Zum Inhalt der Seite

Eurydike

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der Junge mit dem Vertrag

Yuki erreichte das Wohnheim völlig außer Atem und Schweiß durchnässt. Ihre weißen Kniestrümpfe waren bis zu den Knien mit Blut besprenkelt, vereinzelte Strähnen ihres roten Haares klebten an ihrem Gesicht. Sie hatte Seitenstechen und ihre Hüfte schmerzte an der Stelle, wo ihre Tasche beim Laufen permanent angestoßen war. Jetzt, wo sie direkt vor der Haustür stand, beugte sie sich vorn über und stützte sich an ihren Knien ab um Luft zu holen. Ihr Atem ging stoßweise und Schweißtropfen fielen von ihrer Stirn in die Tiefe.

Es kam ihr merkwürdig vor, dass sie so geschafft war, in der Mittelschule hatte sie viel Sport getrieben und auch sonst war sie körperlich sehr fit. Selbst wenn man das zusätzliche Gewicht ihrer Sporttasche mit in Betracht zog, so schnell war sie normalerweise nicht aus der Puste …

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und richtete sich wieder auf. Das Erste, was sie in ihrem neuen Zuhause machen würde, war eine heiße Dusche nehmen. Mit schnellen Schritten stieg sie die wenigen Stufen zur Haustür des Heims hoch.

Bitte lass sie noch offen sein! Sie drückte die Klinke hinunter und stellte erleichtert fest, dass die Tür sich problemlos öffnen ließ. Mit einem letzten Blick nach links und rechts vergewisserte sie sich, dass ihr niemand gefolgt war, und trat ein.

Auch hier war alles dunkel, nur das vage grüne Licht des Vollmondes erhellte einen kleinen Teil des Raumes. Sie stand in einer Art Lobby mit einem hölzernen Tresen auf der linken Seite. Auf der Rechten befand sich nahe der Wand eine gemütlich aussehende Sitzlandschaft mit einem langen Wohnzimmertisch, drum herum je zwei Couchsessel und zwei Dreisitzer, alle in einer dunklen Farbe, im irritierenden grünen Licht konnte sie nicht genau sagen welche, wohl braun oder grau. Direkt vor ihr konnte sie im Halbdunkel noch einen kleinen Fernseher in einer Holzfassung erkennen, außerdem noch eine hüfthohe Trennwand mit schmalen Goldsäulen oben drauf, die den Wohnbereich vom Eingangsbereich mit dem Tresen trennte. Nun in Sicherheit, nahm Yuki die Tasche von ihrer Schulter und stellte sie auf dem Teppichboden ab, als plötzlich ..

„Willkommen“

Sie fuhr erschrocken herum und starrte in Richtung des Tresens. Wie aus dem Nichts war dort ein kleiner Junge mit wuscheligen schwarzen Haaren und blauen Augen aufgetaucht. Er trug eine schwarz-weiß gestreifte Hose und ein passendes Oberteil mit 3/4 Ärmeln und Knöpfen an der Brust, außerdem schwarze Schlappen ohne Socken. Bei seinem Anblick musste Yuki unwillkürlich an einen Sträfling aus einem dieser alten Filme denken.

„Du bist spät dran. Ich habe eine lange Zeit auf dich gewartet“

Wie bitte? Mit einem Blinzeln wandte sie sich von seinen Schuhen ab und wieder seinem Gesicht mit den leuchtend hellblauen Augen zu. Oder nein, nicht hellblau, der Teil um die Pupille war wesentlich dunkler, er hob sich deutlich vom helleren Rand außen ab, als hätte jemand mit einem Zirkel gekennzeichnet, wo die beiden Blautöne sich trennen sollten. Unter seinem linken Auge konnte sie außerdem ein kleines Muttermal erkennen.

Der Junge hob die Hand und deutete neben sich auf den Tresen. Dort lag eine schmale rote Mappe, die sich wie von Geisterhand öffnete und den Blick auf ein Dokument freigab. Es mochte hier drinnen ja wirklich ziemlich dunkel sein, aber Yuki war sich 100%ig sicher: die war gerade eben erst aufgetaucht! Ungerührt fuhr der Junge fort.

„Wenn du fortfahren möchtest, dann unterschreibe bitte hier. Es ist ein Vertrag“

Natürlich, ein ominöser Vertrag von einem aus dem Boden wachsenden Jungen, in einer verrückten Stunde wo Blut von den Wänden tropft und Särge die Straßen säumen … Logisch! Es würde sie nicht wundern, wenn in dem Vertrag von ihrer Seele und dem Verkauf selbiger an irgendeinen Dämon die Rede war.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, setzte der Junge hinzu: „Es gibt keinen Grund sich zu fürchten. Er bindet dich lediglich daran, die volle Verantwortung für deine Taten zu übernehmen“

Er lächelte sie aufmunternd an und erwartete offensichtlich, dass sie unterschrieb. Von ihm mochte zwar keine direkte Gefahr ausgehen, aber unterzeichnen wollte sie diesen Zettel nicht. Wer weiß was dann noch passierte, neben Särgen würden sich vielleicht noch Mumien oder andere Monster zu ihrer kleinen Unterhaltung dazu gesellen.

Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: der Junge war neben ihr der einzige Mensch, der in dieser eigenartigen Parallelstadt zu existieren schien. Von wegen keine Gefahr, vielleicht war er es ja, vor dem sie sich wirklich fürchten sollte. Möglicherweise war er eine Art Ungeheuer in menschlicher Gestalt das nur darauf wartete, sie zu verspeisen, hier, wo es keine Zeugen gab. Sollte das der Fall sein, konnte sie seinen komischen Vertrag eigentlich genauso gut gleich unterschreiben, fressen würde er (oder es?) sie sowieso.

Ohne den Jungen aus den Augen zu lassen ging sie langsam auf die Theke zu. Widerwillig löste sie ihren Blick von ihm, als sie die Stelle mit der Mappe erreichte. In schmalen, eleganten Lettern standen dort die Worte: „Ich erwählte dieses Schicksal aus meinem eigenen, freien Willen“

Neben der Mappe lag ein altmodischer Federkiel mit goldener Fassung. Ihr Unterbewusstsein sträubte sich, wollte ihn nicht anfassen, wollte am Liebsten wegrennen und diesen merkwürdigen Jungen und diese unheimliche Stadt weit hinter sich lassen. Aber wo sollte sie schon hin, ohne Strom und ohne einen Ort, an den sie zurück kehren konnte? Sie ignorierte das Stechen in ihrer Brust, welches der Gedanke in ihr hervorrief und griff nach der Feder, um mit ihrem Namen zu unterzeichnen: Yuki Nakamura.

„Sehr gut“ Der Junge schien zufrieden zu sein, er nahm die Mappe in beide Hände und machte einen Schritt zurück, fort von ihr. „Zeit ist etwas, dem niemand entkommen kann. Sie geleitet uns alle zum selben Ende. Wünschen wird sie nicht einfach vertreiben“

Er sprach nicht wie ein Kind seines Alters, irgendwie .. älter. Was er sagte, klang wie ein Ratschlag, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass da noch mehr dahinter steckte. In seinen Augen lag etwas, dass sie nicht deuten konnte. Er nahm die Mappe in die rechte Hand und hielt sie vor sein rechtes Auge.

„Du kannst nicht einfach deine Augen und Ohren vor ihr verschließen“

Mit diesen Worten drehte er die Mappe so, dass Yuki nur noch ihren Einbandrücken sehen konnte. Im nächsten Moment war sie verschwunden und er ließ die Hand wieder sinken. Also war er wirklich kein Mensch! Während sie ihn immer noch anstarrte, schien die Dunkelheit hinter ihm plötzlich nach ihm zu greifen, sie huschte nach vorne und hüllte ihn ein. Bevor sie ihn ganz in sich auf sog streckte er den Arm in ihre Richtung aus und murmelte: „Und so beginnt es ...“

Dann war er fort, als wären die Schatten mit ihm verschmolzen. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blieb sie stehen und versuchte, ihn im Dunkeln vor sich zu erkennen, obwohl sie irgendwie wusste, dass sie ihn nicht mehr finden würde. Was er auch war, er war fort und hatte sie wieder allein gelassen. Sollte sie das nun beruhigen oder … ?

„Wer ist da?!“

Yuki zuckte zusammen. War der Junge doch noch nicht gegangen? Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch es war nicht der mysteriöse Junge, der gerufen hatte. Die Person vor ihr war deutlich größer.

Es war ein Mädchen. Ein Mädchen mit einer pinker Weste.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2015-01-13T15:43:12+00:00 13.01.2015 16:43
Das finde das Kapitel klasse ^-^


Zurück