich in den allergrößten Vollidioten zu verlieben, der sich inzwischen als missverstandener Einzelgänger entpuppt hatte. Aber trotzdem wollte ich, dass es anders wäre und ich weiter bei Katherine geblieben wäre. Das hätte so vieles gar nicht erst so kompliziert gemacht und ich hätte dieses ganze emotionale Durcheinander auch nicht.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und zog meine Hand weg.

„Kathy, auch ich hatte Zeit um über alles nachzudenken. Und ehrlich gesagt ist das hier jetzt nicht einfach für mich. Du bist wirklich umwerfend und du weißt sicher noch, wie furchtbar nervös ich war, als ich dich um ein Date gebeten hatte. Ich dachte echt, du würdest mich auslachen und einfach stehen lassen, weil ich nicht gerade der Traumtyp bin. Und deshalb hat es mich auch echt umgehauen, dass du ja gesagt hast. Du hast mich immer so genommen wie ich bin, selbst mit meinen Fehlern… deshalb tut es mir auch selber ziemlich weh, dir sagen zu müssen, dass ich mir einfach keine Beziehung mehr zwischen uns vorstellen kann.“

Ich sah, wie verletzt sie war und es tat mir auch selbst weh. Vor allem, weil ich ja wusste, dass sie mich immer noch liebte. Aber ich musste es jetzt einfach tun. Ich konnte doch nicht den Rest meines Lebens immer nur davonlaufen.

„Fay“, sagte sie schließlich und sah mich traurig an. „Wenn es wegen deiner Ohnmachtsanfälle ist, das ist nicht so schlimm. Ich komme damit klar und es findet sich vielleicht eine Lösung.“

Doch ich schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Verdammt noch mal, warum musste das auch so schwer sein? „Nein Kathy, das ist es nicht. Zwar war das der Grund, warum ich mit dir Schluss gemacht habe, weil ich Angst hatte, es könnte zwischen uns nicht auf Dauer funktionieren und weil ich auch nicht wollte, dass du auch den ganzen Spott abkriegst. Aber es ist einfach so, dass ich nicht mehr dieselben Gefühle für dich hatte wie vor drei Wochen noch. Zwar habe ich immer noch Gefühle für dich, aber sie reichen einfach nicht mehr für eine Beziehung aus, verstehst du? Es liegt nicht an dir, okay? Die Schuld liegt allein bei mir. Knapp eine Woche, nachdem ich mich von dir getrennt hatte, ist jemand in mein Leben getreten. Diese Person hat mich völlig durcheinander gebracht und es ist eigentlich jemand, den ich überhaupt nicht leiden kann. Aber letztendlich habe ich doch erkennen müssen, dass ich für diese Person Gefühle entwickelt habe. Und aus diesem Grund kann ich es einfach nicht tun. Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, das hast du nicht verdient, Kathy. Du hast einen Mann verdient, der deine Gefühle erwidert und dich liebt und dich auch glücklich machen kann. Aber ich bin leider nicht der richtige.“

Katherine sah mich lange an und sagte nichts. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen und getröstet, aber ich wusste, dass es nichts bringen würde. Wenn ich es tun würde, dann würde ich alles nur noch schlimmer machen und das konnte ich nicht. Ich musste zu meiner Entscheidung stehen, auch wenn sie mir schwer gefallen war und ich nicht wusste, ob es auch die richtige war. Aber hätte ich gewusst, ob es die richtige Entscheidung gewesen wäre, wenn ich mich dennoch für Katherine entschieden hätte? Tja, auch das konnte ich nicht genau sagen, aber mein Gefühl sagte, dass dem nicht so gewesen wäre.

„Es tut mir leid…“

Ich senkte den Blick und konnte ihr nicht in die Augen sehen. Zu groß waren meine Schuldgefühle, weil ich genau wusste, wie sehr ich ihr damit wehtat. Ich wollte niemandem wehtun und deshalb hasste ich diese Situation hier. Traurig lächelte Katherine und in ihren Augen glitzerten Tränen. „Dann… dann hätte ich wohl etwas früher zu dir kommen sollen, nicht wahr?“

Ich sagte nichts, sondern hielt meinen Blick gesenkt. Nachdem ich ihr schon das Herz brechen musste, wollte ich ihr nicht noch mehr wehtun als ohnehin schon. Dann aber stellte sie eine Frage, von der ich befürchtet hatte, dass sie sie stellen würde. „Und wer ist es?“

Da ich ihr die Wahrheit nicht antun konnte, erklärte ich ihr nur, dass sie die Person nicht kenne. Es war schon schlimm genug, dass ich sie zurückweisen musste. Wenn sie erfuhr, dass es ein Mann war, den ich liebte, wäre es für sie das Allerschlimmste gewesen. Wie sollte sie das denn bitteschön verkraften? Allein der Gedanke, sie hätte mich verlassen weil sie eine andere Frau liebte, wäre auch für mich ein noch schlimmerer Schlag gewesen, als hätte sie sich einen anderen Typen geangelt. Nachdem sie sich mit einem Taschentuch die Tränen weggewischt hatte, lächelte sie traurig. „Noch nie hat jemand auf so eine liebevolle Art und Weise mit mir Schluss gemacht oder mich zurückgewiesen. Ich wünschte, alle Männer wären so einfühlsam wie du.“

Ich wollte es nicht auf diese Weise enden lassen. Nicht nachdem Katherine und ich eine doch sehr schöne Zeit miteinander verbracht hatten.

„Ich bin mir sicher, dass du bald jemanden finden wirst, der besser zu dir passt als ich und der dich glücklich machen kann.“

Ich hatte mit schlimmerem gerechnet. Dass Katherine wütend wurde und mir unterstellte, ich wäre vielleicht fremdgegangen. Aber sie war nicht der Typ Mensch dafür. Sie verstand mich und sie gehörte nicht zu der Sorte, die anderen etwas Böses unterstellte. Sie war ein gutherziger und sehr sozialer Charakter. Eigentlich war es die perfekte Freundin, die man sich vorstellen konnte. Und ich wies sie einfach ab, obwohl es so gesehen eigentlich die perfekte Beziehung zwischen uns wäre. Und warum? Weil ich mich in einen Vollidioten verliebt hatte, der nichts Besseres zu tun hatte, als mein Leben in ein einziges Chaos zu verwandeln. Irgendwie hatte ich ein verdammt mieses Gefühl, dass meine Entscheidung vielleicht der größte Fehler meines Lebens sein könnte, aber da ich ja eh ein Talent hatte, alles noch schlimmer zu machen als eh schon, brauchte ich mich doch eigentlich nicht zu wundern. Ich hatte eine Entscheidung getroffen und musste nun mit den Konsequenzen leben. Ganz egal wie es auch ausgehen würde.
 

Katherine und ich sprachen noch ein wenig miteinander und verabschiedeten uns schließlich voneinander. Dann machte ich mich schließlich auf den Weg nach Hause. Inzwischen wurde es draußen immer düsterer und es sah verdächtig danach aus, als würde es gleich regnen. Also beeilte ich mich, nach Hause zu kommen und war erstaunt, als ich vor der Tür einen schwarzen Mercedes parken sah. Der gehörte mir noch Mum und die Wyatts fuhren einen Chevrolet. Also wem gehörte der Wagen, der da direkt vor unserer Tür parkte? Na vermutlich hatten wir Besuch. Höchstwahrscheinlich noch so ein Versicherungsvertreter, den Emily einfach so ins Haus gelassen hatte, obwohl wir ihr schon zig Male gesagt hatten, dass diese Typen genauso aufdringlich und nervtötend waren wie die Zeugen Jehovas… ganz zu schweigen von den Scientologen. Ich betrat das Haus und hörte Stimmen in der Küche. „Bin wieder da!“ rief ich und hörte auch sogleich wie ein Stuhl über den Boden geschoben wurde, als jemand aufstand. Und kurz darauf kam Emily aus der Küche. Sie hatte ihre schwarze Lederjacke an und wollte allem Anschein nach gehen.

„Ich lass euch allein“, sagte sie nur und zog ihre Schuhe an. „Und versau es nicht schon wieder, kapiert?“

Damit verschwand sie zur Tür raus und ich stand erst mal da und verstand überhaupt nicht, was hier vor sich ging und was Emily denn damit wieder meinte. Doch als ich in die Küche ging und Rion da sitzen sah, da leuchtete mir so einiges ein. Ich blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte ihn erschrocken an, denn mit seinem Besuch hatte ich nicht gerechnet. Obwohl… ich hatte ja ständig seine Anrufe ignoriert, da war es ja nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er persönlich hier vorbeikam.

„Was… was machst du hier?“ platzte es schließlich aus mir heraus, doch Rion blieb ruhig wie immer und erklärte „Deine Schwester hat mich angerufen und mich gebeten, herzukommen und mit dir zu reden. Dir soll es ja nicht allzu gut gehen und ich gebe zu, ich war ebenfalls besorgt nach deinem plötzlichen Abgang.“

Langsam kam ich in die Küche, ließ ihn aber keine Sekunde lang aus den Augen. Dabei fiel mir sofort auf, dass seine linke Handfläche bandagiert war.

„Was ist denn mit deiner Hand passiert?“ fragte ich und setzte mich nach einigem Zögern. Rion betrachtete seine Verletzung kurz und lächelte schwach. „Ach das… das ist nichts Weltbewegendes.“

„Hat dein Vater dir das angetan?“ Nun sah er mich etwas ungläubig an, so als würde er mich für verrückt halten.

„Wie kommst du jetzt darauf? Nein, ich habe mir lediglich einen Kaffee machen wollen und dabei versehentlich die hitzefesten Gläser mit normalen verwechselt. Dabei ist mir die Tasse in der Hand zerbrochen und ich hab mir eine kleine Schnittwunde zugezogen. Danach musste ich auch noch ins Krankenhaus. Jetzt nicht wegen dem Kratzer hier, sondern wegen Mallory. Beim Anblick meiner blutenden Hand hat sie eine Panikattacke erlitten, ist hyperventiliert und dann umgekippt, sodass ich den Notarzt rufen musste und dabei einen Kundentermin absagen musste. Summa summarum war mein gestriger Tag recht ereignisreich gewesen.“

Insgeheim war ich erleichtert, dass es nur ein dummer Unfall mit einem Glas war und diese Verletzung nicht von seinem Vater herbeigeführt wurde. Nachdem ich von Rion erfahren hatte, dass er in seiner Kindheit von seinem Vater geschlagen worden war, wäre das wirklich heftig gewesen, wenn dieser ihn noch mal verletzt hätte.

„Du siehst etwas angeschlagen aus, Fayette“, bemerkte er schließlich, während er mich aufmerksam musterte. „Geht es dir nicht gut?“

Ich überlegte, was ich sagen sollte, aber so ganz wusste ich es nicht. Was genau erwartete er von mir? Zwar hatte ich Katherine zurückgewiesen, aber das änderte nichts daran, as meine Unsicherheit bezüglich Rion betraf.

„Was hast du denn erwartet nach deinem Geständnis? Das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen und ich hab eh schon die ganze Zeit ein komplettes Gefühlschaos, weil du dich immer wieder komplett anders verhältst und ich nicht weiß, wer du wirklich bist. Mal provozierst du mich und bist derselbe Dreckskerl wie in der Schule und dann bist du plötzlich so nett und freundlich, dass ich dich gar nicht mehr wiedererkenne. All die Jahre habe ich gedacht, du hasst mich und willst mich nur fertig machen. Wie soll ich denn damit zurechtkommen, dass du mir nach alledem, was zwischen uns vorgefallen ist, mit einem Liebesgeständnis kommst?“

Mir fiel auf, dass Rions Augen leicht gerötet waren. Auch trug er statt der Kontaktlinsen seine Brille. Ich sah wieder seine andere Seite, die nicht so arrogant und eiskalt war. Nein, es war diese menschliche Seite an ihm, die er mir schon während des Fotoshootings gezeigt hatte.

„Sag bloß, du hast es vergessen…“, murmelte er leise und wirkte ein wenig bekümmert. Ich schwieg und verstand nicht, was er mir sagen wollte. Was hatte ich vergessen? Wovon sprach er denn jetzt bitteschön? Ratlos schwieg ich und schüttelte den Kopf. „Ich hab keine Ahnung, wovon du da redest. Und so langsam wird mir das auch alles zu viel. Ich hab erst vorhin mit Katherine gesprochen und musste ihr klar machen, dass ich sie nicht mehr genug liebe, um wieder mit ihr zusammen zu kommen. Und daran bist allein du schuld.“

„Ich?“ fragte Rion wirkte fast schon empört. Zugegeben, es war auch vielleicht etwas blöd ausgedrückt von mir. Dass er dann etwas empört reagierte, konnte ich ihm dann ja wohl kaum verdenken. „Was kann ich denn dafür, dass du deiner Freundin den Laufpass gibst? Das war allein deine Entscheidung und nicht meine.“

Wieder kamen die Emotionen in mir hoch. In mir bebte alles und ich fürchtete, dass ich erneut in Tränen ausbrechen würde, wenn ich mich nicht schnellstens beruhigte. Doch es wurde einfach zu viel in diesem Moment und ich verspürte nur noch den Wunsch, alles laut herauszuschreien und endlich meinem Frust, meinem Kummer und all meinen anderen Gefühlen endlich Luft zu machen, bevor ich noch endgültig explodierte.

„Warum habe ich das wohl getan? Doch nur weil du mir so dermaßen den Kopf verdreht hast, dass ich nicht mehr in der Lage bin, Katherine zu lieben. Verdammt noch mal ich wollte wirklich mit ihr zusammen sein, weil es die vernünftigste Entscheidung gewesen wäre. Aber ich habe sie zurückgewiesen, weil ich bereits jemand anderen liebe. Und zwar so sehr, dass meine Gefühle für Katherine bedeutungslos geworden sind. Ja verdammt, ich hab mich in dich verliebt, du Arsch! Ich kann an nichts anderes mehr denken als an dich und alles in mir ist ein so gewaltiges Chaos, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll. Ich sollte dich hassen, weil du mich mit diesem Vertrag in eine Falle gelockt hast und dafür, dass mein Leben sich in ein solches Durcheinander entwickelt, sodass ich nicht mehr weiß, wo mir überhaupt noch der Kopf steht. Du bist so ein mieser Arsch gewesen, als wir noch in der Schule waren und trotzdem habe ich mich in dich verliebt. Dabei sollte ich dich doch eigentlich hassen und ich… ich stehe doch nicht auf Männer…“

Ohne es zu wollen war ich in Tränen ausgebrochen und so waren meine letzten Worte nur noch ein heftiges Schluchzen. Es war mir so furchtbar peinlich, direkt vor Rion zu weinen und so stand ich auf und wollte schnell gehen, doch da erhob er sich ebenfalls von seinem Platz und hielt mich am Handgelenk fest, um mich an der Flucht zu hindern.

„Fayette, lauf doch nicht schon wieder weg!“ Ehe ich mich versah, hatte er mich zu sich gezogen und schlang seine Arme um mich. Zum allerersten Mal umarmten wir uns… Es fühlte sich irgendwie seltsam an, aber es war auch nicht unangenehm. Im Gegenteil, es fühlte sich sogar gut an. Es gab mir das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Ich spürte Rions Wärme und konnte sogar den Schlag seines Herzens hören. Es schlug schnell und auch sein Körper zitterte leicht… Konnte es etwa sein, dass er genauso aufgeregt war wie ich und auch Angst hatte? War es möglich, dass ich die ganze Zeit auf eine Maske hereingefallen war, weil Rion nicht wollte, dass ich sah, wie es wirklich in ihm drin aussah?

Erst war ich noch vollkommen überwältigt von dieser plötzlichen Umarmung und wusste nicht, wie mir geschah. Aber dann erwiderte ich seine Umarmung und merkte, wie ich mich langsam aber sicher wieder beruhigte. Und dann geschah etwas, was nun doch seltsam anmutete: Rion streichelte mir den Kopf.

„Es tut mir leid, Fayette“, sprach er mit ruhiger Stimme, die von tiefer und aufrichtiger Reue zeugte. Zwar blieb er stark, aber es war dennoch zu spüren, dass er genauso mit seinen Gefühlen kämpfte wie ich. „Ich wollte nie, dass es dir meinetwegen so schlecht geht. Egal was ich auch tue, irgendwie stürze ich immer die Menschen ins Unglück, die mir etwas bedeuten. Glaub mir, ich wollte das alles nicht. Ich liebe dich und ich liebe dich schon seit Jahren. Wie du schon sagtest: die Schuld für dieses ganze Chaos liegt allein bei mir und ich bin allein dafür verantwortlich, dass es dir jetzt so schlecht geht. Deshalb kann ich es dir auch nicht verdenken, dass du wütend auf mich bist. Ebenso kann ich es verstehen, wenn du mir nicht verzeihen kannst für das, was ich dir alles angetan habe. Das war nicht richtig und es war dumm gewesen. Nur weil ich Angst hatte, habe ich dir das Leben schwer gemacht, obwohl du am allerwenigsten dafür konntest.“

Ich spürte, wie meine Tränen meine Wangen hinunterflossen und während ich seiner beruhigenden Stimme zuhörte, schien sich auch das Chaos in meinem Kopf wieder zu legen. Es tat gut, in seinen Armen zu liegen und einfach mal schwach sein zu dürfen und nicht immer ständig daran denken zu müssen, dass ich als Mann nicht zu weinen habe und deshalb stark sein muss. Ich war es auch lange Zeit gewesen und habe meinen Freundinnen Trost gespendet, wenn sie Kummer hatten. Und jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Nun war es Rion, der mich im Arm hielt und stark für mich war. Dabei war er innerlich mindestens genauso aufgewühlt wie ich und ich fragte mich, welche Stärke hier wohl von Nöten war, dass er das so gut verbergen und weiterhin stark erscheinen konnte.

„Fayette, ich weiß, dass ich wirklich viel von dir verlange. Du hast noch nie einen Mann geliebt und das hier zwischen uns ist auch nicht gerade einfach. Wie du schon sagtest: wir sind beide Männer und wir werden nicht nur auf Begeisterung stoßen. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwierig das alles für dich sein muss, vor allem weil dein ganzes Leben so durcheinander gerät. Aber ich bitte dich trotzdem, nicht wieder wegzulaufen. Ich finde schon einen Weg, wie wir das schaffen können. Du musst mir einfach vertrauen, okay? Ich werde schon eine Lösung für all diese Probleme finden, ganz egal wie. Aber gib bitte nicht auf, ohne es wenigstens versucht zu haben.“

Ich war sprachlos und wusste nicht, was ich tun sollte. Rion verlangte von mir, dass ich ihm vertraute? Hatte er mir denn je einen Anlass dazu gegeben, dass ich ihm vertrauen konnte? Immerhin durfte ich ja die Tatsache nicht vergessen, dass er es war, der mich mit diesem Vertrag ausgetrickst hatte, nur um zu bewirken, dass er mal wieder seinen Willen bekam. Er hatte oft genug bewiesen, dass er vor nichts zurückschreckte, um sein Ziel zu erreichen und ein durchtriebener Mistkerl war. Wieso sollte ich ausgerechnet ihm vertrauen?

Ganz einfach: weil ich ihn liebte. Ach verdammt ich verstand meine eigenen Gefühle nicht mehr und mir war, als würde sich alles in meinem Kopf drehen. Meine Augen brannten von den Tränen und ich fühlte mich, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder weinen würde. Schließlich hob Rion mein Kinn, sodass wir einander in die Augen sehen konnten. Ich sah in seine strahlend hellen kristallblauen Augen, die mich schon immer irgendwie fasziniert hatten. Und ich merkte erst, dass seine Lippen die meinen berührten, als es schon zu spät war. Es war ein zärtlicher und liebevoller Kuss und ich erwiderte ihn, ohne groß nachzudenken. Doch leider kam dann das, was ich schon seit Jahren so an mir hasste und was mir schon oft genug das Leben schwer gemacht hatte. Mir wurde schwindelig und vor meinen Augen tanzten Sterne. Mein Körper versagte den Dienst und meine Beine knickten ein, als mir auch schon schwarz vor Augen wurde. Ich nahm nur noch wahr, wie Rion mich festhielt und meinen Namen rief. Danach wurde ich auch schon bewusstlos.

Final Confessions

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Fußboden der Küche und Rion kniete neben mir. Ihm war anzusehen, dass es ihn ziemlich erschreckt hatte und er sich große Sorgen um mich machte. Ich wollte mich aufsetzen, doch das ließ er nicht zu. „Bleib liegen, ich ruf eben einen Notarzt“, wies er mich an und wollte schon sein Handy herausholen, doch ich hielt ihn davon ab und erklärte ihm, dass das nicht nötig sei.

„Schon gut“, murmelte ich und konnte mich dann doch endlich aufsetzen. „Du brauchst keinen Arzt zu rufen, es geht mir gut.“

„Gut?“ fragte er in einem aufgebrachten Ton, als wolle er mir sagen „Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

Aber verdenken konnte ich es ihm ja nicht, immerhin kannte er mein Problem nicht und bevor er noch weiter so einen Aufstand machte, war es wohl das Beste, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Nachdem ich mich schon so weit auf ihn eingelassen hatte, konnte ich es ihm ja endlich erklären.

„Du bist einfach so zusammengebrochen und warst bewusstlos. Da kannst du mir doch nicht erzählen, dass es dir gut geht, Fayette.“

Vorsichtig half er mir wieder auf die Beine und brachte mich in mein Zimmer. Dann verschwand er wieder in die Küche und brachte mir ein Glas Wasser.

„Setz dich“, wies ich ihn an und so setzte er sich neben mir aufs Bett. Nur widerwillig nahm er Platz, da er wohl lieber den Notruf gewählt hätte. Ich trank einen Schluck und fühlte mich inzwischen wieder besser. Zugegeben, ich erholte mich auch ziemlich schnell von solchen Zusammenbrüchen. „Das mit meiner Ohnmacht ist nichts Gesundheitliches. Es ist eine Art psychisches Problem. Immer, wenn es zu einem Kuss kommt, versagt mein Körper und ich werde ohnmächtig, maximal für zwei Minuten. Meistens bin ich aber schon nach einer halben Minute wieder wach. Das Problem besteht schon seit Jahren und deshalb vermeide ich so etwas auch. Diese Ohnmachtsanfälle waren auch der Grund, warum ich meine letzte Beziehung beendet habe und sind Mitgrund für das Scheitern der anderen beiden Beziehungen. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Eines Tages hat es einfach angefangen…“

Rion schwieg und wirkte auf einmal sehr ernst. Irgendetwas Bestimmtes ging ihm gerade durch den Kopf, das war ihm deutlich anzusehen. Nachdem er kurz geschwiegen hatte, fragte er mich „Wann genau ist das Problem aufgetreten?“

Unsicher zuckte ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich glaube, es war das erste Mal kurz vor meinem 13. Geburtstag, als ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst hatte.“

An Rions Körpersprache war deutlich erkennbar, dass ihn etwas beschäftigte. Irgendetwas Bestimmtes ging ihm in diesem Moment durch den Kopf und ich wurde neugierig. Wusste er vielleicht mehr? Dann aber senkte er den Blick und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, wobei er leise „Scheiße…“ murmelte. Das machte mich neugierig und ließ erahnen, dass er an irgendetwas Bestimmtes dachte.

„Rion, was ist?“ fragte ich ihn, doch er antwortete nicht sofort. Stattdessen fragte er mich „Fayette, erinnerst du dich vielleicht an diesen Unfall in der Schule, als du zwölf warst?“

Unfall in der Schule? Ich musste erst mal nachdenken, um mich zu erinnern. Und der einzige Unfall, der mir einfiel, war ein Treppensturz gewesen. Damals war ich ausgerutscht und dann die Treppen hinuntergestürzt, wobei ich mir den Kopf ziemlich heftig aufgeschlagen hatte. Ich musste ins Krankenhaus gebracht werden und hatte eine Platzwunde am Kopf und eine schwere Gehirnerschütterung, außerdem hatte ich mir den Arm verstaucht und mir mehrere Hämatome zugezogen. Ich hatte von Glück reden können, dass es nicht noch schlimmer gewesen war. An den genauen Hergang des Unfalls konnte ich mich nicht erinnern und der Arzt hatte damals von einer retrograden Amnesie gesprochen, die ja nicht ganz ungewöhnlich bei Unfällen war. Aber was hatte mein Sturz denn mit meinem Ohnmachtsproblem zu tun?

„Wenn du den Vorfall mit der Treppe meinst, an den kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich mit einer schweren Kopfverletzung ins Krankenhaus gebracht wurde. Was genau hat das jetzt damit zu tun?“

Rion ließ sich mit der Antwort Zeit und ich begann zu ahnen, dass da wohl etwas war, das er nicht erzählen wollte. Dennoch sammelte er sich und erklärte „Ich glaube zu wissen, was der Grund dafür ist. Dieses Problem ist nicht deine Schuld, sondern allein meine und ich hatte echt gehofft, dass dir damals nichts Schlimmes passiert ist, woran du noch länger zu leiden hast.“

Nun wurde ich langsam ungeduldig und hakte nach. „Was ist denn jetzt gewesen? Bin ich gestürzt, als du mich geschubst oder mir ein Bein gestellt hast?“

Was auch immer dahintersteckte, Rion wollte es offenbar nicht sagen. Aber nachdem er mich doch schon jahrelang so schikaniert hatte, würde ich selbst jetzt nicht mehr sauer sein, weil ich wegen dem Treppensturz Ohnmachtsanfälle hatte. Wir waren damals noch Kinder gewesen und ich war mir sicher, dass es nur ein Unfall gewesen war, wenn er mich denn wirklich bloß schubsen wollte und den Treppenvorfall dabei nicht bedacht hatte. Doch was ich dann erfuhr, war weitaus überraschender, als ich gedacht hätte und die Wahrheit gestaltete sich als ziemlich unerwartet. Denn Rion erzählte mir eine völlig andere Geschichte als zunächst angenommen.

„Als ich zu den McAlisters kam, musste ich auch auf eine neue Schule und als ich dich zum allerersten Mal sah, da habe ich mich in dich verliebt. Ich habe aber noch damit gewartet, dich anzusprechen und habe dann in der Pause meinen Mut zusammengenommen und dich geküsst. Ich dachte damals wirklich, du wärst ein Mädchen und hab deshalb nicht verstanden, warum du so erschrocken reagiert hast. Du bist nach hinten gestolpert und hast den Halt verloren, dann bist du auch schon die Treppen hinuntergefallen und hast dir den Kopf aufgeschlagen, als du gegen die Wand geprallt bist. Ich war vollkommen erschrocken und als du so da lagst und geblutet hast. Ich hatte wirklich Angst gehabt, du wärst tot. Es war ein Unfall gewesen und ich wollte auch nicht, dass du dich so erschreckst, dass du daraufhin die Treppen runterstürzt und dich dabei so verletzt.“

Ich schwieg und musste das Ganze erst einmal sacken lassen. Meine Ohnmachtsanfälle rührten also von meinem Sturz her, weil Rion mich damals geküsst hatte? Konnte so etwas überhaupt möglich sein? Im ersten Moment wollte ich nicht so wirklich daran glauben, aber wenn man bedachte, dass man normalerweise auch nicht bei einem Kuss in Ohnmacht fiel, konnte es tatsächlich stimmen. Womöglich war es irgendwie eine Art posttraumatische Reaktion auf meinen Unfall. Oh Mann, das Ganze musste für Rion ja ein Riesenschock gewesen sein.

„Ich habe erst im Krankenhaus erfahren, dass du ein Junge warst und da habe ich erst verstanden, warum du so reagiert hast. Und es tat mir so leid, dass du meinetwegen so schwer verletzt wurdest. Aber für mich selbst war das ja auch ein ziemlicher Schock. Ich habe erst da realisiert, dass ich einen Jungen geküsst hatte, weil ich ihn mit einem Mädchen verwechselt habe. Doch selbst danach habe ich immer noch diese Gefühle für dich gehabt. Aber ich habe mir diese Gefühle nicht erlaubt. Nicht nach diesem Vorfall. Ich habe schon meinen Bruder verloren, weil ich ihn nicht retten konnte. Da hatte ich furchtbare Angst, dass dir wegen mir auch noch etwas zustößt. Also fing ich damit an, dich zu ärgern, herumzuschubsen und dich zu schikanieren. Ich wollte niemanden lieben und dann verlieren. Nach Louis’ Tod hatte ich einfach zu große Angst davor, dass ich wieder einen geliebten Menschen verliere, sodass ich niemanden mehr an mich herangelassen habe. Stattdessen habe ich jeden von mir gestoßen und selbst meine Adoptiveltern nicht an mich herangelassen. Ich konnte einfach keine Bindung mehr zu anderen aufbauen. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist für die Dinge, die ich dir angetan habe. Doch ich konnte nicht damit umgehen, dass ich in dich verliebt war, vor allem nachdem ich erkannt habe, dass ich einen Jungen liebte. Ich dachte, ich könnte diese Gefühle irgendwann einfach verlieren und ganz normal weiterleben. Aber stattdessen habe ich dich selbst nach unserem Schulabschluss noch geliebt und ich hatte vorgehabt, dich nie wieder zu sehen und so weiterzuleben wie bisher. Doch als ich Isabelle traf und sie mir anriet, eine Therapie zu machen, um diese Bindungs- und Verlustangst zu bewältigen, da hatte ich den Entschluss gefasst, einfach den Versuch zu wagen und es irgendwie zu bewerkstelligen, dass wir einander näher kommen. Nachdem Isabelle starb und meine Adoptiveltern ums Leben kamen, hatte ich mich einfach so alleine gefühlt und mir so sehr gewünscht, dich wiederzusehen und dir näher zu kommen. Aber da ich seit Louis’ Tod nie wieder eine direkte Beziehung zu jemandem hatte, fiel es mir schwer und ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Also hatte ich die Idee mit dem Fotoshooting als Vorwand. Außerdem war es schon immer mein Traum gewesen, dass du zu einem Teil meiner Arbeit wirst.“

Ich musste das alles erst einmal sacken lassen, denn mit einem Male sprudelte Rions Geständnis aus ihm heraus und ich hatte zwischendurch Schwierigkeiten, das Ganze zu verarbeiten und zu verstehen, was das bedeutete. Und natürlich war es erst mal ziemlich viel für mich, denn immerhin erfuhr ich gerade, dass Rion mich schon seit unserer ersten Begegnung liebte und der Unfall auf der Treppe der Grund war, warum er mich die ganzen Jahre schikaniert hatte: weil er sich die Schuld für meine Verletzung gab und sich in die Idee hineingesteigert hatte, es könnte mir etwas passieren, wenn zwischen uns eine Bindung entstünde. Das war total bescheuert und verrückt, aber wenn ich daran dachte, was der traurige Hintergrund dafür war… Rion hatte damals seinen Bruder nicht retten können und dieser war im Teich ertrunken, nachdem sie beide im Eis eingebrochen waren. Er hatte sich die Schuld für den Tod seines Bruders gegeben…

Oh Mann, was waren da nur für Dinge schief gelaufen, als wir noch Kinder waren. So vieles hätte wahrscheinlich gar nicht sein müssen, wenn wir die Probleme des jeweils anderen erkannt und vernünftig miteinander gesprochen hätten. Aber auf welcher Grundlage denn bitteschön? Ich hätte ihm niemals zugehört und Rion hatte niemanden an sich herangelassen und nicht einmal Freundschaften zugelassen, weil er von der Angst beherrscht wurde, er könnte noch jemanden verlieren, der ihm wichtig war. Erst diese Isabelle hatte ihn wohl überreden können, sich Hilfe zu suchen und dann waren sowohl sie als auch seine Adoptiveltern gestorben, was noch mal ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein musste.

„Hattest du nicht mal eine Freundin?“ „Nein“, gab Rion zu. „Es waren nur irgendwelche belanglosen Sexbeziehungen und diverse One-Night-Stands gewesen. Und wenn, dann dauerten die Beziehungen nicht mal drei Wochen.“

„Und Isabelle?“ fragte ich, auch wenn ich Angst vor der Antwort hatte. Denn mich ließ das Gefühl nicht los, als hätte diese einen besonders großen Einfluss auf ihn gehabt und als würden sie eine sehr enge Bindung zueinander gehabt haben. Da wäre es doch sehr wahrscheinlich gewesen, dass sie vielleicht mal zusammen waren. Doch dann antwortete er „Es war eine platonische Freundschaft. Wir beide haben uns über eine Selbsthilfegruppe kennengelernt, in welche ihr Bruder ging und da wir ohnehin zusammen gearbeitet hatten, kamen wir ins Gespräch und sie machte mir Mut und empfahl mir eine Therapie. Sie war quasi die erste Person, zu der ich nach Jahren eine freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte. Aber gefühlt habe ich nie etwas für sie.“

Nun war wieder Stille zwischen uns beiden eingekehrt und ich ließ mir das alles, was Rion mir erzählt und auch gebeichtet hatte, durch den Kopf gehen. Aber seltsamerweise war ich nicht eine Sekunde lang wütend auf ihn oder dachte daran, ihm Vorwürfe zu machen. Denn im Grunde traf ihn keine Schuld an dem Unfall. Er hatte nicht wissen können, dass ich durch den Kuss so erschrocken war, dass ich die Treppe runterstürzte und dass es für ihn ein Schock war, nachdem er bereits seinen Bruder verloren hatte, konnte ich mir auch gut vorstellen. Wahrscheinlich wäre es mir auch nicht anders ergangen, wenn ich Emily unter solch tragischen Umständen verloren hätte. Doch da war noch etwas, das mich beschäftigte und was mir dann doch auf den Magen schlug.

„Du sagtest, du hast dich in mich verliebt, weil du dachtest, ich wäre ein Mädchen?“

Rion bestätigte dies und ich spürte, wie wieder meine verdammten Komplexe durchkamen und ich wieder Wut und Enttäuschung spürte. Der Gedanke, Rion würde in mir eine Frau und keinen Mann sehen, setzte sich in meinem Kopf fest und es ließ mich auch nicht los. Ich wollte nicht schon wieder mit diesem verdammten Thema ankommen, aber ich wollte es auch geklärt haben.

„Das heißt dann wohl du liebst mich nur, weil du in mir eine Frau siehst, oder wie? Ist das der Grund, warum ich diese Frauenklamotten beim Fotoshooting tragen musste?“

Dass es nicht fair war, Rion wieder irgendwelche Vorwürfe zu machen oder ihm irgendetwas zu unterstellen, nachdem er mir so eine Geschichte gestanden hatte, war mir schon klar und es tat mir auch leid. Aber ich konnte einfach nicht mit dem Gedanken umgehen, dass er mich nur liebte, weil ich so feminin aussah. Und es machte mich auch wütend, daran zu denken.

„So ist es doch gar nicht“, entgegnete er sofort und ergriff meine Hand. „Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Ich liebe dich so wie du bist und ich liebe dich nicht dafür, ob du jetzt ein Mann oder eine Frau bist, okay? Ich hab dich doch selbst dann noch geliebt, als ich erkannt hatte, dass du kein Mädchen warst, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Und für mich spielt es keine Rolle, was du bist, sondern allein wer du bist. Ich liebe deinen Namen und alles andere an dir, gerade so wie du jetzt bist. Deshalb habe ich auch nie verstanden, wieso du das alles an dir hasst. Du hast im Club gesagt, dass dich niemand als Mann wahrnimmt und du immer für eine Frau gehalten wirst. Aber das stimmt nicht. Ich nehme dich als Mann wahr und es macht mir nichts aus, dass du einer bist.“

Als Rion diese Worte sagte, musste ich wieder an die Fotos denken, die er von mir gemacht hatte. Zum ersten Mal hatte ich mich wirklich so lieben können wie ich war, als ich sie gesehen hatte. Und als hätte er meine Gedanken gelesen, holte er ein Foto heraus, auf welchem ich als Meermensch verkleidet zu sehen war. Das Foto sah atemberaubend schön aus und mir verschlug es komplett die Sprache. Nie hätte ich gedacht, dass es so wunderschön aussehen könnte, vor allem mit dem Bodypainting.

„Ich wollte dieses Fotoshooting nicht nur machen, weil ich unbedingt irgendeinen Preis gewinnen will, oder weil ich einen Vorwand brauchte, damit wir uns öfter sehen. Ich wollte dir zeigen, wie ich dich sehe. Für mich bist du ein wunderbarer und liebenswerter Mensch und du bist schön. Ich wollte dir zeigen, dass du dich für dein Aussehen nicht eine Sekunde lang zu schämen brauchst und du diese Komplexe gar nicht brauchst. Du brauchst dich nicht zu verstecken oder dich zu verändern. Kannst du dir nicht vorstellen, dass dich jemand so lieben kann, wie du jetzt gerade bist, auch mit deinen Fehlern? Fällt es dir so schwer zu glauben, dass es einen Menschen gibt, der dich gerade wegen deinem androgynen Aussehen liebt? Du hast im Club gesagt, dass ich mit meinem Aussehen zehn Frauen an jedem Finger haben kann. Schön und gut, aber was nützt mir das denn bitteschön, wenn ich komplett unfähig bin, eine Beziehung zu jemandem einzugehen? Ich habe nicht weniger Fehler als jeder andere und mein Aussehen ist da völlig egal. Ich bin auch nicht vollkommen und könnte jeden Morgen direkt beim Aufstehen gleich zehn Dinge nennen, die ich nicht an mir leiden kann. Bei meinen schlechten Augen mal angefangen. Aber ich halte mich nicht mit solchen Gedanken auf, weil ich stolz auf das bin, was ich geschafft habe und mich deshalb so lieben kann wie ich bin. Ich weiß, dass ich nicht unschuldig daran bin, dass du das nicht kannst, aber ich wollte dir mit dem Fotoshooting zeigen, dass du für mich perfekt bist so wie du jetzt aussiehst. Und es ist kein Fluch, androgyn auszusehen, im Gegenteil. Dein androgynes Aussehen hat mich schon immer fasziniert.“

Es fiel mir schwer zu glauben, dass mich jemand lieben konnte, auch wenn ich nicht wirklich wie ein Kerl aussah. Doch Rion hatte gerade wirklich so gesagt, dass er mich so liebte wie ich war und das hatte er mir mit dem Fotoshooting beweisen wollen. Ich schwieg und wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Mir war, als würde sich langsam das Chaos in meinem Kopf legen und endlich wieder Ordnung einkehren. Was jetzt noch blieb, war die Unsicherheit darüber, wie es jetzt weitergehen sollte. Fakt war, dass ich Rion liebte und ich mich mit der Zurückweisung von Katherine damit eigentlich schon entschieden hatte, mit wem ich den nächsten Versuch einer Beziehung wagen würde. Und die Unsicherheit konnte man mir ja wohl kaum verdenken, immerhin hatte ich noch nie eine Beziehung zu einem anderen Mann gehabt und das alles war noch ziemlich neu für mich.

„Ich kann verstehen, wenn das alles erst mal zu viel für dich ist. Vielleicht ist es besser, wenn ich dich erst mal alleine lasse.“

Rion wirkte ziemlich geknickt und ich ahnte, dass er sich Sorgen machte, ich könnte ihn von mir wegstoßen. All die Jahre war er alleine gewesen und es hatte ihn mit Sicherheit viel Kraft gekostet, um den Schritt zu wagen, mich zu kontaktieren. Und so langsam konnte ich auch verstehen, wieso er sich so seltsam verhalten hatte: diese Art, die ich immer für Arroganz gehalten hatte, war im Grunde nur eine Maske gewesen, um seine Unsicherheit zu verschleiern. Er hatte nicht gewusst, wie er sich auf zwischenmenschlicher Basis anderen gegenüber verhalten sollte, das war ihm lediglich in seinem Beruf möglich gewesen, weil er sich dort sicher genug fühlte. Nun hatte er zum ersten Mal den Mut gefunden und den Schritt gewagt. Er hatte mir seine Liebe gestanden und mit offenen Karten gespielt. Und jetzt war natürlich die Angst präsent, dass sein Engagement erfolglos blieb und sein Wunsch nach einer Beziehung unerfüllt blieb. So konnte ich ihn einfach nicht gehen lassen. Ich wollte nicht, dass er in dem Glauben ging, er würde sich falsche Hoffnungen machen und ich würde ihn einfach so abweisen. Also hielt ich ihn zurück und ging zu meinem Kleiderschrank. Ich holte das Aquarellbild heraus und gab es ihm. Rion sah es sich an und war einen Moment lang verwundert über das, was er da sah. Dann blickte er mich fragend an und wusste wohl nicht, was er dazu u sagen sollte. Also erklärte ich es ihm. „Als ich dich so glücklich lächeln sah beim Fotoshooting, da habe ich mich selber so glücklich gefühlt. Es war das allererste Mal, dass ich dich so glücklich sah und das ist es auch irgendwie, wieso ich mich in dich verliebt habe. Ich habe mich nicht in diesen arroganten Blödmann verliebt, der mich immerzu auf die Palme bringt, sondern in den einfühlsamen und freundlichen Rion, der auch eine menschliche Seite hat.“

Ich sah in seinen Augen, dass er tief bewegt war. Er schien kaum glauben zu können, was er da sah und dass ich ihm meinerseits ein solches Geständnis machte und ihn tatsächlich so sah, wie ich ihn gemalt hatte. Und dann sah ich es wieder: dieses glückliche Lächeln in seinem Gesicht, welches so ehrlich war und mein Herz höher schlagen ließ.

„Ich hätte nie gedacht, dass du so gut malen kannst“, gab er zu und konnte kaum seinen Blick von dem Bild abwenden. „Es ist wirklich sehr schön.“

Ich lächelte ebenfalls zufrieden und lachte. „Was soll ich da erst zu deinen Fotos sagen? Ich habe mich noch nie auf Fotos sonderlich leiden können, aber ich war wirklich tief beeindruckt, wie talentiert du als Fotograf bist.“

Es war irgendwie seltsam, so ganz anders mit ihm reden zu können. Es herrschten irgendwie keine negativen Spannungen mehr zwischen uns und es schien so, als hätte sich nach so vielen Jahren endlich alles zwischen uns geklärt und als könnten wir noch einmal ganz von vorne anfangen. Es war verrückt. Tagelang war so ein heftiges emotionales Chaos in mir und ich wusste weder ein noch aus und jetzt war es vorbei. Rion und ich hatten endlich mit offenen Karten gespielt und uns ausgesprochen. Und es fühlte sich so befreiend an. Ich hatte zum ersten Mal seit langem das Gefühl, als würde alles gut werden und als hätten wir diese ganzen Probleme, die zwischen uns gestanden hatten, endlich aus der Welt geschafft. In diesem Moment dachte ich auch nicht mehr daran, was alles in der Vergangenheit vorgefallen war. Nachdem ich endlich verstanden hatte, warum Rion mich all die Jahre so behandelt hatte, konnte ich nicht mehr länger wütend auf ihn sein. Darum hatte ich auch überhaupt kein schlechtes Gewissen oder irgendwelche Hemmungen, als ich nun zu ihm ging und ihn umarmte.

„Ich bin ein ziemlicher Feigling“, gab ich offen zu. „Die ganze Zeit bin ich nur vor meinen Gefühlen davongelaufen, weil ich Angst vor der Vorstellung hatte, ich könnte mich in einen Mann verlieben und damit den letzten Rest meiner Männlichkeit einbüßen. Ich war ein ziemlicher Vollidiot…“

Doch Rion schmunzelte nur und erwiderte die Umarmung. „Wir beide sind uns wohl ähnlicher als gedacht. Aber ich hab mich schon von Anfang an darauf eingestellt, dass es wohl nicht ganz so leicht wird. Vor allem bei der Vorgeschichte.“ Ja, das stimmte wohl. Wir hatten nicht wirklich das, was man als guten Start bezeichnen konnte

„Ich gebe zu, dass ich auch ziemlich dickköpfig und nachtragend war. Zurückblickend war es nicht gerade klug, mich bei unserem ersten Treffen gleich wieder so zu ärgern, aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Was geschehen ist, das ist geschehen und ich bin dir auch nicht mehr böse wegen der ganzen Geschichten, die zwischen uns vorgefallen sind. Nachdem ich dich endlich verstehe, kann ich dir auch verzeihen und das alles hinter mir lassen, was gewesen ist.“

Ich hob den Blick, sah in seine eisblauen Augen und hatte zum ersten Mal das Gefühl, mir wirklich sicher zu sein und mir keine Sorgen machen zu müssen. Ich fühlte mich glücklich und als wäre mir eine tonnenschwere Last von der Seele genommen worden. Und ich hatte in diesem Moment auch keine Angst mehr, als ich Rion ansah. Nun, da alles geklärt war, gab es etwas, was ich tun wollte. Also ergriff ich Rions Krawatte, setzte mich aufs Bett und wies ihn an, sich neben mich zu setzen. Und bevor er fragen konnte, beugte ich mich zu ihm herüber und küsste ihn. Zwar wusste ich, dass ich gleich wieder bewusstlos werden würde, aber ich wollte es dennoch tun. Wenigstens ein Mal wollte ich kein Feigling sein und auch mir selbst beweisen, dass ich hinter meiner Entscheidung verstand und nicht schon wieder weglaufen würde.
 

Schon während meine Lippen Rions berührten, spürte ich, wie mir wieder schwindelig wurde. Aber ich ignorierte dies und legte meine Arme um ihn und er erwiderte diese Geste. Es war für mich irgendwie ein komisches Gefühl, einen Mann zu küssen, aber es machte mir auch nicht wirklich etwas aus. Womöglich, weil es daran lag, weil es Rion war, den ich da gerade küsste. Ich merkte, wie mir kurz schwarz vor Augen wusste und ich zusammensackte, doch Rion hielt mich fest und fragte mich teils verständnislos „Warum machst du das, wenn du dabei noch umkippst?“

Hier konnte ich es mir nicht verkneifen, ihm einen provokanten Blick zuzuwerfen und ihm frech zu antworten „Darf man sich etwa nicht küssen, wenn man sich liebt? Und hey! Ich bin nicht ohnmächtig geworden. Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen, oder?“

Hier konnte Rion sich ein Lachen nicht verkneifen und schüttelte den Kopf. „Du bist aber auch echt ein Knallkopf, Fayette.“

Ich nahm noch einen Schluck Wasser und hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und allein schon an dem Geräusch der Absätze konnte ich erkennen, dass es Emily war. Da ich noch mit ihr reden wollte, entschuldigte ich mich kurz und ging auf den Flur raus. Wie sich herausstellte, hatte meine Schwester zurückkehren müssen, weil sie ihr Handy in der Küche vergessen hatte. Als sie mich sah, fragte sie direkt „Und? Habt ihr euch endlich mal vernünftig aussprechen können, oder schlagt ihr euch immer noch gegenseitig die Köpfe ein?“

Sie wirkte ein klein wenig in Eile. Ich räusperte mich etwas verlegen und versicherte ihr, dass zwischen mir und Rion alles geklärt war. Aber dann musste ich sie doch fragen, woher sie denn bitteschön davon wusste. Und hier sagte meine Schwester etwas, was mir mehr als deutlich zeigte, was für einen guten Durchblick sie eigentlich hatte.

„Ich bin doch nicht blöd, Bruderherz. Du kamst mit Knutschflecken zurück, nachdem du zu Rion fahren wolltest, du hast von einer komplizierten Beziehung gesprochen und gesagt, dass es nicht Seth war. Für mich stand das recht schnell fest, da er ja wohl kaum derjenige sein konnte, mit dem du den One-Night-Stand hattest. Außerdem habe ich gesehen, wie du ihn gemalt hast und dabei sehnsüchtig sein Bild angestarrt hast. Ich bin zwar erst 16 Jahre alt, aber ich bin nicht blind. Ich hab nur deshalb vor Mum nichts gesagt, weil sie alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Deshalb werde ich auch meine Klappe halten. Ist eh deine Sache, wann du es ihr erzählst.“

Ich war wirklich sprachlos, dass meine Schwester alles so schnell durchschaut hatte. Sie war wirklich verdammt clever und ich konnte nicht glauben, dass sie das alles für mich getan hatte. „Emily, ich weiß nicht…“

„Du schuldest mir noch was. Ich lasse mir da schon was einfallen. Und keine Bange, ich halte schon dicht. Es ist dein Job, Mum davon zu erzählen und nicht meiner. Also mach, was du für richtig hältst. Ich bin erst mal bei Sarah und Trudy. Mum kommt eh erst heute Abend nach Hause. Also amüsiert euch, ihr habt ja eure Ruhe.“

Damit verabschiedete sie sich und ging zur Tür raus. Ich blieb ein bisschen sprachlos stehen und hörte Rion hinter mir anmerken „Deine Schwester ist echt nicht auf den Kopf gefallen. Ich glaube, ich schenke ihr ein Fotoshooting als Dankeschön. Darüber wird sie sich sicherlich freuen.“

Ja, der Meinung war ich auch. Echt unglaublich… Emily hatte seit Tagen Bescheid gewusst und nichts gesagt, nicht einmal Mum. Dabei konnte sie doch sonst nicht die Klappe halten. Dann aber ergriff Rion meinen Arm und sein Lächeln verriet so einiges. „Was meinst du? Wo wir doch schon mal ungestört sind, könnten wir das doch ausnutzen.“

Oh Mann, damit hätte ich jetzt aber auch irgendwie rechnen müssen. Zugegeben… jetzt da wir wohl offenbar zusammen waren, hatte ich ja nichts dagegen, aber dennoch war mich noch etwas mulmig zumute.

„Nur wenn du versprichst, nicht zu hart ranzugehen, okay?“ Rion versprach es und so verschwanden wir gemeinsam in mein Zimmer.

I Want You, Rion!

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

All's Well That Ends Well

Emily war noch ziemlich sauer auf mich, weil ich einfach so ihr Massageöl zweckentfremdet hatte, aber als Rion ihr ein Fotoshooting als Dank für die Hilfe anbot, da war ihr Ärger schlagartig fort und sie war überglücklich darüber. Denn selbst nach diesen ernüchternden Geschichten, die Rion ihr erzählt hatte, wollte sie weiterhin an ihrem Traum als Model festhalten. So waren die Gemüter wieder beruhigt und noch bevor Mum zurückkehrte, fuhr Rion nach Hause, da er am nächsten Tag wieder früh aufstehen musste. Bevor er aber ging, drückte ich ihm noch das Aquarellbild in die Hand. So hatte jeder etwas vom anderen bei sich. Ich hatte die Fotos, er mein Bild. Wir verabschiedeten uns auf eine fast schon innige Art und Weise, die uns selber recht erstaunte und für uns beide doch etwas fremd war. Immerhin waren wir sonst immer das komplette Gegenteil gewohnt. Wenig später kam Seth zum Abendessen vorbei und brachte ein paar Blumen mit. Gleich schon als er mich sah, kam er nicht umhin zu bemerken „Na du siehst ja aus, Fay. Man könnte glatt meinen, du hättest den besten Sex deines Lebens gehabt.“

Natürlich musste ich breit grinsen. Immerhin war mir gerade das Beste seit Wochen passiert und ich musste ihm natürlich davon erzählen. Also gingen wir in die Küche und ich erzählte ihm davon, was alles passiert war. Und als ich ihm die Hintergründe meines Kussproblems schilderte, da hob er erstaunt die Augenbrauen.

„Wow, so erklärt sich auch gleichzeitig die Ursache für dein Problem. Hätte nicht gedacht, dass es sich auch gleich mitlösen würde. Und? Habt ihr eure Beziehung auch gleich gefeiert?“

Ich errötete und wandte den Blick ab, wobei ich mich verlegen räusperte.

„Was glaubst du denn?“ gab ich zurück und sogleich merkte meine Schwester noch an, dass ich ihr Massageöl mit Rosenduft zweckentfremdet habe. Seth schmunzelte darüber und wirkte sichtlich zufrieden, dass sich alles geklärt hatte und ich endlich meine ganzen Komplexe und Zweifel überwunden und diesen Schritt gewagt hatte. Nun galt es nur noch, meiner Mutter das alles zu erklären und zu hoffen, dass sie mich und Rion nicht gleich mit ihrer Fürsorglichkeit erschlug und damit ankam, dass sie schon immer gewusst hätte, dass ihr Sohnemann eine schwule Ader habe. Ich wusste hundertprozentig, dass sie so etwas in der Art tun würde und ich mir dann noch so einiges anhören durfte. In dem Moment ärgerte ich mich schon wieder ein wenig, weil Rion früher gehen musste. So musste ich das letztendlich alleine ausbaden.

„Wann wirst du es deiner Mutter erzählen?“ fragte Seth, als hätte er meine Gedanken gelesen. Nun, wenn ich ganz ehrlich war, wollte ich mir Zeit damit lassen, da ich nicht so wirklich Lust auf die ganze Aufregung hatte, die sie mit ihrer überschwänglichen Begeisterung noch verursachen würde. Es war ja schon schlimm genug, dass sie mir jahrelang damit auf die Nerven gehen musste, dass ich vielleicht mit Seth ganz gut zusammenpassen würde und nicht selten hatte ich mich deswegen mit ihr in die Haare gekriegt, weil ich mir das einfach nicht mehr anhören wollte. „Ich glaube, das mache ich erst, wenn Rion Zeit hat und vorbei kommt. Dann kann ich ihn auch selber noch mal offiziell vorstellen. Aber nächste Woche ist er sowieso weg…“

„Wieso das denn?“ fragten nun Seth und Emily gemeinsam und ich erzählte ihnen, dass die Ausstellung in Chicago eröffnen würde und er deshalb verreisen musste. „Und danach ist er noch mal für zwei Wochen in Deutschland“, seufzte ich und war ein bisschen deprimiert. Immerhin hatte ich mir ja schon erhofft, dass wir etwas mehr Zeit für uns hätten, wo ich doch sowieso gerade Semesterferien hatte. Und dann war Rion einen ganzen Monat weg. Das war einfach nicht fair. Nach dem ganzen hin und her wäre es doch einfach schön gewesen, wenn wir die Zeit füreinander gefunden hätten, uns näher zu kommen und einander besser kennen zu lernen, nachdem ich ihn als ganz neuen Mensch kennen gelernt hatte. Aber das musste dann wohl erst mal warten.

Mein bester Freund schüttelte den Kopf, als er mich so sah und schien nicht sonderlich viel Verständnis für mein Dilemma zu haben. „Also wenn ich nicht wüsste, dass es biologisch unmöglich wäre, würde ich sagen, dass du schwanger wärst. Bei so extremen Stimmungswechseln… Gerade eben noch grinst du wie ein Honigkuchenpferd und jetzt siehst du aus, als hätte er schon wieder mit dir Schluss gemacht. Was ist denn los?“ Was los war? Na ich war gerade erst heute richtig mit Rion zusammengekommen und was war? Er war nächste Woche weg. Und die Zeit reichte bis dahin einfach nicht, um eine vernünftige Beziehung aufzubauen. Das war doch einfach frustrierend.

„Ich finde es halt scheiße, dass er bald wieder weg ist und dann noch für vier Wochen.“

„Dann frag ihn doch einfach, ob du nicht vielleicht mitkommen kannst“, schlug überraschend Emily vor, die nun gerade dabei war, sich einen Salat zum Abendessen zu machen. „Du hast doch noch knapp zwei Monate Semesterferien und hast doch nichts anderes zu tun, oder? Dann kannst du Rion doch fragen, ob du nicht vielleicht mitkommen kannst. Manchmal hast du aber auch echt ein Brett vorm Kopf…“ Oh Mann, warum hatte ich nicht gleich selbst daran gedacht? Die Idee war klasse! Im Grunde hatte sie ja vollkommen Recht. Wenn Rion schon nicht hier bleiben konnte, dann konnte ich ihn ja nach Chicago begleiten.

„Emily, du bist echt genial!“ rief ich begeistert, doch sie blieb bescheiden und sagte einfach „Wenn du nicht so blind wärst, dann wärst du schon selbst drauf gekommen.“ Und da lag sie ja nicht so ganz falsch. Ich ging ins Wohnzimmer, holte das Telefon und ging dann in mein Zimmer, um die Visitenkarte hervorzukramen, wo auch Rions Handynummer drauf stand. Na hoffentlich klappte es auch und es bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass ich mit ihm zusammen nach Chicago reisen konnte. Ich war so aufgeregt, dass ich drei Mal versehentlich die falsche Nummer eingab und mich kaum konzentrieren konnte. Ich war ziemlich hektisch und das war ich zuletzt gewesen, als ich frisch mit Katherine zusammen gewesen war. Es dauerte aber, bis Rion endlich an sein Handy ging und man merkte ihm an, dass er bis zum Hals in Arbeit steckte.

„McAlister…“, meldete er sich und klang etwas abgelenkt. Als ich ihn grüßte und meinen Namen nannte, wurde sein Ton deutlich freundlicher, wobei er aber sich die Bemerkung nicht verkneifen konnte „Ach Fayette, hast du etwa wieder Sehnsucht nach mir?“

Ich gab ein Grummeln zur Antwort und nannte ihm den Grund meines Anrufs, wobei ich ihn auch gleichzeitig fragte „Geht es denn, dass ich dich nach Chicago begleiten kann, oder ist das zu kurzfristig?“ Bei meinem Glück in den letzten Wochen rechnete ich ja nicht so wirklich damit, dass es tatsächlich klappen könnte. Wenn Rion mit dem Flugzeug nach Chicago flog, würde es schon etwas schwieriger werden und ich wusste das auch. Aber ich wollte zumindest den Versuch wagen. Rion nahm die Idee positiv auf, auch wenn er nicht überschwänglich begeistert klang, aber er war eben auch nicht der extreme Gefühlsmensch wie ich, sondern auch deutlich ruhiger. Trotzdem war deutlich zu hören, dass er sich über diese Idee freute. „Klar, kein Problem. Ich organisiere dir noch ein Ticket und buche das Hotelzimmer um. Würdest du auch mit nach Berlin fliegen, oder hast du zeitlich Engpässe?“ Da ich mir keine Termine genommen hatte, verneinte ich die letzte Frage und antwortete, dass ich gerne mitfliegen würde. Zugegeben, ich war noch nie in Europa und konnte kein einziges Wort Deutsch, aber da Englisch ja sowieso eine Weltsprache war, konnte ich mich ja vielleicht dann doch irgendwie verständigen. Aber allein die Vorstellung war aufregend. Ich würde zum ersten Mal in einem Flugzeug fliegen und dann auch noch nach Chicago und dann nach Deutschland… mit Rion. Wenn ich noch vor drei Wochen gewusst hätte, was mir alles passieren würde und dass ich jetzt ausgerechnet mit Rion zusammen war und nächste Woche mit ihm verreisen würde, dann hätte ich gelacht und es nicht geglaubt. Warum denn auch? Immerhin hatte ich da noch Katherine hinterhergetrauert. Nun gut… es war nicht so, dass meine Gefühle für sie gänzlich erloschen waren. So leicht war es ja auch nicht und ebenso wenig glaubte ich, dass sie mir jemals gänzlich egal sein würde. Sie würde immer einen Platz in meinem Herzen haben, immerhin war sie eine wunderbare junge Frau und die beste Freundin, mit der ich je zusammen war. Sie hatte mich wirklich geliebt und ich sie auch, aber es war einfach vorbei mit uns beiden und eine Beziehung zwischen uns würde auch nicht mehr möglich sein. Natürlich bedauerte ich das, aber ich war auch auf der anderen Seite froh, dass ich diese Entscheidung getroffen hatte.

„Okay, ich werde auch noch ein Ticket für dich nach Berlin buchen.“ Als ich das hörte, fiel mir noch etwas ein, was ich auch sogleich fragte. „Wie viel kostet der Spaß?“

Ich rechnete damit, dass ich das Geld, welches ich für das Fotoshooting verdient hätte, komplett geschluckt wurde. Aber Rion meinte nur, dass er das schon übernehmen würde. Geld war eines der Dinge, über die er sich dank dem Erbe seiner Adoptivfamilie überhaupt keine Sorgen machen musste. Denn da die McAlisters keine eigenen Kinder gehabt hatten und auch die Eltern seiner Adoptivmutter nicht mehr lebten, war er der Alleinerbe geworden. Und den Rest hatte er sich hart erarbeitet. Aber so wie ich Rion einschätzte, war ihm das Geld nicht sonderlich wichtig. Er brauchte es nur, um sich ein anständiges Leben aufzubauen. Ein gemütliches Haus nach seinen Vorstellungen, eine gute Ausrüstung für seinen Beruf und ein eigenes Atelier. Mehr schien er nicht zu brauchen. Trotz des Reichtums lebte er dennoch sehr bodenständig und hatte anscheinend nie vergessen, woher er kam. Auch wenn er es am liebsten vielleicht vergessen würde, aber es zeichnete auch ein Stück weit seinen Charakter aus. Immerhin hatte er ja selber zu mir gesagt, dass ihm das Geld nichts bedeutet, wenn er dadurch einsam war und niemanden hatte. Und ich konnte ihn da auch verstehen. Deshalb machte es ihm auch überhaupt nichts aus, mich nach Chicago und nach Berlin einzuladen. Wenn das die einzige Möglichkeit für uns war, die vier Wochen lang nicht voneinander getrennt zu sein, dann waren wir beide einer Meinung. Da Rion noch viel zu tun hatte, musste er das Gespräch beenden und ich wünschte ihm noch eine gute Nacht.

Die Nachricht, dass ich tatsächlich mit Rion zusammen verreisen konnte, versetzte mich in eine richtig euphorische Stimmung und ich strahlte übers ganze Gesicht. Das blieb natürlich nicht verborgen, als ich zurück in die Küche kam und so brauchte ich auch nicht noch extra zu sagen, dass ich mit Rion mitreisen konnte. Mein Gesicht sagte mehr als Worte. Auch Emily grinste zufrieden und kam dann mit der Idee „Während du weg bist, kann ich mir ja gleich ein Extrazimmer für meine Klamotten einrichten.“

Ich redete ihr den Gedanken sofort wieder aus und erklärte, dass sie sich diesen Schwachsinn schön aus dem Kopf schlagen könne. Doch Emily wäre nicht sie, wenn sie sich so einfach den Mund verbieten lassen würde. Stattdessen warf sie mir einen provokanten Blick zu und grinste verschlagen. „Du kannst doch bei Rion einziehen.“

Manchmal konnte meine kleine Schwester wirklich ein Teufel sein. Aber wenigstens hielt sie die Klappe, als Mum nach Hause kam und uns fragte, wie unser Tag so war. Ich sagte erst mal nicht, was zwischen mir und Rion heute passiert war und ließ den Tag erst mal in Ruhe ausklingen. Seth und ich machten es uns gemütlich und schauten uns ein paar Horrorfilme an, wobei wir bei Chips und Cola auch ein wenig miteinander redeten und die Versuche meiner Mutter, uns irgendwie miteinander zusammenzubringen, eher amüsiert belächelten. Während wir so da saßen und uns Filme ansahen, konnte ich immer noch nicht so wirklich glauben, dass ich mit Rion zusammen war und nächste Woche mit ihm verreisen würde. Ich hatte dann die Chance, endlich mal Chicago zu sehen und sogar nach Deutschland zu fliegen. Das alles geschah so schnell und plötzlich, dass ich es noch nicht ganz wirklich für mich verarbeitet hatte. Meine Gedanken kreisten immer und immer wieder um die Geschehnisse der letzten Stunden. Das alles wirkte wie ein verrückter Traum und fühlte sich noch gar nicht so real an. „Irgendwie ist das schon komisch, Seth“, murmelte ich schließlich, nachdem eine lange Weile nichts gesagt worden war und ich so meinen Gedanken nachging. „Da hat es so lange gedauert, bis es endlich zwischen mir und Rion richtig geklappt hat und jetzt… irgendwie geht mir das alles jetzt ziemlich schnell.“

Mein bester Freund dachte kurz nach und musste mir Recht geben. Aber dazu meinte er auch „Du bist eben jemand, der nicht lange fackelt, wenn der Funke endlich übergesprungen ist. Und nach dem Frust der letzten drei Wochen kann ich es ja auch verstehen, dass du auch dein neues Liebesglück genießen willst. Mir ist es ja auch nicht anders ergangen, als ich mit Raphael zusammengekommen bin. Und wie geht er mit deinem Problem um?“

Etwas unsicher zuckte ich mit den Schultern und meinte „Er geht ganz locker damit um und wenn ich ihn küsse, schaffe ich es sogar, bei Bewusstsein zu bleiben. Naja, mir wird zwar immer noch komplett schwarz vor Augen und mein Kreislauf gibt den Geist auf, aber ansonsten geht es irgendwie besser als vorher.“

„Vielleicht, weil du keine Angst vor dem Küssen hattest?“

Es erstaunte mich manchmal, wie gut mich mein bester Freund durchschauen konnte. Manchmal hatte ich echt den Eindruck, dass er mehr über mich wusste, als ich über mich selbst. Das konnte auch echt gruselig sein.

„Irgendwie schon“, gab ich zu, wobei er mit einem Schmunzeln meinte „Du bist in mancher Hinsicht wie ein offenes Buch, Fay. Dir sieht man sofort an, was dir so durch den Kopf geht.“

Ja, ganz im Gegensatz zu Rion. Der verstand es hingegen wahrhaft meisterhaft, sich bloß nichts anmerken zu lassen und seine wahren Gedanken zu verbergen. Naja… meistens jedenfalls. Es gab durchaus Momente, in denen ich sehen konnte, was er wirklich fühlte, aber es kam auch ganz auf die Situation an und ob er wirklich wollte, dass man ihn durchschaute. Er hatte einen Weg gefunden, das zu kontrollieren. Ich hingegen war da wohl ziemlich leicht zu durchschauen und wie ein offenes Buch für andere. Und das war auch nicht immer gleich zum Vorteil.

„Für mich ist das Ganze auch echt ziemlich verrückt“, gab Seth zu und trank einen Schluck kaltes Dosenbier. „Ich meine… wann passiert es denn schon, dass man sich ausgerechnet in den Typen verliebt, der einen immer herumgeschubst hat? Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich würde nicht glauben, dass es so etwas wirklich gibt. Scheint wohl so, als würde der Spruch Gegensätze ziehen sich an ja doch irgendwie zutreffen. Immerhin seid ihr beide doch ziemlich verschieden. Du trägst deine Gefühle immer deutlich nach außen, bist in vielen Sachen sehr unsicher und du bist ein sehr emotionaler Mensch. Rion hingegen ist da eher der introvertierte Typ, der sich nichts anmerken lässt und eher der stille Einzelgänger ist, so wie du ihn mir beschrieben hast. Du hingegen bist ein typischer Gesellschaftsmensch, der die Nähe zu anderen braucht. Ich will dir die Beziehung nicht schlecht reden, aber dir ist schon klar, dass ihr aufgrund dessen, weil ihr so verschieden seid, auch auf Schwierigkeiten stoßen werdet, was die Beziehung zwischen euch betrifft.“

Ja, das war mir auch schon klar. Und ich wusste, dass diese kleinen Zankereien zwischen uns bleiben würden. Aber so schlimm war das jetzt nicht für mich. Streitereien gehörten zu einer Beziehung ja auch dazu und wenn ich ganz ehrlich war, dann sorgte ich mich viel mehr darum, wie meine Bekannten es auffassen würden, wenn sie erfuhren, dass ich mit einem Mann zusammen war. Nun, einfach würde es nicht werden, das hatte ich schon am Beispiel von Seth erfahren. Aber es würde schon irgendwie klappen. Irgendwie… Der Wille war da und ich war auch bereit, die Konsequenzen zu tragen, die meine Entscheidung mit sich brachte. Nicht alle würden mit Begeisterung reagieren und natürlich würde es auch von manchen Seiten Ablehnung geben. Ganz zu schweigen davon, wie sehr es Katherine verletzen würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Wenn ich ganz ehrlich war, fürchtete ich mich auch ein Stück weit vor der Reaktion der anderen, aber ich würde es trotzdem durchziehen. Immerhin war Rion bereit, dasselbe für mich zu tun.

Ich spürte, wie Seth eine Hand auf meine Schulter legte und als ich ihn fragend ansah, lächelte er zufrieden und meinte nur „Du schaffst das schon, Fay. Immerhin steht deine Familie ja zu dir und du hast selbst den Mut aufgebracht, über deinen Schatten zu springen. Aber weißt du, Fay… wenn ich so über euch beide nachdenke, scheint ihr ja gerade wegen eurer Gegensätze ganz gut zusammenzupassen.“

Hieraufhin fragte ich ihn, wie er denn darauf kam. Und so erklärte er mir: „Na überleg doch mal: du als recht emotionaler und unsicherer Charakter brauchst eben jemanden, auf den du dich verlassen kannst und der dir Halt gibt. Und Rion scheint ja jemand zu sein, der quasi eine starke Hand hat und der immer die Kontrolle bewahren kann. Ganz egal was auch kommt. Und vielleicht tut dir das ja auch mal ganz gut und du musst dich nicht so dermaßen unter Druck setzen.“

„Manchmal ist es echt gruselig, wie gut du mich durchschauen kannst, mein Lieber“, gab ich zurück und konnte mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Nun, vielleicht war es halt so, dass ich in vielen Dingen leicht berechenbar und zu durchschauen war. Dann gehörte das einfach zu meinem Charakter dazu. Daran ließ sich halt nichts ändern. Aber es stimmte schon, dass es mich ja doch irgendwie anzog, dass Rion quasi das Gegenteil war. Dass er nicht so einfach zu durchschauen war und dass man manchmal rätseln musste, was ihm gerade durch den Kopf ging. Es hatte etwas sehr Faszinierendes an sich und natürlich hatte ich bei ihm das wohlige Gefühl, ich könnte in seinen Armen liegen und mich voll und ganz auf ihn verlassen. Das alles war wirklich eine ganz neue Erfahrung für mich und ich musste mich zum allerersten Mal nicht so unter Druck setzen, meiner Rolle als Mann gerecht zu werden. Vielleicht war das auch ganz gut so. Alles andere hätte ja nur für die üblichen Komplexe bei mir gesorgt, was ja nicht wirklich so gesund für mich gewesen wäre. „Sag mal Seth, hättest du je gedacht, dass alles mal so kommen würde?“

„Nicht so wirklich“, gab mein bester Freund zu. „Aber du warst ja auch schon immer für die eine oder andere Überraschung gut.“

Dem konnte ich kaum widersprechen. Immerhin hatte ich mich mit dieser Entwicklung ja auch selbst ziemlich überrascht. Aber dann war da noch etwas, was ich noch unbedingt klarstellen wollte. Darum sah ich Seth fest an und erklärte ihm „Nur weil ich jetzt mit einem Kerl zusammen bin, heißt das noch lange nicht, dass ich auf dein Ufer wechsle, okay? Also komm mir bloß nicht wieder mit der Idee an, du könntest mich in eine Schwulenbar mit reinschleifen, okay? Das eine Mal war eine Ausnahme gewesen.“

„Schon klar“, sagte Seth nur und versicherte mir, dass er sowieso nicht vorgehabt hatte, mich da wieder reinzuschleppen. Dieses eine Mal hatte mir auch wirklich gereicht und ich hatte auch nicht wirklich vor, diesen Besuch zu wiederholen. „Aber du kannst mir Rion ja mal vorstellen, damit ich ihn auch mal persönlich kennen lernen kann. Nach allem, was du mir so erzählt hast, würde ich ihn schon mal ganz gerne in Natura sehen.“

Natürlich war ich sofort dabei, immerhin hatte mir Seth ja auch schon Raphael vorgestellt und ich hoffte ja auch, dass er sich gut mit Rion verstand. „Womöglich hat Rion ja Zeit, bevor wir nach Chicago fliegen.“

„Ja, das wäre nicht schlecht. Aber sag mal Fay, wie steht es denn eigentlich mit Katherine? Trauerst du ihr immer noch nach, oder bist du schon über sie hinweg?“

Zugegeben, es tat mir immer noch weh, dass es zwischen uns vorbei war und ich gab das auch offen und ehrlich zu. Aber es war nicht so, dass ich es wirklich bereute. Ich war schon froh über diese Entscheidung.

„Ich glaube nicht, dass man so schnell über eine alte Liebe hinweg ist. Immerhin… Katherine und ich waren wirklich glücklich miteinander und wenn dieser Vorfall in der Mensa nicht gewesen wäre, dann wären wir jetzt wahrscheinlich immer noch zusammen. Ich dachte wirklich, meine Gefühle für sie wären weg, wenn ich erst mit Rion zusammen bin, aber da habe ich wohl falsch gelegen. Ich hoffe, sie wird mich nicht hassen, wenn sie erfährt, dass ich mit einem Mann zusammen bin.“

„Tja, damit wirst du wohl eventuell leben müssen, wenn sie die Wahrheit erfährt.“

Er hatte leider Recht und ich wusste, dass sie es nicht gerade mit Begeisterung aufnehmen würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Aber damit musste ich halt leben.

„Dann ist es halt so“, sagte ich nur. „Aber das wird auch nichts an meiner Entscheidung ändern. Rion steht hinter mir, also sollte ich das gleiche für ihn tun. Irgendwie schaffen wir das schon. Und zum Glück weiß ich ja, dass ich auf dich zählen kann, oder?“

„Auf jeden Fall!“ Wir stießen mit unserer zweiten Dose Bier an und unterhielten uns noch lange Zeit. Dann schließlich, als wir uns den Film „Texas Chainsaw Massacre“ ansehen wollten, kam Emily dazu und fragte, ob sie mitgucken durfte. Da wir nichts dagegen hatten und Seth Emily als eine Art Schwester eh ins Herz geschlossen hatte, stimmten wir zu. Da sie keinen Alkohol trank, hatte sie eine eiskalte Cola dabei und so saßen wir bis knapp drei Uhr morgens in meinem Zimmer und schauten uns allerhand Horrorfilme an. Dann verabschiedete sich Seth und auch Emily ging ins Bett. Auch ich zog mich um und legte mich im Anschluss ins Bett, um ein bisschen Schlaf zu finden. Doch so wirklich schlafen konnte ich nicht. Ich konnte auch nicht sagen wieso. Wahrscheinlich wirkte noch die ganze Aufregung nach, weshalb ich keine Ruhe fand. Mir war, als würde ich immer noch Rions Stimme hören, die mir leise diese drei kleinen Worte ins Ohr flüsterte. Selbst jetzt noch konnte ich seine Berührungen auf meiner Haut spüren und den Duft seines Aftershaves riechen. Und als ich dann doch irgendwann endlich in den Schlaf fand, da stahl sich mir ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen und ich begann von der Reise nach Chicago zu träumen.
 

Am nächsten Tag kam Rion vorbei, da er wohl gestern seine Geldbörse bei uns vergessen hatte. Es brauchte eine ganze Weile, bis wir sie gefunden hatten, da das Ding nämlich bei unserem wilden Techtelmechtel unter mein Bett gerutscht war und es erst mal dauerte, bis wir überhaupt auf die Idee kamen, dort zu suchen. Rion wirkte ein wenig übernächtigt und das sah man ihm deutlich an. Er war ein wenig blass und hatte Augenringe, war aber dennoch bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Von ihm erfuhr ich, dass Mallory inzwischen wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Nachdem sie aufgrund einer heftigen Panikattacke eingeliefert werden musste, hatte Rion sie besucht und zum Glück war alles in Ordnung bei ihr. Dafür aber hätte sie eine heftige Auseinandersetzung mit ihren Eltern gehabt und sie sei kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus mit dem Auto losgefahren, weil sie nach Dark Creek wollte. Ich hatte nie davon gehört, aber vermutlich war es irgendein kleines Kaff. Auf meine Frage, was sie dort wollte, zeigte sich Rion ebenfalls ein wenig ratlos.

„Genaues hat sie mir nicht gesagt. Sie meinte nur, sie wolle dort nach ihrer Familie suchen. Offenbar hat sich herausgestellt, dass die Whitmores gar nicht ihre richtigen Eltern sind, sondern sie als Kind adoptiert haben. Naja, ich wollte mich auch nicht weiter in ihre Angelegenheiten einmischen.“

Na wenigstens hatte diese heftige Panikattacke bei ihr keine bleibenden Schäden hinterlassen. Auch Rions Handverletzung ging es besser und wie sich herausstellte, war es wirklich nur eine oberflächliche Schnittverletzung, die nicht einmal genäht werden musste.

Da Rion schon mal hier war, nutzte ich natürlich die Gelegenheit und ging mit ihm zusammen ins Wohnzimmer, wo meine Mutter gerade am Laptop saß und irgendwelche Shopseiten durchsuchte. Ich stellte ihr Rion noch mal offiziell als meinen Freund vor, mit dem ich nun zusammen war und die Reaktion fiel so ungefähr aus, wie ich es geahnt hatte: sie war natürlich komplett aus dem Häuschen, umarmte mich stürmisch und meinte natürlich, sie hätte es schon immer irgendwie im Gefühl gehabt, dass so etwas kommen würde, weil Mütter so etwas eben halt fühlen. Ich war ein klein wenig genervt über den ganzen Aufstand und hätte am liebsten etwas gesagt. Vor allem als sie meinte, sie würde uns in dieser schwierigen Zeit beistehen. Doch Rion legte einen Arm um meine Schultern, lächelte etwas amüsiert und meinte nur zu mir „Lass ihr ruhig den Spaß.“

Und mich ließ auch der Verdacht nicht los, dass Rion diese familiäre Atmosphäre irgendwie genoss und auch seinen Spaß dabei hatte. Sonderlich überraschen würde es mich ja nicht, nachdem er so lange Zeit vollkommen zurückgezogen gelebt und niemanden an sich herangelassen hatte. Und wir beide waren froh, dass meine Familie das alles positiv aufnahm. Emily hatte es ja schon längst gewusst gehabt und da Rion sowieso zu ihren Idolen zählte, war sie natürlich selber vollkommen begeistert davon. Zusammengefasst konnte man ja eigentlich wirklich von einem Happy End reden. Und ja, es war verdammt kitschig und so romantisch, dass man echt noch einen Ausschlag davon bekommen konnte. Aber das interessierte mich eh keine Sekunde lang. Für mich zählte einfach, dass ich endlich ein einziges Mal in meinem Leben meine ganzen Sorge, Zweifel und Komplexe bekämpft und den Mut aufgebracht hatte, einen so großen Schritt zu wagen. Und auch wenn es die letzten Wochen nicht wirklich einfach war und ich mir vieles schwerer gemacht hatte als unbedingt nötig, so hatte ich doch etwas wichtiges für mich selbst gelernt: es war nicht nötig, mich selbst für all die Dinge zu hassen, die so viele Menschen an mir kritisierten. Sei es meine viel zu feminine Erscheinung, dass ich nicht der Größte war und dass ich mit einem mädchenhaften Namen bestraft war, der allen Ernstes „kleine Fee“ bedeutete. Diese Dinge waren eben ein Teil von mir und auch wenn ich jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen zehn Dinge an mir aufzählen konnte, die ich an mir hasste, so konnte ich jetzt eigentlich dankbar für diese zehn Makel sein. Denn auch wenn sie oft der Grund für so manche Hänselei waren, so konnte ich dennoch stolz auf sie sein. Immerhin waren ja genau diese zehn Dinge an mir, die ich immer so verdammt hatte, der Grund dafür, warum sich Rion in mich verliebt hatte. Und dank ihnen hatte er mich selbst nach 12 Jahren noch nicht aufgegeben.

Es hatte natürlich lange mit uns beiden gebraucht, bis wir endlich da standen, wo wir jetzt stehen und wo wir einander endlich verstanden und unsere Gefühle erwidern konnten.
 

Ja… zum ersten Mal in meinem Leben war ich stolz darauf, so zu sein, wie ich war. Und ohne Rion hätte ich das wohl nie geschafft. So verrückt wie das auch klang. Wer hätte gedacht, dass ein einfaches Foto so viel zu bewirken vermag?

The Flight To Chicago

Ich war völlig außer Atem und konnte von Glück reden, nicht über meine eigenen Füße gestolpert zu sein. Scheiß Taxi, scheiß Stau, scheiß Tag… Röchelnd schleifte ich meinen Rollkoffer hinter mir her und wurde von einigen herumstehenden Leuten schief angeguckt, aber das war mir eh so was von scheißegal. Hauptsache war, dass ich noch rechtzeitig zum Treffpunkt kam. Ich sah mich suchend um und kam mir ein klein wenig planlos vor. Wer noch nie an einem Flughafen gewesen war und deshalb nicht genau wusste, wie der dortige Ablauf war, der konnte sich ganz gut in meine Lage versetzen. Eigentlich hätte ich dieses Problem nicht, wenn an diesem Tag nicht so viel schief gelaufen wäre. Zuerst hatte mein Wecker nicht geklingelt, dann war mir erst auf dem allerletzten Drücker aufgefallen, was ich alles vergessen hatte und dann steckte natürlich das Taxi im Stau fest, sodass ich mich noch mehr verspätete. Ich hatte mich wirklich abgehetzt, hierher zu kommen, aber ich war dennoch knapp zehn Minuten zu spät. Verdammter Mist, das würde noch Ärger geben. Offenbar war ich echt mit dem falschen Fuß aufgestanden. Schließlich aber erreichte ich das Flughafencafé und sah dort auch schon Rion an einem Tisch sitzen und entspannt einen Latte Macchiato trinken. Schwer atmend kam ich zu ihm und hatte das Gefühl, gleich auf der Stelle einfach umzufallen, weil ich so aus der Puste war.

„Was bist du so gehetzt, Fayette?“

„Na weil…“

Weiter kam ich nicht, denn da versagte mir die Stimme und ich musste wieder Luft holen. Ich setzte mich gegenüber von ihm hin und schaffte es nach einer Weile, wieder zu Atem zu kommen. „Ich bin zehn Minuten zu spät. Nicht, dass wir gleich noch den Flieger verpassen.“ Doch Rion machte nicht gerade den Eindruck, als würde für uns die Zeit drängen. Stattdessen trank er ganz entspannt seinen Kaffee und erklärte mir „Ich hatte dir doch schon am Telefon gesagt, dass es nicht tragisch ist, wenn du dich verspätest. Ich habe selbst eine Stunde Verspätung mit eingerechnet, da ich ja weiß, wie problematisch der Verkehr ist. Das heißt, wir können erst mal ganz entspannt etwas trinken und dann zum Check-in.“

„Ich hab mich also ganz unnötig abgehetzt, oder wie?“ fragte ich fassungslos und als Rion das dann auch noch mit einem „ja“ beantwortete, stöhnte ich laut und verdrehte die Augen. Die ganze Rennerei hätte ich mir so was von sparen können, aber nein, ich wollte unbedingt pünktlich sein. Dabei hatte er mir schon am Telefon gesagt gehabt, ich brauch mich nicht so zu beeilen. Warum hatte ich auch nicht auf ihn gehört? Nun, dafür war ich ja jetzt wenigstens hier und nun würde es auch nicht mehr lange dauern, bis wir endlich im Flieger nach Chicago saßen. Die letzte Nacht hatte ich kaum geschlafen und war deshalb auch ziemlich aufgeregt. Und das war mir auch deutlich anzusehen. Ich bestellte mir eine Cola und sogleich fragte mich Rion auch „Bist du aufgeregt?“

„Na klar“, antwortete ich und nahm dankend mein Getränk entgegen. „Immerhin ist es das allererste Mal, dass ich in einem Flugzeug fliege. Und wenn ich überlege, dass wir zwei Wochen in Chicago sein werden und danach in Deutschland…“

So wie ich Rion einschätzte, war das Fliegen für ihn schon nichts Besonderes mehr. Wahrscheinlich war er schon viel unterwegs gewesen, seit er als Fotograf berühmt geworden war. Zumindest hatte er mir erzählt, dass er auch schon mal in New York und San Francisco war. Irgendwie beneidenswert, aber womöglich auch ziemlich stressig. Die ganze Zeit immer auf Achse zu sein musste ja auch irgendwann mal an die Substanz gehen.

„Die Ausstellung selbst ist eher langweilig und sehr eintönig“, meinte er schließlich, um meine Erwartungen ein klein wenig zu bremsen. „Die meiste Zeit wird nur geredet und geschäftliche Beziehungen geknüpft. Ich bin auch zu einigen Geschäftsessen eingeladen, immerhin gibt es viele Kunden, die großes Interesse an der Arbeit von Kunstfotografen haben. Auf die Weise kann ich auch schon mal Aufträge von Modelagenturen an Land ziehen.“

„Ich dachte, du arbeitest nicht mehr für solche Agenturen“, merkte ich verwundert an, denn ich hatte das Ganze ein wenig anders in Erinnerung. Aber so wie ich erfuhr, arbeitete Rion lediglich mit gewissen Agenturen zusammen, allerdings arbeitete er immer noch selbstständig. „Es sind ja nicht nur Agenturen, die man sich ins Boot holt, sondern auch wohlhabende Leute, Prominente oder Staatsoberhäupter. Ein Fotograf sorgt dafür, dass diese Leute ins richtige Bild gerückt werden und auch wenn er nie denselben Ruhm genießen wird, so ist seine Arbeit dennoch unverzichtbar. Und um ins Gespräch dieser Leute zu kommen, ist es auch wichtig, sich dementsprechend zu präsentieren und möglichst viele Kontakte zu pflegen. So waren mir zum Beispiel auch die Kontakte meiner Adoptivmutter wirklich hilfreich. Das heißt also im Klartext für uns: wir werden zwar auf jeden Fall Zeit für uns finden, aber ich habe auch viele Verpflichtungen.“

Das war mir schon klar gewesen und ich hatte mich auch längst darauf eingestellt gehabt. Aber allein die Vorstellung, dass ich einen Monat mit Rion verbringen und sogar zwei Wochen ins Ausland fliegen würde, war einfach zu überwältigend.

„Aber dafür…“ Rion beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr „Dafür nutzen wir dann jede freie Minute für uns.“ Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, was er damit anspielen wollte und errötete, wobei ich ihn etwas verärgert anblickte. „Das ist ja mal wieder typisch für dich“, gab ich zurück und trank einen Schluck Cola. „Du kannst aber auch nur an Sex denken, oder was?“

„Das hast du jetzt gesagt, Fayette“, erwiderte er und nahm wieder dieses kühle und verschlagene Geschäftsmannlächeln an, welches etwas Zwielichtiges an sich hatte. „Was kann ich denn dafür, dass du gleich an so etwas denken musst?“

Das machte dieser Dreckskerl doch mit Absicht. Auch wenn wir zusammen waren, ließ er selten eine Gelegenheit aus, um mich ein wenig zu ärgern und sich solche Späße auf meine Kosten zu erlauben. Naja, ich konnte ihm aber auch nie lange böse sein. In der Hinsicht war er wie eine Katze, die erst die ganzen Polster zerkratzte und dann zum Schmusen kam. War doch klar, dass man bei ihm nicht lange nachtragend sein konnte. Oder es lag einfach daran, weil ich zu inkonsequent war. Ich seufzte und gab es auf, mit ihm zu diskutieren. Letzten Endes würde es doch sowieso nichts bringen.

„Ich hab’s kapiert, du willst mich nur wieder ärgern. Schon klar. Sag mal, wo müssen wir eigentlich gleich hin?“

„Erst mal geben wir gleich noch dein Gepäck ab und gehen durch die Sicherheitskontrolle. Wenn wir erst mal durch sind, brauchen wir nur noch zu warten, dass wir ins Flugzeug können. Im Grunde ist das alles gar nicht so schwer. Hast du dich noch über die Gepäckvorschriften informiert?“

Ja, damit hatte ich mich intensiv vor dem Kofferpacken beschäftigt und alles befolgt, was geschrieben stand. Trotzdem war ich nervös, dass irgendetwas kommen würde, was ich völlig vergessen hatte und wir dann doch nicht fliegen konnten. „Na hoffentlich geht alles gut.“

„Entspann dich einfach“, sagte Rion bloß und sah kurz auf die Uhr. „Wir haben noch genügend Zeit. Aber wenn es dich beruhigt, wenn wir das erledigt haben, dann lass uns eben gehen. Denn können wir nachher in der Lounge warten.“

Damit standen wir auf und zahlten unsere Getränke. Ich folgte Rion und dachte zuerst, wir würden uns in der Schlange anstellen, die da drüben am Schalter stand, doch stattdessen gingen wir ganz woanders hin. Wir verließen die Haupthalle des Flughafens, fuhren mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk höher und erreichten dann schließlich einen Bereich, der zwar einer Gepäckkontrolle ähnlich war so wie ich das immer im Fernsehen gesehen hatte. Aber es war sonst niemand hier, nur das weibliche Personal. Eine bildhübsche Frau mit blonden hochgesteckten Haaren, kurzem Rock und Blazer begrüßte uns und bat uns um ein „Goldticket“. Ich wusste damit echt nichts anzufangen, aber Rion kramte dieses schon aus seiner Tasche hervor und reichte es der Frau. Diese zog die Karte durchs Lesegerät und schon wurde mein Koffer auf das Fließband gelegt. Danach wurde nur noch mein Handgepäck geprüft und danach konnten wir durch diese Schranke, wo wir noch mal auf metallische Gegenstände untersucht wurden. Rion kam problemlos durch, nur bei mir schlug der Detektor aus, da er auf meine Gürtelschnalle reagierte. Aber ansonsten gab es keine Probleme und wir wurden von der Dame in die Lounge geführt, einen ziemlich edel eingerichteten Bereich mit Sitzgelegenheiten und wo man sich Cocktails bestellen konnte. Ich war ein wenig irritiert, denn so hatte ich mir die Prozedur bei einem Flug nicht vorgestellt. Wir setzten uns und bei der Gelegenheit fragte ich auch direkt „Wozu war eigentlich dieses Goldticket gut?“

Rion war wie immer die Ruhe selbst, nur ich fühlte mich hier ein wenig deplatziert. „Das braucht man, wenn man mit der Business Class reisen will“, erklärte er mir und als ich das hörte, klappte mir der Mund auf und ich starrte ihn ungläubig an. Business Class? Soweit ich das wusste, war das sauteuer und etwas, das sich nur steinreiche Unternehmer leisten konnten. War er denn völlig verrückt geworden?

„Du nimmst mich doch echt auf den Arm. Wieso ausgerechnet Business Class?“

Die Erklärung war ganz einfach: wir würden knapp eine Stunde unterwegs sein, nach Deutschland sogar sehr viel länger und per Economy Class zu reisen war ziemlich unbequem, vor allem weil Rion ja auch sehr groß gewachsen war und es hasste, so zu reisen. Und da er häufig unterwegs war, hatte er eine Mitgliedschaft, wodurch er sich so etwas auch erlauben konnte. Ich hingegen würde mir so einen Flug in dieser Preiskategorie nie im Leben leisten können. Verständnislos schüttelte ich den Kopf und fragte „Wie viel Kohle hast du denn auf dem Konto?“

Dazu gab er mir keine Auskunft, da er offenbar nicht gerne damit prahlte. Er versicherte mir aber, dass er genug habe, um sich keine finanziellen Sorgen machen zu müssen. „Dafür verzichte ich auch auf überflüssigen Luxus, wie zum Beispiel Strandhäuser und Jachten. Und Privatflugzeuge habe ich auch nicht. Ich halte vom Protzen nichts und gebe mich mit einer gemütlichen Bleibe und gemütlichen Reisen zufrieden.“

„Sag bloß, du hältst sogar dein Haus selber in Ordnung“, scherzte ich und war umso erstaunter, als er tatsächlich sagte, dass er meistens alles selber erledigte und sogar kochen konnte. Allerdings fügte er auch noch hinzu, dass er lediglich dann eine Putzhilfe engagierte, wenn er geschäftlich zu tun hatte und somit entweder nicht da war, oder einfach nicht die Zeit für so etwas aufbringen konnte. Hier konnte ich ihn wirklich nur für seine Bodenständigkeit bewundern und ich fragte mich, wie er das nur schaffte. Aber wahrscheinlich lag es auch einfach daran, weil er niemals vergessen wollte, woher er kam und was er alles hinter sich gebracht hatte. Er wollte niemand sein, den er selbst nicht ausstehen konnte und an seinen Prinzipien festhalten. Für ihn hatte die Gesellschaft zu Menschen, die er ins Herz geschlossen hatte, einen viel höheren Stellenwert als Reichtum. Und das machte ihn menschlicher, als er sich selbst immer zeigte.

„Fayette?“

Als ich meinen Namen hörte, beendete ich meine Gedanken und wandte mich Rion zu, der sich direkt zu mir herüberbeugte und meine Wange küsste. Dabei legte er einen Arm um meine Schultern und wirkte sehr glücklich in diesem Moment. Und sein warmherziges und freundliches Lächeln, welches man eher selten an ihm sah, ließ mich erröten und mein Herz höher schlagen. Verdammt, bei diesem Anblick konnte man doch einfach nur schwach werden.

„Ich bin wirklich froh, dass du mitkommst. Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich dich fragen sollte. Ich wollte dich nicht direkt überrumpeln.“

Ich konnte mir ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen und küsste ihn. Den Schwindelanfall, verbunden mit der Tatsache, dass mir kurz wieder schwarz vor Augen wurde, steckte ich dabei ganz gut weg. Auch wenn Rion meist immer so wirkte, als hätte er alles unter Kontrolle und als würde ihn nichts erschüttern, manchmal war er auch nur ein Mensch und ziemlich unsicher in manchen Dingen. Ich umarmte ihn und spürte, wie er seine Arme um mich legte.

„Das ist doch Blödsinn“, erklärte ich mit Nachdruck in der Stimme. „Wir haben doch alles geklärt, oder nicht? Natürlich wäre ich mit dir mitgekommen und wenn es dir nichts ausmacht, komme ich sogar öfter mit, wenn es irgendwie möglich ist.“

Und das freute ihn sogar noch mehr. Für uns beide stand fest, dass wir die Zeit in Chicago und in Berlin noch richtig genießen würden. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dies noch der beste Sommer seit langem werden würde. Und auch Rion war derselben Meinung, als er sagte „Noch nie habe ich mich so auf einen Flug gefreut wie jetzt.“

Schließlich aber war es Zeit und wir mussten zum Gate. Wir begegneten dabei noch so einigen Anzugträgern, die ziemlich wichtig aussahen. Einen davon erkannte ich als Besitzer eines großen Elektronikkonzerns wieder, der erst vor kurzem in einem Interview zu sehen gewesen war. Einige der Männer musterten mich von der Seite und schienen sich wohl zu fragen, was ein so durchschnittlich gekleideter und einfach aussehender junger Mann hier verloren hatte. Aber davon ließ ich mich auch nicht irritieren. Wieder kam die blonde Dame von vorhin und begrüßte und höflich. Sie geleitete uns zusammen mit einem Typ, der irgendwie sehr wichtig aussah und wohl zum Flughafenpersonal gehörte, bis zum Gangway. Ich ging die Stufen hoch, hatte vor Aufregung aber irgendwie das Gefühl, als würden meine Knie weich werden. Doch da ergriff Rion meine Hand und hielt sie fest. Und das gab mir wieder genügend Kraft, um weiterzugehen. Ich atmete tief durch und ging weiter die Stufen rauf. Dabei raste mein Herz wie wild vor Aufregung und ich drückte Rions Hand fest. Nun war es endlich soweit. Nun würde für uns die Reise nach Chicago gleich losgehen und damit würden wir gleich unseren ersten gemeinsamen Sommer miteinander verbringen. Allein der Gedanke daran erfüllte mich mit solch starken Glücksgefühlen, dass mir vor Freude fast die Tränen kamen. Und allein an der Art wie Rion meine Hand hielt, spürte ich, dass es ihm nicht anders erging.


Nachwort zu diesem Kapitel:
La Vie de Fayette ist eine komplett eigene Serie mit gänzlich neuen Charakteren. Fayette sollte eigentlich zuerst ein Charakter für Down Hill werden, aber dann habe ich mich doch anders entschieden, weil er einfach nicht ins Konzept passte. Und da ich pri_fairy ja zu ihrem bestandenen Abitur eine Überraschung versprochen habe und sie dann ja auch ein Tag nach der Verkündung ihrer Noten auch noch ihren 18. Geburtstag hat, dachte ich mir: schenk ihr einfach Fayette mit seiner ganz eigenen Geschichte. Und natürlich ist es Boys Love, wie könnte es auch anders sein. xD

Ich muss sagen, ich hatte allein schon den Namen Fayette ausgesucht und direkt schon seinen kompletten Charakter und sein Aussehen bereits gehabt. Noch nie hatte ich so etwas jemals gehabt. Normalerweise fällt mir erst ein Charakter ein und dann ein Name. Aber bei Fayette hatte ich schon alles komplett im Kopf, als ich seinen Namen hatte. Lediglich den Namen hatte ich geändert. Nämlich von Roze zu Brightside. Ich finde der zweite Name passt auch besser zu ihm. Außerdem ist La Vie de Fayette die zweite Fanfiction nach Hidan der Dummschwätzer, die ich aus der Ich-Perspektive schreibe. Ich mag es auch eigentlich nicht, aus dieser Perspektive zu schreiben, da ich zu viel Schiss davor habe, dass es nicht so klappt wie ich will und ich ungewollt eine Mary Sue fabriziere. Deshalb hoffe ich, dass mir das nicht passiert.

Liebes, ich hoffe dir gefällt mein Geschenk! Womöglich kriegst du zu Weihnachten ja noch eine Fortsetzung geschenkt. Allerdings könnte ich mir auch vorstellen, dass es wieder eine neue Fanfiction sein könnte. Ich lass mir da schon noch etwas einfallen.

Und niemals vergessen: I don’t care, I ship it! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich liebe ja Anspielungen auf andere Fanfictions von mir und gebe meinen Charakteren auch gerne mal einen kurzen Auftritt. Und auch hier verbirgt sich einer: Eren Gale Verice. Dieser ist nämlich niemand anderes, als die weibliche Hauptfigur Alice Evergreen aus meiner gleichnamigen Fanfiction, die ich leider nie ganz beenden konnte. Eren Gale Verice ist ein Anagramm und ihr Deckname in der Online-Welt, da sie leidenschaftlich Ego-Shooter spielt, von den Jungs aber nie ernst genommen wird, weil sie ein 15-jähriges Mädchen ist. Also gibt sie sich als Junge aus und spielt ihre Rolle perfekt. Alice ist ein sehr freches Mädchen, ist aber durch eine schwere Stimmbandverletzung stumm und linksseitig blind und taub. Dennoch ist sie nicht auf dem Mund gefallen. Ihr Lieblingsspruch: Rache ist Blutwurst. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie schon in Kapitel 2 kommt auch hier wieder ein kurzer Auftritt anderer Charaktere. Dieses Mal sind es Jesse Wyatt und Charity Witherfield aus meiner Fanfiction „Das triste Leben des Jesse Wyatt“. Allerdings sind die beiden inzwischen kein Paar mehr, sondern verheiratet und in ein anderes Haus gezogen, nachdem das Haus von Charitys Großmutter Grace zu klein für die Familie wurde. Charity hat zwei gesunde Söhne zur Welt gebracht, die ähnliche Fähigkeiten wie sein Vater Jesse besitzen. Ursprünglich sollten ihre Namen Faith und Chance heißen, aber da ich den Namen Faith doch recht häufig verwende, habe ich mich für Fate entschieden, was ja auch ein wenig mit Jesses Fähigkeit zusammenhängt, der das Schicksal anderer Menschen verändern kann. Und aus Chance wurde schließlich Angel (Chance liest sich einfach etwas seltsam, finde ich). Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ach ja… Fayette hat aber auch echt ein Talent dafür, sich das Leben selbst schwer und kompliziert zu machen. Aber da ist er ja zum Glück nicht der Einzige, der solche Probleme hat.

Nach Jesses und Alices Auftritt habe ich zum allerersten Mal Mallory Whitmore einen Gastauftritt gegeben. Grund dafür ist, weil sie ja eigentlich nicht aus Annatown stammt, aber ich hab einfach mal improvisiert. Mallory entstammt der düstersten Fanfiction, die ich je in meinem Leben geschrieben habe. Es hat mich wirklich unglaublich viel Kraft gekostet, die Fanfiction „Mallory“ zu schreiben und danach wollte ich auch nie wieder eine solche Fanfiction schreiben. Wenn ich könnte, würde ich Mallory raten, bloß nicht nach Dark Creek zu fahren. Das wird ihr wirklich viel Unheil und Kummer ersparen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich weiß echt nicht, was ich mir nur dabei gedacht habe, diese Fanfiction fast auf das Doppelte zu verlängern. Wenn ich ehrlich war, hatte ich erst mal 10 Kapitel geplant, doch irgendwie wurde es immer länger und länger und damit wurde auch der Zeitdruck immens. Denn die „Deadline“ war der 03.06. und ich hab so ungefähr am 11.05. mit dem Schreiben angefangen. Und da jedes Kapitel 6 bis 7 Seiten hat, habe ich manchmal stundenlang am Schreibtisch gesessen und kam mir nicht selten wie ein chinesischer Arbeiter am Fließband vor. Aber am Ende war ich doch froh, es endlich geschafft zu haben und pri_fairy dieses Geschenk machen zu können. Das war mir den Aufwand wirklich wert. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Von:  myu_the-vampire
2017-11-06T23:34:39+00:00 07.11.2017 00:34
Sooooo süß 😍 mehr fällt mir dazu nicht ein 😍
Von:  Shion_Mitoshi
2016-05-22T23:33:12+00:00 23.05.2016 01:33
Eine wundervolle und atemberaubende geschichte*.*
So viele emotionen die sich in deiner Geschichte abspielen ist einfach unbeschreibar klasse*.*
Du hast die Geschichte wirklich super super gut geschrieben und auch perfekt formuliert😍
Einfach genial*.*
Ich liebe ab jetzt diese geschichte*.*
Ich finde einfach keine passenden Wörter die noch mit dir mithalte könnten*.*"
Dafür......
Eine frage bleibt.... wird diese ff weiter fortgesetzt von dir oder war sie jetzt, wo sie jetzt ist, am ende angelangt
Mach weiter so^^

Liebe grüße,

Shion_Mitoshi❤
Von: abgemeldet
2015-10-06T00:39:37+00:00 06.10.2015 02:39
tja was soll man groß sagen, einfach klasse wie immer mach weiter so =)
Von:  Sayuri_Hatake
2015-09-18T12:44:29+00:00 18.09.2015 14:44
So, dann ist es wohl an der Zeit ein kleines dankeschön da zu lassen. Ich habe mir jetzt deine gesamte Geschichte durch gelesen und finde sie wirklich sehr gut. Wie ich schon einmal sagte: ich mag deinen Schreibstil und die Art und Weiße wie du deine Charaktere darstellst und passend in Szene setzt. Ein großes Kompliment an dich und mach weiter so.
Lg Sayu
Von:  mor
2015-09-16T19:33:53+00:00 16.09.2015 21:33
Eine schöne Story ^^ es hat Spaß gemacht Sie zu Lesen ^^
Von:  Flecki_Miau
2015-09-05T12:43:20+00:00 05.09.2015 14:43
😍 ich finde dein schreibstyl wirklich klasse! Die Wendung im Buch gefällt mir besonders ^^ es ist wirklich klasse. Ich bin sehr froh, dass es ein gutes Ende ga! Bitte mach weiter so :**
Von:  Momo26
2015-06-09T17:37:35+00:00 09.06.2015 19:37
Deine ff ist echt Klasse ^^
Wirklich echt super!

Ist nur schade das du so wenige Kommis hast.
Hoffe ja das du genug favo's hast xD

Und einer Fortsetzung wäre ich auch nicht abgeneigt ;D
Lg Momo
Von:  Momo26
2015-06-08T20:42:04+00:00 08.06.2015 22:42
Hach... Echt toll *~*
Antwort von:  Sky-
08.06.2015 22:46
Oh ja und jetzt geht es zur Sache *grins*
Von:  Momo26
2015-06-08T20:10:40+00:00 08.06.2015 22:10
Oh mein Gott *~*
Er ist sooo toll ^^

Von:  Momo26
2015-06-08T17:21:09+00:00 08.06.2015 19:21
Das war ein richtig schönes Kapitel. Ich hätte Rion sofort geheiratet ^^
Antwort von:  Sky-
08.06.2015 19:45
Ich glaub, da bist du nicht die einzige, die ihn am liebsten sofort heiraten würde ;-)


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