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Dunkler als schwarz

Shinichi x Ran
von

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Kapitel 55: Reichenbachfall

Kapitel 55: Reichenbachfall
 

Die Druckwelle schleuderte ihn gegen die Scheibe, ließ die mit medizinischem Gerät vollgestellten Regale umstürzen – mit einer solchen Wucht, dass das Glas brach, sich in einem Scherbenregen über ihn ergoss. Sein Schrei ging im Prasseln und Krachen der brennend herabstürzenden Decke unter, ein Schauer aus glimmenden Flocken, herausgerissen aus der Deckenisolierung, schneite fast malerisch herab; nun war alles still.

Vielleicht war er aber auch einfach nur taub, weil die Explosion ihm das Trommelfell zerrissen haben könnte; schließlich hatte er sich die Ohren nicht zugehalten. Dann hörte er es - pfeifend, durchdringend, bis ins Mark dringend, kitzelnd – und mit einem Schlag kehrten die Geräusche zurück.

Shinichi spürte die Hitze des Feuers, das schmatzend und prasselnd alles verzehrte, das als Fressen taugte, nur am Rande – er ließ alles über sich ergehen wie eine Marionette, immer noch völlig gefangen in seinem Fiebertraum.
 

Es war eine Frage der Zeit, bis es auch ihn gefunden haben würde.
 

Er hustete, schmeckte Rauch – als er schluckte, meinte er tausend kleine Stecknadeln verschluckt zu haben, als es seinen Hals hinab bis in seine Lunge zu pieken und stechen begann. Schmerz vertrieb jeden Gedanken von Leben und Tod aus seinem Kopf; Schmerz, dessen Quelle er nicht lokalisieren konnte, weil er sich in seinem Körper ausbreitete wie ein Lauffeuer.

Hektisch wandte er sich um, verstärkte damit das dumpfe Pochen, das seinen Schädel schier zum Platzen zu bringen schien – es war ihm egal. Er konnte Ran nicht mehr sehen, die Flammen und der Rauch versperrten ihm die Sicht. Shinichi schluckte trocken; er konnte kaum Arme und Beine bewegen, und irgendetwas sagte ihm auch, dass es keine gute Idee war, weiter ins Feuer zu gehen – aber dort war Ran.
 

>Sie ist nicht hier, Schlaumeier. Du hast sie weggeschickt, und sie ist gegangen. Werd‘ wach, werd‘ endlich wach! Du musst hier weg, sonst…<
 

Er hustete, als immer mehr Rauchpartikel in seine Nase, seine Lunge drangen, sich kratzend darin fortbewegten und sich zu kleinen Klümpchen zusammenrotteten. Seine Sicht verschwamm, als er angestrengt blinzelte, weil der Rauch auch in seine Augen biss, fühlte, wie sein Denken träge wurde – wenn man überhaupt noch von denken reden konnte, was sein weichgekochtes Hirn da tat - bis endlich wohlig samtene Schwärze ihn umarmte, ihm jeden Gedanken über Traum und Realität, Sein und Nichtsein raubte, seine Schmerzen vertrieb.
 

„Ran, wo bist du? Ran? RAN!“
 

>Nein! Wach auf, verdammt!<
 

Und er wachte tatsächlich wieder auf, zumindest soweit es ihm sein Drogenrausch erlaubte. Einigermaßen desorientiert blickte er um sich, stellte fest, dass er immer noch in der Autopsie war, auch wenn die als solche kaum wiederzuerkennen war. Er hustete, um das Kratzen in seinem Hals loszuwerden, schmeckte Qualm auf seiner Zunge. Die Bombe hatte Teile der Decke einstürzen lassen, die Glastür nach draußen war zerstört, wo die Regale sie getroffen hatten. Feuer züngelte von den Aktenordnern, Kartons und Schachteln, leckte an seinem Bein, das er schnell wegzog. Dann zog er unter Aufbietung seines ganzen Willens sich selbst darunter hervor. Es klemmte ihn zwar kaum ein, dennoch brauchte er seine ganze Kraft und Konzentration dafür, sich hochzuziehen und verteufelte dabei den körperlichen Verfall, der fast im Zeitraffer voranzuschreiten schien.
 

Ja, es stimmt schon. Hände weg von Drogen, Kids.
 

Er brüllte auf vor Schmerz, als er in eine Glasscherbe griff, seine Hand zu bluten begann – aber dann war er frei. Wankend stand er auf, griff sich an die Brust, spürte wie sein Herz schlug, so ungeheuer schnell, wie ein kleiner Vogel, der aus seinem zu engen Käfig ausbrechen wollte.
 

Das hältst du nicht mehr lange durch, Kudô.
 

Dann sah er sich um, schaute, wo sein Widersacher abgeblieben war – und erkannte ein paar Meter weiter an der gegenüberliegenden Wand in dem Suchbild, das all das Gerümpel abgab, eine Hand. Er merkte, wie sich seine Nackenhärchen sträubten, wankte dennoch hinüber, taumelte und fing sich an einem Tisch ab, griff nach Blacks Hand, versuchte, den Puls zu fühlen. Chemikaliendämpfe schwängerten die Luft, ließen Punkte vor seinen Augen tanzen – durch die ungeheure Hitze und die Explosion waren die gläsernen Behälter wie Seifenblasen geplatzt, Scheiben gesprungen, Fliesen zerborsten.
 

Dann spürte er ihn.

Den Schlag seines Herzens.
 

In seinem Kopf schwirrte es. Sollte er versuchen, sich zu retten? Ein Blick auf die Glastür hatte gezeigt, dass auch sie in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ran kam ihm vielleicht sogar entgegen, sobald ihnen oben klar geworden war, dass die Luft rein war.

So sie es bis nach oben geschafft hatten.
 

Quatsch, Kudô. Natürlich sind sie in Sicherheit. Wenn du das nicht glaubst, kannst du dich gleich in eine Ecke legen und auf den Tod warten. Dass er kommt, weißt du.
 

Der Weg war also frei, nur über die Trümmer im Gang müsste er klettern.
 

Sollte er ihn mitnehmen?

Oder hierlassen, ihn seinem Schicksal übergeben, und damit seinem sicheren Tod?
 

Er fuhr sich durch die Haare.

Dann bückte er sich, griff die Kante des Regals und stemmte es hoch. Er schrie auf vor Anstrengung, fühlte, wie ihm schwindelig wurde, meinte, sein Kopf müsse zerbersten, hielt schnaufend inne. Dann setzte er noch einmal an – vergebens.
 

Suchend blickte er um sich, fand, was er brauchte. Er holte den Laborbesen mit Metallschaft und den stählernen Mülleimer, baute sich einen Hebel – setzte an, und diesmal schaffte er es. James Black kam langsam zu sich – als er ihn erkannte, starrte er ihn ungläubig an. Shinichi biss sich auf die Lippen.

„Schaffen Sie’s allein?“

„Ist es nicht lästig, dieses Moralaposteltum nicht ablegen zu können?“

Shinichi verdrehte die Augen, legte sich auf seinen Hebel, als ihn die Kraft langsam verlassen wollte.

„Tun Sie’s oder lassen Sie’s, ich zähle bis drei…“

Black lachte spöttisch, zog sich dann jedoch mühsam hervor, während Shinichi das Regal hochstemmte – und ließ es aufstöhnend fallen, als der Mann endlich darunter hervorgekrochen war.
 

„Warum tust du das?“, fragte Black sachlich, als sie sich an der Labortür zur schaffen machten.

Shinichi warf ihm nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu, schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen.

„Interessant, dass Sie diese Frage stellen. Das Gleiche wollte ich Sie nämlich auch noch fragen, was Ihre Frage hiermit beantwortet.“

Er lächelte bitter, hielt inne.

„Ich will wissen, warum Sie mir nicht schon längst den Garaus gemacht haben. Sie wussten, wo ich bin. Sie selbst haben mir die Empfehlung geschrieben...“
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er näher an die Tür trat, um den Schaden zu begutachten.
 

„Neugier.“
 

Shinichi keuchte, schaute ihn überrascht an.
 

„Come on. Don’t act so surprised…“, fing Black an, fuhr sich über seinen Bart, massierte sich die Bartspitzen.

„Du bist und warst ein außergewöhnlicher junger Mann. Du hast das Apoptoxin überlebt, du warst bereit, dein Leben zu riskieren für Sherry… Ich hätte dich in die Organisation geholt, ob mit oder ohne deinem Video, aber die Art und Weise, wie du den Kampf gegen uns aufnahmst, flößte mir Respekt ein, und machte mich ungeheuer… neugierig.“

Er ließ seine Hand sinken, verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann schafftest du mit der Hilfe des FBIs diesen Coup, den ich nicht für möglich gehalten hätte – du hattest es nur mit Akai besprochen, ich hatte keine Ahnung, wie ihr den Virus noch modifiziert hattet. Das war schlau, zugegebenermaßen, den doppelten Effekt da einzubauen. Der Trojaner im Trojaner....“

Black schaute ihn mit erhobenem Haupt an, abschätzig.

„Dass du überlebt hast, allerdings, war Glück.“

Shinichi stieß das letzte Trümmerteil beiseite.

„Tja. Wie bei Ihnen.“

Er lächelte ihn bitter an.

„Aber warum haben Sie fünf Jahre gewartet? Warum…“
 

Black, der sich gerade nach draußen gezwängt hatte, schaute ihn an.
 

„I wanted to destroy you at the height of your career; and when there was hope again in your heart.”
 

Shinichi schaute ihn abwartend an, atmete mühsam ein und aus.
 

“Du hattest meine Organisation zerstört, als sie am größten war. Ich wollte dich zertreten, wenn du dich erholt hattest. Es macht keinen Spaß, auf jemandem herumzutrampeln, der auf dem Boden liegt. That’s not amusing at all. Gins Stil, ich weiß – aber nicht meiner. Außerdem dauerte es etwas, meinen Plan mit Gin einzufädeln, ohne Gin bemerken zu lassen, dass es jemand anderen gibt, der da einen Plan einfädelt, außer ihm selbst.“

Er lachte leise.

„Ich wollte dich in Sicherheit wiegen, um dich dann in diese Krise zu stürzen. Ich wollte dich diese Angst noch einmal spüren lassen, diese nackte Panik, sie noch einmal zu verlieren. Ich bin ein geduldiger Mann, Shinichi Kudô. Ich wollte nicht einfach schnelle Rache, mir war klar, dass mir das nicht reichen würde, um das zu vergelten, was du mir angetan hattest.“
 

Er hielt inne, wandte sich um, schaute Shinichi starr ins Gesicht. Der rote Schein der Flammen tauchte seine Züge in ein dramatisches Licht-und Schattenspiel. Shinichi schluckte, unterdrückte ein Schaudern – diese Szene hier war der vor fünf Jahren, kurz vor seiner Flucht, frappierend ähnlich.

Dann riss ihn Blacks harte Stimme aus seinen Gedanken, zurück in die Gegenwart.
 

„I wanted revenge. I wanted to watch all of you – your love, your feelings, your thoughts, your whole being – drown in black fear. Drown in unsurmountable hopelessness.“
 

Und er lachte.
 

„Ich wollte dich ruinieren, gesellschaftlich, körperlich, seelisch. Und sag nicht, dass ich das nicht geschafft habe. You’re shattered, on the end of your rope. Your body, your health is damaged beyond repair, you know that – you’ve got a few more moments, then your miserable life will be once and for all over. Your reputation is ruined. You’re the junkie of New Scotland Yard, you are the liar of the British Police Forces, you’re the fallen star, the outcast, nobody believes you anymore… and when you will have died in less than an hour, all that you leave behind is loss, is pain, are disappointed hopes and lies… alles, was von dir übrig bleibt im Gedächtnis der Menschen, sind deine Fehler, der Schmerz, den dein Verlust hinterlässt, all die Hoffnungen, die in dich gesetzt wurden und die du enttäuscht hast. Du bist der falsche Holmes, du bist der Betrüger, der Verräter, der Lügner. Du bist fertig mit der Welt, und die Welt ist fertig mit dir, sieh’s endlich ein…“
 

Shinichi starrte ihn an, schluckte, folgte ihm dann nach, den Gang entlang zu den Aufzügen. Auch hier brannte es, waren Teile der Decke eingestürzt.

Die Worte Blacks hatten einen sehr empfindlichen Nerv getroffen, das wusste er; sie richteten Chaos und Zerstörung an, in seinem Kopf, in seinem Herzen, und nur mit Mühe schaffte er es, unter ihrer Wucht nicht zusammenzubrechen.
 

Und gleichzeitig sah und hörte er die anderen. Sah Ran, hörte ihre letzten Worte von vorhin, sah den Blick in ihren Augen so deutlich, als würde sie jetzt vor ihm stehen. Jenna tauchte vor seinen Augen auf, die ihn nie hatte fallen lassen, Heiji, seine Eltern und Kogorô, Shiho, Sonoko und Kazuha, die ihm beigestanden hatten.

Selbst Montgomery, der seinen Fehler eingesehen hatte.
 

Ein schiefes Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen.
 

Es scheint, als wollten Sie nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele vergiften, Mr. Black.

So läuft das aber nicht.
 

Er spürte sein Herz schlagen bis zum Hals, räusperte sich mühevoll, als er endlich seine Courage und damit auch seine Stimme wiedergefunden hatte.
 

„You are wrong, Mr. Black.”

“Hm?”

James Black wandte sich um, blickte von oben auf ihn herab.

“There are people who know that I have not lied at all. People who know, that I am not the usual drug addict. And there are people who think of love and friendship when they think about me, you have seen… them. And only those people matter.”

Er hustete, stolperte dem Mann hinterher.

“Besides, I’m not a dead man yet.”

Die Spitzen seines Schnurrbarts zogen sich nach oben, als der FBI-Chef spöttisch grinste, der Ausdruck in seinen Augen immer noch frostig wie das Polarmeer.

„If this makes dying easier for you, keep on believing this sentimental tattle.“
 

Damit drehte er sich um, stieg weiter die Stufen hinauf. Shinichi griff den Handlauf, folgte ihm; in seinen Kopf arbeitete es. Er wusste, irgendwie musste er ihn dingfest machen, schließlich sollte er nicht entkommen… er hatte ihn nicht sterben lassen wollen, aber fliehen lassen wollte er ihn auch nicht.

Mühsam schnappte er nach Luft, keuchte - in seiner Nase brannte der beißende Gestank von verbrannten Chemikalien und Plastik, schien seine ganze Lunge entlang zu ätzen. Der Mann vor ihm drehte sich um, beobachtete ihn mit einem milden Lächeln, fast etwas mitleidig.
 

„Die finale Vorstellung kommt wohl noch.“

Shinichi griff sich an die Stirn, als ihm schlagartig schwindlig wurde. Er taumelte unsicher, stützte sich an der Wand ab, fühlte unter seinen Händen die Fliesen, lauwarm. Unwillig schüttelte er den Kopf.

„Nicht… jetzt. Ich kann das jetzt nicht brauchen.“

Er tastete sich an der Wand entlang, schloss zu ihm auf, der einen Blick nach hinten warf. Das Feuer leckte bereits durch die Tür am Linoleum des Gangs.
 

„Du wirst das nicht schaffen.“

Shinichi hielt inne, starrte ihn verblüfft an. Und bemerkte erst jetzt das Katana in seiner Hand.
 

Wann hat er das denn mitgenommen?
 

„Die Aufzüge funktionieren nicht im Brandfall. Wir müssen drei Stockwerke hoch. In deiner Kondition schaffst du nicht mal eins. Auch nicht, wenn sie ihr Versprechen wahr macht.“

Langsam trat er näher, sah ihn seltsam ernst an.
 

„Da… ich dir mein Leben verdanke, darfst du auswählen. Entweder, du probierst es, und stirbst dabei den qualvollen Tod, den ich für dich ausgesucht habe… fühlst, wie dein Herz aufgeben muss, wenn der letzte Fiebertraum dich mit sich reißt, und du weißt, er wird kommen, und er wird gnadenlos sein. Oder aber du… entscheidest dich für die schnellere, und wohl auch schmerzlosere Variante.“

Er hob sein Samuraischwert, ließ das Feuer als Reflexion über seine Klinge tanzen.
 

Shinichi beobachtete das Lichterspiel wie hypnotisiert – dann riss er sich los, schenkte dem Mann einen fassungslosen Blick – und begann zu lachen.

„Werden Sie jetzt etwa sentimental?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Das hätten Sie wohl gern. Sie sitzen das jetzt genauso aus wie ich.“

Damit trat er an ihm vorbei, ging auf das Treppenhaus zu – und ahnte doch, dass der Mann Recht hatte.

Das Tageslicht würde er nicht mehr sehen.

Und er fühlte, wie er hinter ihm herschlich, lautlos, gefährlich, tödlich – der schwarze Mann folgte ihm auf dem Fuße, der lauernde Tod in Persona.
 


 

Vor dem Eingang standen Heiji, Shuichi Akai, Ran und Jenna. Sie hatten die Explosion gehört, hörten auch den Feueralarm, der nun durch das Gebäude hallte.

In der Ferne ertönten schon die Sirenen der ersten Feuerwehrfahrzeuge.
 

Ran schluckte, starrte in das Haus. Offenbar war die Explosion vorbei – nun schien alles ruhig zu sein. Sie warf einen Blick zu Jenna neben sich, die den Hof mit ihren Augen absuchte, offenbar hielt sie die Augen nach Gallagher offen. Akai und Heiji diskutierten miteinander – von ihrem Vater und den anderen fehlte noch jede Spur.

Sie merkte, wie ihr Herz raste, ihr Adrenalinspiegel schier durch die Decke schoss.
 

Sie warf einen kalkulierenden Blick vorbei an der Menschenmasse, die sich gerade aus dem Gebäude wälzte. Die Evakuation ging erstaunlich schnell und glatt von dannen, die Diszipliniertheit der Briten machte sich hier bezahlt.
 

„Seems, the fire is only in the basement. Should be under control soon enough.”, hörte sie eine tiefe Männerstimme zu einer gut angezogenen Angestellten sagen. Sie kniff die Augen zusammen.
 

Zumindest die Treppe könnte ich runtergehen und nachsehen, soweit ich eben komme.

Aber ich kann nicht hier stehen und warten!

Ich kann nicht…

Ich hab‘s ihm versprochen. Allein schafft er es nicht.
 

Ran wartete nicht weiter. Mit ernstem Gesicht und Tunnelblick presste sie sich an den herausdrängenden Menschen vorbei, die ihr, sie offenbar für lebensmüde und verrückt haltend, verständnislos nachblickten.
 

Das kleine Nebentreppenhaus in den Keller war völlig leer; offensichtlich hatten sich alle Laboranden schon in Sicherheit gebracht, als der Seuchenalarm ausgelöst worden war.
 

Sie hatte gerade das erste Halbgeschoss hinter sich, als es auf einmal still wurde. Der Alarm war ausgegangen, offenbar war die Evakuierung abgeschlossen.

Gleich würde die Feuerwehr hier sein.
 

Ran hielt inne, lauschte in die Stille.

Hörte nur ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen, schnell pulsierend im unregelmäßigen Rhythmus ihres gehetzten Herzens. Unsicher knetete sie ihre Finger in ihr Kleid, hob die Röcke wieder hoch und trippelte mit eiskalten und immer noch nackten Füßen weiter.
 


 

Shinichi kniete auf den Stufen, die ins zweite Untergeschoss führten. Sein Atem klang fast schmerzhaft laut in seinen Ohren, und schmerzhaft an sich war sein Atmen ohnehin. Er hatte seine Faust in sein Hemd gekrallt, presste sie auf seinen Brustkorb, als wolle er mit seinen bloßen Händen sein Herz unter Kontrolle halten, das mit Mühe sein Blut durch seinen Organismus trieb.

Es tat unsäglich weh.
 

Er wollte sich die nächsten Stufen hochziehen, merkte, wie ihm der kalte Stein unter seinen tauben Fingern entglitt, rutschte ab, knallte mit der Wange gegen die Kante, fühlte, wie sich die Stufen seinen Körper entlangschrubbten, als es nach unten ging.
 

Oben stand der Boss, blickte mit kalten Augen ausdruckslos auf ihn herab, stieg die letzten Stufen wieder hinunter, packte Shinichi am Kragen und zerrte ihn die Stufen wieder mit sich hoch, ließ ihn dann einfach los. Shinichi fiel zu Boden wie ein nasser Sack, kraftlos, unfähig zu irgendeiner Gegenwehr. Anokata stand über ihn, drehte ihm mit seinem Fuß auf den Rücken, starrte seinem Feind ins Gesicht.
 

Shinichi keuchte, bekam kaum noch Luft, versuchte, sich zu wehren, als er registrierte, was jetzt kam.

Black kniete sich neben ihn, griff nach seinem Kinn, fing seinen Blick ein und hielt ihn eisern fest.
 

„Ein Wort, Sherlock, und es ist vorbei.“
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, stöhnte auf.

„Nein.“

Er zwang sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen.

„Sie wollten es so, also… tun… Sie sich… das jetzt auch… verdammt nochmal an.“, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Schweiß perlte von seiner Stirn, klebte seine Haare an seinen Kopf, ließ ihn blinzeln, als er ihm in die Augen rann.
 

Als es dann anfing, hatte er nichts mehr, was er der Droge entgegnen konnte. Shinichi schrie auf, als der Fiebertraum ihn mitriss, in mit scharfen Klauen packte, die seinen ganzen Körper zu durchbohren schienen, und ihn in dieses endlos schwarze Loch schleuderte, aus dem er, wie er befürchtete, nie wieder hervorkommen würde.
 

Und James Black erschauderte, als er ihn vor Qual brüllen hörte, sah zu, wie er sich krümmte, seine Finger sich in seine eigene Haut bohrten, als der Schmerz ihn wie eine Welle überrollte und er ihm nichts, rein gar nichts, entgegenzusetzen hatte.
 

RAN!
 

So schnell wie es gekommen war, war es vorbei – ganz still lag er da, still, sein Atem so flach, dass man ihn kaum sah, seine Augen blicklos ins Leere starrend.
 

Und Anokata wusste, dass es nun begonnen hatte.
 

Shinichi Kudô starb jetzt.
 

Mit ernster Miene lehnte er sich gegen die Wand, betrachtete seinen Widersacher, der, völlig gefangen in seiner eigenen Welt, völlig wehrlos vor ihm auf dem Boden lag – und zum ersten Mal machte sich in ihm so etwas wie Reue breit.
 


 

Rans Augen waren weit aufgerissen, sie hatte ihren Atem angehalten, als der Schrei in ihren Ohren verhallte.
 

Dann begann sie loszulaufen, fühlte, wie ihr Herz ihr bis zum Hals schlug, sämtliche Wärme und damit das Gefühl aus ihren Händen und Beinen wich, sich zurückzog an einen Fleck, einen Ort in ihrem Brustkorb, der der Belastung, all ihr Leben zu beherbergen, fast nicht gewachsen schien.
 

Shinichi.
 

Der Anblick, der sich ihr bot, als sie die Treppen hinter sich gelassen hatte und auf der Ebene des zweiten Untergeschosses angekommen war, war schlicht und ergreifend grotesk.
 

Grotesk.
 

Sie blieb stehen, so plötzlich, dass sie fast über ihr Kleid gestolpert wäre, starrte auf das Bild, das sich ihr bot.
 

Shinichi lag auf dem Boden, regungslos, seine Augen halb geschlossen und unfokussiert. Neben ihm saß Anokata, wie sie ihn nannten.

Und hielt seine Hand.
 

Das Katana lag neben ihm auf dem Boden.
 

Nein! Shinichi…!
 

Black schaute auf, schaute sie ruhig an, als sie sich ihnen näherte, atemlos.
 

Also bist du gekommen, wie du versprochen hattest.
 

Fast wie in Trance schritt sie in ihrem Kleid die letzten Meter zu ihm, langsam, feierlich, wie eine Braut zum Altar, vor dem ihr Bräutigam auf sie wartete. Angekommen glitt sie auf die Knie, streckte ihre Hände aus. Mit zitternden Händen berührte sie sein Gesicht, versuchte, irgendwie zu ihm durchzudringen, sah sie doch, wie sehr er litt. Sein schneller Atem stockte, immer wieder, synchron mit dem Zucken seiner Finger, und das leiseste aller Stöhnen kroch über seine Lippen, gab nur ein vages Bild von der Qual ab, die er litt.
 

Er kämpfte. Immer noch.
 

Du gibst nicht auf, Shinichi…

Jetzt bin ich hier.

Ich bin bei dir.

Du bist nicht mehr allein, du musst das nicht länger allein ertragen, ich bin hier…
 

Vor seinen Augen war ein Gesicht aufgetaucht, und er würde nur zu gerne wissen, ob es real war, oder ob er es träumte.
 

Rans Gesicht.

Er lächelte sanft.
 

Ran.
 

Lautlos formten seine Lippen ihren Namen. Ran merkte, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen, als sie seine Finger drückte.

Sanft berührte sie mit ihren Lippen seine Stirn.
 

„Ich bin hier.“
 

Sie lächelte ihn tapfer an, strich ihm über die Stirn, immer wieder, drückte mit der anderen Hand die seine, spürte, wie er kämpfte und doch langsam aufgab, weil ihn ihm fast nichts mehr war, was noch kämpfen konnte. Ran beugte sich vor, gab ihm einen zarten Kuss auf die Lippen, kurz. Es war ihr egal, dass der Boss der Organisation immer noch da war.

Sie würde ihn nicht mehr allein lassen.
 

„Ich bin hier. Ich geh nicht weg, ich versprech‘s.“
 

Als er sie endlich fand, in dieser schwarzen Wüste, die das Feuer übriggelassen hatte, schien alles Leben aus ihr gewichen zu sein. Er fiel auf die Knie, als ihn sämtliche Kraft und jeglicher Wille, noch zu stehen, verließen – eine schwarze Wolke wallte auf, als er auf dem Boden auftraf, die letzten Zentimeter auf allen Vieren zu ihr kroch.
 

„Ran, nein…“
 

Sie hörte ihn die Worte wispern, und es brach ihr das Herz. Sie hatte sich neben ihn auf den Boden gelegt, hatte seinen Kopf in beide Hände genommen, redete mit Engelszungen auf ihn ein und wusste doch, er hörte sie nicht.

Er sah sie an, und sah sie doch nicht, mit blauen Augen, aus denen die Qual sie förmlich anschrie. Unablässig streichelte sie ihm über die Haare.

„Ich bin hier, ich bin hier, mir geht es gut, hörst du mich nicht? Shinichi, bitte? Bitte?!“

Sie fühlte seinen rasenden Atem auf ihrer Haut, konnte nur erahnen, wie schnell sein Puls ging. Zitternd fanden ihre Finger ihren Weg auf seine Brust – gepresst atmete sie aus, als sie es unter ihren Fingerkuppen spürte – sein Herz, dass sich zusammenzog und wieder ausdehnte, unter größten Mühen Blut durch seinen Organismus pumpte, viel zu schnell und unregelmäßig wie ein Motor mit Fehlzündungen.

Und jeder einzelne dieser Schläge schien unendlich weh zu tun.
 

Das Kleid hing in Fetzen von ihrem Körper, dort, wo es nicht an ihrer Haut klebte. Rot und wund, übersät mit Brandblasen waren ihre Arme und Beine, an manchen Stellen schälte sich die Haut bereits.

Er bekam kaum noch Luft, als ihn dieser penetrante Geruch in die Nase stieg - der charakteristische Geruch von verbranntem Fleisch, gemischt mit angesengten Textilien, kniff die Augen zu, und sah das Bild dennoch vor sich.

Unendlich langsam beugte er sich über sie, griff mit einer Hand nach ihrem Gesicht, drehte es zu sich, als er zusammenschrak.

Sie hatte leise gestöhnt.

„Ran?“

Er kroch noch näher, nahm vorsichtig ihren Oberkörper in seine Arme, lehnte ihren Kopf an seine Brust. Müde öffnete sie die Augen, sah ihn an.

Lächelte, als sie ihn erkannte.
 

„Shinichi…“

Sie flüsterte den Namen nur, kaum hörbar verhallte er auf dem Weg zu seinem Ohr. Er lächelte zurück, versuchte, dabei nicht verzweifelt auszusehen, merkte er doch, wie sich in seinen Augenwinkeln Tränen sammelten.
 

Er sah ihr ihre Schmerzen an.

Und er wusste, sie würde sterben.
 

Er hatte die Augen zusammengekniffen, hörte und sah nichts von außen, war völlig gefangen in seiner eigenen Welt, die gerade im Untergehen begriffen war. Ran presste seine Stirn gegen ihre, hielt ihn fest, versuchte, ihn zu wecken, ihn aus seinem Alptraum rauszuholen, und ahnte doch, sie hatte keine Chance gegen diese Droge.

Nicht allein.
 

„Hey…“

Er schluckte, strich ihr mit zitternden Fingern über ihre Haare. Sie schmiegte sich an ihn, atmete langsam aus.

„Du bist doch gekommen…“

„Natürlich.“

Er schluckte hart.

„Du musst durchhalten, hörst du, alles wird wieder gut, du musst nur durchhalten…“

Sie griff nach seinen Fingern, schaute sie an – rot und verquollen, von Brandblasen übersät.
 

„Du und ich wissen, dass das nicht stimmt…“

Traurig lächelte sie ihn an. Er starrte sie an, in seinem Blick die pure Panik.

„Ran, ich…“

„Wehr dich nicht… lass dich einfach fallen, Shinichi… gib einfach auf…“
 

Er schaute sie an – dann schloss er die Augen.

Und wollte, dass es aufhörte.

Wollte, dass er starb.

Wenn sie nicht leben durfte, wollte er es auch nicht.
 

Er hielt es nicht aus, den Schmerz, er ertrug den trauernden Ausdruck in ihrem Gesicht nicht länger, wenn das die Welt war, wenn das sein Leben war, dann wollte er es nicht…

Wollte es nicht.
 

Und dennoch ließ es ihn nicht los.

Noch nicht.
 

„Ran…“
 

Sie hörte ihn nur leise seufzen, ein losgelöster Laut, fast erleichtert klingend – und ließ sie dennoch alarmiert aufhorchen.
 

„Shinichi?“

Sie wisperte seinen Namen nur, Tränen strömten über ihr Gesicht.

„Shinichi, bitte, ich bin hier, gib nicht auf, du träumst nur, das ist nicht wahr, das ist nicht echt…“
 

„Angel.“
 

Ruhig klang die Stimme an ihre Ohren. Sie fuhr zusammen, als sie spürte, wie er sie an der Schulter berührte.

Als sie ihn neben sich sitzen merkte, erschrak sie fast zu Tode, schaute ihn angsterfüllt an.

„So nannte sie dich. Vermouth. Oder Sharon, wie ihr sie nanntet. Und es stimmt.“

Er lächelte.

„Das bist du. Sein Engel… ein Wesen, nicht von dieser Welt, überirdisch, ohne Makel, rein und gut. Du lässt ihn an das Gute glauben, du lässt ihn hoffen, du beschützt ihn – und doch bist du für ihn so unerreichbar wie es ein wirklicher Himmelsbote ist…“

Ran schaute auf, warf dem FBI-Agenten einen wütenden Blick zu, schluckte ihren Zorn aber runter; sie war nicht wegen Black hier.

Und dennoch bannte der Blick aus seinen graublauen Augen sie, ließ sie schaudern.
 

„Nur für dich hält er an diesem kläglichen Funken Leben noch fest, obwohl das Loslassen so viel leichter wäre. Nur für seinen Engel kämpft er noch, auch wenn sein Kampf aussichtslos ist, und das weiß er. Du bist sein Untergang und seine letzte Hoffnung zugleich. Wie faszinierend.“

Anokata nickte in Shinichis Richtung.

Sie stutzte, ließ zitternd ein wenig locker, näherte ihr Ohr seiner Nase, wartete. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, was sie erleichtert aufatmen ließ. Er hatte seine Augen halb offen, seine Finger fühlten sich kühl in ihren Händen an.
 

Dann sah sie seine Lider flattern, konnte die Erleichterung in seinen Augen lesen, ihr Gesicht zu sehen.

Im nächsten Moment spürte er die Hitze, die vom Keller bereits nach oben stieg.
 

Langsam und zitternd stemmte er sich hoch, unterdrückte einen Aufschrei und kniff die Augen zusammen.
 

„Ran…“, presste er hervor.

„Du solltest nicht allein hier…“

Er versuchte, sich vor sie zu schieben, zwischen sie und Anokata seinen eigenen Körper zu bringen.
 

„Hör auf, sie wegzuschicken oder zu tadeln, Dummkopf.“
 

Sein Kopf fuhr herum, was er umgehend bereute, da es seinen Kopfschmerz schier zum Explodieren brachte – er keuchte, presste die Luft langsam, scharf, zwischen seinen Lippen hervor, hob seine Hand fast in Zeitlupe an seine Stirn.

Er sah eine Frau im Treppenaufgang erscheinen, und glaubte für einen Moment, seine Augen spielten ihm einen Streich.
 

Im Gegenlicht des Treppenaufgangs stand Sharon.
 

„As our dearest Mr. Black just pointed out so eloquently, she’s your guardian angel.”

Das Lächeln auf ihren Lippen, mit dem sie Ran bedachte, war bestenfalls zu erahnen.
 

„Ohne sie wärst du längst Geschichte.“
 

Sie trat zu ihnen, packte ihn am Arm und half ihm hoch, wobei sie und Ran ihn hochziehen mussten. Kurz, nur für Sekundenbruchteile flatterten das Entsetzen und die Sorge über seinen Zustand über ihr Gesicht, kurz wie das Flackern einer Glühbirne mit Wackelkontakt, und genauso schnell vergessen.

Shinichi stützte sich schwer an der Wand ab, hatte Mühe, aufrecht stehen zu bleiben, schluckte trocken und versuchte, ruhig zu atmen. Ran schaute ihn besorgt an.
 

„Geht. Verschwindet. I’ll take care of him.“
 

Sharon hielt dem Blick stand, den er ihr zuwarf – und der sie eine Närrin schalt, eine Utopistin, zu glauben, er würde es noch irgendwohin schaffen. Sie lächelte bitter, trat zu ihm, berührte mit den Zeigefingern ihrer rechten Hand seinen Hals, spürte den schnellen Rhythmus seines Pulses an ihre Fingerkuppen trommeln, fühlte die Hitze, die das Fieber über seinen Körper brachte, sah den Schweiß glitzern auf seiner Haut – und Kapitulation in seinen Augen.
 

„No, you won’t, silver bullet.“
 

Sie hatte ihre Lippen nahe an sein Ohr geführt, berührte es fast. Er schloss die Augen, schauderte, als der Luftzug ihrer wispernden Stimme seine Haare streifte.
 

„You’ll not die here. I know, you’ve flown straight and hit them all… du hast gezielt, getroffen, das Ziel durchschlagen, und zahlst nun den Preis, Shinichi. Aber hier unten findest du dein Ende nicht…“

Sie ließ ihre Hand über seinen Hals gleiten, blieb mit ihren Fingern auf seiner Brust liegen, spürte, wie er zusammenzuckte bei der bloßen Berührung, wie ein heiseres Stöhnen über seine Lippen kroch, sah, wie er die Augen zusammenkniff, als sein Herz ins Stolpern geriet, sich mühsam, unkontrolliert kontrahierte – und aussetzte.

Ran sah ihn angsterfüllt an, sah, wie seine Knie auf einmal wackelig wurden, seine Finger, die bis jetzt krampfhaft das Geländer umklammert hatten, abglitten. Sie trat vor ihn, schnell, fing ihn mit ihrem eigenen Körper ab, fühlte erst jetzt, wie er glühte. Sharon drückte ihn ruckartig gegen die Wand, spürte, wie die Luft aus seinen Lungen wich, spürte, wie sein Puls zurückkam, presste die Lippen fest aufeinander, so fest, dass sie trotz des Lippenstifts, den aufgetragen hatte, kaum mehr zu sehen waren.
 

„Take him. Get him out of here…

Leave the boss to me. Don’t worry.“
 

Ran trat auf ihm zu, griff nach Shinichis Hand, als er sie fahrig abwehrte. Ein unwilliger Ausdruck war auf sein Gesicht getreten.

„Sharon, I didn’t save him for you to kill him here –“

Sharon Vineyard drehte sich langsam um, starrte ihn an; eine frostige Kälte war in ihren Blick getreten, ihre Lippen zusammengepresst, bis sie nur noch eine dünne Linie bildeten.
 

„Oh yes, you did. I value your sense of justice, Shinichi, but that’s not your battle now. Never forget what he and his organization did to me… and my family.”
 

Und zum ersten Mal sah er ihn – den Schmerz in ihren Augen.
 

„I am willing to spare Sherry, because I believe you when you say she’s a victim, too. I saw how she helped you. But I won’t spare him. Thanks for giving me the honors to finish him off, though.”

Sie ignorierte Shinichis Blick, fixierte stattdessen Ran.
 

„This is none of your business any longer, silver bullet. Now, make haste and go!“
 

Ihre letzten Worte waren an Ran gerichtet; die junge Frau nickte fahrig, trat auf Shinichi und ließ ihn sich auf sie stützen, zog sich seinen Arm um ihren Hals und hielt ihn dort fest. Sharon half ihr, mit ihrem anderen Arm seine Taille zu umfangen und merkte, wie ihr ihrerseits der Atem stockte, als sie spürte, wie feucht sein Hemd war, wie fliegend seine Atmung. Sie warf ihm einen Blick zu, den er wohlweislich ignorierte. Er schaute stur zu Boden, biss sich die Lippen blutig um nicht zu schreien und fing an, nach einem letzten Blick auf Sharon, mit ihr die Treppen hochzugehen.

Ran schauderte, als sie merkte, wie viel Kraft es ihn kostete. Er zog sich mühsam am Geländer hoch, die andere Hand in ihre Schulter gekrallt, Stufe für Stufe, unendlich langsam.

Immer wieder blieben sie stehen, weil er kaum noch Luft bekam, sein Bewusstsein sich zunehmend verabschieden wollte, seine Beine unter seinem Zittern einknicken wollten.

Er wurde immer langsamer, bis er schließlich anhielt, sich mit beiden Händen am Geländer festhielt, auf die Stufen sinken wollte. Ran ging in die Knie, nahm sein Gesicht mit beiden Händen, schaute ihn fest an.

„Shinichi…“

Er hörte ihre Stimme wispernd an seinem Ohr.

„Shinichi, du musst durchhalten. Du warst so tapfer, so stark bisher, bitte…“
 

Sie merkte, wie er anhielt, sie anstarrte, um Luft rang.

„Ich versuchs ja.“

Seine Stimme war kaum verständlich, sein Tonfall heiser.

„Ich versuchs, Ran, glaub mir, aber ich kann… kann nicht mehr lange…“
 

Sie hingegen schaute ihn nur an, hob die Hand, legte sie an seine Wange, sacht.

„Doch. Kannst du.“

Ran fixierte ihn mit ihrem Blick, blinzelte nicht, ließ ihn nicht wegsehen.

„Und das wirst du. Das ist nur eine Droge. Du darfst nicht zulassen, dass sie so viel Macht über dich bekommt. Du musst dir immer klar sein…“

„Denkst du ich weiß…“
 

Er wandte sich ab, hustete, während er immer noch um Atem rang wie ein Ertrinkender, wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund; ein leicht feuchter Film blieb kurz auf seiner Haut zurück, ehe er der Schweiß auf seiner heißen Haut verdampfte. Hitze wallte von unten herauf, und er fragte sich, was Sharon und Black dort unten machten.
 

Die letzte epische Schlacht, wohl.
 

Dann wandte er sich ihr wieder zu, griff nach dem Geländer, hielt sich mit beiden Händen fest, um nicht umzufallen. Er sammelte sich, holte Luft, um die paar Sätze, die er äußern wollte, einigermaßen zusammenhängend hinzukriegen.

„… denkst du, ich weiß das nicht? Ran, du hast ihn gehört. Ich hab… hab eine Überdosis intus, das mischt die Karten nochmal neu, und teilt mir eine viel schlechtere Hand aus. Sicher, die Wahnvorstellungen sind psychisch, und beeinflussen die körperlichen Symptome. Andere sind aber einfach nur… rein physisch. Ich hab‘ Brady daran zugrunde gehen sehen, und ich kann dir sagen, das hier hat keinen…“

„Sags nicht.“
 

…Sinn…
 

Sie schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen.

„Und wenn ich dich hier raustragen muss. Ich geh nicht ohne dich.“

Er sah die Tränen in ihren Augen glänzen und wagte nicht, ihr zu widersprechen.

Er wusste, auch das hatte keinen Sinn.

Sie schluckte, schaute ihn immer noch an.

„Ich weiß, ich kann leicht reden. Ich mache nicht durch, was du durchmachst, und ich weiß, das Zeug soll dich umbringen, jetzt und hier. Aber ich lass das nicht zu.“

Sie schüttelte den Kopf, auf ihrer Miene ein Ausdruck von Sturheit, den er nie dort gesehen hatte.
 

„Ich werde dich nicht gehen lassen. Nicht deswegen. Ganz sicher nicht.“
 

Er sah sie nicht an, als sie seinen Arm um ihre Schulter zog, seine Finger fast aufbiegen musste, und sich sein Gewicht auf ihren Rücken lud. Sie fühlte, wie er schwankte, wie unsicher er auftrat. Fühlte seinen heißen Atem an ihrem Hals, spürte die Konzentration, die er aufbringen musste, um nicht zu stolpern, als er sich Schritt für Schritt mit ihr weiter hochquälte.

Und hörte, wie er versuchte, nicht vor Schmerz zu schreien.
 

Sein Organismus ging in die Knie, begann abzuschalten, weil der Schaden zu groß war.

Er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, und er wusste auch, dass sie das sehr wohl sah.

Aber noch war es nicht zu Ende.
 


 

„Another face I thought to never lay my eyes upon again. Vermouth.“
 

Er lächelte sanft, hob den Blick, warf der Blondine einen fast anerkennenden Blick zu.

„Lange nicht mehr gesehen. Du siehst gut aus.“

Sie lachte schnippisch, tat geschmeichelt.

„Danke. Du nicht.“

„Hah.“
 

James Black war aufgestanden, hatte sich gegen die Wand gelehnt. Der Schein des Feuers tanzte gespenstisch über sein Gesicht, ließ ihn geisterhaft und gleichzeitig unfassbar lebendig aussehen. Sie starrte ihn feindselig an, kniff ihre Lippen zusammen, bis sie dünn wie ein Strich geworden waren, atmete gepresst.
 

„You’ve brought enough slaughter over that sword, Anokata. You’ve brought enough death over this world, enough pain over the innocent…”
 

“Wirst du etwa pathetisch auf deine alten Tage, Sharon?”

Er sah sie gelassen an, ließ das Schwert in seiner Hand wippen, locker, sanft – eine Bewegung, die bezeugte, dass er sehr wohl wusste, wie man diese Waffe führte.

Sie hingegen – griff genauso lässig in die Innentasche ihrer Lederjacke, beförderte eine handliche, kleine Pistole daraus hervor. Er schaute sie an, Missbilligung in seinen Zügen.

„Ist das nicht unfair?“

„Nicht unfairer als einem wehrlosen Detektiv eine Überdosis deines Ungeheuers zu spritzen, in der Verkleidung eines Lamms, Werwolf.“

„Ich wollte Rache.“

„Ach. Die will ich auch. Und anscheinend heiligt der Zweck ja die Mittel, also wo ist dein Problem?“
 

Anokata stieß sich von der Wand ab.

„Er wird sterben, so oder so.“

Ruhig klang seine Stimme, immer noch.

„Das weißt du. Die Dosis war recht hoch und du weißt auch, das Halluzinogen ist zwar eine größtenteils psychosomatisch wirkende Substanz, aber dennoch zum Töten gemacht. Es wird seinen Zweck erfüllen.“

„Nicht, wenn man es überlistet.“
 

Seine Lippen kräuselten sich amüsiert.

„Wie willst du es überlisten, Vermouth? Er ist so gut wie am Ende. Er kann kaum mehr selber gehen… sich kaum auf den Beinen halten…“
 

„Sie ist bei ihm.“

Entschlossen sah sie ihn an.
 

„Er ließ es nur so weit kommen, weil er dachte, sie wäre tot. Weil er aufgab, sich nicht wehrte. Das Gift kann nur angreifen, wo ein Wille schwach wird… wenn er aber genau das nicht ist…

Wenn er es weiß, dass es nur ein Traum ist, dass es nicht wahr ist, wenn er den Beweis vor sich sitzen hat, ihre Hand in seiner, dann wird es ihn nicht umbringen können.

Weil er kämpfen wird, für sie.

Weil sie ihn beschützen wird.“
 

Sie hob die Waffe.
 

„She’s his angel, I always knew that.“
 

Ein gewinnendes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie ihn ansah, ihren Kopf hoch erhoben, fast auf ihn herabblickend.
 

„You’re mad, Sharon.“

Zum ersten Mal klang etwas wie Angst in seiner Stimme. Und sie hörte es.

Ein zufriedenes Lächeln kräuselte ihre Lippen, ließ ihre weißen Zähne blitzen.
 

Ein Finger krümmte sich um den Abzug.
 

„Not at all.“
 

Langsam trat sie einen Schritt näher, ihre Augen starr auf ihn gerichtet, in ihrem Kopf all der Schmerz, all das Leid, das sie durch diesen Mann hatte erfahren müssen.
 

Es würde ein Ende haben.
 

Jetzt.
 

„Und damit du keine Gefahr mehr für jemanden sein kannst, erst recht nicht für ihn, never again… I’ll do that little favour for him and wipe you dirty bastard off the face of that beautiful world. Say goodbye, Anokata.

Fare well… to hell.”
 


 

Wie sie es dennoch hochgeschafft hatten, war ihm schleierhaft – sobald sie jedoch aus dem Gebäude traten, war es vorbei.

Ran erschrak, griff ihn fester, als sie merkte, wie er ihr entglitt, zu Boden stürzte, als ihm das Gefühl schlicht und ergreifend aus den Extremitäten wich, er die Kontrolle über seinen Körper verlor, als das Taubheitsgefühl einsetzte.

Und sie sah erst jetzt, dass sein Gesicht gespenstisch weiß geworden war.
 

Er sank zu Boden, fast lautlos. Ihm fehlte sogar die Kraft, um zu schreien, und so seufzte er nur leise, beinahe unhörbar auf, als ihn sein Leben Stück für Stück im Stich ließ. Ran sank zu ihm auf den Boden, fühlte, wie namenlose Panik sie ergriff. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, starrte ihn an, lehnte ihre Stirn gegen seine, fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, stockend, heiß und trocken wie der Wüstenwind.
 

Sein ganzer Körper schien zu glühen vor dieser kaum zu beschreibenden Hitze, eine seltsame Form von Fieber, die ihn dennoch nicht zu wärmen schien – er zitterte wie Espenlaub, wie gepackt und geschüttelt von einer riesigen, unsichtbaren Hand, die ihn wie vor Kälte schlottern ließ.

Ran merkte, wie ungeheuerliche Furcht sie übermannte, als sie ihn so vor sich liegen sah – so hilflos und so unendlich schwach.

Und sie ahnte, dass es stimmte, was er ihr die ganze Zeit hatte begreiflich machen wollte.
 

Er starb.
 

Sie fühlte, wie sie ihre Luft anhielt, als sie ihm über die heiße Stirn strich, Feuchtigkeit unter ihren Fingern spürte, und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß, streichelte ihm über die Wangen.

„Nicht einschlafen, Shinichi… nicht…“

Sie merkte, wie ihr die Tränen, die sie bis eben so tapfer zurückgehalten hatte, sich erneut ihre Bahn suchten.

„Du warst so stark… Shinichi.“

Sie beugte sich über ihn, wisperte ihm die Worte ins Ohr.

„Bitte… bitte, für mich, Shinichi… gib jetzt nicht auf, wir sind fast am Ziel…“
 

Sie hörte Schritte hinter sich, musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es ihr Vater war. Sie kannte den Klang, den Rhythmus seiner Schritte seit ihrer Kindheit.

Er hatte sie gesucht, und war erleichtert, sie hier zu finden – und Shinichi war bei ihr, also noch keine verkohlte Leiche in der Autopsie.
 

Na, das ist doch mehr, als wir erwarten konnten.

Gut, das wars dann wohl, Kudô. Jetzt musst du nur wieder auf die Beine…
 

„Der Krankenwagen kommt schon, wie sieht’s…“

Er sprach nicht weiter.
 

Guter Gott.
 

Er hatte Ran erreicht, starrte den jungen Superintendent mit fassungslosem Blick an, sein Hirn wie leer gefegt. Shinichi hatte die Augen fast geschlossen, sein Haar klebte ihm blutig an der Schläfe, die er sich aufgeschürft hatte.
 

Er sah aus wie eine Wachsfigur aus Madame Toussaud’s. Lebensecht, aber tot.
 

„Ran, sag mal, spinnst du, haust allein einfach ab, was haste…“

Sie hörte Heijis aufgebrachte Stimme – die genauso schnell absoff wie sein Blick auf seinen besten Freund fiel.
 

„Kudô.“, murmelte er leise, ging in die Knie, griff nach Shinichis Handgelenk, verzog das Gesicht. Sein Puls war kaum spürbar.

„Durchhalten, mein Freund. Du hast es fast geschafft. Auf den letzten Metern wirste jetzt doch nicht schlapp machen…“

Dann hörte er, wie Ran erschrocken die Luft einsog, als Shinichi die Augen öffnete, nur einen Spalt, unendlich langsam.

Er schluckte hart, als ihn sein müder Blick traf. Shinichi konnte ihn kaum verstanden haben.
 

„Sei doch… einmal im Leben realistisch, Hattori…“
 

Seine Stimme machte ihn schaudern. Er schaute zu Ran, sah die nackte Angst in ihren Augen. Er hingegen sah sie nur an, mit so viel Zuneigung in seinem Blick, dass es Kogorô, der immer noch hinter ihnen stand, fast den Magen umdrehte. Sie strich ihm über die Schläfe, zart – Shinichi spürte, wie sehr ihre Finger dabei zitterten und lächelte traurig – dennoch war ihr Anblick nie so erleichternd gewesen für ihn.

Sie waren draußen.

Sie war in Sicherheit.
 

„Es tut mir so Leid, Ran, ich… ich hätte…“

„Schhht.“

Der Zug um ihre Mundwinkel verkrampfte sich schmerzhaft, als sie merkte, wie angestrengt sein Lächeln wurde.

„Ich liebe dich…“

Sie las es mehr von seinen Lippen, als dass sie die Worte tatsächlich hörte. Er schluckte mühsam.
 

„Ich wünschte, ich könnte… dir deinen Wunsch erfüllen, mein Versprechen halten.

Aber ich fürchte, mehr… mehr war einfach nicht drin für… uns.“
 

Stockend atmete er aus, schloss die Augen, seine Gesichtszüge entspannten sich, als er merkte, wie die Müdigkeit ihn in ihre weichen Arme nahm, ihn sanft mit sich zog.

Loszulassen, sich einfach fallen zu lassen, tat so gut. Es nahm den Schmerz ein wenig, der in seiner Brust tobte; er spürte, wie die Welt auf einmal wattiger wurde, irgendwie; weicher, gedämpfter, die Töne leiser, das Licht weniger grell, seine Sinne matter.

Es war angenehm.

Ran beugte sich über ihn, hielt ihn fest, dicht schwebte ihr Kopf an seinem, ihre Nase dicht an seiner, so nah, dass sie jeden seiner stockenden Atemzüge spürte, dieselbe Luft wie er atmete.

Kaum merkte sie, wie Tränen haltlos über ihr Gesicht liefen, in ihrer staubigen Haut ihre Bahn zogen.
 

Sie hatten verloren.
 

Sie sah ihn an, als er zurücksank, sah diesen abwesenden Ausdruck in seinen Augen, die großen Pupillen, die seine Augen so seltsam dunkel machten, und etwas zu sehen schienen, das weit jenseits dieser Realität war, in diesem leichenblassen Gesicht, dass so stark dazu kontrastierte. Sein Mund war einen Spalt geöffnet, wie zu einem lautlosen Seufzen, oder wie als ob er etwas sagen wollte – aber nicht ein Laut schaffte es aus seiner Kehle über seine Lippen.
 

Zum letzten Mal verlor er den Sinn für Realität und Traum, und sie konnte fast sehen, wie seine zwei Welten ineinander liefen wie flüssige Farbe auf einer Palette, sie sich mischten, bis er nicht mehr unterscheiden konnte, was wirklich geschah und was er halluzinierte.
 

Ein müdes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
 

Wen interessieren solche Spitzfindigkeiten wie Wirklichkeit und Wahnvorstellung noch…

Allerdings, fürchte ich, ist das jetzt auch schon egal… es dürfte einerlei sein, zu träumen, dass ich sterbe, und dabei sterbe, oder es real erlebe – und sterbe.
 

Er sah Rans Gesicht, tränennass, konnte nicht sagen, ob es real war oder nicht.

Seine Sicht war verschwommen, er sah die Welt wie durch Nebel, der sich ständig bewegte und ihn nicht auf etwas fokussieren ließ – wohl aber spürte er ihre Furcht – und auf einmal wurde das Bild klar.
 

Er lag vor ihr auf dem Boden, das Bild auf einmal völlig verdreht. Eigentlich hatte doch noch gerade er erleben müssen, wie sie starb, so sah er jetzt in ihren Augen nun den warmen Glanz der Lebenden – und konnte die Angst sehen, mit der diese Augen ihn nun musterten.

Jede seiner Regungen registrierten, jeden Atemzug erwarteten, nach Anzeichen in seinem Gesicht suchten…
 

Er atmete aus, stockend.

Es fiel schwer, das fiel ihm auf. Er hatte keine Schmerzen, und er fühlte keine Angst, aber er wusste, dass es zu Ende ging mit ihm – er hatte die Ziellinie fast erreicht, wandelte auf den letzten Metern.

Sie griff seine Hand, brachte seine abschweifenden Gedanken dazu, sich wieder ihr zuzuwenden. Etwas, das mühsam war für ihn, auch wenn er es gerne tat – er sah sie gerne an, prägte sich ihr Gesicht ein, ihre Lippen, warm und weich und von diesem Erdbeerrot, ganz ohne Lippenstift, ihre Augen, groß, blau und doch voller Wärme, immer dann, wenn sie ihn ansah.

Seine Augen folgten träge ihrer Hand, die sie hob, um ihm über die Schläfe zu streicheln, so zart, dass er die Berührung fast nicht spürte, was er beinahe bedauerte – er genoss es dennoch. Lange würde er das nicht mehr haben.
 

Sie hatte ihr Gesicht so nahe an seines geschoben, dass er den Hauch ihres Atems auf seinen Wangen spüren konnte. Erschöpft schloss er die Augen, ließ sich fallen, langsam.

Atmete aus, und ein, mühevoll und immer mühevoller, langsam und immer langsamer…
 

Wurde aufgerüttelt, als er gerade abgleiten wollte, weil sich eine Hand in sein Hemd krallte, ein Gewicht sich gegen seinen Brustkorb presste. Ran hatte ihren Kopf, ihr Ohr an seinen Oberkörper gedrückt, lauschte angestrengt, konnte es kaum schlagen hören – aber noch pochte sein Herz.
 

„Du wirst verdammt nochmal weiter machen.“, flüsterte sie leise.

„Du wagst es nicht, einfach aufzuhören, wenn ich zuhöre, wenn ich dabei bin, hörst du?“
 

Eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel, ihr Gesicht vor Anstrengung verzerrt, als sie lauschte, immer weiter lauschte, auf einen immer neuen Schlag wartete.
 

Shinichi bekam davon kaum etwas mit. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen nicht einmal mehr blau – sie waren fast weiß, absolut blutleer. Heiji fühlte seine Finger, schloss die Augen, schüttelte den Kopf, als er spürte, wie kalt sie bereits waren.
 

Es is nur noch ne Frage der Zeit, Ran…

So sehr du‘s dir auch wünscht… und so gern er wohl deiner Bitte… nein, deinem Befehl gehorch‘n will…
 

Diesen Kampf wird er verlieren.
 

Verdammt…
 

Heiji bekam kaum mit, wie die Sanitäter an ihm vorbeiliefen, sich an Shinichis Sakko, an seinem Hemd zu schaffen machten – nie würde er den Ton vergessen, der entstand, als sie ihm den Pulsmesser an den Zeigefinger klemmten, um seinen Herzschlag sicht- und hörbar zu machen.
 

Der Pulsmesser konnte ihn kaum erfassen. Unregelmäßig schlug die Linie Wellen, zeigte den Kampf, den er um sein Leben austrug, anschaulich auf.

Auf und Ab.
 

Rasend schnell.
 

Dann kam Shiho.

Sie schrie nicht. Weinte nicht. Sank neben ihm in die Knie, griff nach seiner Hand, und spürte es. Fühlte Rans Blick auf sich und schaute auf, rang nach Luft und Worten gleichermaßen, weil sie nicht wusste, wie sie es ihr sagen sollte.
 

„Ran, das schafft er nicht…“, wisperte sie schließlich leise.
 

Mehr jedoch als die Worte war es die einzelne Träne, die über ihre Wange rann, die Ran erschreckte.

„Du irrst dich. Er…“

Shiho schüttelte den Kopf, immer noch die Hand anstarrend, beobachtete seinen Puls. Ihre Miene verzog sich schmerzvoll, als sie die Augen zusammenkniff.

„Was…?“, flüsterte Ran leise.

„Was ist…?“

Shiho schluckte, strich ihm über sein nassgeschwitztes Haar.

„Sein Blutdruck ist viel zu hoch, sein Puls zu schnell, zu unregelmäßig, das halten die Kapillargefäße nicht aus, sie platzen. In der Lunge fängt es an, sieh doch hin, er... hustet Blut. Nicht viel, aber..., es ist nur eine Frage der Zeit, bis… auch in anderen Organen zuerst die kleinsten Gefäße platzen, dann… die größeren… er…“
 

Rans Augen wurden groß. Sie starrte Shiho an – dann wanderten ihre Augen wieder zu Shinichi, dessen Augen fast geschlossen waren.

„Nein, Shinichi. Nein, bitte… bitte…“
 

Er schluckte hart, schmeckte Blut und verzog das Gesicht.

„Ich kann aber nicht mehr, Ran.“

Nur mit Mühe brachte er die Worte hervor.

„Ich will ja. Für dich. Für uns. Ich will dir nicht noch mehr wehtun, ich will… leben, für dich, aber ich… ich...“

Ran hielt den Atem an, sah die Qual in seinen Augen, sah den Willen und gleichzeitig diese ungeheure Müdigkeit.

Es stimmte, was er sagte.

Er war am Ende.
 

Sie schluckte, beugte sich vor, gab ihn einen zarten Kuss auf die Lippen, streichelte ihm über die Wangen. Zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

Eine Träne perlte aus ihrem Auge. Shiho starrte sie an, geschockt.

Ran hingegen griff seine Hände, hielt sie fest, lehnte seine Stirn gegen seine.

„Nur noch ein bisschen, Shinichi… ich weiß, ich verlange Übermenschliches von dir, aber bitte… bitte…“

Sie schluchzte kurz, immer mehr Tränen rannen über ihre Wangen, ertränkten fast ihre Stimme.

„Nur noch ein klein wenig, Shinichi… du musst nur noch ein wenig aushalten…

Ich bin bei dir, du schaffst das…“

„Ran!“

Shiho schaute sie eindringlich an.

„Ran. Lass ihn gehen. Es fällt ihm schon schwer genug, mach es nicht noch…“
 

Aber all diese Worte prallten von ihr ab wie Regentropfen von einem Regenschirm.
 

Ran schniefte, suchte den Blick seiner blauen Augen, fand ihn nicht – dennoch schenkte sie ihm ein Lächeln, strich ihm über die Schläfe.

„Halt durch. Halt bitte, bitte durch. Shinichi…“
 

„Ich bin bei dir. Hörst du…“

Er sah sie an, unfähig, noch ein Wort zu sagen. In seinem Kopf schien sich alles in Wohlgefallen aufzulösen, verdrängte Schmerz und Angst, ließ nur noch ein einziges Gefühl zu.
 

Wärme.
 

Er liebte sie.
 

Sie erahnte sein Lächeln mehr, als dass sie es sah, als der Druck seiner Hand nachließ, langsam. Sie kniete vor ihm, versuchte mit allen Mitteln, ihn festzuhalten.
 

Und nie würde er das Bild vergessen, als sie es gespürt hatte.
 

Vor sich sah er Rans Gesicht, Rans blaue Augen, die vor Schreck groß wurden, der Ausdruck in ihnen, der sich änderte, Angst, Schmerz und Entsetzen sich in ihnen mischten, und er wusste, dass es passiert war. Er sah, wie ihre Haltung auf einmal kraftlos wurde, ihr Körper seine Spannung verlor, sich nicht mehr mühte, sie aufrecht zu lassen.
 

Ran keuchte, wollte nicht glauben, was gerade geschehen war. Sie sackte zusammen, starrte in sein Gesicht, blicklos, ohne ihn anzusehen - hörte kein Wort, das man zu ihr sprach, spürte keine Berührung. In ihrem Kopf fuhren ihre Gedanken Karussell.
 

Nein, das kann nicht sein. Das ist nicht wahr! Sicher ist da – sicher ist da noch was, bestimmt, er kann nicht, er darf nicht…
 

… tot sein…
 

Etwas abseits stand Heiji, der sich über die Augen wischte, wohl in der Hoffnung, die Welt möge danach anders aussehen, allerdings ohne nennenswertes Resultat – die Welt war immer noch genauso beschissen wie davor.
 

In seinen Ohren hallte immer noch der monotone Summton der Nulllinie.
 

Dann hörte er Schritte, die auf ihn zuliefen. Er drehte sich um, und dachte im ersten Moment, einer Fata Morgana gegenüberzustehen – dann erkannte er, dass es Yusaku war, der auf ihn zurannte, sein Gesicht fast so weiß wie frisch gefallener Schnee.
 

Vor Heiji und Kogorô blieb er stehen, in seinen Augen die unausgesprochene Frage.

Er schien die Antwort zu ahnen, als er Ran sah, die in Tränen aufgelöst stumm auf dem Boden saß.

Schließlich war es Heiji, der sprach.
 

Er schluckte, würgte, versuchte, in seine raue Stimme mehr Tonfall zu bekommen.

Yusaku fühlte, wie seine Hände kalt wurden.

„McCoy – Mr Black - war der Boss der Organisation. Er hatte da unten eine… eine Bombe. Nachdem er Shinichi runtergelockt hatte, wollte er abhauen, aber Shinichi hat… ihn daran gehindert, zu gehen, und dabei aber auch sich selbst… jeder Chance auf Rettung beraubt.“

Er massierte sich die Schläfen.

„Wir könnens nicht genau sagen. Er hat ihm eine Überdosis dieses Teufelszeugs gegeben. Ran hat ihn… gefunden, ist mit ihm geflohen, aber er… gerade eben…“
 

Er brachte es nicht fertig.

Kogorô schluckte, fasste sich, bedachte den jungen Mann neben sich mit einem traurigen Blick. Er griff ihn an der Schulter, brachte ihn so zum Schweigen.
 

„Holmes ist mit Moriarty den Reichenbachfall hinabgestürzt.“
 

Yusaku schloss die Augen, atmete scharf ein.
 

„Nein…“

Unendlich leise, unendlich fassungslos kroch das Wort über seine Lippen.
 

Dann drängte er sich an Kogorô vorbei, rannte zu seinem Sohn, der immer noch auf dem Boden lag, wo Sanitäter ihn hektisch auf eine Trage packen wollten, um ihn in den Krankenwagen zu schieben.
 

Vor ihm ging er in die Knie, packte ihn an den Schultern, beugte sich über ihn.
 

„Nein, Shinichi, hörst du! Nein!

Er griff seinen Kopf, lehnte seine Stirn gegen die seines Sohnes.
 

„Verdammt, du hast es versprochen…! Du weißt, Sherlock Holmes hat den Reichenbachfall überlebt, Shinichi. Wenn du ihm wirklich so ähnlich bist, wie alle sagen, dann tu es ihm auch diesmal gleich… für mich.

Einmal sei noch so wie er…

Einmal noch…

Nur noch ein einziges Mal…

Er schluckte hart, seine gewisperten Worte waren im Stimmengewirr fast untergangen.
 

Er hatte nicht mehr viel Kontrolle über sich und seine Wahrnehmung. Er hatte die Worte wohl gehört, sein Gehirn allerdings schien die Informationen, die sie enthielten, in Zeitlupe zu verarbeiten. Ein untrügerisches Zeichen, eigentlich.

Neben sich erkannte er immer noch Ran, die in eine Art Schockstarre gefallen zu sein schien- ihre Augen seltsam leer, nichts bewegte sich an ihr, außer der Tränen, die immer und immer weiter lautlos ihr Rennen über ihre Wangen liefen.
 

Er sah Hattori, der langsam auf seine Fersen sackte, den Kopf in den Nacken fallen ließ, die Augen zukniff, bis schwarze Kreise vor seinem Gesicht tanzten – und sich den Mund zuhielt, als er einfach schreien wollte.
 

Das alles ließ eigentlich keinen Zweifel übrig – genauso wie dieses unendlich tiefe, vollkommene Schwarz, wohlig, samten, warm, das ihn nun einhüllte, ihn sanft umarmte, ihm die Sorgen nahm, jeden Gedanken löschte…
 


 


 

Sie stand in der Tür, schaute ihn nur an, ruhig. In ihrer Hand lag immer noch die Waffe, locker griffen ihre Finger um das kühle Metall.

Sie sah Yusaku, der neben seinem Sohn kniete, der sonst so toughe, ruhige Schriftsteller am Ende seiner Nerven.

Sah diesen lauten Detektiven aus Osaka, auf einmal ganz still.

Sah Shiho, die zusammengesunken war, ihre Augen auf ihn gerichtet, und weinte.
 

Und sie sah Ran, die sich über ihn beugte, immer noch seine Hand hielt.

Ruhig, sanft über sein Gesicht strich, ihn anschaute, durchdringend, fest, starr, als sie sich ihm immer weiter näherte.
 

Und sie sah diesen Kuss, der ihr den Atem stocken ließ.
 

And now…

Fly, angel…
 

Don’t let him fall.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, liebe Leser!

Zunächst, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Eure Meinung zu lesen ist toll und hilft mir wirklich sehr - also Danke an jeden, der sich ein paar Minuten Zeit dafür nimmt!

Nun - Damit ihr nicht ganz solange warten müsst... gibt's diese Woche ein Bonuskapitel!

Ich kann nachvollziehen, wenn das Kapitel etwas verwirrend zu lesen war; die Gedanken all der Leute unterzubringen, Shinichis Träume, daneben noch die Handlung, war nicht ganz leicht; daneben sollte das ganze auch recht dicht sein, schließlich passiert das alles innerhalb von ein paar Minuten. Ich hoffe, es hat euch gefallen.

Und lass euch mal bis Sonntag schmoren und brüten über die Frage, ob ich unseren Detektiven seinen persönlichen Reichenbachfall, anders als Holmes, endgültig hinuntergestoßen habe - oder nicht... Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Sunah
2019-06-20T20:34:18+00:00 20.06.2019 22:34
Ich brauch gleich auch einen Arzt. 😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱

Ich frag mich wie wohl Jodie und Akai drauf reagieren, das Anokata direkt vor deren Augen war. Und ob Jodie die Jagd auf Sharon einstellt...Fragen über Fragen.
Der Titel des Kapitels war eine gute Warnung und jetzt drück ich alle Daumen und Zehen damit es wie beim originalen Reichenbachfall endet, sonst mach ich einen auf originalen Sherlockian und protestiere solange bis es ein Happy End gibt😂😂 Ich bin zwar ein Fan der tragischen Storys aber nach der Achterbahnfahrt der Gefühle (man hab ich Herzrhytmusstörungen bekommen) will ich ein Happy End.
Antwort von:  Leira
25.06.2019 16:20
Die Reaktion von Jodie und Akai kommt im übernächsten Kapitel. Ich fand, das nächste Kapitel, obwohl recht kurz, sollte einfach mal nur Shinichi und Ran gehören. Ob ich mich nun fürchten muss, kannst du mir sagen, wenn du's gelesen hast :)
Von:  holzeren
2019-06-20T18:09:53+00:00 20.06.2019 20:09
Oh mein gott 😱😱spannung pur...ich muss es wieder sagen..dein schreibstil ist echt der pure wahnsinn..du hast mich wieder vollkommen mitgerissen...gänsehaut😱😱beim ende sind mir die tränen gekommen..ich hoffe du lässt ihn nicht über die klippe springen
Antwort von:  Leira
25.06.2019 16:19
Kannst du ab heute nachlesen ;)
Von:  Malinn
2019-06-20T14:36:53+00:00 20.06.2019 16:36
Hallo Liebe Leira,

Ich habe mir jetzt einfach einen Account gefertigt auf dieser Website, damit ich Dir danken kann. 

Ich bin sonst immer ein stiller Mitleser gewesen (wie wahrscheinlich viele auf der Plattform), und habe Deine Stories schon seit Amnesia, als es noch am Laufen war mit verfolgt. Sprich ich bin seit Beginn von Dunkler als Schwarz dabei. Die lange Pause dazwischen hatte mich befürchten lassen, dass Du die Geschichte abgebrochen hast und sie nicht mehr vollenden wirst. Aber das Warten hat sich gelohnt ;) Ich war so überrascht und es hat mich so gefreut, als ich wieder ein neues Kapitel von Dir entdeckt habe! Danke, dass Du weiterschreibst! 

Die Kapitel, auch generell die ganze Story, sind wahnsinnig spannend aufgebaut, und Du hast einen sehr flüssigen Schreibstil, den man sehr gerne liest. Auch die Englischen Anteile finde ich sehr gut eingesetzt.

Die Charaktere sind sehr authentisch dargestellt und sehr schön beschrieben, auch deren Handlungen sind gut in Szene gesetzt. Alles in allem ist es eine sehr sehr gute Story (inhaltlich sowie gutgeschrieben).

Ich kann es nicht erwarten den Schluss dieser Geschichte zu lesen (wahrscheinlich fange ich die gesamte Geschichte nochmal von Neuen an, um es noch einmal genießen zu können).

Mit herzlichsten Grüßen
Eine treue Leserin

P.S Ich finde alle Deine Geschichten wahnsinnig interessant und spannend (Dunkler als Schwarz ist aber mein Liebling (sowie Junischnee))


Antwort von:  Leira
25.06.2019 16:18
Hallo Malinn,
zuerst einmal: herzlich Willkommen in unserer Runde! Es ehrt mich sehr, dass du dich extra angemeldet hast, um mir zu kommentieren - und ich freue mich unglaublich! Ich hoffe, auch die letzten Kapitel dieser Geschichte werden dir gefallen; das neueste habe ich gerade freigeschaltet.
Herzliche Grüße,
Leira
Von:  Desiree92
2019-06-20T13:14:34+00:00 20.06.2019 15:14
😱😫😭😫😭😭😭😭😭😭😭😱😱😭😭😭😭
diese Emoticons spiegeln gerade mein Inneres...

Du hast mich mal wieder Emotional so getroffen.
Mega gutes Kapitel, finde dass du die Gedanken, Träume ect. der verschiedenen Personen sehr gut beschrieben und dargestellt hast. Fand ich sehr angenehm zu lesen.

Bin so gespannt wie es weitergeht 🙈🙈
Antwort von:  Leira
25.06.2019 16:20
Dankeschön! Das neue Kapitel ging gerade online :)


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