Zum Inhalt der Seite

In the Dark

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Dogs

Die Umarmung eines temperamentvollen Donnergottes war nicht gerade etwas, das der Bezeichnung 'sanft' gerecht wurde. Trotzdem befand er den bisherigen Ablauf ihres Wiedersehens für äußerst zufriedenstellend. Thor hatte seine Geschichte geschluckt, ohne weiter nachzuhaken; er glaubte ihm jedes Wort und würde ihn, in Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht viel Zeit hatten, mit Moralpredigten über die unglaublich schlimmen Verbrechen, die er begangen hatte, verschonen. Eine kleine Lüge mehr oder weniger - was machte das für einen Unterschied? Wenn Thor so dumm war, darauf hereinzufallen, dann war es sein eigener Fehler. Aus irgendeinem Grund brachte er ihm sein Vertrauen immer bei den falschen Gelegenheiten entgegen. Aber das war jetzt egal.

Irgendwann hatte sein Bruder ihn wieder losgelassen und schaute ihn scheinbar leicht verunsichert an.

„Und hast du schon eine Vorstellung davon, wie du deine Zeit mit mir verbringen willst?“, fragte er. „Hoffentlich nichts, was unsere Mitmenschen und Umgebung in Gefahr bringt...?“

Welch Überraschung. Offenbar war sein Vertrauen in ihn doch nicht sonderlich groß.

„Wie, glaubst du, sollte ich etwas tun, das 'unsere Mitmenschen und Umgebung in Gefahr bringt', ohne dabei aufzufallen und unerkannt zu bleiben? Denkst du, ich hatte vor, mit dir quer durch die Stadt zu laufen, alles heiter niederzumetzeln, dann wieder zu verschwinden und einfach zu hoffen, dass niemand etwas gemerkt hat?“

Thor lachte auf seine üblich-verpeilte Art und stimmte ihn mit seiner Antwort wieder etwas milder.

„Tut mir leid. Ich hatte wirklich nicht erwartet, auf dich zu treffen. Erst recht nicht unter diesen Umständen. Aber du sagst die Wahrheit, oder?“

Unschuldig schaute er ihn an, wie ein Hund, der nach Wochen sein Herrchen wiedertraf, voller Vorfreude auf einen bevorstehenden Spaziergang. Treu, solange man ihm das Gefühl gab, ein guter Gefährte zu sein. Ja, es war ein durchaus treffender Vergleich. Und er musste sich eingestehen, dass es ihm gefiel, Thor einmal in der Rolle des erwartungsvollen Hundes zu sehen - wo er diese Rolle doch selbst so oft widerwillig hatte einnehmen müssen. Der streunende Köter, dem stets vorgespielt wurde, ein Teil der Familie zu sein, nur um, wenn er einmal ein wenig zu laut gebellt hatte, angekettet und ausgestoßen zu werden, verlacht von seinen angeblich so liebevollen Besitzern.

Ein Teil der Familie... Ob er das für ihn war? Oder betrachtete er ihn auch bloß als Haustier, das der reinen Belustigung diente und ihm zu jedem Zeitpunkt je nach Belieben zur Verfügung stand?

Was war er für ihn?

Wieder holte die Vergangenheit ihn ein, als wolle sie ihn zwanghaft an Dinge erinnern, die er, wenn ihm die Wahl geblieben wäre, lieber vergessen hätte. Sie schien ihn am heutigen Tage regelrecht bis zur Erschöpfung zu verfolgen, und er war zu schwach, sich dagegen zu wehren.

„Das kann nicht euer Ernst sein... Bitte...! Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, aber ich kann es wiedergutmachen!“

„Das hättest du dir früher überlegen sollen. Jedes Mal hast du die gleichen Ausreden. Bist du zu feige, dich deiner Strafe zu stellen?“

Festgehalten. Bloßgestellt. Den spöttischen Blicken der Anderen hilflos ausgesetzt. Sie lachten, während er am Boden war, wimmernd und erniedrigt bis aufs Äußerste. Und inmitten der spottenden Menge stand er, dessen Augen amüsiert und selbstgefällig, ohne ein Fünkchen Mitleid, zu ihm herabblickten.

„Jetzt hast du wohl nicht mehr so viel zu sagen, Bruder.“
 

„Was ist los mit dir? Deine Augen...!“

Umgehend fiel ihm auf, wie die Anspannung, die sich unbemerkt in ihm ausgebreitet hatte, von ihm abfiel, als auch die Bilder in seinem Geist wieder verblassten. Kälte kroch ihm über die Haut, er spürte es unter seiner Kleidung. Doch es war eine angenehme Kälte. Eine natürliche Kälte.

„Du solltest aufpassen, Loki“, hörte er Thor leise sagen, der ihn mit besorgter Miene musterte. „Im Moment siehst du nämlich alles andere als unauffällig aus.“

Er hatte zwei Gesichter. Vielleicht nicht jedem gegenüber, aber es bestand kein Zweifel daran.

Thor hatte zwei Gesichter.

„Es ist nicht leicht, meine Asengestalt hier draußen aufrechtzuerhalten“, erklärte er und konzentrierte sich einen Augenblick lang. Innerhalb weniger Sekunden hatte er seine vorherige Form erneut angenommen. „Jetzt sollte es keine Probleme mehr geben.“

„Ist auch alles in Ordnung mit dir?“, fragte sein Stiefbruder, eine Hand auf seine Schulter legend, mit überfürsorglicher Stimme.

„Ja“, erwiderte er. „Absolut. Für einen Toten geht es mir... außerordentlich gut.“

„Alles klar, dann... Willst du mich ein bisschen durch die Stadt begleiten? Zu zweit ist es nicht so langweilig.“

Endlich machte er einen Vorschlag, der ihm auf der Stelle zusagte und dem er ohne Weiteres zustimmen konnte.

„Liebend gern.“
 

Anfangs noch in dem Glauben, alles unter Kontrolle zu haben, entwickelte sich der Abend mit Thor langsam aber sicher immer mehr in eine andere Richtung als geplant. Es hatte nicht lange gedauert, bis er angefangen hatte, ihre Unterhaltungen ständig auf ein und dasselbe Thema zu lenken:

Jane Foster.

Er hörte nicht auf, über sie zu reden. Zu allem, worüber sie sprachen, was sie sahen und was sie hörten, fielen ihm mindestens drei grandiose Dinge ein, die er mit Jane getan hatte. Verdammt, er erzählte ihm sogar, was sie im Bett miteinander anstellten!

Erst hatte er es ignorieren können - das lästige Gefühl, dass ihn etwas gewaltig daran störte, auf welche Weise Thor gedachte, sich von ihm 'zu verabschieden'. Nach jedoch fast einer Dreiviertelstunde, die sie inzwischen gemeinsam unterwegs waren, ohne über etwas anderes als Jane und ihre Freunde, Geschenke und das Essen auf Midgard geredet zu haben, fühlte er sich eindeutig fehl am Platze.

Liefen Leute mit Weihnachtsgebäck an ihnen vorbei, erzählte er ihm, wie toll Jane doch backen könne; liefen lachende Kinder mit Spielzeug an ihnen vorbei, musste er sich anhören, was er seinen eigenen fünf oder sechs Kindern alles kaufen würde, wenn er und Jane erst einmal Nachwuchs hatten. Jane war hier, Jane war dort. Jane war überall.
 

Von irgendwoher ertönte Musik - eine heisere Männerstimme, die begleitet von teils schiefen Gitarrenklängen leidenschaftlich über verliebte Menschen sang, die sich an Weihnachten gegenseitig ihre Herzen schenkten. Einige Schritte Richtung des herzzerreißenden Gesangs später, entdeckte er den Kerl, der dafür verantwortlich war. In zerlumpten Sachen saß er nicht weit entfernt vor einem Geschäft, das Instrument fest im Griff, ganz in seinem Element. Ihm musste unwahrscheinlich kalt sein, aber das schien er verdrängen zu können, solange er die Passanten mit schnulzigen Liedern beschallen konnte.

„Wusstest du, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist?“, fragte Thor mit demselben übertrieben fröhlichen Grinsen, das sich schon seitdem sie losgegangen waren von selbst in sein Gesicht eingemeißelt hatte.

„Sag bloß...“, knurrte er, während er noch immer damit zu kämpfen hatte, seine wahre Gestalt nicht in aller Öffentlichkeit preiszugeben. Das Wetter schien definitiv nicht auf seiner Seite zu sein.

„Ich finde es schön, was sich die Menschen auf Midgard einfallen lassen, um sich ihre Liebe zu beweisen“, plauderte sein Bruder munter weiter. „Dieses Lied trifft es doch wirklich auf den Punkt. Es muss hier wohl ziemlich beliebt sein. Heute morgen lief es im Radio, als ich Jane geholfen habe, den Tannenbaum zu schmücken.“

„Weißt du, Thor... Es ist, meines Wissens nach, nicht gerade alltäglich, aus dem Reich der Toten zu den Lebenden zurückzukehren“, sagte Loki, so ruhig und geduldig wie möglich. „Ich habe nur wenig Zeit; kostbare Zeit, die ich nicht zurückerlangen kann, wenn sie erst um ist. Diese Zeit will ich nutzen, um mit dir zusammen zu sein, weil...“

Er stockte einen Moment lang und suchte nach den richtigen Worten, doch bedauerlicherweise wollten sie ihm gerade jetzt nicht einfallen. Thor sah ihn erwartungsvoll an. Wieder hatte er diesen furchtbaren Hundeblick. Der große, heroische Donnergott starrte ihn an, wie ein kleiner, unschuldiger Welpe, dem niemand je hätte böse sein können. Machte er das mit Absicht?

„Ich will... noch ein einziges Mal bei dir sein, bevor ich gehe. Und es wäre mir recht, wenn wir bei unserem letzten Treffen nicht die ganze Zeit über Jane reden würden. Wäre das für dich im Rahmen des Möglichen?“

Kurz wirkte er ein wenig überrascht, dann lächelte er ihn verständnisvoll an.

„Selbstverständlich“, war alles, was er sagte, aber er schien es ernst zu meinen. Beruhigend, in gewisser Hinsicht. Ob Thor nun egoistisch war oder nicht, wenigstens war er es nicht mit Absicht.

„Danke“, gab er leise zurück. Wie es aussah, war es eine echte Seltenheit, dass etwas so lief, wie er es sich vorstellte. Wenn er darüber nachdachte, hatte er sich eigentlich schon immer gewünscht, einen etwas sensibleren Bruder zu haben, der es von allein merkte, wenn er auf seinen scheinbar für die Außenwelt vollkommen undurchschaubaren Gefühlen herumtrampelte, ohne ausdrücklich darauf hingewiesen werden zu müssen.

Was für ein lächerlicher Gedanke. Als hätte jemand wie ich jemals so etwas wie Gefühle besessen, dachte er zynisch und lachte kaum merklich über sich selbst, als er Thor ansah, der sich gerade zur Seite gedreht hatte und sich offenbar umschaute. Nein, er wollte keinen anderen Bruder als ihn. Er wollte nur, dass er ihn verstand.
 

„Und... Willst du mir irgendwas erzählen?“, fragte Thor, nachdem er sich ihm wieder zugewandt hatte. „Ich habe so viel über mich geredet, jetzt bist du dran.“

„Hm, lass mich überlegen. Ich fürchte, als Verstorbener hat man nicht allzu viel zu erzählen...“

Langsam fing seine Lüge an, ihm gehörig auf die Nerven zu gehen. Aber eine andere Möglichkeit, seinen Plan in die Tat umzusetzen, gab es nicht. Würde er ihm sagen, dass er in Wahrheit sehr wohl noch lebte und seinen Tod ein zweites Mal zu seinen eigenen Zwecken vorgetäuscht hatte, würde Thor ihm Fragen stellen - er würde wissen wollen, was auf Asgard vorgefallen war, seit er seine Heimat verlassen hatte, und was er mit Odin gemacht hatte. Er würde alles von ihm wissen wollen, und letztendlich würde er ihn hassen für all seine Lügen und Intrigen, würde wieder auf ihn herabblicken, weil ein streunender Köter wie er niemals in der Position sein konnte, einem wahrhaft reinen Gott wie ihm den Thron streitig zu machen, und am Ende würde bloß eine noch größere Leere zurückbleiben; zu groß, um damit leben zu können.

„Warum eigentlich nicht?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Wie ist es denn da, wo du herkommst, so? Ich war noch nie tot und hätte gerne eine Vorstellung davon, was mich irgendwann erwartet!“

„Das ist...“

Weiter kam er nicht. Ihre ohnehin nicht richtig in Gang kommende Konversation wurde von einem kleinen Mädchen unterbrochen, das aus heiterem Himmel kreischend mit einem Blatt Papier und einem Stift in der Hand auf sie zugestürmt kam, Thor mit einem begeisterten Ausdruck in den Augen fixierend, vollkommen verzückt. Sie blieb vor ihm stehen, als warte sie auf eine Reaktion seinerseits, die sie auch schnell bekam.

„Na, Kleine? Kann ich dir helfen?“

Eine Weile lang strahlte sie ihn stumm an, bevor sie aussprach, was sich anhand ihres nicht sonderlich subtilen Auftretens jeder sofort hätte denken können.

„Du bist Thor, oder?“, fragte sie mit einer reichlich quietschigen Stimme. Der Angesprochene nickte grinsend, woraufhin sie ihm offensichtlich hocherfreut ihr Schreibzeug entgegen streckte. „Krieg' ich ein Autogramm von dir? Bitte, bitte!“

Abwechselnd betrachtete Loki seinen Bruder und das Mädchen, das ihn - im wahrsten Sinne des Wortes - absolut zu vergöttern schien, während er freudig ihrer Bitte nachkam, ihr das nun mit seinem Namen gezierte Blatt Papier wieder in die Hand drückte und sich schließlich zwinkernd von ihr verabschiedete, ehe sie fröhlich zu ihren Eltern zurückhüpfte, die etwas abseits auf sie warteten.

 
 

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Thor, als er sich von dem Anblick seiner kleinen Verehrerin wieder losreißen konnte. „Was wolltest du mir gerade sagen?“

„Nichts... Gar nichts.“

Er hatte keine Lust, sich auch noch Geschichten über das Totenreich zusammenzuspinnen, nur damit er ein Stück weit glaubwürdiger wirkte. Insofern hatte das plötzliche Auftauchen der Kleinen durchaus seinen Vorteil, wenn man bedachte, wie leicht sich Thor aus dem Konzept bringen ließ.

„Du bist hier wohl richtig berühmt, wie?“

„Tja, ich habe... den einen oder anderen Anhänger“, lachte er ein wenig verlegen, wirkte aber nicht so, als würde diese Tatsache ihn stören. Im Gegenteil. Allerdings war das kaum verwunderlich, immerhin war er bereits als Kind bei allen sehr beliebt gewesen. „Da fällt mir ein...“

Erstaunt beobachtete er, wie Thor hektisch einen kompakten, schwarzen Gegenstand aus seiner Jackentasche zog, auf dem er herumdrückte und überrascht auf den kleinen Bildschirm des Gerätes starrte.

„So spät schon?“, murmelte er, während er das Teil wieder einsteckte, und fügte erklärend hinzu: „Janes altes Handy. Sie hat es mir mitgegeben, ist ganz nützlich.“

„Du scheinst dich auf der Erde ja prima eingelebt zu haben“, bemerkte Loki, nicht sicher, was er davon halten sollte.

„Kann man so sagen. Aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es schon so spät geworden ist. Ich müsste eigentlich langsam nach Hause. Die Anderen warten auf mich...“

„Habe ich dich etwa aufgehalten?“

„Nein, überhaupt nicht. Das ist schon okay. Vielleicht könnten wir ja irgendwie...- Oh nein, so ein Mist!“, unterbrach Thor sich selbst. „Jetzt habe ich völlig vergessen, dass ich ja ein Geschenk für Jane finden wollte! Was mache ich denn jetzt? So schnell kann ich keines mehr auftreiben... Kannst du mir nicht vielleicht irgendwas für sie herbeizaubern?“

„Verdammt, Thor, nein, das kann ich nicht!“

„... Nicht?“

„Nein“, antwortete er gereizt. „Und wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun! Jane, Jane, Jane... Du denkst an nichts anderes! Wenn du glaubst, eure unheimlich tolle Bilderbuch-Beziehung würde mich auch nur im Entferntesten interessieren, muss ich dir leider mitteilen, dass du falsch liegst. Deine kleine Jane ist mir vollkommen egal, und du kannst gefälligst alleine zusehen, wie du sie glücklich machst oder auch nicht!“

„Ist ja gut, reg dich ab! Was ist denn auf einmal los mit dir?! Sie ist meine Freundin, da ist es doch wohl normal, dass ich...“

Thor stockte und schaute ihn erst angesäuert, dann irritiert an.

„Warte mal... Bist du eifersüchtig?

„Sei nicht albern. Ich und eifersüchtig? Auf Jane? Das habe ich überhaupt nicht nötig. Weil es an ihr nicht einmal etwas gibt, worauf ich eifersüchtig sein könnte. Es ist mir ganz einfach egal, wie harmonisch ihr zusammenlebt, und es ist mir genauso egal, wie viele Halbgötter ihr miteinander zeugt. Mach doch, was du willst.“

„Komm mit.“

 „Was...?“
 

Anstatt dem, was er gesagt hatte, etwas entgegenzusetzen, hatte Thor ihn kurzerhand am Arm gepackt und ihn, ohne zu fragen, mit sich gezerrt, ein paar Meter von der Stelle, an der sie bis eben noch gestanden hatten, entfernt. Im Schatten eines Gebäudes hielt er an - vermutlich, weil dort deutlich weniger los war als zuvor in dem Getümmel - und stellte sich ihm mit direktem Blick gegenüber. Einen Augenblick lang musste er sich beherrschen, um nicht wieder die Kontrolle über seine äußere Gestalt zu verlieren. Er seufzte langgezogen.

„Was soll das, Thor? Warum hast du mich hierhergeschleppt?“

Inzwischen hatte sich der Ausdruck seines Gegenübers verändert. Plötzlich schien ihn das Ganze auf irgendeine Art sehr zu amüsieren.

„Du kannst mir erzählen, was du willst... Du bist eifersüchtig!“, sagte er leise, jedoch nicht leise genug, um die triumphale Freude in seiner Stimme zu verbergen. „Du könntest ein noch so guter Schauspieler sein, Loki... Aber das erkennt selbst ein Blinder.“

„Hältst du dich für so unwiderstehlich, dass du das denkst?“, erwiderte er, obwohl er wusste, dass Thor ihn mittlerweile an einem Punkt hatte, an dem er ihn, trotz mangelnder Empathie, durchschaute. Nur wollte er es ihm nicht ganz so leicht machen. Er wollte ihn - wenigstens ein bisschen - auf die Probe stellen, wenn sich ihm die Gelegenheit schon einmal bot.

„Ich halte mich nicht für unwiderstehlich“, entgegnete Thor. „Aber für eine schlechte Wahl halte ich mich auch nicht. Und ich kann es auseinanderhalten, ob mich jemand mit brüderlichen Gefühlen ansieht oder etwas anderes im Sinn hat.“

Loki lächelte.

„Eingebildeter Narr.“

„Bin ich das, nur weil ich ausgesprochen habe, was du dich nicht traust, mir zu sagen?“

Allein mit seinem Blick schaffte er es förmlich, ihn an die Wand zu nageln und zu verhindern, dass er sich von dort wegbewegte. Ob er noch daran dachte, was er ihm über seinen Tod und die Zeit, die ihnen blieb, gesagt hatte? Er selbst zumindest schien es allmählich zu verdrängen oder schlicht nicht mehr daran denken zu wollen.

„Und wenn es so wäre, wie du sagst... Was dann?“, fragte er und erwiderte seinen Blick, obwohl es sich wie ein Stich anfühlte, ihm in die Augen zu sehen. „Für dich war ich doch immer nur der dumme, kleine Bruder, den niemand ernst genommen hat. Was willst du jetzt tun, wenn ich dir sage, dass du Recht hast? Was würde das für dich schon ändern?“

Thor betrachtete ihn, weniger amüsiert, dafür aber umso interessierter, als würde er dadurch noch mehr in Erfahrung bringen, das er ihm bisher verschwiegen hatte.

„Was das für mich ändern würde? Es würde dich in ein ganz anderes Licht rücken“, sagte er. „Wie lange verheimlichst du mir das schon?“

Er konnte nicht anders als über diese Frage zu lachen.

„Was spielt es für eine Rolle, wie lange? Eine Zahl ist nur eine Zahl.“

Und Jahre sind Jahre, und Jahrhunderte sind Jahrhunderte, dachte er. Es machte keinen Unterschied, ob es zehn, zwanzig, fünfhundert oder sechshundert Jahre waren, die er sein Geheimnis für sich behalten hatte. Es war nichts als ein unwichtiges Detail.
 

Erst als er aus dem Augenwinkel bemerkte, wie Thor sich ein Stück zu ihm vorbeugte und sich mit beiden Händen an der Hauswand abstützte, an der er selbst mit dem Rücken lehnte, wurde ihm bewusst, dass er sich von ihm abgewandt und die ganze Zeit zur Seite gestarrt hatte. Er musste in seinen Augen wohl wie ein Schwächling aussehen, der versuchte, ihm auszuweichen, weil er Angst hatte, über die Wahrheit zu sprechen. Das Problem an der Sache war zum einen, dass er genau das anscheinend war, und zum anderen, dass die Wahrheit, so unangenehm sie auch sein mochte, sich nicht mehr leugnen ließ.

„Schau mich an“, hörte er Thor erstaunlich sanft zu ihm sagen. „Ich will nicht, dass du dich länger so vor mir verschließt. Ich will, dass du mit mir redest!“

„Mit dir reden? Weißt du, was du da von mir verlangst? Du hast immer davon gesprochen, dass man mir nicht trauen kann, und vielleicht stimmt das auch. Aber woher weiß ich, ob ich dir trauen kann?“

„Warum sagst du das? Natürlich kannst du mir vertrauen!“

„Erinnerst du dich an diesen einen Tag...?“, gab er leise zurück. „Du, Odin, Heimdall und die Anderen... Weißt du noch, was ihr damals mit einer Nadel und einem Faden getan habt? Du hast mich festgehalten. Und es hat dir Spaß gemacht...! Euch allen!“

Zum ersten Mal, seit sie hier standen, sah er, dass Thor zu Boden blickte, als hätte er eben etwas gesagt, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte und worüber er erst ausschweifend nachdenken musste. Lange sagte keiner von ihnen ein Wort, doch innerlich hoffte er inständig, dass Thor es wenigstens ein bisschen bereute, ihm an diesem Tag nicht geholfen zu haben. Ihn einfach der ungerechten Grausamkeit seiner so ehrwürdigen Freunde überlassen zu haben. In all der Zeit, die seitdem vergangen war, hatten ihn Zweifel geplagt. Zweifel an der Welt, in der er lebte. Misstrauen. Er war nicht mehr Derselbe gewesen und bis zum heutigen Tage wusste er nicht, ob er es jemals wieder sein konnte.
 

Tatsächlich schien Thor sich sehr lebendig daran zu erinnern, was damals vorgefallen war - er konnte es in seinem Blick lesen und er war sich ziemlich sicher, dass ihm gerade einige verhältnismäßig düstere Dinge durch den Kopf gingen.

„Ja... Ich habe nicht vergessen, was wir getan haben“, sagte er, wohl bemüht, Ruhe zu bewahren. „Ich habe auch nicht vergessen, was du getan hast. Aber ich gebe zu, dass deine Bestrafung vielleicht etwas... zu hart ausgefallen ist.“

„Oh, das ist schon in Ordnung. Nicht der Rede wert. Ich hatte es verdient, oder? Was macht es schon, von seinem eigenen Bruder mehr oder weniger wegen eines Unfalls verraten zu werden?“

„Verflucht, ja...! Es tut mir leid! Es war ein Fehler... Hätte ich gewusst, dass diese Sache dich auf ewig verfolgen würde, hätte ich vielleicht... Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte. Aber ich will nicht, dass du in mir einen Verräter siehst, dem du nicht vertrauen kannst. Falls es noch mehr gibt, weswegen du mir böse bist, dann entschuldige ich mich hiermit für alles, was ich falsch gemacht habe. Tut mir leid, dass ich es nicht rückgängig machen kann...“

Seltsam. Jetzt, wo er ihn endlich da hatte, wo er ihn immer haben wollte, fühlte er sich beinahe schuldig, ihm derartige Gewissensbisse eingepflanzt zu haben. Dabei gab es bei Weitem keinen Grund für ihn, sich schuldig zu fühlen. Von Thor eine Entschuldigung zu hören, war das Mindeste, das er sich seit Langem erhofft hatte, und doch war es alles, was er genau jetzt brauchte, um ihm zu verzeihen - nicht mehr und nicht weniger.

„Keine Sorge. Entschuldigung angenommen“, sagte er, und er erkannte, wie sich ein erleichterter Ausdruck auf das Gesicht seines Bruders legte, als er es über sich brachte, ihn wieder anzusehen. Er wollte diesen Moment nicht mit unnötigen Diskussionen zerstören. Thor schien es ähnlich zu sehen. Außer einem kaum hörbaren „Danke“ sagte er nichts. Stattdessen lehnte er sich, ohne lange zu zögern, noch etwas weiter zu ihm vor und küsste ihn.

Ein paar Sekunden dauerte es, bis er realisierte, in was für einer Situation er sich gerade befand. Und mit der Erkenntnis schloss er die Augen, ausnahmsweise einmal froh darüber, mit seinem Bruder nicht leiblich verwandt zu sein, und gab sich ihm hin, während alles andere um ihn herum unwichtig wurde.

Das hier war das einzige, was jetzt zählte, solange nichts und niemand zwischen ihnen war.
 


 

Entschlossen und gleichzeitig unsicher fühlte er sich, als er den Kuss löste. Sein Gespräch mit Loki hatte ihn in mehr als nur einer Hinsicht ziemlich durcheinander gebracht. Nie hätte er gedacht, ausgerechnet mit ihm einmal so etwas zu tun, und dennoch hatte er merkwürdigerweise nicht das Gefühl, eben etwas falsch gemacht zu haben - hoffentlich.

Für wenige Sekunden glaubte er zu träumen, als er Loki ansah, der mit geschlossenen Augen dicht vor ihm stand, in einer Verfassung, in der er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er wirkte so schwach, dass ihn fast das Bedürfnis überkam, ihn zu stützen. Bevor er jedoch dazu kam, irgendetwas zu tun, drängten sich ihm Fragen auf, die es ihm nur erschwerten, daran zu glauben, dass das hier gerade wirklich passiert war. Ein Anflug von etwas Unbekanntem erfasste ihn, als er in die grünen Augen seines Gegenübers sah, in denen ein so ehrlicher Ausdruck lag, wie schon lange nicht mehr. Er wusste wahrlich nicht, was er denken geschweigedenn sagen sollte. Allerdings schien es Andere zu geben, denen genug zu seiner derzeitigen Lage einfiel. Erschrocken drehte er sich nach hinten um, als er zwei aufgeregte Frauenstimmen vernahm.

„Oh mein Gott, das ist Thor! Und er macht mit 'nem anderen Kerl rum!“

„Das kann nicht sein! Thor, sag mir bitte nicht, dass du das Ufer gewechselt hast...!“

Unbeholfen starrte er die beiden fremden jungen Frauen an, die, ohne dass er es mitbekommen hatte, um die Ecke gekommen sein mussten und einen schockierten Blick miteinander wechselten.

„Was für ein Ufer? Ich weiß nicht, was ihr meint...!“, stammelte er lachend und wunderte sich, weil er plötzlich keine Reaktion mehr von ihnen bekam. Als hätte jemand in ihren Köpfen zur selben Zeit einen Schalter betätigt, wandten sie sich um, kümmerten sich nicht länger um ihn und verschwanden wieder.

„Die haben nichts gesehen“, hörte er Loki sagen und bemerkte dessen zufriedenes Grinsen, als er wieder in seine Richtung schaute. „Ich habe ein bisschen nachgeholfen.“

„Du solltest deine Kräfte doch nicht bei Anderen einsetzen“, tadelte er ihn halbherzig.

„Wäre es dir lieber gewesen, wenn sie überall herumerzäht hätten, was sie gesehen haben, und deine Freundin möglicherweise Wind davon bekommen hätte?“

„Ich dachte, Jane wäre dir egal?“, fragte Thor gespielt überrascht.

„Das ist sie, ja. Und nur, weil ich dir einen kleinen Gefallen getan habe, wird sich daran auch nichts ändern.“
 

Thor zuckte die Schultern, ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und überlegte kurz, wie es jetzt weitergehen sollte. Zumindest die Frage, was er aus dem Rest des heutigen Abends machen sollte, erforderte dringend eine schnelle Antwort. Diese Entscheidung wurde ihm allerdings mehr oder weniger abgenommen, als er Janes Handy gedämpft in seiner Jackentasche klingeln hörte.

„Heeey, mein Schatz!“, rief er in das Gerät, nachdem er es hastig hervorgekramt und den grünen Knopf betätigt hatte. Loki verzog angewidert das Gesicht.

„Hi, Thor. Hier ist Darcy“, tönte es aus dem Lautsprecher. „Ich glaube, wenn Ian das mit uns beiden rausfindet, ist er nicht so begeistert.“

Der Gedanke, jetzt gerne im Boden versinken zu wollen, ging ihm kurzzeitig durch den Kopf, bevor er schnell wieder das Gespräch aufnahm.

„Ja, ähm, Darcy... vergiss, wie ich dich gerade genannt habe. Was gibt's?“

„Wenn du mich jetzt alleine hier stehen lässt, verzeihe ich dir das nie...!“, zischte die Stimme seines Bruders verschwörerisch dazwischen. Unsicher, wie er darauf reagieren sollte, versuchte er, sich auf das zu konzentrieren, was die Frau am anderen Ende der Leitung ihm mitteilen wollte - nicht unbedingt ein leichtes Unterfangen, wenn man einen aufgebrachten Jotunen neben sich stehen hatte, der einen konstant mit skeptischem Blick im Auge behielt.

„Wir fragen uns alle, wo du bleibst“, sagte Darcy, und er hörte eine weitere Stimme im Hintergrund, die zu leise war, um sie richtig definieren zu können. „Du wolltest doch längst zu Hause sein. Das Essen ist schon so gut wie fertig und- Ian, könntest du bitte bis nach meinem Telefonat warten und mich dann weiter vollquatschen? Danke. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, das Essen. Also, wenn du jetzt nicht mal langsam nach Hause kommst, wird es noch kalt... und das wird es wahrscheinlich sowieso, weil...“

Darcys Gerede führte sich noch eine Weile lang fort, wie er es bereits von ihr gewohnt war, aber er bekam bei Weitem nicht alles mit, was sie ihm während eines Anfalls an Überschwänglichkeit erzählte. Zu beschäftigt war er damit, eine Lösung für das Problem zu finden, vor dem er im Augenblick stand.

„Ja, weißt du... Ich... Ich bin schon auf dem Weg zu euch. Es hat sich etwas verzögert, aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen!“, improvisierte er eine Erklärung, doch die Rechnung hatte er ohne Loki gemacht.

„Willst du ihr nicht sagen, dass du heute in Gesellschaft nach Hause kommen wirst?“, flüsterte er ihm mit einem vielsagenden Lächeln zu. Dass er ihn damit ganz schön in Bedrängnis brachte, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.
 

„Ähm, Darcy? Bist du noch da?“, fragte er ein wenig verzweifelt, ohne sich von dem Anderen abzuwenden.

„Klar bin ich das. Ist alles okay bei dir? Du klingst irgendwie, als wärst du überfallen worden oder so.“

„Ja, also nein, mir geht's gut“, antwortete er so überzeugend er konnte. „Hör mal... Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich noch jemanden mitbringe, oder?“

„Wen denn?“

„Wen? Naja, jemanden, der... nur für heute Abend... zu Besuch- Aaah! Ja, das ist perfekt...!“

Anerkennend musterte er Loki, der kurzerhand die Gestalt des singenden und Gitarre spielenden Mannes angenommen hatte, den sie auf ihrem Weg vor einem der Läden gesehen hatten.

„Thor?“

Darcys Stimme lenkte erneut seine Aufmerksamkeit auf sich.

„... Ja?“

„Mann, hast du was Komisches eingeschmissen oder was ist los mit dir?“

„Nein, ich war nur gerade... abgelenkt, sorry. Also, ich habe hier... einen Bekannten, den ich gerne zu uns einladen würde, wenn es keine Umstände macht...?“, formulierte er seine Bitte vorsichtig und war fürs Erste recht zufrieden mit dieser Lösung. Etwas Besseres wäre ihm jedenfalls definitiv in der Eile nicht eingefallen.

„Einen Bekannten also? Hmmh...“, machte seine Gesprächspartnerin, bevor sie sich anscheinend etwas von dem Hörer entfernte und sich Jane widmete, ehe sie ihm auch in ihrem Namen ihre Zustimmung gab. „Jane sagt, es ist in Ordnung - wenn dein Bekannter ein anständiger Kerl ist.“

„Ja! Das ist er, keine Sorge“, sagte er erleichtert und gab dem Fremden neben sich, der sein Bruder war, mit einer Geste zu verstehen, dass alles glatt gelaufen war. „Ich bin dann gleich bei euch. Wir sehen uns!“

Ein schweres Seufzen entfuhr ihm, als er auflegte und das Handy zurück in seine Tasche gleiten ließ. Janes Freundin war zu scharfsinnig. Sie merkte es sofort, wenn etwas nicht stimmte. Ein Glück, dass er dank seiner schauspielerischen Leistung und Lokis Verwandlungskünsten noch einmal davongekommen war. Sich auf die Schnelle gute Ausreden auszudenken war noch nie seine Stärke gewesen; darin hatte Loki eindeutig mehr Erfahrung. Umso mehr hatte er einen Grund, jetzt stolz auf sich zu sein.

„Also, gut... dann komm mit“, sagte er an seinen Begleiter gewandt. „Nicht, dass das Essen kalt wird!“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Kyo_aka_Ne-chan
2017-12-25T17:43:11+00:00 25.12.2017 18:43
XD ok, das hab ich nicht erwartet xD Thor der verliebte äh... volltrottel? XD aber sehr coole Idee, ich mag die Sprache, das klingt total nach den beiden. Ansonsten finde ich die Richtung, die die FF hier nimmt, sehr gelungen und ich bin gespannt, wie es weitergeht. Ich mag Loki hier auch total, ich bin aber echt gespannt drauf, was er wohl für einen Plan verfolgt, das macht mich etwas nervös. Und der Kuss hat mich voll fertig gemacht awwww *schmilzt wie Eis in der Sonne* na mal schauen, was du noch so auf Lager hast :)
Antwort von:  Drachenprinz
26.12.2017 14:10
Hey :D
Danke für deine beiden Kommentare! Ist doch immer toll, wenn man mit sowas gerade nicht rechnet. ^.^
Freut mich sehr, dass dir die FF bisher gefällt. Zwei Kapitel sind's ja noch, von denen ich hoffe, dass sie dir auch zusagen. ;) Und ja, ich muss zugeben, ich hatte damals auch sehr viel Spaß, Thor und Loki zu schreiben und mich in deren doch sehr unterschiedliche Gefühlswelten hineinzuversetzen. Die beiden sind eben auch einfach schnuckig (besonders Loki ^^)!
Frohe Weihnachten, by the way!


Zurück