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Last Desire 13

von

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Narben

Unruhig warteten L und Beyond und waren sich nicht ganz sicher, ob Liams Plan wirklich klappen würde. Was, wenn er sich auch mit dem Unborn infizierte? Dann sah es mehr als schwarz für sie aus und nicht auszudenken, was dann passieren würde. Schließlich aber löste sich der Mafiaboss von dem 26-jährigen und einen Moment lang war nicht ganz klar erkennbar, wer denn jetzt die Oberhand hatte. Doch als dieser den Unvergänglichen umarmte und man die unendliche Erleichterung und Dankbarkeit in diesen eisblauen Augen sah, waren die letzten Ungewissheiten beseitigt. Jeremiel war wieder zurück… Liam hatte es geschafft. Unendliche Erleichterung überkam den Detektiv und er ging direkt zu den beiden hin, Beyond folgte ihm. Sogleich, als Jeremiel seinen Bruder sah, fiel er ihm in die Arme. „L, Beyond… bin ich froh, euch wiederzusehen.“ „Jag uns nie wieder so einen Schreck ein, kapiert?“ rief der Serienmörder direkt. „Dein Bruder hat fast kein Auge mehr zumachen können und deine Mutter ist auch krank vor Sorge. Und du…“ Er sprach nicht weiter, sondern schwieg und musterte Jeremiel plötzlich mit einem ganz seltsamen Blick und legte mit einem teils irritierten und teils nachdenklichen Blick den Kopf zur Seite und dann, ohne Vorwarnung, ergriff er eine von Jeremiels Haarsträhnen. Dieser zuckte zusammen und rief „Au!“, woraufhin der Serienmörder ihn losließ. L verstand selbst nichts und fragte „Was sollte das jetzt, Beyond?“ „Tat es weh, als ich deine Haare angefasst habe?“ Der BB-Mörder ignorierte L einfach und widmete seine Aufmerksamkeit einzig und allein Jeremiel, der wahrscheinlich genauso verwirrt war wie sein Bruder. Zögernd fuhr er sich mit seinen Fingern durchs Haar und murmelte erstaunt „Ja… ich verstehe das auch nicht wirklich. So etwas hatte ich noch nie… Beyond, was sagen deine Shinigami-Augen?“ „Dass weder Name, noch Lebenszeit von dir erkennbar sind. Haben sie dir irgendetwas verabreicht?“ Jeremiel dachte kurz nach und fuhr sich wieder durchs Haar. „Nun, sie haben mir tatsächlich irgendetwas gespritzt, aber sie meinten, dass es noch nicht ausgereift sei und deshalb wollten sie mir das fertig gestellte Mittel spritzen, damit der Unborn vollständig von mir Besitz ergreifen kann. Sie nannten das Mittel Sin’a. Wahrscheinlich hat es meine DNA tatsächlich verändert und in diesem Fall bin ich offenbar kein Mensch mehr, sondern… sondern ein vollständiger Proxy.“ Nachdem sich Jeremiel gefangen hatte, überlegten sie, wie sie weiter vorgehen sollten. „Es wäre vielleicht besser, ihn rauszubringen. Wenn Alice noch auf ihn Einfluss ausüben kann, dann wäre es zu gefährlich.“ Doch Jeremiel war nicht davon abzuhalten, mitzukommen und ihnen zu helfen. Er fühlte sich auch soweit fit genug, um mit ihnen mitzuhalten und er wollte ja auch Antworten auf so viele Fragen haben. Insbesondere warum ausgerechnet er für das Experiment ausgewählt wurde. L lehnte zwar ab, aber Jeremiel gab in diesem Moment recht wenig auf seine Worte und erklärte ganz einfach „Ich bin hier der Ältere von uns beiden und außerdem habe ich genauso ein Recht darauf zu erfahren, warum das alles passiert ist, so wie ihr alle. Und wenn der Alpha-Proxy versuchen sollte, mich wieder zu beeinflussen, kann Liam mich auch kurzerhand außer Gefecht setzen. Aber ich komme definitiv mit.“

„Definitiv nicht!“ erwiderte L und war schon ein wenig genervt. Er war es gewohnt, dass man sich an seine Anweisungen hielt, aber bei seinem Bruder war es leider anders. Denn der hatte seinen eigenen Kopf und blieb auch hartnäckig bei seiner Entscheidung. Letztendlich gab L es auf und willigte unter der Voraussetzung ein, dass Liam sofort Maßnahmen ergreifen würde, wenn Jeremiel wieder unter Alices Einfluss geraten sollte. Also machten sie sich auf den Weg und dabei erklärten sie Jeremiel die ganze Situation und was sie bis jetzt herausgefunden hatten. Angefangen von den wahren Hintergründen von Projekt AIN SOPH, den Sefirot-Kriegen und welche Rolle Liam, Eva und Dathan dabei spielten und wer hinter der Maske des Alpha-Proxys steckte. „Damit ich das also richtig verstehe“, sagte Jeremiel, nachdem L und Beyond mit ihrem Bericht fertig waren. „Alice Wammy ist die Leiterin des Projekts und ist mit Elohims dunkler Seite verschmolzen und will nun Rache an der Welt nehmen und dann im Anschluss die Entitäten zurückholen, die in der Lage sind, eine friedliche Welt ohne Hass und Leid zu erschaffen. Und diese Lacie hat jetzt vor, Ain Soph zurückzuholen und Alice von Elohims Einfluss zu befreien.“ „So in etwa trifft das zu. Kannst du folgen?“

„Ja schon. Das Ganze klingt nur etwas abenteuerlich. Und… VORSICHT!“ Im letzten Moment riss Jeremiel Beyond zur Seite, als eine Gruppe Sicherheitsleute das Feuer eröffnete und auf sie schoss. Geistesgegenwärtig zog der Blondhaarige seine Pistolen und schoss seinen Gegnern die Waffen aus der Hand und setzte sie je mit einem Schuss ins Bein außer Gefecht. Sie eilten weiter und Jeremiel lud dabei seine Waffen nach. „Danke“, keuchte Beyond, der so langsam aus der Puste war. „Das war echt knapp. Aber sag mal, wieso hast du sie nicht gleich abgeknallt?“

„Na weil ich nicht einfach so jemanden töten will. Zwar bin ich jetzt mit Sam verschmolzen und kann mich an alles erinnern, was er getan hat, aber es hat nichts daran geändert, dass ich niemanden töten oder unnötig verletzen will.“

„Du hast dich aber auch kein Stück verändert, was?“

„Doch, das habe ich.“ Zwar erklärte Jeremiel nicht mehr, aber als sie erneut angegriffen wurden und er ohne zu zögern das Feuer eröffnete, sah Beyond es auch so. Jeremiel hatte sich tatsächlich verändert. Er hatte dieses Unschuldige verloren, welches er vorher besessen hatte. Hatte er sich vorher vehement geweigert, eine Waffe auch nur anzufassen, hatte er jetzt viel weniger Hemmungen, sie zu benutzen. Es war, als wäre er älter geworden und reifer… Und auch sein Blick hatte dieses Neugierige und Unberührte verloren. Als wäre sein vorher so unschuldiges Herz zum ersten Mal von der Finsternis getrübt worden. Er hatte jetzt erheblich weniger Skrupel, eine Waffe zu benutzen als vorher und es war tatsächlich mehr von Sam Leens in ihn zu erkennen als vorher. Er wirkte jetzt auch tatsächlich wie L’s älterer Bruder. Und wieder musste Beyond an diese Karte denken, die Madame Arcana gezogen hatte: der Tod. Es bedeutete, dass etwas Altes enden und etwas Neues beginnen würde. Der alte Jeremiel, den sie gekannt hatten und der immer etwas hilflos und schutzbedürftig gewirkt hatte, gab es nicht mehr. Stattdessen war da jetzt ein neuer Jeremiel, der sich an all die grausamen Verbrechen erinnerte, die Sam Leens begangen hatte und die ihn sichtbar verändert hatten. Mit dem Entschluss, sich mit seinem namenlosen Alter Ego zu vereinen, hatte er eine große Last auf sich genommen. Er musste mit den schlimmen Erinnerungen an all die Menschen leben, deren Leben er zerstört hatte. An die Kinder, die er ermordet hatte und daran, was er auch Beyond angetan hatte. Mit dieser Last würde er für den Rest seines Lebens leben müssen. Aber er war bereit gewesen, damit zu leben, weil er nicht vor seinem alten Leben davonlaufen, sondern es als Teil seines Selbst akzeptieren wollte. Um Sam Leens ein für alle Male zu „vernichten“, musste man ihm ein Herz geben. Und dies war eben der einzige Weg gewesen. Und Fakt war auch, dass Sam bereitwillig sein Leben beendet hatte, damit Jeremiel leben konnte und er hatte ihm geholfen, damit Liam ihn retten konnte. Deshalb hatte Sam es auch verdient, dass er endlich genauso lachen oder weinen konnte wie alle anderen Menschen. Nämlich als ein fester Teil von Jeremiel. „Eines beschäftigt mich aber doch“, sagte er schließlich. „Wenn Alice Wammy der Alpha-Proxy ist… dann ist sie doch Elions Mutter, oder?“

„Ja, so sieht es aus.“

„Und wer ist dann der Vater? Joseph Brown etwa?“

„Keine Ahnung. Wir sind aber sowieso auf den Weg zu ihr hin, um den anderen zu helfen. Vielleicht klärt sie die ganze Geschichte ja auf. Lacie kommt ja auch gleich dazu und dann bleibt nur zu hoffen, dass wir es irgendwie schaffen können, Alice aufzuhalten.“
 

Nastasja, Dathan, Elohim und Watari hatten einen anderen Weg eingeschlagen, um sich Alice direkt zu stellen. Die Russin hatte die ganze Zeit ein wachsames Auge auf Watari und machte sich auch ernsthafte Sorgen um ihn. Da Watari nicht mehr allzu fit war wie vor zwanzig Jahren, kamen sie nicht ganz so schnell voran, aber bis jetzt blieben sie unbemerkt und das war auch schon mal was. Da Elohim und Dathan bei ihr waren, machte sie sich nicht ganz so viele Sorgen. Ganz anders aber bei Lacie. Sie war ganz alleine und hatte nur eine Pistole und eine Schutzweste. Na hoffentlich ging alles gut und es klappte auch alles. Was niemand bemerkte war, dass auch Elohim einige Gedanken quälten und er mit Elion beschäftigt war, dessen Stimme er gut hören konnte. Aus irgendeinem Grund war es dem Proxy gelungen, eine Verbindung zu ihm aufzubauen und auf diese Weise alles mitzubekommen, was geschah. Und natürlich hatte auch er erfahren, was es mit der Identität des Alpha-Proxys auf sich hatte und Elohim spürte, wie durcheinander der Ärmste war. „Ich verstehe das nicht“, sprach Elion. „Meine Mutter ist Alice Wammy? Ja aber… warum tut sie das alles? Und warum ich? Was habe ich ihr getan, dass sie mich zu einem Proxy gemacht hat?“

„Du hast ihr nichts getan und dich trifft auch keine Schuld und deine Mutter kann nichts dafür. Die Schuld liegt an meiner anderen Hälfte, die deine Mutter völlig beeinflusst hat. Sie ist nicht bei Sinnen, Elion. Also hör auf, die Schuld bei dir zu suchen, das ist völliger Unsinn. Du bist der Letzte, der sich hier irgendetwas vorzuwerfen hat.“

„Mit wem sprichst du?“ fragte Dathan, der das vermeintliche Selbstgespräch mitbekam. „Mit Elion“, erklärte sein Vater. „Er ist völlig durcheinander nach allem, was er erfahren hat. Er bekommt ja alles mit. Nivkha, wenn wir Alice finden, dann wirst du das Kämpfen mir überlassen und dafür auf Nastasja und Watari aufpassen. Es ist einfach zu riskant und ich will nicht, dass dir was passiert.“ „Ist gut, Dad.“ Nun, man sah Dathan schon an, dass er ein Stück weit erleichtert war, dass er nicht direkt an vorderster Front kämpfen musste. Zwar hatte er hart trainiert, um mit dem Schwert besser umgehen zu können, aber er bezweifelte selbst, dass es wirklich ausreichen würde, um Alice zu besiegen. Aber es würde mit Sicherheit ausreichen, um im Notfall Nastasja und Watari zu beschützen. Sie erreichten schließlich eine Treppe, die nach oben führte und Elohim spürte auch, dass die Aura seiner anderen Hälfte nah war. Innerlich bereitete er sich darauf vor, sofort anzugreifen. Der Weg führte sie schließlich in einen riesigen Raum, in welchem mehrere Maschinerien standen, die an Lasergeräte erinnerten. Im Raum befanden sich zudem mehrere Behälter aus Panzerglas, in denen eine klare Flüssigkeit schwamm. Wahrscheinlich wurden hier die Proxys herangezüchtet, aber momentan waren diese Behälter allesamt leer und gaben dem Ganzen wirklich das Bild von einem Versuchslabor für Menschen. Es war der größte Raum von allen und sie konnten eine Silhouette am Ende des Raumes erkennen. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren, strahlend blauen Augen, die die Kleidung eines Proxys trug und das gebrochene Schwert von Elohim bei sich hatte. Alice Wammy, der Alpha-Proxy. Es war allzu offensichtlich, dass sie auf die anderen gewartet hatte. Ein Lächeln spielte sich auf ihre blassen und schönen Lippen, aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen, die vollkommen leer waren und in denen kein Glanz zu finden war. Sie wirkten matt, leblos und es war nichts als unendlicher Schmerz und tiefe Verzweiflung in ihnen zu sehen. Dann aber wurde aus dem hübschen Lächeln ein breites Grinsen und in den Augen loderte blanker Hass und Verachtung. „Ich sehe, ihr seid endlich da. Und den alten Mann habt ihr auch gleich im Schlepptau. Wie erbärmlich ist das denn? Reicht es nicht schon, wenn du im Krankenhaus schon so einfach davongekommen bist, oder willst du unbedingt sterben? Oder willst du um Vergebung betteln? Auf die kannst du lange warten, du alter Bock!“ Für einen kurzen Moment war Alice da gewesen, das hatten sie deutlich gesehen. Aber nun war sie wieder verschwunden. Es schien so, als würde Elohims dunkle Seite immer dann von ihr Besitz ergreifen, wenn sie schwach wurde und sich in ihren Hass flüchtete, um nicht mehr diesen Schmerz zu spüren. Nastasja trat vor, um sie zur Rede zu stellen. „Du bist uns ein paar Antworten schuldig, Alice.“ „Alice ist nicht hier“, rief sie mit einem unheimlichen Singsang und lachte. Es hatte schon fast wahnsinnige Züge, dieses Lachen. „Ihr müsst euch schon mit mir begnügen.“

„Hör auf mit uns zu spielen. Wir wissen genau, dass Alice noch da drin ist und wir wollen endlich wissen, wieso sie das getan hat. Hast du sie dazu gezwungen, die Tötung meiner Familie zu veranlassen und bist du es gewesen, die befohlen hat, die Proxys zu foltern?“

„Als ob das relevant wäre. Alice und ich, wir sind eine Person geworden. Und es war ihre freie Entscheidung gewesen. Sie wollte, dass dieser ganze Alptraum endlich ein Ende hat und dass jene, die ihr Leben zerstört haben, dafür büßen. Und ich erfülle ihr diesen Wunsch und mit ihrer Hilfe wird aus den riesigen Leichenbergen, die folgen werden, ein blühender Garten entstehen. Eine Welt, in der es kein Leid mehr geben wird. Ein Utopia, welches sich Alice und Joseph gemeinsam erträumt haben und woran sie bis zu ihrem Tod geglaubt haben.“

„Wer ist dafür verantwortlich, dass Alice so geworden ist? Wer hat ihr den Unborn injiziert? Ist Alice deshalb am Abend vor Silvester im Institut gewesen?“ Alice lachte und begann mit der Klinge zu spielen. Sie hatte in diesem Moment wirklich etwas von einer Verrückten, die gleich Amok laufen würde und es war allzu deutlich zu sehen, dass sie sie alle töten wollte. Ausnahmslos jeden. „Nein. Sie ist dorthin gegangen, um Joseph ihr Leid zu klagen und sich bei ihm auszuweinen. Wisst ihr…“ Und dabei kam sie langsam näher und schob den Ärmel ihres Lederanzugs hoch und enthüllte dabei unzählige Narben, die sich auf ihren Unterarmen abzeichneten. „Alice hatte es trotz allem nicht fertig gebracht, sich nach diversen missglückten Versuchen die Pulsadern aufzuschneiden, obwohl sie als Ärztin so etwas Einfaches doch locker hinkriegen sollte. Stattdessen ging sie zu Joseph, um sich bei ihm auszuheulen. Er versprach ihr, sich um alles weitere zu kümmern und er konnte sie überreden, endlich ihr altes Leben hinter sich zu lassen, mit ihrem Vater zu brechen und die Arbeit im Krankenhaus aufzugeben, um mit ihm zusammen im Institut zu arbeiten. Und vor allem wollte er etwas gegen Will Duncan unternehmen, der sie übrigens nicht zum ersten Mal vergewaltigt hat. Nur dummerweise kam der gute Will den beiden zuvor. Er verfolgte Alice, nachdem sie von der Silvesterparty zurückfahren wollte. Sie telefonierte da gerade mit Joseph, als sie auch schon von der Straße abgedrängt wurde und den Unfall erlitt. Zwar konnte sie noch aus dem Wagen klettern, bevor er an den Felsen zerschellt wäre, aber sie erlitt schwere Verletzungen. Joseph brachte sie ins Institut und als sie trotz der Operation starb, injizierte er ihr den Unborn, um ihr Leben zu retten. Nur leider hatte der arme Kerl nicht damit gerechnet, dass Alice längst aufgegeben hatte und ihr das eigene Leben letztendlich vollkommen egal geworden war. Und das machte es mir wiederum leichter. Dieser arme Trottel… ihr hättet sein Gesicht sehen müssen, als er erkannt hat, was aus seiner geliebten Alice geworden ist. Er war am Boden zerstört!“ Sie brach in ein schallendes Gelächter aus, während die anderen still geworden waren. Nastasjas Hände ballten sich zu Fäusten und sie sah aus, als wolle sie ihr am liebsten ins Gesicht schlagen. Sie konnte nicht fassen, was mit Alice passiert war und dass es so tragisch kommen musste. Sie selbst hatte Joseph nie wirklich leiden können, aber so langsam verstand sie, warum er so geworden war. Er musste sich schwere Vorwürfe gemacht haben, dass Alice diesen Unfall hatte und er sie nicht beschützen konnte. Und vor allem musste ihn immense Schuldgefühle geplagt haben, dass sie seinetwegen so geworden war. Er hatte ihr den Unborn injiziert, um ihr Leben zu retten, damit sie nicht sterben musste. Er wollte sie nicht verlieren und ihr die Kraft des Unborns geben, damit sie sich endlich zur Wehr setzen konnte. Doch stattdessen hatte sich alles zu einem einzigen Alptraum verwandelt und die Person, die aufgewacht war, war gar nicht mehr Alice gewesen. Stattdessen hatte er ein Monster erschaffen und wahrscheinlich hatte er diese ganze Forschung vorangetrieben und Frederica entführt und im Institut gefangen gehalten, um eine Möglichkeit zu finden, Alice zurückzuholen und damit sie wieder die alte wird. Und aus Schuldgefühlen hatte er behauptet, er hätte die Ermordung der Familie Lawliet angeordnet, weil er Alice schützen wollte. Und dafür hatte er letztendlich mit seinem Leben bezahlt, als Frederica ihn daraufhin aus Rache dafür tötete. „Warum?“ fragte Nastasja und kämpfte mit den Emotionen. „Warum hast du es auf meine Familie abgesehen? Wieso nur hast du dein eigenes Kind so grausam foltern lassen und diesen Experimenten ausgesetzt, Alice? Wenn du wütend auf mich bist… wenn ich irgendetwas getan habe, was dich verletzt hat, dann sag es mir bitte! Verdammt noch mal Alice, wir waren doch wie Schwestern. Wir waren beste Freundinnen und gemeinsam mit Henry ein Trio. Du hast uns beide zusammengebracht und erinnerst du dich noch an meine erste Schwangerschaft? Ich wollte, dass du die Patin meines Kindes wirst. Ich dachte immer, zwischen uns wäre alles in Ordnung. Warum also hast du so einen Hass auf uns?“ Alices Blick verdüsterte sich. Unbändiger Hass loderte in ihren Augen und sie wirkte danach, als wolle sie gleich angreifen. Aber gleichzeitig wich auch das Wahnsinnige in ihrem Blick. Der Schmerz kehrte in ihre Augen zurück und dann war sie es wieder. Die alte Alice. „Du fragst warum?“ fragte sie und es war nicht mehr diese fremdartige Stimme, sondern tatsächlich ihre eigene. „Ich fand es einfach zum Kotzen, diese ganze Scharade. Wir waren doch kein Trio. Es gab doch nur Henry und dich. Kaum, dass ihr beide ein Paar ward, da war ich doch nur das fünfte Rad am Wagen. Ihr ward glücklich miteinander und du hast doch keine Ahnung, wie es in mir drin aussieht. Du verstehst doch nichts davon, was wahres Leid ist! Dir ist doch immer schon alles zugeflogen. Du hast bei uns gelebt und Vater hat dich immer in den höchsten Tönen gelobt. Zuerst hast du dich bei uns eingenistet und dann warst du für ihn wie eine Tochter. Und schnell war ich abgeschrieben, nur weil ich nicht so war wie du. Du hast doch schon immer nur Erfolg gehabt und warst immer beliebt. Wirklich alles hast du geschafft und warst sogar glücklich verheiratet. Kaum, dass du Henry und meinen Vater hattest, da war ich doch längst abgeschrieben! Dass du dein Kind verloren hast, war schlimm und tat mir auch leid… aber insgeheim war ich auch froh darüber. Wenigstens ein Mal war dir etwas nicht vergönnt! Eine einzige Sache, die du niemals haben wirst im Gegensatz zu mir. Nachdem du mir meinen besten Freund und meinen Vater weggenommen hast, war der einzige Trost für mich, dass du niemals eigene Kinder haben wirst. Das war wirklich eine Genugtuung für mich und ich dachte, es gäbe tatsächlich so etwas wie Gerechtigkeit auf dieser Welt. Die allseits beliebte Nastasja, die so perfekt und begabt war und die alles bekam was sie wollte, würde wenigstens diese eine Sache niemals haben. Nämlich eigene Kinder. Aber deine Freundlichkeit, deine witzige Art und deinen naiven Gottesglauben fand ich irgendwann nur noch zum Kotzen. Vater hat dich immer so angehimmelt und ich habe immer mein Bestes gegeben, um ihn stolz zu machen. Während meines Studiums habe ich Ritalin und Provigil genommen, um bis zu sechs Tage ohne Schlaf durcharbeiten zu können und immer die höchsten Leistungen zu erzielen. Ich habe immer hart gearbeitet, um die besten Noten zu schreiben und meinen Vater stolz zu machen. Ich wollte dich übertreffen und beweisen, dass ich die Bessere bin und ich auch mal etwas Anerkennung verdient habe. Aber stattdessen hat es mich nur kaputt gemacht, während du einen Erfolg nach dem anderen geerntet hast… Alle haben mich gehasst und mich herumgeschubst und schikaniert, während sie dich alle geliebt und bewundert haben. Du hast dich doch nie dafür interessiert, wie es mir bei der ganzen Sache ging!“ Nastasja ließ die Arme sinken und war fassungslos. Sie hatte nicht geahnt, dass Alice so über sie dachte und dass sie so sehr darunter gelitten hatte, dass es ihrer besten Freundin so viel besser ging im Leben. Nun gut, dass sie Watari als eine Art Vaterfigur ansah, stritt sie nicht ab. Aber sie hatte nie Eltern gehabt, geschweige denn eine Familie. Sie hatte nie gemerkt, was da in Alice vorgegangen war und wie eifersüchtig diese auf sie war. „Alice, ich wollte dir nie deinen Vater wegnehmen. Ich war nur so glücklich bei euch, weil ich doch nie so etwas wie eine Familie hatte.“

„Du hast es aber. Na los doch, Vater.“ Und damit wandte sich Alice an Watari. „Gib es doch zu, dass du lieber sie als Tochter hättest als mich. Du hast doch sowieso immer nur Augen für sie gehabt. Immerzu hieß es Nastasja hier, Nastasja da. Nastasja hat die Weltmeisterschaft in Mixed Martial Arts gewonnen, Nastasja hat die Meisterschaft in Kickboxen gewonnen. Nastasja hatte eine Fehlgeburt und braucht jetzt dringend Aufmerksamkeit. Nastasja ist so beliebt und hat schon mit 13 Jahren unterrichtet. Deine ganze Aufmerksamkeit drehte sich doch nur um sie und auf mich warst du doch nie stolz. Du hast mich nicht ein einziges Mal einfach nur loben können, ohne dann noch gleich zu sagen, ich könnte es auch besser machen. Du warst doch nie zufrieden mit mir! Ja, ich war eifersüchtig auf dich, Nastasja. Ich war neidisch und ich fand es ungerecht, dass dir immer so viel Glück vergönnt war. Und als du dann auch noch sagtest, du wärst neidisch auf mich, da ist mir endgültig der Kragen geplatzt. Das war für mich ein einziger Schlag ins Gesicht gewesen und ich kam mir in diesem Moment einfach nur verarscht vor. Für mich war das so, als wolltest du dich nur über mich lustig machen. Das war einfach zu viel für mich und ich wollte nur noch weg von der Feier und vor allem weg vor dir und Henry. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen, dass ihr die ganze Zeit nur am Herumturteln ward und ich doch im Grunde vollkommen überflüssig geworden war.“ Und damit packte Alice ihre Freundin an den Haaren und schlug ihr ins Gesicht. Sie schlug sie zu Boden und stieß ihr den Absatz ihres Stiefels in den Brustkorb. Nastasja stöhnte vor Schmerz auf und wieder trat Alice auf sie ein, wobei sie sich dann schließlich Watari zuwandte und lachte. Doch obwohl sie lachte, wirkten ihre Augen immer noch so unendlich traurig und hoffnungslos und Tränen liefen ihre Wangen runter. „Sag es schon…“, rief sie und ihre Stimme klang völlig verzweifelt. „Na los. Sag doch, wie enttäuscht du von deiner einzigen Tochter bist, die selbst unfähig dazu ist, einfach zu sterben. Erzähl schon. Es muss doch wirklich ein Alptraum sein, eine solch verkommene Versagerin zur Tochter zu haben, die tablettenabhängig, depressiv ist, sich die Arme zerschneidet und die wirklich nie deine Erwartungen erfüllen kann.“ Ihr verzweifeltes und hoffnungsloses Lachen hallte durch den ganzen Raum und trieb ihnen eine Gänsehaut über den Körper. Und während sie lachte, flossen unablässig Tränen über ihr schönes Gesicht. Schließlich aber nahm sie ihr Schwert und schnitt sich damit den Arm auf. Blut tropfte auf den Boden und es war nicht eine einzige Schmerzensäußerung in ihrem Gesicht zu sehen. Sie lächelte und sah dabei ihren Vater an. „Aber weißt du was der Vorteil ist, wenn innen drin alles tot ist? Man spürt rein gar nichts mehr… Nicht einmal mehr den Schmerz…“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube, das ist mit Abstand eines der traurigsten Kapitel, die ich je geschrieben habe. Allein schon vom Durchlesen kommen mir jedes Mal die Tränen, weil Alices Probleme und ihre Gefühle etwas sind, was wir wohl alle mal durchmachen. Das Gefühl, allen gerecht werden zu müssen, wie schlimm es ist, wenn man keine Anerkennung bekommt und immer so unter Druck gesetzt wird. Wie man zuerst Eifersucht, dann Neid und dann einfach nur noch Missgunst für die besten Freunde entwickelt, weil diese aus irgendeinem Grund mit ihrem Leben besser zurechtkommen. Der Missbrauch von Ritalin und Provigil ist übrigens ein weit verbreitetes Problem an amerikanischen Unis und Privatschulen, weil man so unter Druck gesetzt wird, dass man anfängt, Ritalin zu nehmen (was die Konzentration fördert und bei ADHS verschrieben wird). Provigil ist genauso gefährlich und bewirkt, dass man die Nächte durcharbeiten kann, ohne dass man schläft. Klingt zwar wunderbar, aber es wird irgendwann nur noch zum Horrortrip für den Betroffenen, bis dieser endgültig zusammenbricht oder stirbt.

Und da ich letztens in einer Serie gesehen habe, wie 14-jährige Provigil nehmen und hinterher komplett durchdrehen, weil sie an massivem Schlafentzug leiden, wollte ich dieses ernste Thema auch mal hier einbinden. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  pri_fairy
2015-02-10T19:57:47+00:00 10.02.2015 20:57
Oh man die arme Alice :( sie tut mir wirklich leid... Es ist wirklich traurig und auch tragisch. Es klingt komisch aber man bzw. Ich verstehe sie irgendwie sehr gut, auch wenn das was sie getan hat vielleicht nicht gut war. Aber sie wollte eigentlich nur ihrem Vater gefallen, damit er Stolz auf sie ist und sie wollte auch seine Anerkennung und Liebe dadurch bekommen. Das Kapitel war wirklich traurig aber auch sehr gut weil man jetzt einfach Alice noch besser versteht.
Antwort von:  Sky-
10.02.2015 21:11
Ja stimmt. Und ich denke, dass sich jeder ein Stück weit mit ihr identifizieren kann, weil es vielen von uns ähnlich ergeht. Aber das.Schlimme ist ja, dass sie durch den Einfluss von Elohims dunkler Seite nicht mehr wirklich die Alice ist, die damals gelebt hat.
Antwort von:  pri_fairy
10.02.2015 21:58
Ja das stimmt. Wenn ihr Vater ihr nur einmal zugehört hätte dann wäre sie vielleicht auch nicht so verzweifelt und traurig gewesen. Aber er sieht es jetzt auch ein und es tut ihm auch leid. Außerdem ist ja am Ende doch alles wieder gut gegangen :)vielleicht ist das ja ein Trost wenn man bedenkt wie sehr auch Alice in ihrem Leben litt. Und Elohims dunkle Seite hat alles nur noch schlimmer gemacht obwohl ich froh bin das das der Grund für ihre Grausamkeit ist und sie selbst nicht ein solches Monster geworden ist.
Von: abgemeldet
2015-02-05T14:08:49+00:00 05.02.2015 15:08
Ein trauriges aber auch klasse Kapitel.


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