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Der letzte Tag

von

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17. Mai 1868
 

Etwas war anders an diesem Morgen. Er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Vielleicht würde er es heute endlich noch einmal schaffen, sich raus auf die Engawa zu setzen. Oder vielleicht sogar auf die kleine Bank im Garten. Er wusste schon gar nicht mehr, wann er dieses Zimmer das letzte mal verlassen hatte. Tage und Nächte hatten keine Bedeutung mehr seitdem er hier war. Der Husten quälte ihn in der Nacht, so dass er die meiste Zeit des Tages verschlief. Aber es machte keinen Unterschied für ihn. Seine Schwester hatte mit ihrer Familie die Stadt verlassen und so gab es niemand der zu Besuch kam. Er konnte nichts tun außer bei schönem Wetter in den kleinen Garten zu blicken, wenn jemand für ihn die Shojitür öffnete. Ansonsten wartete er nur auf den nächsten Morgen, den nächsten Brief von Kondo-san oder Hijikata-san.
 

Doch heute war alles anders. Heute würde ein guter Tag werden. Souji war sich ganz sicher.

Vorsichtig schälte er sich aus seinem Futon und stand langsam auf. So mühelos war ihm das schon lange nicht mehr gelungen.

Er öffnete die Shojitür und trat hinaus auf die Engawa. Ein strahlend blauer, wolkenloser Himmel empfing ihn.

Langsam ging er die Engawa entlang auf den Weg in die Küche. Er hatte Hunger. Noch etwas ungewöhnliches. Seit Wochen hatte er bis auf ein wenig Suppe nichts zu sich genommen, doch jetzt hatte er Appetit auf Reis.

Ja, heute war ein guter Tag.

Er war gerade dabei die Tür zur Küche zu öffnen, als er die gedämpfte, aber aufgebrachte Stimme der alten Yuki-san vernahm.
 

„Sind Sie auch wirklich ganz sicher?“
 

„Leider ja. Hiroshi-san hat ihn gesehen. Der Angeklagte war eindeutig Kondo Isami.“
 

Souji wollte nicht einfallen wem die zweite Stimme gehörte. Der Mann, der immer die Briefe überbrachte? Was meinte er mit der „Angeklagte“?

Etwas an den beiden Stimmen ließ ihn zögern die Tür zu öffnen.
 

„Wann ...?“ fragte Yuki-san.
 

„Heute zur neunten Mittagsstunde, in Itabashi. Die Hinrichtung ist öffentlich.“
 

Souji spürte wie sich alles in seinem Herzen zusammen zog. Was redete der Fremde da...das konnte doch unmöglich sein.
 

„Okita-san darf auf keinen Fall davon erfahren...“ hörte er Yukis Stimme aus der Ferne und hatte das Gefühl das der blaue Himmel in einem rasenden Tempo auf ihn einzustürzen drohte.

Das durfte nicht sein...das konnte nicht sein. Niemals würde er zulassen, das Kondo-san...tausende von Gedanken begannen in seinem Kopf zu rasen. Was machte Kondo-san überhaupt hier? Er sollte mit Hijikata-san in Kofu sein. Und Hijikata-san...wo war er...er konnte doch nicht zulassen, das...

Um Souji herum drehte sich alles, als er leise wieder zurück zu seinem Zimmer ging. Dort verharrte er auf den Tatamiboden sitzend, bis der Schwindel langsam verschwand.
 

Dann traff er eine Entscheidung. Er griff nach dem Daisho und war erstaunt wie mühelos er beide Schwerter hochheben konnte. Auch das war ihm schon seit Monaten nicht mehr gelungen. Höchstens das Wakizashi hatte er ab und zu mal noch für ein paar Minuten halten können. Vorsichtig schlich er sich an der Küche vorbei und verließ das Haus durch den Hintereingang.
 

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, er musste sich beeilen wenn er vor der neunten Mittagsstunde in Itabashi sein wollte. Er war erst wenige Meter weit gekommen, als er merkte wie seine Kräfte wieder nachließen.

Egal, er musste weiter.

Itabashi lag im Westen, aber er hatte keine Ahnung wie lange er dorthin brauchen würde. Das Atem fiel ihm zunehmend schwerer und er spürte auch wieder das wohlbekannte Kratzen in seinem Hals. Trotzdem versuchte er schneller zu laufen. Er wollte zumindest die nächste große Straße erreichen bevor ihn der Husten wieder heimsuchte. Auch das Fieber war zurückgekehrt, sein Kopf glühte und er konnte spüren wie sich kleine Schweißperlen auf seinem ganzen Körper ausbreiteten.

Weiter, immer weiter.

Er durfte Kondo-san nicht im Stich lassen. Er hätte niemals in Edo bleiben dürfen, egal wie schlecht es ihm gegangen war. Er hätte bei Kondo-san und Hijikata-san bleiben müssen.
 

„Mama, was ist mit dem Mann? Ist er krank?“ Ein Kind auf der anderen Straßenseite zeigt verwundert auf ihn, während die Mutter ihn entsetzt anblickte und dann das Kind leise ermahnte.

Nicht stehen bleiben. Nur nicht stehen bleiben.

Sein Yukata war komplett durchgeschwitzt und er konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Das rasselnde Geräusch welches er die ganze Zeit wahrnahm, musste sein eigener Atmen sein. Seine Füße bluteten. Er war ohne Geta losgelaufen und hatte es bis eben nicht bemerkt. Nun hatte er das Gefühl jede kleinste Kiesel würde sich wie ein Messer in seine Fußsohlen bohren. Weiter, er musste weiter.

Die Sonne stieg unaufhörlich höher am Horizont.Die Zeit lief ihm davon.

Er brauchte ein Pferd. Nein, kein Pferd. Er würde nicht einmal aufsteigen können, geschweige denn sich im Sattel halten können. Sein ganzer Körper schrie danach sich einfach fallen zu lassen, hier direkt auf der Straße, nur um keinen einzigen Schritt mehr gehen zu müssen.

Doch sein Wille war stärker. Er musste seinen Körper besiegen. Wenigstens dieses einzige mal noch. Aber wenn er in diesem Tempo weiterlief, würde er es weder rechtzeitig schaffen, noch hätte er an seinem Ziel überhaupt die Kraft sein Schwert auch nur zu ziehen.

Endlich.

Er hatte zumindest die große Hauptstraße erreicht, die auf direktem Weg nach Itabashi führte. Hier waren viel mehr Leute unterwegs, an beiden Seiten der Straße gab es zahlreiche Marktstände, Geschäfte und Teehäuser.

Mehr Leute, mehr Aufmerksamkeit.

Die meisten Frauen schauten ängstlich weg als sie ihn sahen, nur die Kinder und Männer sahen ihn mit unverhohlener Neugier an. Irgendwo zwischen dem lauten Keuchen seines Atems hörte er ihr Getuschel.
 

„Sollte nicht jemand helfen?“
 

„Wo ist die Polizei wenn man sie braucht?“
 

Aber niemand sprach ihn an, niemand versuchte ihn aufzuhalten.
 

„Solche Augen...sprecht ihn lieber nicht an, er wird euch umbringen. Habt ihr schon mal solche Augen gesehen?“
 

„Vorsicht!“ rief plötzlich jemand hinter ihm und einige Sekunden später rannte zwei Sänftenträger mit einer Sänfte im Eiltempo an ihm vorbei. Souji taumelte, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten.

Eine Sänfte. Das war die Lösung. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen.
 

„Wartet!“ rief er den beiden Trägern hinterher, doch seine Stimme war so schwach und kratzig das er seine eigenen Worte selbst kaum verstand. Ein weiteres Verlangen seine Körpers meldete sich. Er hatte Durst. Sein Mund war vollkommen ausgetrocknet.

Egal, weiter. Er brauchte eine Sänfte.

Wenig später hatte er Glück. Direkt vor ihm hielt eine Sänfte neben einem Teehaus. Ein Samurai stieg aus und verschwand im Inneren. Souji nütze die Gelegenheit.
 

„Ich möchte nach Itabashi.“ erklärte er den Trägern mit so klarer Stimme wie möglich. Beide Männer konnten ihr Entsetzen kaum verbergen. Sein Anblick musste wirklich furchtbar sein.
 

„Ja, also...“ begann der ältere Mann stotternd, „nach Itabashi...das wären dann 200 Mon.“
 

Souji schluckte und fühlte wie alles um ihn herum sich wieder zu drehen begann. Er hatte kein Geld bei sich. Nein, daran durfte er nicht scheitern. Er brauchte die Sänfte.
 

„Haben Sie 200 Mon?“ fragte der jüngere Mann mit ängstlicher, brüchiger Stimme, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen.
 

***
 

Der Fremde,der in sein Geschäft mehr stolperte als hereintrat, sah aus als wäre er gerade dem Tod entronnen. Die schmutzigen zerschrammten Füße hinterließen blutige Spuren auf dem hölzernen Boden. Der helle Yukata war komplett naß vor Schweiß, das lange, feuchte Haare klebte ihm am Kopf und im Nacken. Die Augen glänzten fiebrig aber auch irgendwie...tödlich.

Akira wich instinktiv einen Schritt zurück. Was konnte der Mann nur von ihm wollen?

Keuchend blieb der Mann vor der Theke stehen und packte ihn blitzschnell am Arm, eine Reaktion die ihm Akira in seinem Zustand auf keine Fall zugetraut hatte.
 

„Bitte ...bitte nehmen Sie mein Haar!“
 

Akira versuchte sich aus dem Griff des Fremden zu befreien während er verzweifelt über eine Antwort nachdachte, die den Mann nicht gewalttätig werden ließ.
 

„Bitte verstehen Sie...ich verkaufe hier nur, ich stelle die Perücken nicht selbst her. Aber vielleicht wenn Sie drei Querstrassen weiter zu -“
 

„Nein!“ unterbrach ihn der Fremde aufgebracht und ließ ihn los. Akira hoffte er würde es dabei belassen, stattdessen sah er mit entsetzen wie der Mann sein Wakizashi zog.
 

„Bitte, ich...“ stammelte Akira, doch dann versagte ihm die Stimme vor Angst.
 

Ohne zu zögern griff sich der Fremde in sein Haar, hielt es im Nacken zusammen und schnitte es dann mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung ab.
 

„Bitte..nehmen Sie es!“ schrie der Mann verzweifelt und hob ihm das lange Haar hin.

Erleichtert überhaupt noch am Leben zu sein, nahm Akira zitternd die geschmeidige, dunkle Masse entgegen.

Der Fremde blickte ihn erwartungsvoll an.
 

***
 

Das Schaukeln der Sänfte verstärkte die Übelkeit und den Schwindel. Souji schloss die Augen um sich auszuruhen. Er brauchte all sein Kräfte in Itabashi. Doch die Ruhe kam nicht. Jetzt wo das Ziel nahe war, das unsägliche Bedürfnis nach Wasser gestillt war, strömten seine Gedanken wieder wie ein Wasserfall auf ihn ein. Das konnte nicht das Ende sein...warum hatte ihn niemand informiert. Die anderen musste doch wissen, dass Kondo-san gefangen genommen wurde. Oder waren sie etwa auch in Gefangenschaft oder…Souji versuchte die Gedanken daran zu verdrängen. Er musste seine Kräfte sammeln. Er versuchte gleichmäßiger zu atmen, sein pochendes Herz zu beruhigen. Es dauerte einige Zeit bis es ihm gelang.

Dann begann der Husten.
 

Die Sänfte hatte ihr Ziel noch nicht erreicht, als die Glocke zur neunten Mittagsstunde schlug. Kalte Panik erfasste Soujis Herz. Nein, er war doch so nahe. Er durfte nicht zu spät kommen. Nur er konnte Kondo-san jetzt noch retten. Verzweifelt umklammerte er sein Katana fester. Der Husten hatte wieder nachgelassen. Der Ärmel seine Yukatas war nun rotgetränkt und er hatte kein Wasser mehr übrig gehabt um den metallischen Geschmack des Blutes aus seinem Mund zu bekommen. Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr.
 

Wenige Minuten später hielt die Sänfte an und Souji taumelte aus dem halbdunklen Inneren hinaus in das gleißende Licht der Mittagssonne. Das Auftreten auf der Straße schmerzte fürchterlich, jetzt wo seine geschunden Füße ein wenig Ruhe gehabt hatten. Für einen kurzen Moment drehte sich alles um ihn, dann hatte er seinen Körper wieder im Griff.

Direkt vor sich sah er eine aufgeregte Menschenmenge, hauptsächlich Männer, aber auch Frauen und ein paar Kinder waren dabei. Alle standen um einen hohen Zaun aus Bambusstäben, wenige Meter entfernt.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge und alle drängten weiter nach vorne.

Mit einem verzweifelten Aufschrei stürzte Souji los, mit der letzten Kraft die er noch hatte stieß er die Menschen vor sich wahllos zur Seite und bannte sich einen Weg nach vorne. Empörte Rufe folgten, doch sobald sich die Menschen zu ihm umdrehten, verstummten sie in Angst und Entsetzen.

Souji erschien es wie eine Ewigkeit bis er endlich den Zaun erreichte, an dessen Bambusstäben er gerade noch Halt fand bevor ihm für wenige Sekunden schwarz vor Augen wurde.
 

Als er wieder klar sehen konnte, dauerte es mehr als ein paar Herzschläge bis Souji das ganze Ausmaß des Grauen vor ihm erfassen konnte. Dort, nur wenige Meter vor ihm und doch unendlich weit weg, kniete Kondo-san auf einer Strohmatte. Er ganz in weiß gekleidet und sah so anders aus als in Soujis Erinnerung. Älter, erschöpfter. Vor ihm war ein Loch in der Erde gegraben und hinter ihm stand ein Soldat der kaiserlichen Armee, das Katana hatte er bereits gezogen. Die anderen schwerbewaffneten Männer nahm Souji nicht mehr wahr, auch die lärmende Menge um ihn herum verschwand aus seiner Wahrnehmung. Eine unheimliche Stille umfing ihn, unterbrochen nur von dem lauten Pochen seines in Stücke zerfallenen Herzens.

Die Gewissheit, nichts tun zu können traf ihn mit voller Wucht.
 

Er war zu spät.
 

Er war zu schwach.
 


 

Es gab keinen Ausweg mehr.
 

Souji wollte schreien vor Wut, doch er konnte nicht. Er wollte sein Katana ziehen, doch er konnte nicht. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Sein Blick trübte sich wieder, wurde verschwommen.
 

Tränen.
 

Dann, ein Lächeln.
 

Souji versuchte die Tränen weg zu blinzeln, um ganz sicher zu sein. Doch, eindeutig. Ein Lächeln von der anderen Seite des Zaunes. Kondo-san hatte ihn entdeckt.

Souji konnte das Lächeln nicht erwidern, den endlosen Strom an Tränen nicht zurückhalten.
 

„Es ist schon gut.“
 

Er hörte Kondo-sans Worte nicht wirklich, dazu war die Menge um ihn herum viel zu laut, aber er wusste genau was Kondo-san ihm sagen wollte als er seine Lippen bewegte. Wie oft hatte er ihn mit diesen Worten getröstet...

Souji schüttelte verzweifelt den Kopf. Nichts war gut. Nichts würde jemals wieder gut sein.
 

Die Menge um ihn herum verstummte schlagartig, eine atemlose, geladene Spannung lag in der Luft.

Kondo-san lächelte ihm noch ein letztes mal zu, dann senkte er den Kopf.

Der Henker hob sein Katana. Die Sonnenstrahlen brachen sich an der scharfen Klinge, warmes Licht auf kalten Stahl.
 

Als das Katana zu Erde sauste, schrie Souji lautlos auf. Das letzte was er sah, war rotes Blut und ein blauer Frühsommerhimmel.

Dann empfing ihn gnädige Dunkelheit.
 


 

Owari
 

Die Idee für diese Peacemaker -FF hatte ich schon vor...hm naja, fast zehn Jahren? Seit kurzem bin ich wieder total im Shinsengumi-Fieber und hab sie jetzt auch endlich mal aufgeschrieben. Vor ein paar Tagen habe ich gelesen, dass es wohl so eine ähnliche Szene im zweiten Hakuoki-Film gibt. Souji macht sich auf den Weg nach Itabashi, kommt aber nicht rechtzeitig an. Bis jetzt habe ich den Film aber noch nicht gesehen, ich bin aber schon gespannt auf die Szene.

Ansonsten kann ich noch sagen, das mich die FF ganz schön viel Mühe gekostet hat, mehr als sonst. Ich habe alles wie einen Film vor mir gesehen, aber konnte es nicht so wirklich in Worte fassen.
 

PS: Die neunte Mittagsstunde meint 12 Uhr am Mittag nach der damaligen Zeiteinteilung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  HikariHodako
2015-04-25T10:50:53+00:00 25.04.2015 12:50
boah...boah...boah!!!
obwohl das ende ja klar war... hab ich trotzdem die ganze zeit gehofft das okita es schafft. das er ankommt und alle nieder metzelt und kondo rettet...und dann reiten sie dem regenbogen emtgegen... aber dieses ende musste natürlich sein :(
sehr gut geschrieben, vorallem dachte ich erst er killt den perrücken macher ^^,,
liebe grüße

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