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Down Hill 2: Efrafa

von

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Unruhige Nacht

Nach einem langen und sehr tiefen Schlaf wachte Mello auf und fragte sich, wie spät es wohl gerade war. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihm, dass es halb vier Uhr morgens war. Irgendwie kam ihm das gar nicht so vor, aber hier in diesem Gefängnis, wo es weder Tag noch Nacht gab, verlor man wahrscheinlich irgendwann das Zeitgefühl. Es war dunkel hier drin und er hörte Echo leise schnarchen. Vielleicht sollte er auch noch ein wenig schlafen. Vielleicht wäre das ja die vernünftigste Idee gewesen, denn Schlaf war ohnehin das beste Mittel gegen Fieber. Doch irgendwie fand er keine Ruhe. Sein Hals fühlte sich sehr trocken an und außerdem knurrte sein Magen. Oh Mann… kaum, dass er in Sicherheit war, schien sein Leben offenbar nur noch aus Essen, Trinken und Schlafen zu bestehen. Mit etwas Mühe schaffte er es, aus dem Bett zu steigen und auf eigenen Beinen zu stehen. Neben seinem Bett standen Schuhe, die allerdings nicht seine waren. Und auf der Kommode lagen zwei schwarze zusammengefaltete Shirts, zwei Hosen und Unterwäsche. Offenbar hatte Rhyme sie vorbeigebracht, während er geschlafen hatte. Da Mello aber sowieso schon kaum Energie hatte und froh war, wenn er alleine laufen konnte, beschloss er, einfach im Pyjama zu bleiben. Er ging ja eh wieder ins Bett zurück, da lohnte es sich sowieso nicht, sich umzuziehen. Langsam wagte er die ersten Schritte, musste sich aber an der Wand abstützen, da seine Beine wie aus Gummi waren und kaum Kraft hatten, um sein Gewicht zu halten. Ihm wurde kurzzeitig schwarz vor Augen und er merkte so langsam, dass sein Kreislauf echt im Keller war. Er wankte durch den Raum und erreichte eine Tür. Als er sie öffnete, erreichte er einen langen Gang, der zu mehreren Stahltüren führte. Offenbar war er wieder in einem Zellentrakt, nur war dieser bei weitem besser in Schuss als der Westblock in Ebene 0. Stellte sich jetzt nur die Frage, wohin er gehen sollte. Denn er hatte echt keine Ahnung, wo er jetzt genau war und wo er was fand. Er trat langsam auf den Gang und spürte den kalten Boden unter seinen nackten Füßen. Es war still hier, sehr still. Ob hier alle etwa schliefen? Offenbar hatten sie ihren eigenen Tagesrhythmus entwickelt und es gab hier an diesem Ort ohne Tageslicht dennoch so etwas wie Tag und Nacht. In dem Fall konnte er wohl nicht damit rechnen, dass er hier jemanden finden würde. Und hoffentlich verlief er sich nicht, denn irgendwie sah jede Tür gleich aus. Der Gang wurde nur sehr schwach beleuchtet, sodass man sich ungefähr orientieren konnte. Aber sonderlich viel half ihm das auch nicht wirklich weiter. Mello wollte gerade weitergehen, da hörte er das Geräusch schwerer Stiefel und ehe er sich versah, kam ein Schatten um die Ecke und zuerst wusste er nicht, ob er vielleicht abhauen sollte. Doch da war es auch schon zu spät und er sah eine Frau um die Ecke kommen. Sie trug eine Militärsjacke, ein weißes Shirt und khakifarbene Hosen. Sie hätte vielleicht wie eine typische Soldatin ausgesehen, hätte sie nicht diese Rastalocken gehabt, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. An ihrem linken Auge hatte sie ein schwarzes Tribal Tattoo und auf ihrem Gesicht zeichneten sich harte Züge ab und man sah ihr an, dass sie keinen Spaß verstand. Vom Alter her schätzte Mello sie um einiges älter als er selbst. Vermutlich um die 40 Jahre, vielleicht auch etwas älter. Sie trug ein Maschinengewehr bei sich und kaum, dass sie ihn sah, richtete sie den Lauf auf ihn. „Was hast du hier zu suchen?“ fragte sie in einem strengen Kasernenton. Sofort hob Mello die Hände, um zu signalisieren, dass er unbewaffnet war. „Ich wollte nicht umherschleichen, ich…“ „Wer bist du? Ich hab dich hier noch nie vorher gesehen.“

„Ich bin neu hier. Mein Name ist Mello und ich…“

„Schon gut Christine, er gehört jetzt zu uns.“ Eine weitere Frau kam hinzu, die aber etwas jünger war als diese Christine. Sie hatte ordentlich frisiertes blondes Haar und trug einen Arztkittel, außerdem war sie Brillenträgerin. Sie wirkte etwas jünger und lebhafter und hatte ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. „Er ist…“ Es mochte an den High Heels liegen, die diese Frau trug, als sie plötzlich falsch auftrat und der Länge nach vornüber zu Boden fiel. Mello sah sie etwas ungläubig an und fragte sich, was das wohl für eine war. Christine half der Frau hoch, die sich den Staub von der Kleidung klopfte und jammerte „Ach Mann… ich hab doch tausend Mal gesagt, sie sollten doch öfter mal den Boden wischen. Das ist so ekelhaft. Es ist so… so schmutzig hier.“ Schließlich, nachdem sie ihre Brille wieder aufgesetzt hatte, räusperte sie sich und reichte Mello zur Begrüßung ihre Hand, an der sie einen weißen Latexhandschuh trug. „Hallo Mello, ich bin Birdie, die medizinische Assistentin von Dr. Helmstedter und für die Betreuung der Patienten zuständig. Christine hier ist die rechte Hand unseres Shutcalls und gleichzeitig auch der Shutcall der Festung Helena. Sie hat hier heute die Nachtwache inne. Aber sag mal, was schleichst du hier durch die Gegend? Du solltest auf der Quarantänestation bleiben, bis du wieder gesund bist. Ansonsten steckst du hier noch alle anderen an und wie haben hier mehr Kranke, als wir uns in unserer Situation erlauben können!“

„Ich hatte Durst und keinen Plan, wo ich hin sollte.“

„Ach so. Na da kann ich dir auch gerne helfen. Aber erst mal solltest du zurück auf die Station, ich komm gleich vorbei und dann können wir einander besser kennen lernen.“ Damit begleitete Birdie ihn zurück und er blieb noch an der Zimmertür stehen, als er hörte, wie die Ärztin erneut stürzte und der Länge nach hinfiel. So langsam verstand er, wieso sie „Birdie“ genannt wurde. Irgendwie schien die Frau eine Vollmeise zu haben. Ihm entging nicht, dass Christine ihn misstrauisch anfunkelte und wartete, bis er wieder im Quarantänezimmer war. Ihr Auftreten sprach eindeutig dafür, dass sie Soldatin war. Mit Sicherheit war sie eine ziemlich gefährliche Frau, mit der man sich besser nicht anlegen sollte. Nein, sie wusste sich sehr gut zu verteidigen. Insbesondere gegen Männer. Mello legte sich wieder ins Bett und kurz darauf kam Birdie herein. Kaum, dass sie an Echos Bett vorbei kam, geriet sie wieder ins Stolpern, konnte sich aber noch im allerletzten Moment fangen und stellte schließlich eine Trinkflasche auf dem Tisch ab und dazu noch einen Teller mit einem dick belegten Brötchen. Dankbar dafür nahm Mello beides an, denn er kam sich vor, als würde seine letzte Mahlzeit Tage zurückliegen. „Wie geht es dir sonst? Hast du irgendwelche Schmerzen oder Beschwerden?“

„Mein Kreislauf ist echt im Arsch, aber… komischerweise sind die Schmerzen fast weg.“

„Ich hab dir ein Schmerzmittel gegeben, als du geschlafen hast. Du darfst Christine diese ruppige Behandlung nicht ganz so übel nehmen. Sie ist wirklich eine wunderbare Person, sie hatte wahrscheinlich nur einen schlechten Tag.“ Aha… und an den guten Tagen hält sie mir wohl ein Messer an die Kehle, dachte sich der 24-jährige und nahm einen Schluck Wasser. Es schmeckte deutlich nach Leitungswasser, aber das war wohl ein Zustand, an den er sich wohl gewöhnen musste. „Eines musst du mir mal erklären“, sagte Birdie, während sie sie nun damit begann, mit einem kleinen Handstaubsauger die Krümel wegzusaugen. Und sie machte auch keine Anstalten, damit aufzuhören. Ganz offensichtlich hatte sie einen Sauberkeitstick. „Wie hast du es denn aus dem Hell’s Gate rausgeschafft?“

„Du weißt davon?“

„Ganz Efrafa spricht über kaum etwas anderes. Vor allem, weil es noch nie jemandem gelungen ist. Also erzähl schon: wie ist dir das bis dahin Unmögliche gelungen und das dann auch noch in diesem Zustand?“ Mello dachte wieder zurück an diese schrecklichen Horrormomente im Hell’s Gate. Das Surren der Fliegen und der infernalische Verwesungsgestank. Die Berge von verrotteten Leichen und die Hilfeschreie der Sterbenden. Allein der Gedanke daran war beängstigend und trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er erinnerte sich, wie er verzweifelt versucht hatte, den Luftschacht zu finden und wie er dann vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Wie dieses Wesen mit der Kapuze ihn gefunden und ihn bei seinem richtigen Namen genannt hatte. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr so wirklich. Da war jemand bei mir gewesen und hat mich getragen. Ich glaube… es war Matt.“ „Matt?“ fragte Birdie, doch es hörte sich nicht danach an, als wolle sie fragen, wer denn bitteschön dieser Matt war. Nein, sie schien ganz genau zu wissen, von wem die Rede war, nur schien sie es nicht wirklich glauben zu können. „Also ich weiß nicht… Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass er je gesagt hätte, dass er irgendwo hingehen würde. Und dann hätte er dich doch persönlich hergebracht.“

„Du kennst Matt?“ rief Mello und wurde dabei versehentlich so laut, dass Echo durch den Lärm wach wurde. Dieser gähnte leise und setzte sich auf. „Was ist los? Was schreit ihr so herum?“ Doch Mello hatte für ihn jetzt keinen Kopf, sondern ihn interessierte nur eines. Nämlich die Frage, was Birdie mit Matt zu schaffen hatte. „Ist er hier?“ „Äh ja… er ist…“ „Ich muss zu ihm und zwar sofort.“ Mello wollte wieder aufstehen, doch Birdie ließ das nicht zu und drückte ihn aufs Bett zurück. Hätte der 24-jährige kein hohes Fieber gehabt, dann hätte er sich locker zur Wehr setzen können. „Nichts da“, erklärte die Ärztin entschieden. „Du bleibst hier in Quarantäne, bis du wieder gesund bist und keine Ansteckungsgefahr mehr besteht. Wir können nicht riskieren, dass mehr Leute als nötig krank werden.“

„Ja aber…“

„Kein Aber. Matt läuft dir schon nicht davon und wenn du erst mal wieder gesund bist, hast du alle Zeit der Welt, um mit ihm zu reden. Tut mir leid, aber als Ärztin kann ich es nicht verantworten.“

„Geht es ihm wenigstens gut?“

„Es geht ihm bestens. Viel eher solltest du dir Sorgen darum machen, was mit dir ist. Immerhin liegst du hier nach einer Operation und mit hohem Fieber. Du kannst froh sein, dass du noch lebst. Wenn ich dir also einen guten Rat geben darf: leg dich hin, schlaf viel und erhol dich. Je schneller du gesund wirst, desto schneller siehst du deinen Freund wieder. Aber eines würde ich dann noch gerne wissen: was genau hast du mit Kaonashi zu tun?“

„Wieso fragst du? Was weißt du über ihn?“ wollte Mello wissen, denn nachdem er von Rhyme bereits erfahren hatte, dass dieser maskierte Kerl doch tatsächlich ein Shutcall sein sollte, machte dieser ihn sowieso schon neugierig. Birdie nahm ihre Brille ab und begann die Gläser zu putzen. Echo, hatte sich wieder hingelegt und war wohl wieder eingeschlafen. „Kaonashi ist vor knapp drei Jahren nach Down Hill gekommen. Er hat schon damals eine Maske getragen und keiner hat je sein Gesicht gesehen. Kaum, dass er hier war, tötete er die Shutcalls, die die Gebiete innerhalb von Core City kontrolliert hatten und übernahm damit die gesamte Ebene. Obwohl er immer alleine kämpft, hat er problemlos Rikers Bande ausgelöscht und er lässt auch kaum eine Gelegenheit aus, um uns zusätzlich Ärger zu machen. Er und unser Shutcall stehen auf Kriegsfuß und er hat auch schon zwei Mordanschläge verübt, die wir aber glücklicherweise vereiteln konnten. Deswegen wundert es mich, warum er dich zu uns bringt. Einige vermuten, du könntest ein Spion sein, den er geschickt hat.“ Irgendwie fiel es Mello schwer zu glauben, dass Kaonashi wirklich so war. Zugegeben, der Kerl war ihm zwar nicht ganz geheuer, weil er ihn nicht hundertprozentig einzuschätzen wusste, aber er hätte nicht gedacht, dass er dermaßen brutal und grausam war. „Ich weiß auch nicht, wer er ist“, gab er schließlich zu. „Als ich aufgewacht bin, war er ebenfalls da gewesen. Zusammen mit einem Kerl, der sich Horace Horrible nannte. Er hat mir alles erklärt und als ich im Westblock war, hat er mir geraten, hierher zu kommen und er hat mir geholfen, aus der Zelle zu entkommen. Mehr war da nicht und ich würde ja selber gerne wissen, warum er mir geholfen hat.“ Birdie nickte nur, wirkte aber nicht ganz überzeugt von Mellos Geschichte. Natürlich konnte er gut verstehen, warum sie ihm kaum glaubte. Was hatte ein so gefährlicher Shutcall denn davon, einem Rookie zu helfen, den er nicht mal kannte? Natürlich war das mehr als fragwürdig und er wäre genauso misstrauisch an ihrer Stelle. Schließlich aber brach Birdie ihr Schweigen und meinte „Nun, jedenfalls scheinst du bei Kaonashi offenbar eine weichherzige Seite offenbart zu haben. Wer weiß… vielleicht mag er dich ja und hat eine kleine Schwäche für dich. Und nun spielt er die Rolle des geheimnisvollen und dennoch aufopferungsvollen Beschützers. Ich hab ja schon immer gewusst, dass er kein schlechter Mensch ist.“ Und das sagte sie mit einem so unschuldigen und naiven Lächeln, dass er sich so langsam fragte, ob Birdie nicht wirklich eine Vollmeise hatte. „Aber sag mal: weshalb haben sie dich eigentlich hergebracht?“

„Höchstwahrscheinlich, weil mein richtiger Name nicht bekannt ist.“

„Ach so, dann bist du also ein Ghost. Nun, die meisten Rookies, die hier reinkommen, sind entweder Reds oder Ghosts.“

„Und du?“

„Ich bin ebenfalls ein Ghost. Vor meiner Einlieferung vor acht Jahren habe ich als Ärztin in einem Krankenhaus in Tokyo gearbeitet, weil ich in den USA keine Anstellung gefunden habe. Na jedenfalls habe ich dann die Bitte von einer Widerstandsgruppe erhalten, sie zu unterstützen und das habe ich dann auch getan. Immerhin hatten sie keine Papiere mehr und konnten nicht ins Krankenhaus. Aber dann hat uns die KEE gefunden und ich bin hier gelandet. Inzwischen habe ich aber den Status als Medic.“

„Medic?“

„Ja genau. So werden die Leute in Down Hill genannt, die eine medizinische Ausbildung haben. Wie zum Beispiel Ärzte, Chirurgen und Krankenpfleger… Wenn sie sich dafür entscheiden, als solche hier zu arbeiten, genießen sie eine Art Sonderstellung. Das heißt, sie haben keine Gefahr durch die Gewalt anderer zu befürchten. Denn da seit 15 Jahren kein Personal mehr von der Oberfläche runter nach Down Hill kommt, gibt es also auch keine Ärzte. Und da es hier oft zu Übergriffen und Bandenkriegen kommt, werden Medics immer gebraucht. Und damit man sie erkennt, tragen sie alle eine Arztuniform.“

„Wie es aussieht, ist das hier eine Art Miniaturstaat innerhalb eines Gefängnisses“, stellte Mello fest, als er sich das alles durch den Kopf gehen ließ. „Und wieso hast du die Widerstandskämpfer unterstützt, wenn du doch wusstest, wie gefährlich das ist?“ Birdie zuckte naiv lächelnd mit den Schultern und erklärte „Ich wollte das Richtige tun. Nicht mehr und nicht weniger. So, aber jetzt leg dich lieber noch etwas hin und versuch etwas zu schlafen. Schlaf ist sowieso das beste Heilmittel gegen Krankheit.“ Und nachdem Birdie nach einer kurzen Kontrolle die letzten Krümel entfernt hatte, verabschiedete sie sich und ging. Mello nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche und legte sich dann auch wieder hin. Aber einschlafen konnte er irgendwie nicht. Denn nun, da er wieder ein klein wenig bei Kräften war, kamen auch die Bilder zurück. Die Erinnerungen und die Angst, die er im Westblock durchlebt hatte, war wieder sehr präsent in seinem Bewusstsein. Und immer wieder hatte er das schrecklich entstellte Gesicht seines Vergewaltigers vor Augen, wie er ihm ins Gesicht lachte und mit dieser rauen und unmenschlichen Stimme „kleines Schweinchen“ flüsterte. Auch wenn er jetzt endlich in Sicherheit war und ihm so etwas Schreckliches hoffentlich nicht noch mal passieren musste, würde es dennoch eine Weile dauern, bis er dieses Trauma wirklich verarbeitet hatte. Und insgeheim wünschte er sich, dass Birdie oder Rhyme da wären und er sich mit ihrer Hilfe von diesen Horrorerinnerungen ablenken konnte. Einfach nur um nicht mehr daran denken zu müssen, was ihm widerfahren war.
 

Rhyme hatte sich unbemerkt aus Efrafa davongeschlichen, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte. Umso besser. Es hätte nur für Komplikationen gesorgt und schlimmstenfalls hätte es noch fatale Konsequenzen für die anderen gehabt. Eigentlich wollte er sich so schnell nicht wieder mit ihm treffen, aber nach der „Sitzung“ beim Doktor brauchte er jetzt unbedingt jemanden, mit dem er offen reden konnte. Es war finster, da nachts von 23 bis 5 Uhr die Lichter automatisch gedimmt wurden, damit sich die Generatoren nicht überlasteten und man auf die Weise eine Art Tag-Nacht-Rhythmus beibehalten konnte. Natürlich gab es dennoch genügend Leute, die wach blieben und diese Dunkelheit auch für Angriffe nutzten, aber auch für die Fälle hatte sich Efrafa bestens vorbereitet und Nachtwachen eingeteilt. Und darin lag die Schwierigkeit: unbemerkt vorbeizuschleichen, ohne Verdacht zu schöpfen. Zum Glück war es ihm gelungen, an Christine vorbeizukommen, ohne dass sie ihn bemerkte. Danach war er einfach in den Lüftungsschacht geklettert und war dann an dem Seil nach unten geklettert. Normalerweise würde er ja Fiver fragen, aber inzwischen kannte er den Weg in und auswendig und den Jungen um die Zeit wach zu machen wäre auch nicht sehr nett gewesen. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht und kroch aus dem Schacht heraus. Er war in einer Art kleinen Wohnung, in der es ein großes Bett, einen Tisch, einen Gaskocher, einen kleinen Kleiderschrank und sogar einen Fernseher mit DVD-Player gab. Dort lief gerade Bambi und auf dem Bett saß Clockwise, ungeduldig und mit deutlicher Unruhe und Rastlosigkeit in seinen Augen. Für gewöhnlich war er ja ein wahrer Sonnenschein, aber heute war ihm seine Sorge deutlich anzusehen. Als er sah, wer durch den Luftschacht in sein Zimmer gekommen war, sprang er auf und eilte zu seinem Besucher hin. „Rhyme“, rief er und umarmte ihn. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich hatte irgendwie so ein ganz merkwürdiges Gefühl gehabt, dass du vielleicht nicht kommen würdestm weil dir irgendetwas zugestoßen ist.“ „Es geht mir gut“, versicherte Rhyme ihm, auch wenn das nicht gerade die ehrlichste Antwort war. Es war ihm schon mal deutlich besser gegangen und schuld daran war nur der Doktor. Clockwise musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen und sofort erwiderte Rhyme den Kuss. Auch wenn sie sich zuletzt vor einer Woche gesehen hatten, fühlte es sich für sie beide wie eine Ewigkeit an. Wie gerne hätten sie sich doch jeden Tag gesehen. Am liebsten hätten sie jede einzelne Sekunde miteinander verbracht, aber es sollte nicht so sein. Denn es gab Dinge, die bedeutend wichtiger waren und für die sie ihre Beziehung zueinander nun mal zurückstellen mussten. „Wie geht es dir denn?“ fragte Rhyme schließlich und Clockwise schaltete nun den Fernseher aus. „Ach wie soll es mir schon gehen?“ entgegnete der 25-jährige Schauspieler und seufzte. „Es gibt immer viel zu tun. Wenn ich nicht mit Horace für die Theatervorstellungen probe, darf ich Kaonashi seine Präparate hinterherschmeißen, weil der Sturkopf es nie lernt, dass er auch diese nehmen muss und dass es nicht reicht, bloß viel Milch zu trinken und gesund zu essen. Zwischendurch hatten er und Horace sich mal wieder ein wenig gezankt und momentan ist wieder etwas Ruhe eingekehrt. Aber sag mal, was macht denn eigentlich der Rookie, den ihr bei euch auf der Krankenstation habt?“

„Er ist inzwischen wieder wach, ist aber gesundheitlich stark angeschlagen und er wird deshalb noch eine Weile brauchen, bis er wieder genesen ist. Wieso seid ihr denn eigentlich so interessiert an diesem Mello?“ Doch auch Clockwise wusste da keine genaue Antwort und zuckte unsicher mit den Schultern. „Also was das betrifft, hat Kaonashi nichts Direktes gesagt. Ich weiß nur, dass Mello ein alter Freund von diesem Matt ist und aus dem Waisenhaus stammt, von welchem Nine uns erzählt hat. Ich hab auch keine Ahnung, was an ihm so ungewöhnlich ist. Das einzig Merkwürdige war, dass er ins Hell’s Gate hinabgestürzt ist und von Umbra gerettet wurde.“

„Umbra?“ fragte Rhyme ungläubig und schüttelte den Kopf. „Was hat er mit Umbra zu schaffen?“

„Keine Ahnung. Aber Kaonashi und Horace vermuten, dass zwischen Mello und Umbra eine Verbindung existieren muss. Oder aber Mello hat irgendetwas an sich, das Umbra anlockt.“

„Und was plant Kaonashi jetzt?“

„Er will Mello noch mal aufsuchen, wenn die Luft rein ist. Ich denke mal, er will ihn benutzen, um vielleicht so an Informationen über Umbra zu kommen und herauszufinden, was Hi… äh… Doktor Helmstedter plant. Vielleicht schafft er es ja, ihn als Verbündeten für unseren Plan zu gewinnen. Dann hätten wir zumindest mehr Chancen. Und hast du schon etwas in Erfahrung bringen können?“ Doch was das betraf, musste Rhyme ihn enttäuschen. „Leider nein. Helmstedter denkt nach wie vor, dass Kao damals gestorben ist und da Horace sich gut getarnt hat, scheint er wohl noch keinen Verdacht zu schöpfen. Lediglich über mich weiß er ja Bescheid… und nutzt das natürlich auch aus.“ Hierauf ergriff Clockwise seine Hand und hielt sie fest. Sie fühlte sich so warm an, obwohl sie eigentlich kalt sein sollte. Genauso wie das Innere von Rhymes Körper. Dann schließlich lehnte sich der Schauspieler an ihn und ergriff seinen Arm. „Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er dir etwas antut. Vielleicht wäre es besser, wenn du den Untergrund verlässt und dich uns anschließt. Bei uns bist du sicher und wir halten zusammen so wie damals.“

„Das kann ich nicht“, seufzte Rhyme. „Wenn ich es tue, dann wird Helmstedter den anderen etwas antun und das kann ich nicht zulassen. Allein der Gedanke, dass er Echo für seine Experimente benutzt, ist schrecklich und auch wenn der Untergrund sich mit Helmstedter verbündet hat, sie sind gute Menschen und sie sind meine Freunde.“

„Dann versprich mir wenigstens, dass du uns sofort holen kommst, wenn du in Schwierigkeiten stecken solltest. Du weißt, ich liebe dich und ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren. Vorher würde ich Helmstedter eigenhändig töten.“

„Das weiß ich, aber ich will nicht, dass noch einer meiner Freunde zum Mörder wird.“ Hieraufhin nahm Rhyme Clockwise in den Arm und hielt ihn fest. Dieser erwiderte diese innige Geste und wünschte, sie könnten sich für immer so nah sein. „Es tut mir leid“, sagte der Schauspieler nach einer Weile, als er in Rhymes magentafarbene Augen sah. „Das alles wäre nicht passiert, wenn ich damals den Mut besessen hätte, ihn zu töten. Dann wären wir jetzt alle nicht hier und du und Kao hättet nicht so leiden müssen.“ Doch Rhyme lächelte nur und streichelte sanft den Kopf seines Freundes. „Du kannst nichts dafür“, erklärte er. „Wir waren Kinder gewesen und hatten eh keine Perspektiven. Keiner hat dir je Vorwürfe gemacht. Weder ich, noch Kaonashi oder Horace. Die Vergangenheit ist nicht zu ändern. Alles, was wir tun können ist, die Zukunft zu ändern. Und deshalb muss jeder von uns Opfer bringen, damit wir diesen Alptraum beenden können. Eines verspreche ich dir: wenn wir es geschafft haben und Helmstedter tot ist, dann wird es zwischen uns beiden keine Abschiedsküsse mehr geben. Ganz egal ob wir hier rauskommen oder nicht. Und wer weiß… vielleicht hat Kaonashi ja noch einen Plan. Wenn er schon ein Auge auf Mello geworfen hat und dieser sogar schon von Umbra gerettet wurde, dann kann es doch nur eine Frage der Zeit sein, bis wir die letzten Rätsel gelöst haben und endlich wissen, was wirklich in Down Hill vor sich geht. Doch jetzt will ich erst mal nicht mehr daran denken. Wenn ich schon gleich wieder zurückgehen muss, dann will ich wenigstens die kurze Zeit mit dir genießen und nicht über andere sprechen.“ Damit drückte Rhyme Clockwise aufs Bett und küsste ihn erneut. Dieses Mal länger und viel leidenschaftlicher. Dieser Kuss wurde sofort erwidert und Clockwise schlang seine Arme um ihn. „Du hast Recht“, sagte er schließlich und hatte sein Lächeln wiedergefunden. „Und nachdem ich schon mit anhören musste, wie Horace und Kao ihren Spaß haben, ist eine kleine Entschädigung deinerseits mehr als angebracht. Also halte dich bloß nicht zurück, klar? Wenn die mich schon mit ihrem Gestöhne die ganze Zeit wach halten müssen, dann können wir sie doch jetzt genauso gut mit unserem Gestöhne aus dem Bett schmeißen. Nur so als kleine Rache, was meinst du?“ Bei dem Gedanken musste Rhyme lachen. „Manchmal bist du wirklich durchtrieben, mein Lieber.“

„Ach komm, das liebst du doch an mir.“ Und damit zog Clockwise seinen grünen Kapuzenpullover aus. „Genauso sehr wie ich dich liebe. Auch mit diesem Körper.“



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