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In the Dark

von

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Gifts

Zu seinem Bedauern - und wahrscheinlich noch mehr zu Lokis Bedauern - war das Gästezimmer nicht nur unaufgeräumt und eng, sondern auch verflucht kalt. Kälter als die anderen Räume, was höchstwahrscheinlich daran lag, dass das Fenster hier undicht war. Normalerweise hatte ihm das selten etwas ausgemacht, aber jetzt, da die Heizung nicht funktionierte und es draußen auch noch zu schneien angefangen hatte, war die Kälte unmöglich zu ignorieren.

Während er für einen Moment in den Anblick der Schneeflocken vertieft war, die langsam durch die Dunkelheit des Nachthimmels schwebten und diesen so ein wenig erhellten, registrierte er leise Lokis Stimme hinter sich, die undeutlich etwas murmelte, das sich wie 'Verdammt' anhörte. Als er sich zu ihm umdrehte, erklärte sich von selbst, worauf sein Fluchen sich bezog.

„... Bei der Temperatur hast du sicher Schwierigkeiten, deine Gestalt zu wahren, oder?“

„Nein, Thor. Wie man sieht, fällt mir das ganz leicht. Ich habe nur zum Spaß diese hässliche Form angenommen“, sagte er in einem überaus sarkastischen Tonfall. Seine roten Augen funkelten ihn auf eine Weise an, die er nicht richtig deuten konnte, aber er war sich sicher, dass Loki sich in diesem Raum wohl nicht entspannen können würde, wenn er seine äußere Form nicht in den Griff bekam. Seufzend widmete er sich wieder dem Fenster, um die Rolläden herunterzulassen, ehe er ein paar Schritte auf seinen Bruder, der nun absolut nichts mehr von einem Asen an sich hatte, zuging und ihn mitfühlend ansah.

„Kannst du nicht irgendeinen Trick anwenden, damit du nicht so aussehen musst...?“, fragte er vorsichtig und hatte noch immer seine Probleme damit, die Mimik seines Gegenübers richtig zu verstehen. Als Jotun aus Fleisch und Blut erschien ihm sein Gesicht so fremd, obwohl es ihn im Grunde nicht einmal stark veränderte.

„Wie hättest du mein Aussehen denn gerne?“

Mit einer Gegenfrage dieser Art hatte er offen gestanden nicht gerechnet. Bevor er jedoch Gelegenheit hatte, darauf einzugehen, umgab Loki plötzlich ein aufblitzendes Licht, das Thor reflexartig die Augen zukneifen ließ. Als er sie wieder öffnete, schluckte er schwer. Er stand Jane gegenüber.
 

„Gefällt es dir so besser?“, fragte sie spöttisch, ihre zierlichen Züge zu einem angestrengten Lächeln verzogen. Thor musste sich klar machen, dass es nicht wirklich Jane war, die da vor ihm stand. Aber Loki hatte sie überzeugend getroffen, das konnte er ihm nicht absprechen. Vermutlich musste er all seine Konzentration dazu aufbringen, nicht wieder die Kontrolle über seine Form zu verlieren.

Sprachlos beobachtete er, wie 'Jane' prüfend an sich herunterschaute und sich ihm dann wieder zuwandte, mit dem typischen Grinsen, das er unter Hunderten als das seines Bruders identifiziert hätte. Unschuldig zu ihm aufblickend griff sie ihm mit einer Hand in den Nacken und zog ihn ohne Vorwarnung in einen Kuss; nicht langsam und auch nicht schnell. Fordernd. Das war das treffendste Wort, um ihre Berührungen zu beschreiben.

Thor ließ es zu, was sie mit ihm tat, erwiderte ihren Kuss, der zunehmend leidenschaftlicher wurde, während er ihre Hand erst auf seiner Brust und später unter seinem Shirt spürte.

Das ist nicht Jane, sagte er sich erneut in Gedanken. Es waren ihre Lippen und es war ihr Körper. Und trotzdem fühlte es sich nicht an wie sie. Es war nicht zu vergleichen.

Loki ging einen Schritt rückwärts, nachdem er sich von ihm gelöst hatte, und musterte ihn durch Janes Augen von oben bis unten.

„Das scheint Eindruck bei dir hinterlassen zu haben“, sagte er mit ihrer Stimme. Seine Haltung war sichtlich angespannt, vermutlich ebenfalls wegen der Anstrengung, die seine Verwandlung erforderte. Allerdings hatte er vollkommen Recht mit dem, was er sagte. Es hatte Eindruck bei ihm hinterlassen. Und wie es das hatte.

Doch er konnte sich kaum vorstellen, dass es Loki gefiel, die Rolle seiner Konkurrentin einzunehmen, jetzt, wo sie alleine und ungestört waren. Er selbst betrachtete ihn und Jane nicht einmal als etwas, das sich Konkurrenz nennen sollte. Sie beide waren ihm wichtig, wenn auch auf unterschiedliche Weisen. Aber Loki betrachtete es so, daran bestand kein Zweifel. Es war für ihn wie ein Spiel, das er gewinnen wollte. Ein Unentschieden duldete er nicht. Und er würde ihm geben, was er wollte, in dieser einen Nacht. Es war seine letzte Nacht und er würde ihm alles geben, was er wollte - nur um seinen Bruder noch ein einziges Mal glücklich zu sehen, bevor ihre Wege sich endgültig trennten.
 

„Loki... Warum tust du das?“, fragte er rau, selbst überrascht von der Erregung, die bereits in seiner Stimme lag. „Diese Gestalt meine ich. Wieso...?“

„Oh. Ist das etwa nicht gut?“

Eine Handbewegung seinerseits ließ ihn ein weiteres Mal sein Äußeres verändern, als wäre es etwas Alltägliches, nicht Erwähnenswertes.

„So vielleicht?“

Leicht erschrocken musste Thor feststellen, dass es nun Darcy war, die ihn mit einem undefinierbaren Blick durchbohrte, doch auch ihre Erscheinung blieb nicht lange bestehen. Wenige Sekunden später fand er sich Auge in Auge mit Sif wieder, die durch ein bloßes Fingerschnippen im nächsten Moment völlig unbekleidet in verführerischer Pose vor ihm stand.

„Oder ist es dir so am liebsten?“, hauchte sie, in einer Art zu ihm vorgebeugt, die weder wirklich zu ihrem Wesen passte noch aufgesetzt wirkte. Es war schlichtweg nicht sie.

„Genug“, flüsterte Thor. Ihm wurde merklich wärmer, mit jedem Atemzug, doch das Gefühl der Begierde, das sich langsam immer mehr in ihm ausbreitete, wurde begleitet von Schuldgefühlen; tiefen Schuldgefühlen, die sein Gewissen in Beschlag nahmen und nicht mehr losließen.

„Hör auf damit. Du bist weder Jane noch Darcy noch Sif. Auch wenn du ihnen noch so sehr gleichst... Das ist nur eine Hülle. Für mich sollst du dich nicht verwandeln.“

„Nein?“
 

Genauso plötzlich, wie er innerhalb kürzester Zeit das Aussehen drei völlig unterschiedlicher Personen angenommen hatte, stand Loki nun wieder in seiner ursprünglichen Form dort - das kalte Blau auf seiner Haut durchzogen von feinen Musterungen, die sich über seinen gesamten Körper erstreckten.

„Dann ist es also das, was du willst?“

Die Temperatur schien ihm nicht im Entferntesten etwas auszumachen; zumindest physisch. Kein Fünkchen Anstrengung war ihm mehr anzusehen, jetzt, da er seine Magie nicht benutzte. Dafür war dort etwas anderes. Trotz der Eleganz, die seine gewissermaßen respekteinflößende Jotunengestalt ausstrahlte, wirkte er auf ihn seltsam schwach.

Es lag nicht an seiner Statur. Obwohl er auf den ersten Blick keinen sonderlich kräftigen Eindruck machte, da er im Vergleich zu Thor eher zierlicher Natur war, waren deutlich Muskeln zu erkennen, die sich auf seinem wohlgeformten Körper abzeichneten und davon zeugten, dass er alles andere als schwächlich war. Es war viel eher eine innere Schwäche, die er glaubte, ihm anzusehen - selbst bei seinen verfremdeten Gesichtszügen, in denen er bisher nicht hatte lesen können.

„Glaubst du mir nicht, dass du mir auch so wie du jetzt bist gefällst?“, fragte Thor, seine eigene Nervosität so gut es ging überspielend. „Soll ich es dir beweisen?“

Anstatt auf eine Antwort seines Gegenübers zu warten, die er ohnehin nicht bekam, legte er einen Arm um Lokis Hüften und gab ihm einen Kuss, sanft und versöhnlich, wie zur Bestätigung, dass das, was sie hier taten, richtig war. Er selbst brauchte diese Bestätigung.

Nie im Leben hätte er sich ausgerechnet, dass er einmal in eine solche Situation geraten würde; nicht hier, nicht an diesem Tag, nicht mit dieser Person. Und doch wäre es eine glatte Lüge gewesen, hätte er behauptet, er sei der Sache abgeneigt. Thor wusste nicht, ob es richtig war. Aber falsch war es definitiv nicht.
 

Er spürte Lokis Unsicherheit, während er mit Lippen und Zunge seinen Hals hinabglitt, und hörte, wie ihm ein leises Seufzen entfuhr, als er an seinem Schlüsselbein angelangt war. Wie auch immer es hierzu gekommen war - es sollte nicht aufhören. Er wollte ihn. Für den Rest seiner geringen Lebensdauer würde er ihm gehören, und er würde es gewiss bereuen, ließe er diese Gelegenheit verstreichen. Lokis Wunsch zu erfüllen war alles, was im Augenblick zählte.

Sein Duft, die Kühle seiner nackten Haut und die zischenden Laute, die er hin und wieder als Reaktion auf seine Berührungen von sich gab, trieben ihn in eine Art Rausch. Er wollte mehr, mehr von ihm. Doch bevor er dazu kam, einen Schritt weiterzugehen, wurde er zurückgehalten.

Fragend blickte er Loki an, dessen rechte Hand ihn bestimmt auf Abstand hielt, und versuchte zu erkennen, was in ihm vorging.

„Sieh mich nicht so an...“, sagte er, das Gesicht von ihm abwendend. „Ich glaube dir nicht. Wie könntest du diesen Körper dem einer Asenfrau - oder von mir aus auch dem einer Menschenfrau - vorziehen? Du kannst das Jotunenvolk nicht ausstehen. Auch wenn du mich... küsst, beweist mir das gar nichts.“

„Hör zu, Loki... Ich glaube, du selbst hast ein viel größeres Problem mit dir als ich es habe“, gab er ruhig zurück. „Es ist mir egal, von wem oder was du abstammst. Du bist und bleibst derjenige, mit dem ich aufgewachsen bin... mit dem ich fast mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe und mit dem ich diese Nacht verbringen will. Ganz gleich, wie du aussiehst.“

Entschlossen, seine Zuneigung zu ihm unter Beweis zu stellen, lächelte er ihn an, mit einer beiläufigen Geste den kleinen Schalter hinter sich in der Wand betätigend.

„Ist es dir lieber, wenn das Licht aus ist? Dann musst du dich selbst nicht sehen...!“, lachte er, bemüht, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es dauerte nicht lang, bis er Konturen im Raum erkennen konnte.

„Mach dich nicht über mich lustig“, hörte er Loki leise sagen. Er schien sich nicht zu bewegen, und, obwohl er nicht allzu viel von ihm sah, wusste er, dass er eben irgendetwas Falsches gesagt haben musste.

„Das tue ich nicht! So war das nicht gemeint, ehrlich!“, versuchte er, sich für das zu entschuldigen, was Loki anscheinend verärgert hatte. Warum war es bloß heute so schwierig mit ihm?

Nein, nicht bloß heute. Wenn er darüber nachdachte, war sein Bruder schon während ihrer Jugend häufig aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen aufgewühlt gewesen, doch wenn man ihn darauf angesprochen hatte, hatte er nicht darüber reden wollen.

„Weißt du... Ich finde es ja reizend, was du mir hier gerade erzählt hast. Allerdings habe ich dir auch etwas zu sagen, Thor“, flüsterte er. Seine Stimme klang mit einem Mal seltsam verbittert. „Ich weiß nicht, was diese Minuten dir bedeuten... Aber mir bedeuten sie alles. Du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen. Für dich ist das wahrscheinlich nur ein nebensächlicher Abschied von einem Familienmitglied, an den du irgendwann keinen Gedanken mehr verschwendest. Eine kleine Abwechslung, bevor du dich wieder ganz deiner Frau widmest und weiterlebst, als wäre nichts gewesen. Aber weißt du, was es für mich ist?“

Beinahe traute er sich nicht, etwas darauf zu erwidern. Es gab so viel, das er jetzt gern zu ihm gesagt hätte, doch letztendlich waren es nur drei Worte, die er leise herausbrachte:

„Sag es mir!“
 

Als hätte er eine Ewigkeit auf diesen Moment, auf diese winzige Aufforderung von ihm gewartet, nahm Loki einen tiefen Atemzug, bevor er anfing, es ihm zu erklären.

„Damals... als wir noch Kinder waren, habe ich zu dir aufgeschaut“, sagte er. „Nicht wegen deiner Kraft oder deiner Fähigkeiten. Darauf war ich nie neidisch. Aber du hattest immer etwas, das ich nicht hatte: Freunde. Du hattest andere Kinder um dich herum, die dich offen und ehrlich bewundert haben, die dich mochten und mit denen du Spaß hattest. Eine andere Art von Spaß als wir zuhause mit unseren Eltern hatten. Ausgelassener, sorgloser... frei von Regeln. Du kanntest diese Art von Spaß, von Freiheit, die ich nicht kannte... weil ich meist alleine war, in der Nähe unserer Mutter, und mir einredete, solche albernen Freunde überhaupt nicht zu brauchen.

Irgendwann kam der Tag, an dem mir bewusst wurde, dass ich mir etwas vormache, wenn ich so denke. Das war abzusehen gewesen. Ich hätte ganz schön naiv sein müssen, das nicht zu merken. Also habe ich gelernt, einfach damit zu leben, dass du beliebt warst und ich eben nicht.

Einige Zeit später hast du angefangen, Mädchen mit anderen Augen zu betrachten als Jungen. Ich hatte den Unterschied damals nicht verstanden, bis du ihn mir erklärt hast. Erinnerst du dich an unser Gespräch, das wir geführt haben, als wir alleine waren, ohne unsere Eltern oder deine Freunde?“

Thor musste kurz überlegen, dann fiel es ihm verschwommen wieder ein.

„Das ist lange her, aber... ja, ich weiß es noch“, antwortete er, nicht sicher, worauf Loki hinaus wollte.
 

„Dieses Gespräch... hat etwas verändert zwischen uns. Ich glaube, du hast es nicht wirklich mitbekommen, aber obwohl du mir alles, was es zu wissen gab, genauestens erklärt hast, war ich danach ziemlich durcheinander. Während wir darüber geredet haben, habe ich versucht, mir vorzustellen, wie es wohl ist mit einem Mädchen. Was das für ein Gefühl sein muss, das du mir beschrieben hast. Als du mich nach unserem Gespräch seit Langem das erste Mal wieder umarmt hast, habe ich dieses Gefühl bekommen, von dem ich dachte, ich müsse es haben, wenn ich mit einem Mädchen zusammen bin. Von da an war mir klar, dass mit mir etwas nicht stimmt.“

Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach, und Thor glaubte langsam zu begreifen, was Loki ihm sagen wollte.
 

„Manchmal habe ich dich gesehen, mit deinen Freundinnen. Und zum ersten Mal war ich wirklich eifersüchtig. Nicht auf dich, sondern auf sie. Ich habe es anfangs darauf geschoben, dass sie mehr Zeit mit dir verbracht haben als ich. Aber, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, hat es nicht lange funktioniert, mir das einzureden. Als ich feststellte, dass nicht die Zeit, die sie mit dir verbrachten, mich eifersüchtig machte... sondern die Tatsache, dass sie Seiten von dir kannten, dir mir immer unbekannt bleiben würden... Ich konnte es nicht dabei belassen und habe versucht, mir das auszutreiben. Ich habe alles getan, um nicht mehr daran zu denken, und am Ende war ich so frustriert, dass ich mich am liebsten für den Rest meines Lebens eingeschlossen hätte, weil es nicht ging...“

„Komm schon, Loki... So schlimm ist es doch nicht. Jetzt übertreibst du aber...“

„Ich übertreibe?“, zischte er aufgebracht. „Du hast keine Ahnung, wie es mir die ganze Zeit damit ging...! Ich hielt mich für krank, dass ich so etwas für meinen eigenen Bruder empfand... Ich habe es weder fertiggebracht, darüber zu sprechen, noch irgendwen in meine Nähe zu lassen! Bis heute hat mich niemand berührt, während du dich ständig mit irgendwelchen Frauen vergnügt hast. Weißt du, wie es für mich war, das immer sehen zu müssen...?“

„Moment“, unterbrach Thor ihn, als ihm schlagartig etwas bewusst wurde. „Bis heute hat dich niemand- Verstehe ich das richtig? Du hattest tausend Jahre lang keinen Sex? Ist das wahr?“

Loki seufzte schwer, und Thor befürchtete, ihn mit dieser Frage nur unnötigerweise noch mehr heruntergezogen zu haben.

„Ich habe es ein einziges Mal ausprobiert... mit einer unserer Bediensteten. Aber ich konnte es nicht. Es ist nichts passiert zwischen uns“, antwortete er hörbar angespannt.

„Verstehe.“
 

Unglaublich. Unglaublich, wie viel sein neu erlangtes Wissen doch änderte. Eigentlich änderte es so gut wie alles. Und das Schlimmste war, dass er es noch nicht einmal nachempfinden konnte. Er hatte immer bekommen, was er wollte - von Anfang an. Sein Bruder jedoch hatte all das, was er als selbstverständlich erachtete, sein ganzes Leben lang nie besessen. So viele Jahrhunderte lang war niemand da gewesen, mit dem er reden konnte. So gesehen war es kaum verwunderlich, dass er irgendwann angefangen hatte, sich gegen die Anderen zu stellen, die ihm schließlich auch selten etwas entgegengebracht hatten außer Ignoranz oder Verachtung.

Thor konnte sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie es sein musste, immer alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Aber Loki war es von klein auf so ergangen.

Und dann war da noch diese schreckliche Sache, die er und seine Freunde ihm damals in Asgard angetan hatten, als Strafe für einen lächerlichen Streich...

Wie viel von dem was Loki getan hatte war in Wirklichkeit seine Schuld, weil er ihn, anstatt sich wie ein guter Bruder um ihn zu kümmern, die ganze Zeit, ohne es selbst zu merken, gedemütigt hatte?

Es konnte einfach nicht wahr sein. Er hatte alles falsch gemacht.
 

Verunsichert blieb er in der Dunkelheit stehen und rührte sich nicht. Er wollte Loki in den Arm nehmen und ihm sagen, dass es ihm leid tat. Aber war es wirklich das, was er jetzt hören wollte? Reichte eine Zeitspanne von weniger als einer Stunde überhaupt aus, um wiedergutzumachen, was er mit seiner Starrsinnigkeit angerichtet hatte?

So gut er auch für gewöhnlich mit den unterschiedlichsten Situationen umgehen konnte - seine derzeitige Lage überforderte ihn. Er konnte nichts tun.

„Willst du mir nicht... etwas sagen?“, hörte er die Stimme seines Gegenübers, leise, als würde sie sich fast im Raum verlieren. Zögerlich sah er ihn an, inzwischen gewöhnt an die durch spärlich vorhandene Lichtquellen verschleierte Sicht.

„Ich... weiß es nicht“, flüsterte er. „Würdest du mir verzeihen, wenn... ich dich als dein Bruder ehrlich darum bitte?“

Loki trat einen Schritt auf ihn zu, sodass nun kein Abstand mehr zwischen ihnen bestand.

„Nein, Thor“, antwortete er. Seine Nähe war wie ein eisiger Luftzug an einem verschneiten Tag wie diesem. „Du hast dich heute schon einmal bei mir entschuldigt. Du sollst mich nicht um Verzeihung bitten. Was ich von dir verlange, ist lediglich, dass... du mich dieses eine Mal nicht als deinen kleinen Bruder betrachtest. Das ist alles...“

Es war ein bescheidenes Anliegen, doch es schien ihm so wichtig zu sein, dass er es ihm unmöglich abschlagen konnte. Lange, lange Zeit hatte er in ihm nichts als einen Bruder gesehen; einen Bruder, der seltsam anders war als er selbst und alle, die er gekannt hatte. Am Ende hatte erst etwas Furchtbares passieren müssen, damit er die Wahrheit erkannte.

„Einverstanden, Loki“, sagte er, während er ihn, zitternd von der Kälte, in seine Arme schloss, fast so wie früher, als noch nichts zwischen ihnen gestanden hatte. „Wenn das dein Wunsch ist...“
 

Hitze und Kälte erfassten ihn gleichermaßen, als er Lokis Haut auf seiner spürte. Das Oberteil, das er sich kurzerhand abgestreift hatte, lag irgendwo in der Schwärze des Zimmers auf dem Boden, während er auf dem Bett über Loki kniete, dessen grazile Hände federleicht über seinen entblößten Oberkörper strichen, als hätte er dies schon unzählige Male getan. Einzig der Blick in seine rot glühenden Augen verriet ihm, dass dem nicht so war. Hatte er anfangs noch die Mimik der von dünnen Linien durchzogenen Züge nicht deuten können, so las er jetzt umso mehr in ihnen - Begierde und Verlangen genauso wie Angst und Unsicherheit.

Und zum ersten Mal fühlte er mit absoluter Sicherheit genau dasselbe. Das Verlangen danach, sich diesen nahezu perfekten, wenngleich auch so fremden Körper zu Eigen zu machen, gepaart mit der Unsicherheit und der Angst vor dem Ungewissen. Der Angst, wieder etwas falsch zu machen. In gewisser Weise war es beruhigend zu wissen, dass er nicht der einzige war, dem es so ging. Loki spürte all das mit großer Wahrscheinlichkeit noch um einiges intensiver als er, wenn er es auch nicht direkt zeigte.

Eine beinahe unwirkliche Schönheit lag in der Art, in der er ihn von unten herauf ansah, jede kleinste Bewegung genau verfolgend, umgeben von der nächtlichen Dunkelheit. Er schien nahezu eins zu sein mit ihr.

Der Anblick war so surreal, dass er fürchtete, das Bild vor seinen Augen könne sich jeden Moment auflösen und er sich allein und verlassen in seinem Bett wiederfinden. Doch nichts dergleichen geschah; egal, wie lange er den Anderen betrachtete, wie viel er von ihm spürte oder schmeckte, und wie oft er ihn trunken vor Lust zum Stöhnen brachte. Nichts löste sich auf, und bald war die Befürchtung, sich nicht länger beherrschen zu können, größer als alles andere.
 

Lokis unnahbare Fassade durchbrochen zu haben, war etwas, das er längst nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Nicht in diesem Ausmaß. Zu erleben, wie er sich ihm öffnete, sich ihm mit Leib und Seele hingab, ließ den letzten Rest an brüderlichen Gefühlen, die er bis vor Kurzem noch für ihn gehegt hatte, ersterben, nur um einem anderen, weitaus tiefergehenden Gefühl Platz zu schaffen, das er in der Form bisher nicht gekannt hatte. Er wollte die Welt mit all ihren Regeln hinter sich lassen und mit ihm zusammen über die Grenze schreiten, wenigstens bis Anbruch des nächsten Tages - bis er ihn für alle Ewigkeit loslassen musste.

Nein...

Er durfte nicht daran denken. Die Vorstellung war zu schwer zu ertragen.

Ausgerechnet jetzt, wo sie sich wiedergefunden hatten und wo endlich alles gut war, sollte er...

„Was ist los...?“

Thor bemerkte die Verständnislosigkeit in Lokis Stimme und in seinem Blick, als er in seinem Tun innegehalten und sich von ihm gelöst hatte.

„Warum hörst du auf...?“

„Musst du mich wirklich... wieder verlassen?“, fragte er leise, und als er keine Antwort bekam, fügte er lauter hinzu: „Ich will nicht, dass du gehst...!“

Loki schaute stumm zur Seite, so als wisse er nichts darauf zu erwidern. Seine Haare waren durcheinander, seine Atmung deutlich beschleunigt. Hinter seiner so makellosen Maske wirkte er fast hilflos. Verletzlich und hilflos.

„Bleib bei mir, Loki. Wir können die Vergangenheit ruhen lassen und neu anfangen.“

„Gutgläubiger Narr...! Wie stellst du dir das vor? Soll ich vielleicht jedes Mal eine andere Gestalt annehmen, sobald deine Freunde in der Nähe sind? Wo, denkst du, soll ich denn hin?“

„Wir finden eine Lösung! Irgendwie wird es funktionieren und wir werden alles nachholen, was wir damals versäumt haben...“

„Selbst wenn du eine Lösung finden würdest... Es geht nicht. Ich kann hier nicht bleiben, und das weißt du.“
 

Betrübt sah er ihn an, in dem Wissen, dass dies die letzte Gelegenheit sein würde, etwas nachzuholen. Die letzte Gelegenheit, ihm nah zu sein. Doch so oft er es sich auch vor Augen führte, er wollte es nicht wahr haben.

Wäre Loki doch gar nicht erst aufgetaucht, sondern fortgeblieben... Es wäre alles so viel einfacher gewesen. Er hätte nicht mit diesem furchtbar schlechten Gewissen zu kämpfen, sondern würde glückliche und zufriedene Weihnachtstage mit Jane verbringen, sich auf Midgard einleben und an die gemeinsame Zukunft mit seiner Freundin denken, anstatt sich Gedanken über die Vergangenheit zu machen. Offenbar wollte das Schicksal es aber nicht so, denn sonst läge er nicht anstelle von Jane mit seinem Adoptivbruder im Bett, den er auf eine seltsame Art begehrte, die außerhalb seines eigenen Verständnisses lag.

„Es ist in Ordnung, Thor“, hörte er ihn leise sagen, und erschauderte unter den Berührungen seiner kalten Hände auf seinem Rücken. „Noch bin ich da.“

„Ja... ich weiß“, antwortete er; die letzten Worte, die vorerst fielen. Dann wurde es still.
 

Bis auf ihre ungleichmäßigen Atemzüge, die er bald nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, hatte sich wie auf einen Schlag eine undurchdringliche Ruhe zwischen ihnen ausgebreitet, die so viel mehr sagte als irgendein Wort es in diesem Moment gekonnt hätte. Jede Geste; jede Bewegung, die einer von ihnen vollführte, schien wie im Rausch zu geschehen, als wären es nicht mehr sie selbst, die die Kontrolle über ihre Handlungen ausübten, sondern ein fremder, noch unentdeckter Teil in ihnen, der nun erstmals zum Vorschein kam.

Begierig, mehr von ihm zu spüren, beugte Thor sich ein Stück weiter herunter und presste seine Lippen auf die des Anderen, woraus sich schnell ein tiefer und leidenschaftlicher Kuss entwickelte, während er eine Hand über Lokis Oberschenkel streichen ließ, langsam zu seiner Mitte hin. Der lustvolle Laut, den er ihm damit entlockte, trieb ihn dazu an, weiterzugehen, seine Erregung bis in ungeahnte Maße zu steigern; und er intensivierte seine Berührungen, von Sekunde zu Sekunde, bis er das Gefühl hatte, Loki mit jedem weiteren Kontakt dieser Art an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Er wusste plötzlich, wie er fühlte; wie er all die Jahre gefühlt hatte, und er wollte diese neue Verbundenheit zwischen ihnen nicht verlieren. Nein - er wollte noch so viel mehr.

Loki blickte ihn fragend an, als Thor von ihm abgelassen und sich ein Stück weit aufgerichtet hatte, schien jedoch zu begreifen, was er vorhatte, als er ihn weiterhin beobachtete. Kurz zuckte er zusammen, als Thor seine Hand erneut zwischen dessen gespreizten Beinen positionierte und damit anfing, ihn auf den weiteren Verlauf der Nacht vorzubereiten; vorsichtig und immer bedacht, nichts zu überstürzen. Trotzdem war seine Anspannung ihm deutlich anzusehen - sein leicht schmerzlich verzogenes Gesicht und die Anstrengung, mit der er das Laken umklammert hielt, zeugten davon, dass er es definitiv nicht gewohnt war, was er mit ihm tat. Würde er es nicht mit eigenen Augen sehen und hätte Loki ihm nicht bereits zuvor gestanden, dass er keinerlei Erfahrung in solchen Dingen hatte... er hätte es nicht geglaubt. Tatsächlich war er immer davon ausgegangen, dass Loki jemand war, der sich gern hier und dort vergnügte, sowohl mit Frauen als auch mit Männern, und sich einfach nahm, was er wollte, wenn ihm danach zumute war. Dass er ihn wohl vollkommen falsch eingeschätzt hatte, wurde ihm jetzt allzu klar bewusst.
 

Mit beiden Armen auf der Matratze abgestützt überließ Loki sich ihm schweigend; nur gelegentlich schloss er seine Augen für einen Moment, scheinbar überwältigt von der ungewohnten Nähe und dem Gefühl, das sie mit sich brachte. Dann wieder öffnete er sie, um ihn dabei ansehen zu können; um keine seiner Blicke zu versäumen. Noch immer fragte er sich, ob das, was sich hier abspielte, wirklich geschah oder ob es nicht doch bloß ein eigenartiger Traum war. Jedoch entschied er für sich, dass es keine Rolle spielte - alles, was er wollte, war, es bis zum Ende auszukosten. Egal, was danach passieren würde.

Kein Geräusch störte die inzwischen Teil von ihnen gewordene Ruhe, abgesehen von dem leisen Rascheln des Stoffes, das verursacht wurde, als Thor sich entschlossen seiner noch übrig gebliebenen Kleidung - der mittlerweile viel zu engen Jeans und der darunter befindlichen Shorts - widmete, die er mit einem Griff auszog und achtlos in der Dunkelheit verschwinden ließ, irgendwo auf dem Boden, wo auch sein Oberteil zuvor gelandet war.
 

Loki, der sich, wie es aussah, wieder etwas gefasst hatte, setzte sich auf und musterte eingehend Thors nun ebenfalls nackten Körper. Die in dieser Situation etwas absurde Frage, ob er als Jotun mit seinen roten Augen wohl darauf spezialisiert war, im Dunkeln besser sehen zu können, schoss ihm durch den Kopf. Doch lange konnte er sich auf diesen Gedanken nicht konzentrieren, da sein Gegenüber sofort wieder seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog.

Lächelnd, dann auf eine für ihn äußerst untypische Art kichernd, sah Loki starr an ihm vorbei, zur Tür oder sonstwohin, offenbar nervöser geworden als er es normalerweise von sich hätte preisgegeben.

„Ver-dammt“, murmelte er betont in die Länge gezogen, noch immer mit diesem unpassenden Lächeln im Gesicht.

„Hey, bin ich wirklich so unattraktiv...?“, scherzte Thor, und Loki vermied es sichtlich, ihn direkt anzusehen. „Was ist denn los mit dir? Hast du es dir anders überlegt?“

Stumm betrachtete sein sonst so schwer aus der Ruhe zu bringender Adoptivbruder das Bettlaken, und gab erst, als Thor ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte, eine Reaktion von sich.

„... Nein, ich habe es mir nicht anders überlegt“, sagte er nach einer Weile, ohne den Blick vom Laken abzuwenden. „Es kommt mir nur gerade alles sehr unwirklich vor... und ich bin nicht sicher, wie viel von dieser verzerrten Realität ich noch aushalte.“

„Heißt das etwa, du gestehst dir tatsächlich Schwäche ein, Br-“ Er schaffte es gerade rechtzeitig, sich zurückzuhalten und das Wort nicht auszusprechen. Loki wollte von ihm nicht so genannt werden, doch es war die Macht der Gewohnheit, die ihn überkommen hatte. Der Ausdruck in Lokis Gesicht war seltsam leer geworden.

„Darf ich nicht ein einziges Mal vor meinem eigenen Bruder Schwäche zeigen...?“, fragte er, und es wirkte so traurig, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, von dem eben Gesagten überrascht zu sein. Das Bedürfnis, ihn wieder aufzuheitern, überwog, und ohne lange nachzudenken, umfasste er Lokis Handgelenk, führte es zu sich und gab ihm einen Handkuss, wie ein ehrfürchtiger Diener es bei seiner Königin tat.

„... Hey! Was...“, protestierte er und erwiderte endlich, mit einer Mischung aus Verwunderung und Scham, seinen Blick.

„Natürlich dürft Ihr Schwäche zeigen, Prinz Loki... sofern Ihr denn welche besitzt.“

Die Art, auf die er ihn anschaute, als hätte er völlig den Verstand verloren, war unbezahlbar.

„Du spinnst ja...!“, sagte er, halbherzig bemüht, seine Hand aus Thors Griff zu befreien. „Willst du, dass ich dich auslache?“

„Solange du nur etwas lockerer wirst...“, gab er zurück, was Loki mit einem leisen Seufzen quittierte. Sein Handgelenk noch immer umschlossen zog er ihn kurzerhand zu sich, sodass er diesmal über ihm kniete, aufrecht, von Angesicht zu Angesicht auf dem Bett in dem kleinen Gästezimmer.
 

Er wollte noch etwas zu ihm sagen, irgendetwas, doch er entschied, dass es nicht mehr nötig war; und schon bald gab es nur noch das Spüren des jeweils Anderen, das Gefühl von Haut auf Haut, und die Wärme, die sie die Kälte vollends vergessen ließ.

Ein flüchtiger Blick in Lokis Augen genügte ihm, um zu wissen, dass er genauso danach verlangte, weiterzugehen, ihn ganz für sich zu vereinnahmen, so wie auch er es wollte, wie er ihn wollte; und ohne einen weiteren Gedanken an Nebensächlichkeiten zu verschwenden, brachte er seine Hände an Lokis Hüften und überließ ihm die Führung, als er sich zitternd und langsam auf seinen Schoß sinken ließ, sein schlanker Körper, heiß und kalt zugleich, mit dem Seinen vereint. Schier überwältigt von der plötzlichen Intensität, mit der er Lokis Gewicht auf sich wahrnahm, keuchte er ungehalten auf, hob ihm reflexartig sein Becken entgegen, und zuckte seinerseits von einem kurzen Schmerz überrascht zusammen, als Lokis Hände sich fest in seinen Rücken krallten.

Sein Atem streifte Thors Nacken, und er musste sich einen Moment lang beherrschen, sich nicht zu bewegen. Loki sollte sich die Zeit lassen, die er brauchte, um sich an das Gefühl zu gewöhnen. Allerdings stellte es sich als schwieriger heraus als ihm lieb war, sich zurückzuhalten. Niemals hätte er erwartet, dass es sich so unheimlich gut anfühlen würde mit ihm. Er konnte nicht sagen, ob es besser war als er es mit seinen bisherigen Partnern erlebt hatte. Es war schlichtweg anders.

Vielleicht war es die besondere Vertrautheit, die diesen Unterschied ausmachte. Vielleicht war es auch das Wissen, dass diese Bindung mit allem, was sie bedeutete, einmalig sein würde.

Egal, was es war - es war nicht wichtig.
 

Loki sah ihn an, zögerlich, und es war wie eine Welle verschiedener Emotionen, die ihn innerlich erfasste und ihn elektrisierte, quälend und gleichzeitig so erlösend. Er spürte die stetig wachsende Spannung, die zwischen ihnen bestand, und die Abhängigkeit; die Notwendigkeit, den Anderen zu berühren, ihm alles zu geben, was er hatte, und umgekehrt alles zu nehmen, was er ihm gab. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Arme eng um sein Gegenüber geschlungen verharrte er in der Position, genoss die Nähe, als Loki ihn von sich aus küsste, vergrub eine Hand in seinen dunklen Haaren, die ihm wild über die Schultern fielen und ihm ein noch animalischeres Aussehen verliehen, und ließ es zu, dass auch die letzten Hemmungen, die er sich bis zu diesem Zeitpunkt bewahrt hatte, sich in Luft auflösten. Zum ersten Mal gab es absolut nichts mehr, das sie voneinander unterschied.

Ihre Stimmen, ihre Bewegungen, ihre Leidenschaft - all das war eins; und mit jeder Sekunde, die sie sich mehr und mehr fallen ließen und sich, vertieft in ihren Akt, einander hingaben, wurde auch das grausame Gefühl der Einsamkeit stärker, die zurückbleiben würde, sobald sie sich wieder trennten.

Trotz der Angst und der furchtbaren Ungewissheit, die er verspürte, gewann der Teil in ihm, der gierig nach immer mehr verlangte, und sie trieben sich gegenseitig so weit, dass er drohte, alles um sich herum zu vergessen.

Kurz, nur für einen winzigen Augenblick, glaubte er zu sehen, wie etwas an Loki sich veränderte; wie seine Haut heller und wärmer wurde und das Glühen aus seinen Augen verschwand, bevor sie sich ihrem Höhepunkt näherten, der begleitet von einer gewaltigen Hitze erst Thor und schließlich Loki überkam, nur um sie danach erschöpft und schwer atmend zurückzulassen, Arm in Arm in der Dunkelheit - nur sie beide, wie es sie niemals wieder geben würde.
 


 

Müde und von einer schmerzlichen Melancholie erfüllt lehnte er an der starken Schulter zu seiner Rechten. Hier saßen sie, zu zweit und so nah beieinander, und doch war er allein. Nichts als Stille lag in der eisigen Luft; eine sehr merkwürdige Stille. Sie erschien ihm so unvollkommen. Aber vielleicht kam es ihm auch nur deshalb so vor, weil er selbst sich so unvollkommen fühlte?

Nein. Eigentlich hätte er sich ausgeglichen fühlen müssen. Zufrieden, weil er nach langer Zeit endlich das bekommen hatte, was er wollte. Weil er sein Ziel erreicht hatte... und das hatte er wahrlich.

Trotz anfänglicher Komplikationen war sein Plan aufgegangen, er hatte besser funktioniert als er es sich ursprünglich erhofft hatte. Er hatte es allen Ernstes geschafft, dass Thor seine Fehler eingestand, ihm zuhörte und sich einmal in seine Lage versetzte, anstatt wie üblich nur an sich und seine heile Welt zu denken. Mehr noch, er hatte es fertiggebracht, dass er ihn begehrte, trotz der Tatsache, dass Thor fest mit einer Frau liiert war und bisher niemals irgendeine erdenkliche Art von Interesse an ihm gezeigt hatte. Er war so unglaublich durchschaubar. Es war ein Leichtes gewesen, ihn dorthin zu bekommen, wo er ihn haben wollte; ihn zu manipulieren, auch ohne seine Magie einzusetzen. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie er bei ihm vorgehen musste, um sein Handeln zwecks eigener Vorteile in eine andere Richtung zu lenken. Nicht zum ersten Mal hatte er gewusst, sich das zunutze zu machen.
 

Was konnte er nicht alles bewerkstelligen, wenn er nur genug Eifer aufbrachte. Was konnte er nicht alles erreichen dank seiner Fähigkeit, sich durch Intrigen und einfache Tricks Vorteile zu verschaffen. Was konnte er sich nicht alles vormachen.

Aber eines machte ihn all das letztendlich trotzdem nicht: Glücklich...
 

Vage registrierte er, dass Thor ihn ansah. Ein stummer Blick, schwermütig, weil er wusste, dass der Moment jetzt gekommen war. Der Moment des Abschieds.

Loki lächelte. Das tat er immer in Situationen wie dieser, in denen er seine wahre Unsicherheit vor der Außenwelt verbergen musste. Er lächelte, und kurze Zeit später hatten sie beide sich erhoben und lagen sich in den Armen, lange, so lange, dass er sich fragte, ob Thor ihn jemals wieder loslassen würde. So rein und ehrlich war seine Umarmung, dass er all seine Beherrschung dazu aufbringen musste, sich nicht in seinen Gefühlen zu verlieren; sich nicht in einem Anfall von Verletzlichkeit an ihn zu klammern, wie ein einsames Kind, das bei seinem Bruder Trost suchte. Jämmerlich war es, einfach jämmerlich. Er durfte jetzt nicht schwach werden.

Rechtzeitig hatte er seine Fassung wiedererlangt, als sie sich nun gegenüberstanden, lächelnd, während Loki seine letzten freundlichen Worte an Thor richtete, bevor seine eiserne Fassade erneut bröckeln konnte.

„Meine Frist... ist abgelaufen. Ich bin wohl oder übel dazu gezwungen, jetzt wieder zu gehen und diese Welt zu verlassen.“

Thor blickte ihm hinterher, als er sich ein paar Schritte von ihm entfernte. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, wisse aber nicht, wie er es ausdrücken soll.

„Ich danke dir. Die vergangenen Stunden hätten nicht schöner sein können, und... das habe ich dir zu verdanken, Bruder“, sagte Loki, überrascht von seinen eigenen Worten, die nicht Teil seines Planes waren. „Du hast mir meinen Wunsch erfüllt. Das bedeutet, ich kann hier nicht länger bleiben. Aber sei versichert, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Irgendwann...“

Das war der Abschluss gewesen. Mit diesem Versprechen ging er fort, verschwand in einem gleißenden Licht und ließ Thor allein in dem kleinen Gästezimmer zurück.

„Loki...!“, hörte er ihn rufen, und er sah, wie er traurigen Blickes die Stelle fixierte, an der er bis eben gestanden hatte.

Nun, in Wirklichkeit tat er das noch immer. Nur war er für ihn nicht mehr sichtbar. Er hielt es für besser, Thor in dem Glauben zu lassen, er sei in die Totenwelt zurückgekehrt; an einen Ort, an dem er ihn gar nicht erst suchen geschweigedenn finden könnte. Es würde weiterhin alles so bleiben wie es war, nichts würde sich verändern - zumindest für ihn.
 

Lange noch blieb Loki dort stehen, und erst als Thor das Zimmer verließ, beschloss er, ihm unbemerkt zu folgen. Er beobachtete ihn dabei, wie er sich ein abgetragenes Shirt überstreifte und in Shorts schlüpfte, die er schnell hervorgekramt hatte, und wie er sich dann für wenige Minuten ins Badezimmer zurückzog, bevor er sich zu Jane gesellte und eine volle Stunde lang wach lag, ohne auch nur den Versuch zu starten, einzuschlafen. Die Augen starr an die Decke gerichtet lag er neben ihr und bewegte sich nicht, bis er sich irgendwann doch auf die Seite wälzte, seine schlafende Freundin betrachtete und ihre Hand nahm. Friedlich sahen sie aus. Und obwohl er auch im Dunkeln der Nacht den nachdenklichen Ausdruck in Thors Gesicht erkennen konnte, wusste er, dass sie friedlich miteinander verbleiben würden - sie und er. Sie würden eine Familie gründen und glücklich werden, genauso wie Thor es gesagt hatte, und wenn sie irgendwann das Zeitliche segnete, würde Thor sein Glück in einer neuen Liebe mit einer anderen Frau finden. Ohne Zweifel würde es so sein, das wusste er. Aber es war in Ordnung.
 

Du wirst dich trotz allem an mich erinnern. Für immer. Dafür habe ich gesorgt.
 

Eines Tages würden sie sich ohnehin wiedersehen. Er hatte es ihm versprochen, und es war keine Lüge gewesen.

Vieles war eine Lüge, jedoch nicht alles.

Es stand außer Frage, dass sie sich wieder gegenüberstehen würden; nur wann, das konnte bloß die Zukunft zeigen. Wann, wie und wo. Niemand konnte sagen, wie es werden würde an diesem Tag. Ob sie sich jemals wieder in die Augen sehen können würden.

Was würden sie sein? Rivalen? Brüder?

... Freunde?

Mit einem Lächeln, das ausnahmsweise nicht seiner Fassade diente, begab er sich auf den Heimweg, zurück nach Asgard. Vielleicht, dachte er, gab es ja tatsächlich noch eine Chance für sie, ihre Differenzen endlich auf ewig zu begraben. Vielleicht...
 


 


 

„Gefällt es dir?“

Janes sanfte Stimme war voller Harmonie und strahlte solch eine Wärme aus, dass ein akuter Glücksmoment ihn erfasste. Er hatte es so gut, dass er Weihnachten mit einer Frau wie ihr verbringen durfte, daheim, in ihrem eigenen, kleinen, inzwischen wieder beheizten Zuhause, das nur ihnen gehörte.

„Ja, es ist... wundervoll“, sagte er, gerührt und beeindruckt von der Mühe, die sie sich mit seinem Geschenk gemacht hatte. Es war ein großes Album, in das sie all die gemeinsamen Fotos geklebt hatte, die in der Zeit, die er nun auf der Erde lebte, entstanden waren. Auf manchen Bildern waren Eric und Darcy zu sehen, und jedes der Fotos spiegelte das besondere Glück wider, das sie miteinander gefunden hatten.

Ein Smartphone hatte er auch bekommen. Offenbar waren Jane und die anderen der Ansicht, er könne dringend ein eigenes gebrauchen, damit er sich auf Midgard zukünftig besser zurechtfinde und ihm nicht ständig jemand eines leihen müsse. Alle hatten sie etwas von ihren Ersparnissen dazu beigetragen, ihm diese Freude machen zu können. Er hatte einfach die besten Freunde, die man sich nur wünschen konnte.

Sein Geschenk war ebenfalls ein voller Erfolg gewesen. Er hatte es ihr bereits am Abend zuvor überreicht. Wobei 'überreicht' in dem Fall nicht wörtlich zutraf, denn es war kein materielles Geschenk gewesen.

Als er sich vor einigen Tagen wieder eine Weile in der Stadt aufgehalten hatte, um nachzudenken und einen klaren Kopf zu bekommen, hatte er ihn wieder an seinem üblichen Platz sitzen sehen - den Straßenmusiker mit seiner Gitarre. In denselben schmutzigen Fetzen hatte er dort in der Kälte seine Lieder gespielt, einsam und allein und auf die Gutmütigkeit der Passanten angewiesen.

So angestrengt hatte er tagelang überlegt, was er seiner Freundin schenken sollte. Worüber sie sich wohl freuen würde. Und dann war ihm schlagartig eine Idee gekommen, die gleichzeitig so simpel und doch perfekt war:

Er hatte nicht viel Geld ausgeben müssen, um ihr eine Freude zu machen. Er hatte schlicht und einfach einen romantischen Abend mit ihr verbracht, hatte sie zum Essen ausgeführt und war mit ihr spazieren gegangen, um ihr zu beweisen, dass er an sie dachte.

Er wusste es zu schätzen, dass er an Weihnachten nicht einsam und frierend auf dem Bürgersteig sitzen musste, sondern alles hatte, was er brauchte. Und sie war ihm dankbar gewesen für das, was er sich hatte einfallen lassen. Alles war perfekt, ja. Anders konnte er es nicht beschreiben.
 

„Das war es auch schon. Noch sind zwar nicht viele Bilder darin, aber es wird bestimmt nicht allzu lange dauern, bis das Album erst einmal voll ist“, sagte Jane gut gelaunt, während sie offenbar die letzte Seite aufgeschlagen hatte. „Schau mal, hier ist das Foto, das Darcy von uns geschossen hat, als du deinen Bekannten zum Essen mitgebracht hast!“

„Sofort, Schatz“, murmelte er, gerade damit beschäftigt, sich nebenbei ein wenig mit seinem neuen Smartphone vertraut zu machen. Faszinierend, mit welcher Vielfältigkeit die Menschen ihre Technik ausstatteten.

„Bei Ian und Darcy ist übrigens wieder alles in Ordnung“, plauderte Jane fröhlich weiter. „Ihre kleine Auseinandersetzung hat sich wohl schnell geklärt. Sie hat ihm einen Ring geschenkt. Zumindest hatte sie mir erzählt, dass sie es vorhat. Bei ihnen ist eben alles etwas verdreht! Siehst du, was für ein entnervtes Gesicht er hier macht? Wie ein beleidigtes Mädchen...!“

Langsam legte er sein Smartphone beiseite und besah sich das Bild selbst. Und mit einem Mal stockte ihm der Atem und er merkte, dass er fürchterlich blass wurde.

„Thor? Geht es dir gut...?“, hörte er seine Freundin mit besorgter Stimme fragen. Scheinbar hatte sie selbst es nicht bemerkt - die Reflektion in der Glasscheibe, dort, wo eigentlich das Spiegelbild des Straßenmusikers hätte zu sehen sein müssen. Dort war ein Gesicht, aber es war eindeutig nicht das, das dorthin gehörte. Wie eine geisterhafte Erscheinung lächelte ihm die Spiegelung auf dem Foto entgegen, die schwarzen Haare im engen Kontrast zu den hellen, grünen Augen, die eindeutig auf ihn gerichtet waren. Genau hier und jetzt wurde er von ihm gesehen.

„... Mir geht es gut, ja“, antwortete er zögerlich, klappte das Buch zu und stand auf. „Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich... dringend etwas erledigen muss. Einkaufen. Wir haben keine Milch mehr.“

„Die Geschäfte haben geschlossen. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

„Ja... Ganz sicher.“
 

Den restlichen Tag über hatte er mit einer seltsamen Nervosität zu kämpfen. Selbst in der Nacht fand er keine Ruhe. Als Jane bereits schlief, saß er grübelnd auf der Bettkante, und schließlich konnte er nicht anders als aufzustehen und es sich noch einmal anzusehen. Er musste sich vergewissern, ob es noch da war. Möglicherweise hatte er es sich ja eingebildet?

Leise zog er das Album aus dem Regal und schlug die letzte beklebte Seite auf.

Da war er. Noch immer.

Als wäre er jetzt in diesem Augenblick mit ihm im selben Raum, erwiderte Thor sein Lächeln, und ruhig, kaum hörbar, flüsterte er: „Frohe Weihnachten, Loki...!“, bevor er Janes Geschenk an seinen Platz zurückstellte und durch die Dunkelheit wieder ins Schlafzimmer schlich.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Randinfo: Den Titel hat diese Fanfic übrigens von dem Lied 'In the Dark' von Sonata Arctica, das mich auch inhaltlich etwas inspiriert hat. ^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  ultraFlowerbeard
2017-04-18T18:29:54+00:00 18.04.2017 20:29
Wirklich interessante Gesichter. Ich bin echt super gespannt wie diese Beziehung zwischen Thor und Loki weiter gehen wird
LG flower
Antwort von:  Drachenprinz
18.04.2017 21:55
Hey, danke für den Kommentar, mit dem ich jetzt gerade mal so gar nicht gerechnet habe! :D
Freut mich natürlich, dass die Geschichte dir gefallen hat, auch wenn ich selbst inzwischen nicht mehr so hundertprozentig zufrieden mit allem bin, da es schon eine Weile her ist, dass ich das geschrieben habe, und ich seitdem doch noch einiges dazugelernt habe. xD Über eine Fortsetzung hierzu habe ich in der Tat damals nachgedacht, aber falls es mal eine geben wird, wird das vermutlich noch lange dauern, denn zurzeit habe ich noch eine Menge anderer Sachen zu schreiben. Daher belasse ich es hier gerade mal bei dem offenen Ende. ^.^

Liebe Grüße zurück!
Drachenprinz


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