Zum Inhalt der Seite

Anderwelt

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der Anfang

Der Anfang
 

Während über mir der wolkenlose Himmel die ganze Pracht der Nachmittagssonne präsentiert gibt es unter mir nur die endlose Tiefe. Dunkel und kalt. Ich habe das Gefühl zu schweben. Das stetige Auf und Ab der Tiefe macht mir immer wieder klar, dass es für mich ein Privileg ist, hier zu sein. Jeder Moment meiner Reise hat denselben salzig frischen Geruch inne. Er erinnert mich daran, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe. Sollte mir hier etwas passieren, würde mich niemand retten.

Ich kann den Ozean befahren, aber zähmen kann ich ihn nicht. Sollte er beschließen, mich zu verschlingen, kann ich ihm nichts entgegensetzen.

Uns Seeleuten bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Und bisher wurden wir nicht enttäuscht. Warum sollte sich die weite See auch um einfache Leute wie uns scheren? Ich glaubte schon immer daran, dass sie uns nichts antun würde, solange wir ihr keinen Grund dazu geben.

Und manchmal führt sie uns nicht an das Ziel, das wir vorgesehen hatten, sondern an das, das sie für uns vorsah.

Es war im Jahre Siebzehnhundertelf. Wir sind auf dem Weg von Frankreich nach Amerika. Einfache Handelsleute, die sich ihr tägliches Brot auf ehrliche Weise verdienen. Wir sind weder Franzosen, noch Amerikaner, aber in jedem Land werden Verrückte geboren, die sich mit der gewaltigsten aller Kräfte anlegen: der Natur.

Doch wenn man es mit unbekannten Kräften zu tun hat, ist es vollkommen egal, woher man stammt. Irgendwo dort draußen, im atlantischen Ozean der vergangenen Tage, gibt es etwas, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Ich habe oft versucht, mein einstiges Abenteuer wiederzufinden, aber es ist mir nicht gelungen. Nicht einmal der Ozean zeigt es mir mehr, er spiegelt nur den Himmel.

Doch zum Glück ist meine Erinnerung daran noch deutlich und klar. Der Moment, an dem das Wasser nicht nur den Himmel spiegelte… sondern auch das Licht der Wächterin in ihrem Boot, die mächtigen Tore ihres Schützlings und schließlich ihres Meisters, des großen Leuchtturms.

Aber bevor das alles verstanden werden kann, muss zunächst geklärt werden, was genau sich an diesem wolkenlosen Nachmittag siebzehnhundertelf ereignete.

Mit ruhigen Wellen und einer erfrischenden Brise gleiten wir über das Wasser, auf unserer einzig wahren Schönheit, der Amelia. Sie ist die Frau des Kapitäns, die uns nach jeder noch so weiten Reise in unserer Heimat willkommen heißt und uns mit einer warmen Mahlzeit und einem guten Bier versorgt. Eine gute Frau, zweifelsohne. Aber das hier ist nicht die Geschichte der Frau, sondern des Schiffes und ihrer Mannschaft.

Zuerst ist es nur ein sachter Dunst, der die Wellen und das nasse Holz des Schiffs umschmeichelt. Die ersten Männer bemerken ihn, als er sich wie ein Seidentuch auf ihre Gesichter legt. Neugierig starren wir auf den Ozean, und es ist, als ob er beschlossen hat, sich zu erheben und in höhere Sphären aufzusteigen.

Als die dichte Nebelwand auf uns zukommt, sind wir verunsichert. Doch der Kapitän spricht uns Mut zu. Die See sei launisch, doch wenn wir friedlich sind, hätte sie keinen Grund, uns etwas zu Leide zu tun. Das ist das, was er immer sagt, und es hat sich immer bewahrheitet.

Aber solch eine dichte Nebelwand an einem schönen Tag bei ruhiger See? Das fühlt sich widernatürlich an.

Nichts desto trotz haben wir keine andere Wahl, als uns ihr zu stellen. Ihr plötzliches Auftauchen lässt uns keine Zeit, sie zu umschiffen. Wir fahren nicht hinein… wir werden verschlungen. So fühlt es sich auch an. Schwer und beängstigend.

Jeder von uns hält wachsam seinen Blick auf den Nebel gerichtet. Mit jedem verstreichenden Moment erwarten wir das Schlimmste. Ungeheuer, Sirenen und andere Hexereien, die abergläubische Taugenichtse wie wir nur aus Erzählungen kennen.

Eine Weile passiert nichts. Bis die Adleraugen des Steuermanns in der Ferne etwas ausmachen. Er ruft uns zu: „Dort ist etwas! Direkt vor uns!“

Ich muss die Augen zusammen kneifen, um aus dem ständig verschwimmenden Bild vor meinen Augen etwas erkennen zu können. Aber der Steuermann behält Recht, dort auf dem Wasser ist etwas.

„Ein Licht!“, erkennt der Navigator neben mir. Bei näherem Hinsehen erkenne auch ich einen warmen, blassen Lichtschimmer etwa ein einhalb Meter über dem Wasser. Alle befürchten sofort das Schlimmste. Eine Hexe, vermutlich. Einige fangen an zu beten, andere führen ihre Hand nervös zu ihren Waffen. Eine Schande, dass wir sie tragen müssen, doch in unserer Zeit kann man nicht vorsichtig genug sein. Aber ich fürchte, dass uns hier Waffen nicht weiterhelfen werden.

Das Licht kommt näher quälend langsam, bis wir einen Schatten unter ihm ausmachen können. Es wird also nicht durch schwarze Magie oder Hexereien in der Luft gehalten.

Wir alle halten den Atem an, als der Schatten beginnt, sich zu bewegen. Je deutlicher er wird und je näher er uns kommt, desto mehr rutscht uns das Herz in die Hose. Einige wünschen sich bereits, diese Reise nie angetreten zu haben.

Schleichend bewegt sich der Schatten auf uns zu und mit jeder Sekunde wird er klarer. Die verschwommenen Kanten festigen sich und enthüllen ein kleines Boot, kaum mehr als eine Gondel. An seinem Rumpf ragt eine alte Laterne empor, deren Licht wir selbst aus dem dichten Nebel sehen konnten.

Nun ist auch klar, was der sich bewegende Schatten ist. Eine verhüllte Gestalt, die mit einem hölzernen Ruder steuerbords das Boot bewegte. Ich vermute zumindest, dass an diesem Holzstab in der Hand des Bootsmannes ein Ruder befestigt ist. Wie soll er es sonst bewegen? Doch die größere Frage ist, wie er das Boot überhaupt über das Meer bewegt, gleich einer Möwe, die auf dem Wind reitet und sich nicht einmal von Licht noch Dunkelheit in ihrem Flug stören ließ.

Schweigend hält er auf Höhe unseres Schiffs an und blick zu uns auf. Neugierig sehen wir hinunter, um einen Blick auf den Fremden zu erhaschen. Viel können wir allerdings nicht sehen. Ein dunkler, abgetragener Mantel aus grobem Stoff. Keine Verzierungen und Muster, die uns Aufschluss über seine Herkunft geben können. Die lange Kapuze verhüllt die Augen, also müssen wir lediglich von Mund und Händen darauf schließen, mit dem wir es zu tun haben. Ein einzelner, scharfäugiger Blick genügt und wir erkennen, dass der Bootsmann eine Frau ist. Aber das soll uns nicht mehr verwundern, nachdem wir bereits in den plötzlichen Nebel gerieten und schwebende Lichter sahen.

Sie scheint uns für einen Augenblick zu mustern, dreht dann bei und lässt das Boot über das Wasser gleiten, ja beinahe schweben, zurück in den Nebel.

Das Vertrauen, das sie in uns legt, dass wir ihr folgen, soll nicht enttäuscht werden.

Keiner von uns ist ein Abenteurer, aber wir sehen keinen anderen Weg aus diesem Nebel hinaus. Menschen, die dieses Licht nicht erblicken, finden ihren Weg wohl irgendwann wieder hinaus in die Weiten des Ozeans, mit nichts weiter als ein paar undeutlichen Schatten auf der Wasseroberfläche als Erinnerung. Doch wir sollen nun zu Gesicht bekommen, was sich denn im Wasser spiegelt.

Wir beobachten die stetige Bewegung der Frau, als sie das Boot weiter vorwärts treibt, angespannt und neugierig zugleich, bis ihre Bewegung inne hält. Wir merken auf, doch noch sehen wir keine Veränderung. Erst, als sie eine Hand von ihrem Ruder löst und zur anderen Seite führt, wie einen Gruß, den sie jemandem in weiter Ferne schickt, scheint der Nebel sich auf einmal zu bewegen. Es scheint uns, als würde er sich auf ihren Befehl hin lichten und den Weg für uns freigeben.

Und nun, da sich das Licht der Sonne langsam durch den Nebel bahnt, sehe ich das Boot deutlich. Die Laterne scheint mir schon fast wie erloschen, so hell ist es nun. Das dunkle Boot mit der dunklen Gestalt darin wirkt schon beinahe trist und grau, doch sie hat immer noch etwas Angsteinflößendes. Vermutlich eben deswegen.

Doch als der Nebel sich gleich einer großen Pforte vor uns öffnet, erblicken wir, was nur wenige vor uns gesehen haben.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück