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Verhängnisvolle Nacht

von

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Kälte und Nässe

Der andauernde Regen der vergangen Tage hatte die Straßen in Schlammpfützen verwandelt. Angetrieben von den Wassermassen trieb der Pariser Unrat die Gassen hinunter. Die kalten und nassen Tage hatten bei den Menschen ihre Spuren hinterlassen. Mit den ewig nassen Füßen und der klammen Kleidung kamen die Krankheiten.

Die Ärmsten der Armen litten am meisten und es häuften sich die Gewalttaten.

Nicht zum ersten Mal wurde die Hilfe von Trevilles Musketiere für die Sicherung der Stadt benötigt. Unablässig zogen seine Männer zusammen mit Richelieus Garde durch die Straßen und versuchten Ordnung zu schaffen.
 

Der Nachmittag ging zu Ende. Das mausgraue, schattenlose Licht ging langsam in eine form- und farblose Dämmerwelt über. Der Regen hatte aufgehört, in den Straßen lag ein feuchter Nebel, der aus der Seine heraufzog. Die Straßen waren fast menschenleer. Nur eine Ratte, die von einer streunenden Katze erwischt worden war, quietschte irgendwo. Aramis stolperte über einen Abfallhaufen. Monoton klapperten ihre Zähne. Haare und Kleidung klebten an Aramis Körper und ihre Füße badeten schon seit geraumer Zeit in ihren Stiefeln. Sie dachte plötzlich an ihr Leben bei ihrem Onkel zurück, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Dort konnte sie so lange schlafen, wie sie wollte und musste nicht in kalten Winternächten oder an heißen Sommernachmittagen arbeiten.

Zu spät bemerkte sie den breiten Schatten, der unmittelbar vor ihr aus dem dichten Nebel auftauchte und auf sie zurannte. Der Sprung in die Sicherheit endete in einer Pfütze und neues Wasser schwappte in ihre Stiefel.

"Porthos?" Der breite Schatten versuchte in einer grotesken Drehung zum Stoppen zu kommen. Angetrieben vom eigenen Schwung, torkelte er unkoordiniert die Straße entlang. Aramis Grinsen erstarb, als sie in das ernste Gesicht ihres Freundes blickte. Porthos gutmütiges Gesicht war von Sorgenfalten umschattet.

"Athos ist beim Dienst zusammengebrochen. Ich habe eben André getroffen", erzählte er atemlos, während er Aramis vor sich her die Straße hinuntertrieb.

"Was?"

"Ja, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, sah er schon krank aus. Aber er wollte nicht auf mich hören. Er hat sich jedes Mal zur Arbeit gequält und nun ist es passiert. Zwei von unseren Leuten haben ihn wohl nach Hause gebracht und wollen sich um einen Arzt kümmern. Treville weiß auch Bescheid."
 

Nach kurzer Zeit gelangten sie zu Athos Wohnung und begaben sich direkt ins Schlafzimmer ihres Freundes. Neben seinem Bett stand eine hagere Gestalt. Bei ihrem Eintreten drehte sie sich ihnen entgegen. Aramis taumelte erschrocken einen Schritt zurück, Porthos zog scharf die Luft ein. Der knochige Körper war vollständig in schwarz gekleidet. Das dunkle Haar klebte glatt und glanzlos am Schädel, während weißgelbliche Haut den Schädel mit eingesunkenen Augen umspannte. Die Todeserscheinung betrachtete ihre Reaktion mit der Gelassenheit eines Mannes, der sich seiner Wirkung auf andere durchaus bewusst war. "Ich bin NUR der Arzt!". Sein Mund verzog sich zu einem schalen Abklatsch eines Lächelns. Ihre beiden Kollegen sahen bei ihrem Eintreten erleichtert auf und verließen fluchtartig das Zimmer, froh lebendig entkommen zu sein.

Athos lag zusammengekrümmt im Bett. Er zitterte und dämmerte dumpf vor sich hin. Seine Augen waren halb geschlossen und unter den Lidern war das Weiß der Augäpfel zu sehen. Es war schmerzlich für seine Freunde, ihn in einer derart verzweifelten Lage zu sehen. Das Bett war abgezogen worden, doch der Gestank von Erbrochenem lag noch in der Luft.

Seelenruhig packte der Arzt seine Utensilien zusammen.

"Tun Sie Ihr Bestes, um ihn wieder gesund zu machen ... bitte!"

"Ich tue bei JEDEM Patienten mein Bestes", erwiderte der Arzt scharf.

"Das Fieber muss gesenkt werden! Ich kann nicht hier bleiben und mich die ganze Nacht um ihn kümmern. Jeder Zweite ist bei diesem verfluchten Wetter krank und ich werde überall gebraucht. Er ist jung und kräftig und hat gute Chancen gesund zu werden. Was er jetzt braucht ist Pflege!"

"Warten Sie ...!", Porthos unternahm den hilflosen Versuch, den davoneilenden Arzt aufzuhalten und stellte sich ihm in den Weg. Ungeachtet Porthos breiter Gestalt, schlängelte der Mediziner seine drahtige Gestalt um die Barriere, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen.

"Ich lasse Ihnen Medizin zur Fiebersenkung da! Reiben Sie ihn wiederholt mit kaltem Wasser ab! Halten Sie ihn kühl! Wenn er durstig ist, geben Sie ihm niemals klares Wasser! Honigwasser ist in Ordnung! Wenn er sich besser fühlt, Hühnerbrühe ...."

Zurück blieben Gänsehaut und der Geruch von Kräutern.
 

Aramis setzte sich zaghaft, während Porthos hilflos die Schultern hängen ließ.

"Wir müssen einen anderen Arzt finden! Dieser hier war nicht gerade sehr vertrauenserweckend."

"Wir werden niemand anderen finden. Du hast es ja gehört, überall sind die Leute krank und es ist schon Abend", antwortete Aramis müde.

"Er hat ihn nicht mal zur Ader gelassen." Aramis legte den Kopf schräg.

"Ärzte lassen die Leute hauptsächlich deshalb zur Ader, damit man den Eindruck bekommt, dass der Arzt aktiv ist."

Sie sah Porthos an und bemerkte die müden Züge und die nasse Kleidung.

"Du hattest gerade Schicht?"

"Ja, du solltest mich ablösen", antwortete Porthos.

"Geh nach Hause und leg dich schlafen!" Nichts sehr überzeugend schüttelte Porthos seinen Kopf.

"Du wirst sonst auch noch krank," beharrte Aramis. "Ich kümmere mich die Nacht über um Athos und du kannst mich morgen ablösen." Mit einem letzten Blick auf seine Freunde verließ Porthos die beiden für den Rest der Nacht.
 

Wiederholt wechselte Aramis die feuchten Tücher auf Athos Stirn. Unruhig warf er sich hin und her.

"Marieee...!" murmelte er. Er grub seine Finger schmerzhaft in Aramis Unterarm und zog sie näher zu sich. Aramis versuchte seine Worte zu verstehen. Wer war Marie?

"M ....arie!" Athos öffnete die Augen. Sie konnte selbst im Dunkeln den fieberhaften Glanz darin erkennen. Einen Moment lang sah er sie mit leeren Augen an, dann schienen seine Pupillen sie zu erfassen. Er legte seine Hand in ihr Genick und zog ihren Mund zu seinem herunter. Er war im Fieberwahn. Woher hat er nur die Kraft, dachte Aramis, dann berührten Athos Lippen ihre. Ein Fuß auf dem Boden, den anderen in der Luft schwebend, im Himmel, ihr Körper halb über seinem, schlang sie ihre Arme um seinen Kopf und zog ihn näher zu sich.

6 Jahre lang wurde sie als Mann gesehen und als solcher behandelt. Eine sehr lange Zeit, eine sehr einsame Zeit. Was sie in dieser langen Zeit so sehr vermisst hatte, holte sie nun um so leidenschaftlicher nach.

Die Glocken von Notre Dame läuteten Mitternacht ein. Gemächlich rollte sich Aramis von Athos Bett und zog sich an.

Verhängnisvolle Nacht

Als Porthos am nächsten Morgen eintraf, konnte Aramis endlich genügend Betriebsamkeit zeigen, um sich abzulenken.

"Tee, denke ich, du auch? Mit Rum? Ja, auf jeden Fall mit Rum." Aus der Küche war übertriebenes Rumoren zu hören. Porthos betrachtete stumm das geschäftige Treiben seines Freundes. Er hatte sich in die hinterste Ecke des Schlafzimmers zurückgezogen und hoffte, dass der Sturm ohne Schäden an ihm vorüber zog.

Am Nachmittag war Athos Haut heißer als in der Nacht zuvor. Er bewegte sich ruhelos im Schlaf. Beide Freunde arbeiteten unablässlich daran, Athos Fieber zu senken.

Im ersten Licht des nächsten Morgens bemerkten sie, dass Athos das Schlimmste überstanden hatte. Er schlief jetzt ruhig. Auch Aramis musste auf ihrem Stuhl eingenickt sein. Sie schreckte auf und sah, wie Athos die Augen öffnete und versuchte den Raum zu erfassen. Sein Blick glitt umher und blieb bei ihr hängen. Sogleich begann Aramis Herz zu klopften und ihr Gesicht überzog sich mit Röte. Wie würde Athos auf die vorgestrige Nacht reagieren? Nach Sekunden schon wendete er den Blick ab. Seine Augen sagten ihr nichts.

"Wie lange war ich krank?"

"Zwei Tage," erwiderte sie mit zugeschnürter Kehle.

"Gestern Nacht war eine Frau hier!"

"ICH war gestern Nacht hier!"
 

Niemand sprach! Aramis Herz schlug laut in ihrer Brust, während die Zeit sich in endlosen Sekunden verschob. Staubflocken tanzten langsam in den Lichtstreifen der Mittagssonne. "Ich bin SEIT gestern Morgen hier," unterbrach Porthos die drückende Stille. Die Zeit fing wieder an, sich in gewohnter Schnelle zu drehen.

"Ich bleib auch noch länger hier." Porthos entdeckte seine mütterliche Seite. Aramis versuchte ihre angespannten Gesichtszüge zu einem Lächeln zu bewegen. Noch immer dröhnte jeder Herzschlag schmerzhaft im Brustkorb.

"Athos, ich gehe jetzt, aber ich lasse dir unsere Amme Porthos hier", sagte sie mit schiefem Lächeln. "Ich werde zu Kapitän Treville gehen, um mich für den ausgefallenen Dienst zu entschuldigen. Ich werde meine Strafpredigt heldenhaft entgegennehmen." Mit einer gespielten Verbeugung, galant ausgeführt, federte sie aus Athos Schlafzimmer hinaus. In der kalten Winterluft, eingetaucht in die Masse der geschäftigen Pariser, konnte sie wieder frei atmen.
 

Konnte es sein, dass Athos sich an nichts erinnerte? Sollte sie es ihm sagen?

Einen Scheißdreck würde sie tun. Wenn er von nichts wusste, würde sie alles vergessen und alles würde gut werden. Alles konnte sein wie früher.

Über Nacht waren die Temperaturen auf Minusgrade gesunken und Schnee hatte sich auf die Straßen gelegt. Ihre bevorstehende Strafpredigt fiel ihr ein. Warum sie nicht beim Dienst war? Oh Jungfrau Maria, sie schlief mit einem ihrer besten Freunde, während dieser im Fieber lag. Das war verachtenswert! Der hässliche Ausdruck kam auf Zehenspitzen die Straße entlang und kroch über ihre Haut. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie riskierte die Enthüllung ihres Geheimnisses und ihre Freundschaft mit Athos. Ja, das ist verachtenswert. Grimmig lächelnd stapfte sie durch die Zentimeter hohe Schneedecke. Sie überhörte die Handglocke, die das Ende des Schultages verkündete, bis das Geschrei fröhlich schriller Stimmen in ihren Ohren gellte und der erste Schneeball in ihr Haar klatschte.
 

Athos erholte sich ebenso rasch, wie er die Krankheit bekommen hatte. Vorerst hütete er noch das Bett und empfing den täglichen Besuch seiner Freunde. Athos Erinnerung an die erste Nacht seiner Krankheit bestand nur aus einzelnen Bruchstücken. Er brachte sie nie mit Aramis in Verbindung. Für ihn blieb Aramis ein Kollege und Freund. Vor allem ein Mann.

"Athos, wer ist eigentlich deine Traumgestalt aus der ersten Nacht?" Neugierig lehnte sich Porthos in Richtung Bett. Aramis senkte ihren Blick und wartete mit angehaltenem Atem. Bevor es zu einer Antwort kam, flog unvermittelt die Tür auf. Das kleinste und zauberhafteste Paar Füße erschien in dem Winkel, in dem sich ihr Kopf gegenwärtig befand. Ihre Augen glitten an Samt und Seide hoch. Athos zog Frauen magisch an. Manche blieben länger als andere. Diese hier war jung und von zierlicher Gestalt, ein Traum in einem grünen Kleid. Dunkle Locken umrahmten ihr Gesicht und die Sonne beschien große Augen und eine Haut wie Perlmut.

"Marie?" rief Athos erstaunt und freudig.

"Marie?" krächzte Aramis ungläubig. Versonnen starrte Porthos.

Marie sagte gar nichts. Ihr Blick war auf Athos gerichtet. Beide sahen sich an und kommunizierten scheinbar stumm.

Porthos fühlte, dass Aramis und er hier fehl am Platz waren. Er hieb der erstarrten Aramis freundschaftlich seine Pranken auf den Rücken. Aramis fühlte alle Luft aus ihren Lungen weichen und flog zur Tür hinaus.

"Was für eine Frau! Hast du gesehen wie schön sie ist?" begeisterte sich Porthos.

"Hübsche Schuhe", murrte Aramis missmutig und starrte auf ihre eigenen Füße, welche mit Absicht in viel zu großen Stiefeln steckten. Erstaunt blickte Porthos seinen Freund an. Lachend folgte eine weitere Attacke gegen Aramis steife Schulter, dann zog Porthos nach Hause.
 

In Aramis Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. War das Eifersucht? War sie eifersüchtig auf diese Frau? Weil sie sich im Vergleich mit ihr zu groß, zu burschikos und zu unscheinbar vorkam? So unweiblich? Oder eifersüchtig auf die Art, wie Athos Marie angesehen hatte? Mit diesen leuchtenden Augen und dem erwartungsvollem Ausdruck auf seinem Gesicht?

Sie war nicht eifersüchtig, beschloss sie für sich und schritt entschlossen nach Hause.

In den folgenden Wochen nahm das Leben wieder seinen gewohnten Verlauf. Athos wunderschöne Bekannte Marie sahen Porthos und Aramis nicht wieder und Athos brachte seine Beziehung zu ihr nie zur Sprache. An Aramis nagte weiter die Eifersucht, auch wenn sie ihre Gefühle noch immer nicht in Worte fasste. Gern wäre sie zu Athos gegangen und hätte ihm die Wahrheit über sich erzählt.

Alles würde besser werden, wenn sie sich unauffällig von Athos zurückzog. Doch je mehr sie versuchte Abstand zu gewinnen, desto mehr Zeit verbrachte sie mit Athos. Unaufhaltsam kamen die Einladungen nach gemeinsam verbrachten Abenden über ihre Lippen.

War sie allein, lag sie auf ihrem Bett und kaute unglücklich an ihren Fingernägeln, denn mit jeder verstrichenen Woche nahm die Gewissheit zu.

Sie war schwanger!

Ausweg

Langsam erstarben alle Geräusche ringsum. Paris legte sich schlafen. Leicht klapperten die Fensterläden in ihrer Fassung. Aramis starrte an die schwarze Decke über sich. Der Lärm ihrer Nachbarn war beruhigend gewesen. Mit der eintretenden Stille legte sich die Panik wie ein fester Eisenring um sie. Sie hatte versucht ruhig und rational zu denken. Sie hatte jede nur erdenkliche Möglichkeit in Betracht gezogen. Sie hatte .... sie bekam keine Luft mehr. Ihre nackten Füße wurden taub von der Kälte der Fußbodendielen, während sie auf und ab lief, um wieder atmen zu können. Sie konnte nicht für immer als Mann durchgehen. Vielleicht nicht einmal mehr für lange Zeit. Das war ihr durchaus bewusst. Noch waren die glatten Gesichtszüge und die hohe Stimme Zeichen ihrer Jugend, doch niemand blieb auf ewig jung. Eine alleinstehende, mittellose Frau hatten nicht viele Möglichkeiten. Die Männer machten die Gesetze, die nur Rechte für sie vorsahen. Das Kloster oder eine lieblose Ehe hießen die Alternativen und beides empfand sie als Gefängnis. Mit einem Kind waren ihr selbst diese verwehrt. In Paris bleiben konnte sie nicht. Sie würde eine Kettenreaktion von Ereignissen auslösen. Ereignisse, die sie so wenig imstande war zu steuern, wie eine Wildsau, die durch den Wald tobte.

Als die ersten Morgenstunden anbrachen, griff Aramis fahrig nach ihren Sachen und zog sich an. Sie lief los, ziellos und verzweifelt darauf aus, sich selbst zu vergessen. Die Straßen hinunter, ohne auf den Weg zu achten, nur darauf bedacht möglichst schnell zu sein. Endlich machte sich die Erschöpfung bemerkbar, auf die sie es angelegt hatte. Ausgebrannt und schweißnass hielt sie sich an einer Hauswand fest. Und endlich erlaubte sie sich zu weinen.
 

Kapitän d'Treville hatte schlecht geschlafen. Halme, die durch seine Strohmatte stachen, hatten ihn die gesamte Nacht gequält und unruhig schlafen lassen. Er hatte äußerst schlechte Laune. Der Balanceakt auf den eisglatten Stufen des Eingangsportals verschlechterte diese noch mehr.

Er stürmte den Flur entlang in sein Büro. Als er die Tür zuschlug, erinnerte sich d'Treville an die zusammengesunkene Gestalt im Vorzimmer. Er versicherte sich, dass seine Wahrnehmung stimmte und befahl das Häufchen Elend in sein Büro. Unnahbar thronte d'Treville hinter seinem Schreibtisch und blickte streng auf seinen Musketier.

"Was ist nicht in Ordnung?"

"Alles ist in Ordnung," sagte Aramis. Sie hielt den Kopf gerade und den Rücken durchgedrückt. Doch Erschöpfung und Müdigkeit standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Trevilles Blick wurde schärfer und strenger.

"Ich bin schwanger." Aramis drückte ihren Rücken noch weiter durch.

"Ich muss dich nicht darauf hinweisen, was du alles aufs Spiel setzt", sagte d'Treville ruhig. Wie es dazu kam, interessierte ihn nicht, allein die Tatsache und eine Lösung zählten.

"Ja, ich weiß es," sagte Aramis gereizt. "Ich muss mich jetzt schon so lange verkleiden."

"Du hast es dir so ausgesucht. Niemand hat dich gezwungen Musketier zu werden. Und warum bist du Musketier geblieben? Menson ist tot. Sein Tod war das, was du wolltest!" Aramis antwortete erst nach einer Pause.

"Das Leben einer Frau ..." Ihre Stimme wurde leise vor lauter Nachdenklichkeit, "ist nicht groß genug für mich. Ich will mehr."
 

"Kannst du zu deiner Familie zurück gehen?" Energisch schüttelte Aramis den Kopf.

"Ich habe mich vor 3 Jahren brieflich bei ihnen gemeldet. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass ich für sie gestorben bin." Trevilles überlegte lange und gründlich.

"Ein Freund ist vor kurzer Zeit gestorben. Er war Wirt eines Gasthauses in der Bretagne, in Trézien-Plouarzel. Nachdem er jener Krankheit zum Opfer gefallen ist, die unter Wirten verbreitet ist, hat er mir sein Gasthaus vermacht."

"Welcher Krankheit?"

"Dem Alkohol. Ich kenne das Anwesen nicht, aber es könnte sozusagen eine Zuflucht für dich sein. Mit einem alten Gasthaus kann ich nichts anfangen."

"Ich wohne vielleicht dort, aber ich werde es nicht als Geschenk annehmen," antwortete Aramis so würdevoll wie möglich.

"Stolz ist Sünde," sagte Treville. Aber etwas anderes als ihren Stolz hatte sie nicht.

Mittlerweile waren alle Musketiere zum Dienst eingetroffen und fanden sich im Hof zur Truppeninspektion ein. Treville trat vor und seine Stimme schnitt durch den kalten Wind, wie ein Messer.

"Morgen Männer, sind wir nicht wieder froh zum Dienst antreten zu dürfen?" Er lächelte, dass es seine Musketiere rückwärts taumeln ließ. Es erhob sich ungeordnete Zustimmung: Jawohl, man sei froh, bei dieser Eiseskälte hier sein zu dürfen.

"Glückspilze seid ihr, den König beschützen zu können, für diesen Sold." Sein Lächeln verstärkte sich und jawohl, sie seien Glückspilze. Aramis hörte den Anweisungen des Kapitäns schläfrig zu und wippte halb eingeschlafen im Stehen.
 

Aramis hatte wieder etwas Zutrauen in ihre Zukunft gefasst. Dennoch waren ihre Nächte lang von den vielen schlaflosen Stunden. Immer öfter trieben sie die unruhigen Nächte raus aus dem Bett, um zu laufen. Sie lief nun nicht mehr ziellos und gehetzt, bis zur totalen Erschöpfung. Jetzt rannte sie ruhig und gleichmäßig die Straßen entlang, in den noch jungen Tag. Bäcker mit ihren Gesellen begrüßten sie auf ihrem Weg in die Backstuben. Das gleichmäßige Laufen half ihr sachlicher über ihre Situation nachzudenken. Über ihrem Kopf schwebten zwei metaphorische Wolken. Die erste war die Ungewissheit, was sie in Trézien-Plouarzel erwarten würde. Die zweite war der bevorstehende Abschied von Paris und ihren Freunden.

Aramis unterbrach ihre Gedankengänge, als sie am Ende der Straße Athos erblickte. Es fiel ihr immer schwerer Athos in die Augen zu blicken. Grundsätzlich wurde sie rot und fahrig, wenn er das Wort an sie richtete. Dass er mit ihr sprechen wollte, sah sie an seinem entschlossenen Gesichtsausdruck. Nein, nicht jetzt, nicht heute, dachte Aramis gequält. Natürlich musste ihm ihr verändertes Verhalten aufgefallen sein. Sie kannten sich zu gut.

Athos blieb stehen, in der Annahme, dass Aramis anhalten würde. Verdattert sah er sie mit kurzem Begrüßungsnicken vorbeirennen. Was war denn in Aramis gefahren? Athos nahm die Verfolgung auf. Sie stöhnte innerlich auf, als sie Athos herankeuchen hörte und erhöhte das Tempo.

"Hör bitte auf zu laufen," rief ihr Athos hinterher.

"Geht nicht, meine Strecke ist noch nicht zu Ende," brüllte Aramis liebenswürdig zurück und erhöhte wieder das Tempo.

Nach vier Häuserblocks fiel Athos zurück und Aramis hielt erschöpft an. Während sie Luft schöpfte, beobachtete sie den Schatten der langsam näher kam und hob den Kopf.

"Salute, D'Artagnan, wie ist es wieder in Paris zu sein?"

"Salute, Aramis, wie heißt das Spiel, was du und Athos da treiben?" fragte grinsend der Angesprochene.

"Keine Ahnung, aber ich habe, gewonnen," schnaufte Aramis zurück.
 

Es wurde stetig heller, als zu ihrem Haus zurückkehrte.

"Mach es dir gemütlich!" Aramis blinzelte ihrem ungebetenen Gast entgegen.

"Danke, aber die Bequemlichkeit deiner Treppe hält sich in Grenzen," erwiderte Athos und folge Aramis ins Haus. Irgend etwas bedrückt Aramis, aber er vertraut sich einfach niemandem an, dachte Athos. Dass es sich hier um keine Kleinigkeit handelte, davon zeugte der gehetzte Gesichtsausdruck. Dass Aramis ihren Blick stur auf einen fiktiven Punkt richtete und ungeduldig mit den Fuß auf den Boden klopfte, sorgte nicht gerade für eine Bereicherung der Atmosphäre.

"Kann ich dir etwas vertrauliches als Freund erzählen?" fragte Athos. Aramis hörte abrupt auf, mit dem Fuß über den Boden zu scharen und nickte. Konnte er! Konnte er! Sie konnte so vertrauensvoll sein, bis ihnen beiden die Tränen kamen.

Athos wollte Aramis zum Reden bringen. Er hielt es für das Beste, über seine Sorgen zu reden, vielleicht öffnete sich dann auch sein Freund.

"Erinnerst du dich an die Frau, die mich während meiner Krankheit besuchen war?"

"Marie? Ja."

"Ich kenne Marie schon sehr lange. Wir sind fast Nachbarn gewesen. Ich habe sie aufwachsen und zur Frau erblühen sehen. Und es kam, wie es kommen musste. Ich hab mich in sie verliebt. Als sie alt genug war, bin ich zu ihrem Vater gegangen und habe um ihre Hand gebeten." Sein Blick verdüsterte sich bei den Erinnerungen an seine Vergangenheit. "Meine Familie ist schon sehr alt und blaublütig, aber auch genauso arm. Die Parkanlagen sind verwildert, von den Fensterläden blättert die Farbe ab, die Teppiche zeigen Löcher ..... Zu adlig um zu arbeiten, aber zu arm um jemanden zu bezahlen, der es tut," sagte Athos trocken. "Maries Familie geht es nicht anders und so wurde mein Antrag abgelehnt. Sie sollte reich verheiratet werden, ihre Familie brauchte Geld. Der Adel hat die ungünstige Gewohnheit Geld auszugeben, was er nicht hat. Und so wurde sie mit einem Adligen aus unserer Gegend verheiratet. Ich konnte es nicht ertragen, sie mit jemand anderem verheiratet zu sehen. Meine Liebe war mittlerweile so stark, dass ich möglichst weit weg musste. Und so bin ich bei den Musketieren gelandet."

"Warum ist sie hierher gekommen," fragte Aramis mit brüchiger Stimme.

"Sie kam, um mir zu erzählen, dass ihr Mann letztes Jahr bei einem Reitunfall ums Leben gekommen ist."

"Das ist doch gut. Jetzt könnt ihr heiraten." Erfolglos versuchte Aramis ihre Stimme nicht bitter klingen zu lassen. Athos lachte trocken auf.

"Weißt du, wie wir unser Vermögen verloren haben? Mein Vater hat Unmengen von Geld in wahnwitzige Projekte gesteckt. Diese Wahnwitzigen Projekte haben sich jetzt als Goldader herausgestellt. Während ich hier sitze und mit dir rede, wächst mein Erbe."

"Jetzt weißt du nicht, ob sie dich oder das Geld deiner Familie will."

"Sie wurde damals nicht aus freiem Willen verheiratet," versuchte Athos Marie zu verteidigen, aber sicher war er sich nicht. Nachdenkliche Stille tat ein.
 

"Danke, dass ich dir das erzählen konnte. Es ist gut, sich einem Freund anvertrauen zu können." Erwartungsvoll lächelte er Aramis an. Aramis strahlte zurück

"Keine Ursache!", und stand auf. Athos starrte an seinem Freund hoch. "Und?"

"Und?" .... und ich geh mich für den Dienst umziehen?"

Das war nicht das, was Athos hören wollte.

"Bist du sicher, dass du nicht über etwas reden möchtest? Lass die Tür doch offen!" brüllte Athos.

"Was? Ich versteh dich nicht, die Tür ist zu," kam Aramis Stimme gedämpft aus dem Nebenraum.

"Dann mach sie auf. Dich bedrückt doch irgend etwas."

"Was?"

"Lass die Tür auf! Mein Gott, Aramis, ich bin auch ein Mann." Athos hatte es satt zu brüllen.

"Geht nicht. Ausschlag!" kam es undeutlich zurück.

"Schon wieder oder immer noch?"

Porthos hörte die letzten gebrüllten Sätze der beiden, als er Aramis Haus übereilt betrat.

"Ein bisschen schamhaft, unser kleiner Aramis," grinste er Athos zu.

Klopft denn heutzutage keiner mehr an, dachte Aramis genervt und hielt vorsichtshalber die Tür zu!!
 

Die nächsten Tage vergingen viel zu rasch. Zu vieles war noch zu erledigen. Wieviel Zeit ihr blieb, bis die ersten Anzeichen der Schwangerschaft sichtbar wurden, wusste Aramis nicht. Endlich waren alle Formalitäten geklärt. Aramis würde als entfernte Verwandte Trevilles auftreten, da der Kapitän weiterhin als Besitzer des Gasthauses eingetragen blieb.

Der Tag der Abreise stand schon fest.

Als die Zeit keinen Aufschub mehr duldete, machte sie sich auf die Suche nach ihren Freunden. Athos war nicht zu Hause, aber Porthos fand sie in einem der Gasthäuser, nahe seiner Wohnung. Er war in ein halbes Hühnchen vertieft und sah das dampfende Fleisch mit den Augen eines Liebhabers für seine Geliebte an. Aramis setzte sich und wartete auf das Ende der Mahlzeit. Mitessen lehnte sie ab. Die Frage war ohnehin nur obligatorisch gemeint. Porthos hatte nicht vor seinen Schatz zu teilen.

"Porthos, ich muss die Musketiere für unbestimmte Zeit verlassen." Porthos verschluckte sich und spie qualvoll den letzten Knochen aus.

"Was? Das machst du nicht!"

"Ich muss, es ist etwas Privates."

"Was Privates, was Privates," äffte er seinem Gegenüber nach. "Du sagst mir gefälligst warum du weg willst. Ich weiß, dass du Athos aus dem Weg gehst, aber mit mir redest du gefälligst!" Aramis wischte sich Porthos feurig feuchte Aussprache aus dem Gesicht. Es hatte keinen Sinn manche Freunde zu ärgern, vor allem, wenn sie so groß waren.

"Es ist so, ich muss für längere Zeit zu meiner Familie ..." Verzeih mir Porthos, dachte Aramis und log ihn mit einer Familiengeschichte, zurückreichend über 3 Generationen in Grund und Boden.
 

In einer Woche schon würde sie Paris verlassen. Ihr Herz blutete bei den Gedanken, was sie zurück ließ.

Aber es war Zeit zu gehen.

Neubeginn

I.

Der Kutscher warf seinem Passagier beim Aussteigen einen langen Blick zu. Er schien zu bemerken, dass irgendetwas mit seinem Fahrgast nicht stimmte. Da war etwas im Äußeren des Fremden, eine seltsame Sanftheit in den Zügen. Irgendwie fraulich, dachte er irritiert, ohne es an einer bestimmten Eigenschaft festmachen zu können. Aber es war etwas, was ihn dazu brachte, abzusteigen und die Tasche des Fremden bis zur Tür des Gasthauses zu tragen. So etwas tat er nur, wenn Frauen mitfuhren, die attraktiv waren. Er staunte über sich selbst und schüttelte den Kopf, als er seinen Pferden die Peitsche gab.

Am nächsten Morgen stand an der Haltestelle für Postkutschen nach Rennes in einem einfachen schwarzen Reisekleid eine schlanke Frau. Auffällig war die ungewöhnliche Größe und der feste Blick der Reisenden. Sie zeigte keinerlei Anzeichen der Schüchternheit, die Frauen an den Tag zu legen pflegten. Stolz und aufrecht schritt sie zur heranfahrenden Kutsche.

Die Postkutsche war riesig und alt. Schneematsch drang durch die Bodenbretter und durchfeuchtete das Stroh unter ihren Füßen. Das Holpern des ungefederten Fahrgestells schleuderte die Fahrgäste durch. Jeder Absturz in ein knöcheltiefes Schlagloch fuhr schmerzhaft ins Rückgrat. Die übergroße, eisig schwarze Rüttelkiste, in der sie umhergeschüttelt wurden wie Würfel näherte sich Brest, der letzten großen Stadt vor Trézien-Plouarzel.
 

Als letzten Passagier entließ der Kutscher Aramis an ihrem neuen Wohnort. Ihr Reisegepäck schmiss er schwungvoll auf die Straße und ließ sie in der zunehmenden Dunkelheit allein. Kahle riesige Bäume umgaben sie von allen Seiten, die üblichen Waldgeräusche erklangen schaurig und gedämpft aus dem Dickicht. Aramis schritt beklommen die zugewachsene Zufahrt zum Anwesen hoch. Die Bäume gaben jetzt den Blick auf das Gasthaus frei.

Angesichts des halb verfallenen Gebäudes vor sich erstarrte Aramis in ihren Bewegungen.

Düster ragte kaum mehr als das Skelett eines Gebäudes vor ihr auf. Was einmal ein prächtiges und eindrucksvolles Gasthaus gewesen war, war durch einen Brand und Plünderung seiner Schönheit beraubt worden.

"Madame, Madame." Bewaffnet mit einer Petroleumlampe und einer großen Portion Mütterlichkeit schritt Madame Bourel dem Neuankömmling entgegen.

"Madame Brunet? Kindchen, Sie sind doch Madame Brunet?"

Am Rande ihrer Bestürzung registrierte Aramis, dass sie gemeint war. Renée Brunet, eine junge Witwe, einsam und verlassen, mit einem ungeborenen Kind. Ein Feuer hatte Mann und Vermögen vernichtet. Ihre tragische Geschichte war längst ihrer Ankunft voraus nach Trézien-Plouarzel gereist. Kapitän D'Trevilles Agenten hatte Madame Bourel von ihrer Ankunft informiert. Aramis schaute in das lächelnde Gesicht von Jeannot Bourel und nickte. "Fein fein, ich bin Madame Bourel, aber alle sagen Mére Jeannot. Schauen Sie nicht so schockiert. Es sieht schlimmer aus als es ist. Ich führe Sie herum. Der Anbau steht noch und ich habe ihnen ein schönes gemütliches Zimmer zurecht gemacht. Morgen wenn die Sonne scheint ...."

Jeannot Bourel war noch nie weiter als bis Brest gereist. Sie war die gute Seele der Umgebung. Schon in ihrer Jugend, welche seit drei Jahrzehnten hinter ihr lag, hatte sie im Gasthaus gearbeitet und war vom Hausmädchen zur Wirtschafterin aufgestiegen.

Mére Jeannot war das Gasthaus. Sie trauerte noch immer all dem Schönen nach, das vor einem Jahr durch ein Feuer vernichtet worden war. Nur im richtigen Licht und von einem gutmütigen Lügner konnte Mére Jeannot als attraktiv bezeichnet werden. Sie war pummlig und krummbeinig, mit einem ständigen Ausdruck von unheilbarer Gutmütigkeit auf dem Gesicht. Wenn sie lachte, verwandelte sich ihr Gesicht in eine Masse aus horizontalen Falten.
 

Das Glas der zerstörten Fensterscheiben knirschte unter Aramis Füßen, als sie den ehemaligen Schrankraum betrat. Am Boden lag das alte Gasthausschild. Die Aufschrift L'Hirondelle, die Schwalbe verschwamm im trüben Licht der Lampe.

Aramis drehte sich in der Mitte des ehemaligen Schrankraums im Kreis. "Und? Was soll ich nun machen?", wandte sie sich hilflos an die verkohlten Dachbalken über ihr.

Die Antwort hockte 3 Meter über ihr, im zerstörten Dachgerüst der L'Hirondelle. Als die verdreckte Gestalt unvermittelt zwischen die beiden Frauen sprang, erklommen Meré Jeannots Stimmbänder ungeahnte Höhen. Sie war der festen Überzeugung, dem Teufel persönlich gegenüber zu stehen. Aramis musterte den Höllenbewohner vor sich. Für den Teufel war er zu ärmlich gekleidet, entschied sie. Luzifer ergriff grinsend Aramis Hand und schüttelte diese schmerzhaft. Madame Bourel versuchte er in den Hintern zu kneifen, wofür er einen Hieb mit dem Unterarm erntete, der ihn hinten über kippen ließ. Meré Jeannot hatte den durchaus irdischen Bewohner erkannt und stellte ihn der neuen Mieterin als Pierrè vor. Sein verletzter Kamerad Nobby kletterte nun auch unbeholfen die Dachbalken hinunter. Pierrè und Nobby verfügten nicht über den Luxus eines Nachnamens. Pierrè schien der gescheitere von Beiden zu sein. Er war mittelgroß, im mittleren Alter und derart von unauffälliger Erscheinung, dass die meisten Leute ihn vergaßen, sobald sie ihn nicht mehr sahen. Um so mehr blieb Nobbys hässliche Erscheinung in Erinnerung. Seine kurze agile Gestalt, mit dem schorfigen Kopf und den abgebrochenen Zähnen verströmte ein unbeschreibliches Aroma. Doch Nobby besaß einen unglaublichen Sinn für Humor, der sämtliche Schicksalsschläge überlebt hatte. Wie viele Kleinganoven waren er und Pierrè tragische Gestalten. Die Frauen waren nun zwei Männern, welche Teufel oder nicht, ersichtlich kriminell waren und das L'Hirondelle als Versteck nutzten, ausgeliefert. Jedoch in beiden Augenpaar las Aramis keine Bedrohung. Trotzdem wanderte ihre Hand an die linke Seite, wo das vertraute Gefühl des Degens fehlte.

Als die anderen schlafen gingen, passte es zu dieser fremdartigen Begegnung, dass sie wach blieb und zuhörte, wie Pierrè ihr die Kunst des Straßenraubes schilderte.
 

***
 

II.

In den folgenden Tagen versuchte sich Aramis mit ihrer neuen Situation anzufreunden. Im Sonnenlicht wirkten die Schäden am Haus nicht mehr ganz so gravierend. Meré Jeannot lebte mit ihr im intakten Gebäudeteil und die beiden Kleinganoven hielten sich weiterhin auf ihrem Anwesen vor der örtlichen Gerichtsbarkeit versteckt. Jeder ging davon aus, dass Aramis das Gasthaus wieder für seinen ursprünglichen Zweck nutzen würde. Das Anwesen lag an der wichtigsten Verkehrsstraße der Küste und genoss noch immer den guten Ruf aus vergangenen Zeiten. Dass eine Frau ein Gasthaus führen sollte, war ungewöhnlich, aber es waren harte Zeiten. Durch den andauernden Religionskrieg nahm die Armut erheblich zu. Die Bewohner Trézien-Plouarzels waren sich einig, dass man hier wieder ein Gasthaus brauchte. Einen Ort, um sich einen anständig hinter die Binde zu kippen und über das gegenwärtige Elend philosophieren zu können.
 

Der erste Weg zu Genehmigungen und Lizenzen führte zum örtlichen Friedensrichter.

Vincent d'Estouville, einziger Abkömmling eines alten und heruntergekommenen Adelsgeschlechts schien noch zu jung für sein Amt zu sein. Die letzten Felder und Wiesen der Familie d'Estouville waren für das Amt des Friedensrichters verkauft worden. Ende 20, stattlich, gutaussehend und furchtbar gelangweilt hockte Monsieur d'Estouville im alten Schloss und war Wächter über die umgebenden Gemeinden. Das Kinn auf die Hand gestützt betrachtete Vincent fasziniert die neue Mieterin des L'Hirondelle, welche monoton mit dem Löffel auf dem Tassengrund kratzte und zurückstarrte. Er war der einheimischen Schönheiten schon lange müde geworden. Seine neue Bekanntschaft versprach aufregend zu werden. Natürlich wusste er, dass seine Besucherin schwanger war, aber dieser Zustand währte schließlich nicht ewig und junge Witwen mussten getröstet werden. Die Beute war anvisiert. Aramis hatte nicht umsonst mehrere Jahre auf der Seite des anderen Geschlechts verbracht, ohne zu lernen dessen Körpersprache in Bezug auf Frauen zu verstehen; in diesem Falle benutzte Vincent d'Estouville Blockbuchstaben.

Die Romantik auf dem Land war eher durch Quantität und nicht so sehr durch Qualität ausgezeichnet. Ihrerseits war Aramis großartig darin sein Gebärden zu ignorieren.

"Am besten Sie suchen Monsieur Gillet auf. Leider der einzige Bankier dieser Gegend". Monsieur d'Estouville seufzte hingebungsvoll.

"Sie werden ein anständiges Startkapital benötigen. Mit meiner Fürsprache wird er Ihnen einen günstigen Zinssatz anbieten."

"Ich danke Ihnen Monsieur."

"Leider werden sie nicht um eine Begegnung mit ihm herumkommen. Sein Anwesen liegt direkt hinter der Kirche. Folgen Sie einfach dem Geruch der Ziegen. Monsieur Gillet liebt seine Ziegen. Er ist gesegnet mit Ziegen. Ziegen so scheint es, nähren Monsieur Gillet, kleiden Monsieur Gillet und unterhalten Monsieur Gillet. Mich schaudert es bei dem Gedanken, wie das vonstatten geht."

"Ist es nicht eher ungewöhnlich für einen Bankier, sich Ziegen zu halten?", fragte Aramis mit belustigtem Lächeln. Vincents Lächeln verstärkte sich. "Jedem seine Vorlieben, sag ich immer." Monsieur d'Estouvilles subtiles Zwinkern in ihre Richtung verriet seine Vorlieben. "Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich muss über das Thema Ziegen nachsinnen. Wenn Sie Hilfe ... oder Trost brauchen, wenden Sie sich immer an mich, meine Liebe!"
 

Der Geruch von Ziegen wehte unverkennbar die Straße entlang. Bei ihrer Begegnung mit Nicolas Gillet erlitt Aramis Geschmack angesichts von flatternden Fingern und Augenwimpern, Gesichtspflästerchen und Spitzenjabot schmerzliche Krämpfe.

Zudem hätte Nicolas Gillets Gestalt bei einem direkten Vergleich mit Nobby unvorteilhaft abgeschnitten. Monsieur Gillet zeigte sich mehr als interessiert an ihrem finanziellen Anliegen. Wie eine Spinne wieselte er hinter Aramis her. Der Mann war zu geraden Linien außerstande; in Serpentinen bewegte er sich auf sein Wild zu.

"Ja, schwere Zeiten, für eine Frau so allein. Mein herzliches Beileid zu diesem tragischen Unfall und Ihrem schweren Verlust. Sie wollen nicht darüber sprechen? Ich verstehe, die Trauer ...." Seine Stimme tropfte vor schleimigem Mitgefühl. Onkelchen, ich hab Duelle mit Männern ausgefochten, die deine Knochen zum Frühstück fressen würden. Und gewonnen, dachte Aramis.

"Wir werden Ihnen schon irgendwie helfen," meinte er und bot der vermeintlichen Witwe einen Kredit zu Wucherzinsen an. Aramis teilte ihm mit, was er mit den Krediten und Zinsen tun könne. Monsieur Gillet wirkte plötzlich wie ein General, der mit einem Frontalangriff gerechnet hatte und feststellen musste, dass der Feind von hinten kam. Er schob sie unvermittelt in Richtung Tür.

"Ich möchte nicht ungastlich sein, meine Liebe", sagte er vor der Tür, "aber hauen Sie jetzt ab! Und zögern Sie bitte sehr, mich wieder zu besuchen." Die Tür knallte zu. Ein Hund kam daher getrottet, um an den gepflegten Blumenrabatten das Bein zu heben. "Mein Sohn," sagte Aramis, "du sprichst mir aus dem Herzen." Und ging nach Hause.

Geld brauchte sie trotzdem und Monsieur d'Estouvilles Hilfe erschien ihr als keine gute Lösung. So schrieb Aramis an Kapitän d'Treville und bat um seine Hilfe. D'Treville reagierte sofort. Das Ansehen und die Position des Kapitäns im gesamten Land verhalfen ihr zu ihrem Startkapital, um das Gasthaus herzurichten.
 

Pierrè und Nobby hatten sich nun als Dauergäste einquartiert. Beide waren sehr vorsichtige Kriminelle und wussten, ab wann es besser für ihre Gesundheit war achtbar zu bleiben.

Nobby war nur durch ungünstige Zufälle in Konflikt mit dem Gesetz geraten und hatte ohnehin keine Begabung dafür. Er hatte nie gelernt, Dinge zu steuern. Es widersprach seinem Wesen. Er setzte sich in Bewegung und hoffte, dass der Rest der Welt beiseite rückte, damit er sein Ziel erreichen konnte. Nur tat sie ihm diesen Gefallen nicht und gerade bei einem Leben als Kleinganove war dieser Umstand mit vielen Unfällen verbunden. Der Verletzungen überdrüssig, war er glücklich im Gasthaus bleiben zu können und entdeckte den Garten für sich. Aramis hatte keine Ahnung von Gartenbau. Trotz der großen Parkanlage am Anwesen ihres Onkels gab es dort wenig Blumen. Ihr Onkel hatte Blumen nicht leiden können; er hatte den Verdacht gehabt, dass ihre Beziehung zu Bienen nicht so war, wie sie sein sollte. Und wenn man als Musketier erwischt wurde, wie man herumstand und an Petunien schnupperte, wurde man zu einem Arbeitseinsatz versetzt. Trotzdem wäre es wirtschaftlich eine Verschwendung gewesen, die verwilderten Beete nicht zu nutzen. Nobbys Leidenschaft für Gartenbau nahm sie dankbar zur Kenntnis. Er war einer der wenigen, die dem Hl. Vater in die Augen blicken und sagen können, sie hätten die Welt duftender hinterlassen, als sie sie vorgefunden hätten.
 

Pierrè war sehr vielschichtig in seine Verstößen gegen das Gesetz. Gerissen und mit einem gesunden Maß an Vorsicht, war er an vielen illegalen Projekten beteiligt. Somit kannte er Menschen aus jeder Gesellschaftsschicht und hatte viele Freunde. Wenn auch einige unfreiwillig, da sie ihm Gefallen schuldeten. Nun streckte er seinen langen Arm hinter dem Auge der Gesetzbarkeit aus und holte Hilfe für seine neue Freundin, in Form von Arbeitseinsätzen unfreiwilliger Verbündeter.

Einer davon war Michel Pasquier. Er schuldete Pierrè noch Geld, aber da er sowieso unter chronischem Geldmangel litt, machte er sich über die Rückzahlung keine Gedanken. Es war weithin bekannt, dass Pierrè nicht zu Gewalttaten neigte. Seine Schuld durch Arbeitskraft abzuzahlen passte ihm überhaupt nicht, zudem bekamen ihm Schweiß und zuviel Sonneneinstrahlung überhaupt nicht. So stand er dekorativ auf den Spaten gelehnt herum und sah einfach nur gut aus.

Dass sich die neue Besitzerin näherte, beunruhigte ihn nicht weiter. Von Frauen ließ er sich nichts sagen. Diese hier war jung und hübsch und hatte immerhin einen Anspruch darauf, von ihm beachtet zu werden. Michel lächelte ihr entgegen und ließ gönnerhaft seinen Blick über ihren Körper wandern. Er registrierte nicht was sie sagte, aber wie sie es sagte. Und irgendwo in seiner kleinen und plötzlich sehr eingeschüchterten Seele regte sich zitternd, die von profundem Unbehagen bestimmte Erkenntnis, dass er besser schleunigst arbeiten sollte.
 

Im sanften Licht der untergehenden Sonne betrachtete Aramis, was an diesem Tag am Gasthaus geschaffen wurde. Die Instandsetzung des Wirtshauses kam ungewöhnlich schnell voran. Sie hatte einen langen Tag hinter sich und legte zufrieden die Hände auf die inzwischen beträchtliche Bauchwölbung. Glücklich fühlte sie das ungeduldige Strampeln ihres ungeborenen Kindes. Ihr neues Leben hatte begonnen und das Kind würde ein gutes Zuhause bekommen.

Aramis hatte ihre Erinnerungen an Paris weggeräumt, wie eine Frau, die alte Liebesbriefe in Lavendel legt. Sie wollte sie nicht abnutzen, sonder für später aufbewahren. Für Momente wie diesen.

Nächtlicher Ausflug

I.

Vincent d'Estouville ritt lässig die Straße hoch. Von seiner erhöhten Position aus hatte er einen guten Ausblick auf das vor ihm liegende Gasthaus L'Hirondelle. Die Bäume, welche das Wirtshaus vor der Straße verborgen hatten, waren gefällt worden. Rund um das Haus standen Birken und Eichen im satten Grün des Frühlings und neigten sich leicht im Wind. Die L'Hirondelle erstrahlte im neuen Glanz. Etliche Bedienste eilten umher. Fröhliche Disziplin erfüllte das Gasthaus. Die Wirtin führte ihre Leute gut.
 

Er betrat das Gasthaus und steuerte in Richtung Wirtschaftsräume. Durch die offene Küchentür sah er den Hintern der Köchin schwingen, dass die enormen Stoffbahnen ihrer Unterröcke wippten. Schuldbewusst schlängelte er sich unbemerkt an der Küche vorbei. Madam Scoric, neue Köchin des L'Hirondelle, uneingeschränkte Regentin über Töpfe und Pfannen verdankte Vincent d'Estouville ihre neue Stellung und Aramis war sich nicht sicher, ob sie Monsieur dafür danken sollte. Wenn man Madame Scoric mehrere Zutaten vorsetzte, so nahm sie diese ohne Rücksicht auf Verluste in Angriff. Zeuge zu werden, wie sie Fisch zubereitete, war ein einzigartiges Erlebnis.

Die neu ernannte Wirtin hatte Madame Scoric gewisse Dinge zu erklären versucht, doch das Dreifachkinn der Köchin wackelte derart drohend, dass Aramis aus der Küche floh.

Ursprünglich hatte Madam Scoric das Küchenregiment von d'Estouvilles Haushalt geleitet, worunter dieser litt. Jedoch war Madame Scoric eine Institution von Trézien-Plouarzel, wie Meré Jeannot und niemand hätte es gewagt, sie zu entlassen. Nicht einmal ein Monsieur d'Estouville. Er überzeugte seine Köchin davon, dass das L'Hirondelle ihre Hilfe dringender benötigte und konnte ab jetzt seinem Gaumen die Feinheiten der französischen Küche gönnen.
 

In einem kleinen Raum, mit Blick auf den Hinterhof, hatte Aramis ihr Büro eingerichtet. Das Licht der Mittagssonne warf sanfte Schattenkringel auf die Blätter vor ihr. Verbissen kämpfte Aramis mit den schier unendlichen Zahlenkolonnen vor ihr. Die Mühe des Rechnens stand ihr ins Gesicht geschrieben. D'Estouville schaute ihr schräg über die Schulter ins Dekollete.

"Bonjour Monsieur d'Estouville."

"Bonjour, meine Liebe." Aramis machte sich bereit für weitere Banalitäten.

" Ich dachte, Sie sind erschöpft von dem gestrigen Fest?"

"Warum sollte ich erschöpft sein, Monsieur?" fragte Aramis.

"Wir haben die ganze Nacht getanzt."

"Nein, haben wir nicht."

"Hätten wir aber tun können." Er hatte sich an den Türrahmen gelehnt. Überrascht stellte er fest, wie viel Spaß er hatte, obgleich er nach über einem Jahr Geplänkel immer noch nicht mit ihr in der Horizontalen verweilte. D'Estouville fühlte sich in ihrer Nähe wohl, was unter anderem an ihrer Persönlichkeit lag. Die Persönlichkeit vieler Leute bot gerade genug Platz für eine Kammer. Bei Renée Burnet hingegen passte eine Parkanlage hinein.

"Wir sind für einander bestimmt. Ich möchte deinen Körper."

"Ich benutze ihn noch."

"Wieso nehmen Sie meine Liebesteuerungen nicht ernst?" meinte d'Estouville gepielt gekränkt. Aramis seufzte "Oh Vincent, Elfengold löst sich am nächsten Morgen in Luft auf, aber im Vergleich mit Ihren Liebesbeteuerungen hat es die Stabilität von Stahl."

"Immerhin hab ich Ihnen meine Köchin gegeben," meinte großzügig Monsieur d'Estouville.

"Ja, danke nochmals," erwiderte Aramis trocken und überlegte, ob er diese Bemerkung ernst meinte. Wie sollte sie jemals den ganzen Mann ernst nehmen? Sie wendete sich wieder ihrer Buchhaltung zu.

"Ich hege für Sie wirkliche Zuneigung, dass müssen Sie mir glauben, Renée!" Vincents Stimme klang ungewohnt traurig.
 

Die große rote Scheibe der Sonne hing dicht über dem Horizont. Aramis dachte immer noch über Vincent d'Estouville nach, als Meré Jeannot mit einer Blechwanne an ihr vorbei durch die obere Etage polterte. Fluchtartig griff Aramis nach ihrem kleinen Sohn und stürzte an Pierrè vorbei die Treppe hinunter.

"Was ist denn los?"

"Meré Jeannot hat heute Badetag. Sie stimmt schon ihre Stimmbänder." Pierrè wusste, welches Unheil mit Meré Jeannots Badetag auf sie zukam und stürzte hinterher. Beide hatten sich kaum einen schalldichten Platz gesucht, als Meré Jeannot das erste Lied anstimmte. Madame Bourel sang nicht etwa schlecht, aber wenn die von ihren Stimmbändern verursachten Töne durch eine zur Hälfte gefüllte Blechwanne verstärkt wurden, so ergab sich etwas, das übers Akustische hinausging.

"Ich wollte dich sowieso sprechen," wandte sich Pierrè an Aramis. "Was hältst du von zollfreier Ware? Ich habe einen Freund auf einem der Schiffe, die Ware von England nach Frankreich bringen. Mittwoch Nacht sind sie auf unserer Höhe." Pierrè legte eine bedeutsame Pause ein.

"Was willst du mir sagen?" fragte Aramis vorsichtig.

"Ich reden von zollfreiem Alkohol. Die Odyseuss würde uns Brandy, Whisky, Gin und Wein in Massen liefern und das ZOLLFREI."

"Du redest von Schmuggel."

"Ja, ich rede von Schmuggel und wenn ich dich richtig einschätze und davon gehe ich gerne aus, lässt du dir diese Chance nicht entgehen," entgegnete Pierrè. In seinen Augen stand ein beunruhigendes Leuchten. "Das einzige Problem ist, dass uns jemand zuvorkommt. Ich hatte schon ein Auge auf die letzten Ladungen geworfen, aber jemand anderes war schneller. Um diesen Jemand muss sich gekümmert werden," sagte Pierrè.

"Nein, Pierrè! Besitzstreit zwischen Schmugglern und Vincent d'Estouville weiß, dass an seiner Küste Schiffe zu diesem Zweck anlegen. Er mag zwar der größte Geck Frankreichs sein, aber er wird was unternehmen. Was wenn wir erwischt werden? Glaube mir einfach, wenn ich dir sage, dass ich weiß, wie ein Gefängnis von innen aussieht. Ich kann mich nicht in Gefahr begeben. Ich habe an meinen Sohn zu denken, an Raoul," erwiderte Aramis hitzig. Pierrè sog scharf die Luft ein. "Wer redet denn davon, dass du mitkommst. Ich wollte nur deine Zustimmung, nicht deine Teilnahme."

"Das Gasthaus läuft doch gut. Wir kommen auch so zurecht," sagte Aramis fast flehend.

Pierrè betrachtete Raoul auf ihrem Arm, welches gerader hingebungsvoll sabberte. Er antwortete ruhig: "Du kannst deine Mitarbeiter bezahlen und den Kredit, aber auch nicht mehr. Und ich denke dabei an Raoul."

Aramis sah Pierrès kleiner werdenden Gestalt hinterher. "Und, was sagst du dazu?" wandte sie sich an ihren Sohn. Raoul gluckste glücklich. Sie spürte seinen kleinen warmen Körper. Das Strampeln der kleinen Beine. Die kleinen Finger, welche sich in ihren Miederrand gruben. "Soll ich das als Ja nehmen?"
 

Der nächste Tag fing nicht gut an. Das triste Grau des Himmels drückte auf die Gemüter.

Aramis hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Ihre Gedanken umkreisten noch immer Pierrès Vorschlag. Schmuggel an sich fand sie nicht schlimm. Niemand fand das. Nur der Zoll.

Jeder er Verstand hatte, vermied es, Zoll auf eingeführte Waren zu zahlen. Alle taten es! Aramis hatte es schon gefuchst, dass sie es nicht tat, nur weil sie nicht wusste wie. Vor ihrem geistigen Auge türmten sich Fässer mit unverzolltem Gin, Wein und Brandy bis an die Kellerdecke. Ihr Gewissen bereitete ihr keine Probleme. Es war wie eine Beteiligung an einem allgemeinen Zeitvertreib, ein fröhliches Hinterziehen von Steuern, die ansonsten in Richelieus Taschen fließen würden.

Etwas Zitronengelbes kam den Weg entlang. Auch Monsieur Gillets Gang war der einer Ziege. "Bonjour Monsieur Gillet, was führt euch hierher?"

"Bonjour Madame!" Nicolas Gillet entblößte zwei Reihen unregelmäßiger Zähne. "Ich möchte nur sichergehen, dass Sie genug Geld einnehmen, um ihren Kredit zu tilgen." Er schwenkte zuvorkommend seinen Hut und ließ Aramis zähneknirschend im Gasthof stehen.

"Pierrè, wann kommt dieses Schiff?"

"Nächsten Mittwoch," erwiderte der Angesprochene ruhig.

"Ich werde dabei sein!" Aramis energische Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes wieder.
 

***
 

II.

Der Mittwoch kam und Aramis fieberte dem Abend entgegen. Im Gasthaus war an diesem Tag wenig Betrieb, da es Wochenmitte war und die Postkutschen auf Grund des eingesetzten Tauwetters nur begrenzt fuhren. Angst verspürte sie nicht. Es gab kaum etwas, vor dem sie wirklich Angst hatte. Aufregung und Ungeduld ließen ihren Magen kribbeln.

Abends brachte sie ihren Sohn wie gewohnt ins Bett und wartete auf Pierrè. Am Ende der Treppe stieß sie auf Meré Jeannot und Madame Scoric. Suzanne Scoric hatte sich in ihrer Jugend nicht über zu wenig Bewunderer beklagen können, doch die Jahre hatten ihren Körper so verändert, dass man ihn bestenfalls als gemütlich bezeichnen konnte. Dazu kam ein Gesicht, das an eine Rosine erinnerte.

"Sie haben schon wieder Hosen an," empörte sich Madame Scoric und schob das Kinn vor.

"Die Hose sieht recht bequem aus", erwiderte Meré Jeannot diplomatisch.

"Sie ist bequem," meinte Aramis ruhig.

"Frauen sollten keine Hosen anziehen ... alle können ihre Beine sehen."

"Nein," widersprach Aramis. "Der Stoff ist im Weg." "Aber man kann sehen, wo sich die Beine befinden", kreischte Madame Scoric. Meré Jeannot ging mit einem bedauernden Lächeln in Deckung. "Man könnte somit auch behaupten, dass die Leute unter ihrer Kleidung nackt seien."

"Für mich gilt das nicht," stellte Madame Scoric fest. "Ich trage 3 Unterröcke." Und rauschte davon.
 

Pierrè und Nobby kamen in Begleitung eines unbekannten Mannes. Er war von gedrungener Statur. Seine Gesichtszüge waren derart in ständiger Bewegung, dass sein Gegenüber in nervöse Zuckungen verfiel.

"Charles, das ist Madame Brunet," stellte Pierrè ihn Aramis vor und zog diese beiseite.

"Wer ist das denn?"

"Charles Poitiers, ein Freund von mir."

"Schon wieder ein Freund!" Das war eine Feststellung und keine Frage.

"Er hat bei mir noch etwas gut und da er Schriftsteller ist, kommt er mit. Sozusagen um Erfahrungsberichte zu sammeln," flüsterte Pierrè.

"Was? Wir machen hier keinen Spaziergang im Mondschein. Seit wann bist du dermaßen unvorsichtig?" Aramis Stimme rutschte merklich höher.

"Psst, ich vertraue ihm und wir brauchen ihn sowieso. Der Kapitän spricht nur Englisch mit einem scheußlichen Dialekt. Wir brauchen ihn als Dolmetscher."

"Was ist mit deinem Freund?" Aramis sah zweifelnd zu Monsieur Poitiers.

"Es gab einen Sturm und er ist über die Reling geweht worden. Gott sei seiner Seele gnädig."

"Ja, Amen und ich halte es trotzdem für einen großen Fehler."

"Wenn ich jetzt schon Frauen bei solchen Unternehmungen mitnehme, dann können auch Möchtegern Schriftsteller mit," sagte Pierrè sichtlich verärgert. Aramis funkelte ihn an: "Die letzte Bemerkung will ich nicht gehört haben."
 

Und Charles Poitiers wollte unbedingt mit. Dabei gehörte er eher zu den gemütlichen, vorsichtigen Menschen. Jemand, der seinen Tee aus der Untertasse trinkt, wenn er glaubt, dass dieser zu heiß ist und Geräusche von sich gibt, wie billige und schlecht installierte sanitäre Anlagen. Aber Schriftsteller geben sich häufig recht übertriebenen Vorstellungen in bezug auf Abenteuer hin. Das passierte, wenn man zu lange in kleinen Zimmern mit zugezogenen Vorhängen hockt, anstatt nach draußen an die frische Luft zu gehen.
 

Es war Nacht geworden. Eine dunkle Nacht, mit einer Dunkelheit, als hätte man das Gefühl, eine Hand voll davon greifen und die Nacht herausquetschen zu können. Pierrè's Gesichtszüge blieben ungerührt, als er Aramis mit Degen über den Hof kommen sah. Er wusste, dass Renée Brunets Persönlichkeit über viele verschiedene Facetten verfügte. Auch wenn sie nicht oft über ihr früheres Leben sprach. Die Selbstverständlichkeit mit der sie Waffen und Hosen trug und sich auf ihr Pferd schwang, um in die Nacht hinaus zu reiten, versprach eine weitere interessante Seite. Irgend etwas ging von ihr aus, dass über das eingeschränkte Leben einer Frau hinaus ging.
 

Nachdem sie eine halbe Stunde in scharfem Tempo geritten waren, kam der Küstenstreifen in Sicht, an dem die Übergabe stattfinden sollte. Sie hielten in einem kleinen Waldstück, unweit der Bucht. Das Tosen der Brandung drang durch das Dickicht. Riesige schwarze Bäume neigten sich in ihren dunklen Wipfeln aneinander.

"Seht ihr das Dornengestrip am Felsenrand?" Pierrè zeigte in das undefinierbare Dunkel vor ihnen.

"Nein, eigentlich nicht!"

"Es ist aber dort. Durch die Büsche führt versteckt der Weg runter zur Bucht. Es ist der einzige Weg nach unten. Das Schiff wird schon angelegt haben. Man sieht es nur, wenn man direkt unten in der Bucht ist," erklärte Pierrè. "Ihr bleibt jetzt hier hinter dieser Baumgruppe verborgen. Nobby und ich gehen vor und sehen nach, ob das Schiff schon da ist und ob sich diese Mistkerle hier irgendwo verstecken." Aramis hielt Pierrè an der Jacke fest.

"Von wie vielen Mistkerlen sprechen wir denn?"

"Ach, nur zweien. Wir regeln das schon. Bleibt ihr beide nur brav hier, hinter den Bäumen versteckt! Komm Nobby!"

Und wenn man mal von der Tatsache absah, dass bestimmt etwas schief ging, dann schien alles narrensicher zu sein.
 

Aramis sah den schattenhaften Gestalten nach, während diese mit der Dunkelheit verschmolzen. Sie hatte abwartend die Arme verschränkt und trommelte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Ihr gefiel es überhaupt nicht, nur passiv beteiligt zu sein. Sie spähte vergebens in Richtung Meer, während sich neben ihr Poitiers nervös am Kinn kratzte, was sich anhörte, als riebe jemand Sandpapier aneinander.

"Ich kenne das Stückchen hier," erklärte Poitiers. Er war sichtlich nervös. "In meiner Jugend war ich oft hier, um ... Nun ja, er ist bei jungen Leuten sehr beliebt, da ...," Poitiers hüstelte verlegen. "Zur rechten Seite müsste sich eine alte Burganlage befinden. Sie steht schon mehrere hundert Jahre leer. Allerdings ursprünglich hat um 900 n.Ch. ..."

"Psst, was war das?" unterbrach Aramis seinen geschichtlichen Abstecher.

"Was?"

"Hören Sie das nicht? Mehrere Männerstimmen. Auf jeden Fall mehr als zwei."

"Das müssen nicht unbedingt die Schmuggler sein, die Pierrè sucht. Sie könnten hier rein zufällig sein." wisperte Monsieur Poitiers.

"Na sicher, das ist bestimmt ein beliebtes Ausflugsziel, besonders um diese Uhrzeit." zischte sie ihm verärgert zu. "Folgen Sie mir oder wollen Sie hier warten, um sie zu fragen, was die hier wollen? Ich hoffe nur, sie entdecken nicht die Pferde."
 

Charles schlich Aramis hinterher ins Dickicht. Irgendwie hatte der Wald sich verändert. Poitiers glaubte sich zu erinnern, dass es hier in seiner Jugend Hyazinthen, Oleander und Schlüsselblumen gegeben hatte. Jetzt schien die Vegetation nur aus Dornenbüschen zu bestehen. Sie zerrten an seiner Jacke und gelegentlich stießen ihm die Zweige aus reiner Bosheit den Hut vom Kopf.

"Wir sind viel zu nah an ihnen dran." Monsieur Poitiers Stimme quietschte.

"Ich will sie beobachten. Nicht, dass sie mit Pierrè und Nobby zusammenstoßen."

Poitiers wünschte sich, Renée Brunet wäre in der Schublade geblieben, in die er sie eingeordnet hatte. Attraktive, kultivierte Frauen hatten vor Gefahr zurück zu scheuen, statt sich ihr zu nähern und noch Spaß daran zu haben. Neben ihm leuchteten ihre Augen erwartungsvoll. Das also war das Abenteuer. Er hatte darüber geschrieben, hatte davon geträumt. Charles der Furchtlose. Aber es war schmutzig. Wo blieb die Romantik? Wo der Heldenmut? Irgendwo unter seinen Fußknöcheln, die ihn fast nicht tragen wollten. "Sie sollten sich die Sache nicht als Gefahr vorstellen," wisperte Aramis ihm zu. "Sehen Sie darin statt dessen eine interessante Anekdote, die Sie später Ihren Enkeln erzählen können." "Finden Sie das komisch, Madam Brunet?" empörte er sich. "Das ist nicht richtig. Sie verhalten sich vollkommen falsch. So benimmt sich keine Frau." Aramis schob ihn mit sanften Nachdruck vor sich her. "Das mag normalerweise der Fall sein," sagte sie. "Aber ich bin im Urlaub." Poitiers stöhnte innerlich auf. Warum waren nicht alle Frauen wie Madame Poitiers. Madame Poitiers blieb zu Hause, hütete Haushalt und Kinder und war gefälligst glücklich dabei. Die Leute schätzten Madame Poitiers. Sobald eine Seele Zuflucht brauchte, kam sie zu ihr. Gut, Frauen, wie diese mutige Draufgängerin neben ihm beflügelte die Männerfantasien, aber doch nur in Romanen.
 

Beide krochen weiterhin parallel zu den Stimmen im Gebüsch herum. Und zu einer Jahreszeit, in der alles aufblühte, fiel Monsieur Poitiers Nase ein, extrem empfindlich auf Blüten und Pollen reagieren zu müssen. Sein Niesen, vom Wind aufgenommen und fort getragen, fand seinen Weg ungestört zu den Ohren der Männer.

"Ob sie es gehört haben?"

"Ja und ich würde vorschlagen, dass wir anfangen zu rennen. Jetzt!"
 

***
 

III.

Aramis hörte Poitiers unregelmäßigen Atem, als die hohen Mauern der alten Burganlage vor ihr auftauchten. Sie dankte sämtlichen Grafen und Lords, welche die schützenden Mauern in Auftrag gegeben hatten und stürmte durch das Tor, die nächstliegende Treppe hoch. Erst am Ende der Treppe wurde ihr bewusst, dass Poitiers Japsen fehlte. Ihr blieb keine Zeit mehr, sich nach Poitiers umzusehen, da schon einer der Männer am Fuß der Treppe erschien. Aramis hechtete auf die nächste Tür zu und schob den Riegel vor. Ein riesiges Bett füllte den Raum aus. Über den Vorhängen lag jahrhundertealter Staub. Es schien wenig Sinn zu haben, das Bett als Versteck zu nutzen. An der linken Wand war eine Nische von einem Vorhang verborgen. Das Loch im Steinsims gab Aufschluss über die damaligen Toilettenverhältnisse. Aramis sah voll Unbehagen an der besudelten Röhre hinunter. Der Schacht bot genug Platz für einen Körper. Etwas stieß wuchtig gegen die Tür. Sie traf eine Entscheidung. Ihr Angreifer hatte die Tür aus den rostigen Angeln gehoben. Er sah den halb zugezogenen Vorhang, welcher sich durch den leichten Luftzug bewegte. Lächelnd trat er näher, um den Vorhang beiseite zu ziehen. Er beuge sich zum Loch vor. Aramis erschien hinter ihm und schlug fest mit einem der morschen Stühle zu. Der Stuhl zerbrach im Nacken des Mannes. Er versuchte sich umzudrehen und sein Gleichgewicht zu finden, aber in Aramis Händen war immer noch genug Stuhl übrig, um erneut zuzuschlagen. Sie vernahm ein dumpfes Pochen, als er rückwärts kippte. Manchmal hilft es doch, sich erst zu verstecken.
 

Charles Poitiers sah sich um. Er konnte schon die Umrisse der verfolgenden Männer erkennen. In der Annahme, dass Aramis den Weg am Schloss entlang genommen hatte, bog er links um die Ecke, am dunklen Kanal des Burggrabens entlang. Mehrere Meter unten, floss zähflüssig das Wasser. Er lief orientierungslos, nur von den Schritten der Verfolger und seiner Angst angetrieben. Drei der Ganoven hatten die Verfolgung des Schriftstellers aufgenommen. Sie bewiesen damit die für Ganoven typische Fähigkeit, das schwächste Glied in der Kette zu finden. Poitiers stolperte, fiel und fand nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten. Schweigend näherten sich ihm jetzt die Männer.

"Boo ..njour Monsieurs," stotterte Poitiers.

Sie schwiegen

"Ich wollte Sie nicht stören, ähm ..," bemerkte Charles Poitiers.

Keine Antwort.

"Ich .. ich bin nur Schriftsteller... wirklich."

Wieder fehlte für einen Dialog die Antwort.

"Ich habe Sie offiziell nie gesehen, Sie können ganz unbesorgt sein", fügte Poitiers zittrig hinzu.

Er war jetzt einer Ohnmacht nahe. Poitiers beschloss, dass Abenteuer jemand anderem zustoßen mussten und als sich die Männer grinsend näherten, sprang er über die Brüstung und fiel ohne besondere aerodynamische Eleganz in die Tiefe. Unten erwartete ihn das kalte Wasser des Burggrabens.
 

Einer der Männer eilte zu dem davon schwindenden Monsieur Poitiers, um ihn aufzuhalten, als jemand gegen ihn prallte und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Aramis hatte alles nur von weitem gesehen und sich gedankenlos gegen den Mann geworfen. Sie fand nur mühsam die Kontrolle über ihren Körper zurück. Verwirrt registrierten die Männer, dass eine Frau vor ihnen stand. Ihre Gesichter waren ungepflegt. In ihren Augen standen Habgier und Gewalt. Der ihr am nächsten stehende Gegner wandte sich Aramis zu. Sein Degen wog lässig in seiner Hand und er lächelte höhnisch. Das Begreifen, dass es ein Fehler war, sie zu unterschätzen kam zu spät. Tödlich getroffen sank er zu Boden. Dafür begriffen seine Gefährten um so deutlicher. Lauernd kamen sie näher. Hass stand in ihren Augen. Beide griffen gleichzeitig an. Ihre Degenführung war von purer Kraft und hektischen Bewegungen geprägt. Aramis fand zur jahrelangen Routine zurück und überlegt konterte sie die Angriffe. Prägnant fand die Spitze ihres Degens seinen Weg. Der zweite Gegner starb. Aramis trieb den verbliebenen Gegner mit schnellen und präzisen Attacken in die Enge. Sie tötete ihn schnell und schmerzlos.
 

Aramis sah auf die toten Gestalten am Boden. Sie hatte bisher kaum jemanden getötet. Ihre Gegner hätten mit ihr kein Erbarmen gehabt, aber ihr Tod tat Aramis dennoch leid. Für solche Situationen brauchte sie Athos und Porthos. Sie wünschte, sie könnte sich einfach umdrehen und beide hinter sich stehen sehen. Aramis schreckte aus ihren Gedanken, als sie das Herannahen eines Pferdes hörte. Mit Schrecken sah sie Vincent d'Estouville wutentbrannt auf sich zukommen. Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Sie hatte angenommen, dass d'Estouvilles frivoler Charakter Wut gar nicht zuließ.

"Du dummes Weibsbild, was machst du hier?" brüllte er. "Mein Gott ..." Er sah fassungslos auf die toten Männer. Im Dunkel der Nacht konnte er nicht sehen, dass sie den Degen hinter sich ins Gebüsch schmiss.

"Oh, Ich weiß, was du hier machst!"

"Du eitler Schönling, was geht es dich an, was ich hier mache," brüllte Aramis zurück.

"Ich bin schon seit einiger Zeit hinter den Schmugglern her .... und wen muss ich hier vorfinden? Man sollte dich zu deiner eigenen Sicherheit wegsperren lassen."

"Ach, du jagst Schmuggler. Hast du dich von deinem Spiegelbild losreißen können?"

Vincent packte fest ihren Oberarm und schüttelte Aramis durch, dass ihre Zähne aufeinander klapperten.

"Weißt du, dass ich dich ins Gefängnis schicken kann? Das ich dich enteigenen kann? Es wäre meine Pflicht." Aramis riss sich los und funkelte ihn böse an.

"Du dummes Weib denkst du, dass das ein Spiel ist? Du wirst mich ernst nehmen!"

Die Stimmen hatten sich hochgepeitscht.

"Ich soll dich ernst nehmen? Ich soll dich ernst nehmen? Jemanden, der nur mit meinem Dekollete kommuniziert."

"Ich werde über die Aktion heute hinweg sehen. Ihr wart nie hier! Dafür bist du mir eine Gefälligkeit schuldig!" sagte d'Estouville deutlich ruhiger. Aramis erbleichte. Er wollte doch nicht ....

"Ich will dich hier NIE wieder sehen. Nimm deine Leute und verschwinde nach Hause. Morgen werden Agenten aus Brest eintreffen. In den kommenden Wochen wird es hier von Beamten wimmeln. Solange, bis der hiesige Schmuggel aufhört."

Aramis und Vincent starrten sich mit verschränkten Armen an.

Er seufzte und ging zu seinem Pferd. "Wo sind überhaupt deine Leute?" Vincent schnaufte. "Wie können Sie eine Frau unter lauter Toten zurücklassen? Ich hoffe, du musstest den Kampf nicht mit ansehen." Gut, dachte Aramis, er brachte den Kampf nicht mit ihr in Verbindung. Sie hätte eine Menge zu erklären gehabt. D'Estrouville wendete sein Pferd und sah auf sie herab.

Er seufzte. "Wenn du so dringend Geld brauchst, dass du dich jetzt schon auf kriminelle Geschäfte einlassen musst, dann heirate lieber mich, René." HEIRATE MICH? Meinte er das ernst? Aramis war zu verblüfft, um ihn darauf hinzuweisen, dass seine finanzielle Lage auch nicht besser aussah als ihre. Er bekam nur, auf Grund seiner Position, einen größeren Kreditrahmen. Sie sah Vincent zu, wie er davon ritt.
 

Was Verhütung von Verbrechen betraf, so dachte der örtliche Büttel in großen Maßstäben. Er hatte die Ansicht, der Versuch, den Schmuggelhandel zu senken, hatte ungefähr die gleiche Aussicht auf Erfolg, wie die Bemühung, den Salzgehalt des Meeres zu senken. Nach seiner Meinung musste ein moderner Büttel dem Verbrecher einen Schritt voraus sein. Irgendwann würde sich der Schmuggler in sein Wohnzimmer verirren und dann war er zur Stelle. Bis dahin konnte er es sich vor dem Kamin gemütlich machen.

Er verschüttete seinen Tee vor Schreck, als die Tür aufschwang und Vincent d'Estouville wütend auf der Schwelle erschien. Den Vorwurf von Monsieur d'Estouville, er sei dumm und unfähig, nahm er sich nicht zu Herzen. Er war ein moderner Büttel und die wussten es besser.
 

Charles Poitiers kam nass und durchfroren mit Nobby und Pierrè um die Ecke getrottet. Sie blickten verlegen an ihr vorbei. Anscheint hatten die drei den größten Teil des Gespräches mitbekommen. Pierrè pfiff durch die Vorderzähne. "Was ist denn hier passiert?" Er zeigte auf die Leichen. "Sind die tot?" fragte er.

"Das weiß ich nicht. ... Charles, Sie waren doch vor mir hier?" fragte Aramis mit Fistelstimme und Wimpernaufschlag.

"Aber Charles, dass hätte ich dir gar nicht zugetraut. Und gleich drei Männer. Sie sehen ziemlich finster aus." Anerkennend schlug ihm Pierrè auf den Rücken.

Der unbekannte Retter war nirgendwo zu sehen und so nahm Charles Poitiers die Ehre für sich in Anspruch.

"Ach, das war gar nichts," sagte er im lauten Rauschen des völlig ungewohnten Testosterons.

Pierrè wandte sich an Aramis. "Ach Reneè, wir hatten Euch nicht gefunden. Darum haben wir schon die Packpferde mit dem Alkohol beladen. Lasst uns nach Hause reiten. Die Sache mit den anderen Schmugglern hat sich ja jetzt auch erledigt. Respekt Charles, Respekt!"

Der Adrenalinschub des bestandenen Abenteuers hatte seltsame Nebenwirkungen auf Poitiers. Er fing an jedem aktiv auf die Schultern zu klopfen. "Haben wir das Ding geschaukelt oder haben wir das Ding geschaukelt?" fragte er glücklich.

"Beim zweiten Mal muss es "nicht geschaukelt" heißen," lenkte Aramis ein.

"Wir sind gerissen und gefährlich," rief Charles jäh in einem untypischen Anfall von Machismos. "Ja-ah, sind wir gerissen und gefährlich?"

Aramis hob eine Augenbraue und wandte sich an die Anwesenden. "Sind wir gerissen und gefährlich?"

"Ich glaube, dass ich gerissen und gefährlich bin," sagte Pierrè.

"Ich bin bereit gerissen und gefährlich zu sein, wenn die anderen auch gerissen und gefährlich sind," bot Nobby an. Aramis blickte zu Charles. "Ja," meinte sie. "Offenbar sind wir alle gerissen und gefährlich."

Alle verstummten, als hinter ihnen verdächtige Geräusche ertönten. Aus der Dunkelheit torkelte ziemlich benommen ein Mann auf sie zu. Aramis erkannte ihren Verfolger, welcher durch den Apportschacht gerutscht war. Der Weg über Steine, Dreck und Dornen hatte seine Kleidung zerrissen und das Naturgesetz des allgemein gültigen Humors sorgte dafür; dass er äußerst lächerliche Unterhosen trug. Bei ihrem Anblick ergriff er, soweit es sein angeschlagener Zustand erlaubte, die Flucht. Keiner der Anwesenden machte sich die Mühe ihn zu folgen.
 

Die Nacht neigte sich zu Ende, als sie mit ihrer Beute heimwärts ritten. Pier war selig und sang aus voller Brust in derart falscher Tonlage, dass sich der Rasen am Wegrand nach oben bog.

Zurück in Paris

I.

Es war ein schöner Sommertag. Einer dieser Sommertage, an denen selbst der größte Pessimist keinen Regen erahnen konnte. Das satte Blau des Himmels spiegelte sich im Wasser und das goldene Licht der Sonne veredelte die Fassaden der Häuser. Das fröhliche Zwitschern der Vögel hallte durch die offene Tür ins Kircheninnere. Feierliches Schweigen legte sich über die Anwesenden. Während der Priester seinen Segen erteilte, war die Aufmerksamkeit eines jeden Gastes erwartungsvoll auf das Paar am Altar gerichtet.

In den Sitzbänken saßen Gefühle der uneingeschränkte Freude am Glück des Brautpaares, bei einigen wenigen der Neid und bei manch einem das schwere und süße Gefühl der Wehmut. Ja, es war ein Tag geschaffen zum Heiraten.
 

Das frisch vermählte Paar schritt unter Jubel durch die Kirche. Der Bräutigam trug erst die stolz vorgereckte Brust durch den Türbogen nach draußen, dann sich selbst. Anerkennend wurde ihm von den männlichen Gästen auf die Schulter geklopft. Die Gratulanten wussten, wie lange die Braut ihrem frischgebackenen Ehemann das Ja-Wort vorenthalten hatte.

Seine Braut versuchte angestrengt die Schleppe ihres Kleides und den meterlangen Schleier in Einklang mit ihren Schritten zu bringen. Der Saum ihres weißen Kleides strich über die gestreuten Blumen am Boden. Rosenblätter, Staub und Schmutz sammelten sich unter dem weißen Seidenstoff und wurden mitgeschliffen. Einzelne Haarsträhnen im satten Goldton hatten sich aus der Blumenkrone gelöst. Obwohl sie sich, im Trubel der ungewohnten Aufmerksamkeit unwohl fühlte, strahlten ihre blauen Augen vor Glück.

Bald hatte sich die gesamte Hochzeitsgesellschaft im Gasthaus zum Feiern niedergelassen. Es war an nichts gespart worden. Das Essen wurde üppig aufgetafelt und der Wein reichhaltig nachgeschenkt. Schon kamen die ersten zottigen Witze über die kommende Hochzeitsnacht und mehr oder weniger nützliche Ratschläge über das künftige Eheleben.
 

"Auf D'Artagnan und Constance"! Dutzende von Gläsern wurden hochgerissen und klirrten schwungvoll aneinander. So mancher Gast fand seinen Wein dekorativ auf seinem Festgewand wieder.

Es wurde zum Tanz aufgespielt. Porthos wippte fröhlich mit dem Fuß im Takt der Musik, während er und Athos das muntere Treiben ringsum beobachteten. Seit Stunden hatte er nicht mehr aufgehört zu lächeln. Jetzt fing er an, neben dem eigentlichen Takt der Musik, mit den Schultern zu zucken.

"Oh, sieh mal! Bernard ist in einem weinroten Anzug gekommen. Nicht schlecht," sagte er an Athos gewandt.

"Seit wann interessiert du dich für die Garderobe anderer?" fragte dieser abwesend.

"Ich versuche NUR Konversation zu machen! Manchmal geht mir deine Wortkargheit auf die Nerven. Es wird wirklich Zeit, dass Aramis wieder zurück kommt ." Porthos seufzte im Selbstmitleid.

"Du glaubst doch nicht wirklich, dass Aramis wiederkommt. Porthos, es sind mittlerweile fünf Jahre vergangen."

"Er hat gesagt, dass er zurück kommt," meinte Porthos stur. "Allerdings, sich einfach gar nicht zu melden. ... Nicht einmal ein Brief ... Ich werde ihn dafür verprügeln müssen, wenn er wieder da ist." Porthos grinste über seinen eigenen Witz und zappelte wieder außerhalb jedes Rhythmusgefühls mit der Musik mit. Athos dachte auch nach einem halben Jahrzehnt oft über seinen verschollenen Freund nach. Dass Aramis nicht zurückkam, störte ihn. Es störte ihn sogar sehr. "Hast du eigentlich je näher über Aramis nachgedacht?" fragte er möglichst beiläufig. Porthos runzelte die Stirn und versuchte den genaueren Sinn der Frage zu ergründen.

"Wie nachgedacht? Aramis ist Aramis."

"Na zum Beispiel über sein Aussehen. Es ist nicht zu übersehen, dass etwas weiches, feminines an Aramis ist. Ja, hübsch. Hast du ihn dir nie genauer angesehen?" hakte Athos weiter nach. "Bei der schönsten Frau von Paris, bin ich schwul, dass ich mir Männer ansehe?" sagte Porthos stur gerade aus sehend. "Ja, am Anfang sah er schon ziemlich hilflos aus. Aber wir haben schon eine Menge aus ihm gemacht, einen richtigen Musketier sozusagen. Er trank richtig, er fluchte richtig, er hat sich in Duelle gestürzt und er konnte richtig lachen." Beim Zurückdenken an alte Zeiten lächelte Porthos. Von weitem sahen sie D'Artagnan auf sich zusteuern. Noch immer trug er seinen Brustkorb einen halben Meter vor sich her.

"Trotzdem blieb Aramis weiterhin androgynes" behaarte Athos. "Er wirkt wie ein Hermaphrodit. Seine Stimme ist einfach zu hoch. Er ist furchtbar schamhaft und wir haben ihn nie mit einer Frau zusammen gesehen, ja er handelte sogar manchmal wie eine Frau ... Ich habe einiges darüber in Büchern gelesen .... Ja, hörst du mir überhaupt zu Porthos? Porthos?" Verärgert räumte Athos seinen Platz und nickte D'Artagnan zu. Verwundert nahm dieser den vorgewärmten Platz in Besitz und sah dem offensichtlich verärgerten Athos nach. Eine Gruppe junger Leute tanzte einen Reigen an ihnen vorbei. Jean hüpfte mit seinem schlaksigen Körper dazwischen und entschuldigte sich für jeden unbeabsichtigten Stoß, den er anderen versetzte. Neben ihnen war das aufgeregte Plappern junger Mädchen zu vernehmen. Der Reigen hatte schon längst den Raum durchquerte, als Porthos hingebungsvoll seufzte. "Sag mal, D'Artagnan, was ist ein Hermaphrodit?"
 

Es waren zwei Wochen seit der Hochzeit vergangen. Jean wanderte durch Paris, ohne sein Ziel zu kennen. Er ließ die Schultern hängen und schlürfte missmutig die Straße entlang. Jetzt da D'Artagnan verheiratet war, fühlte sich Jean ausgeschlossen und zu niemandem gehörend. Mit seinen 12 Jahren, so schien es ihm, war er wieder alleine. Dabei mochte er Constance und freute sich über das Glück seines Freundes. Seit geraumer Zeit kickte er schon ein und den selben Stein im sicheren Abstand vor sich her. Er sah nicht hoch. Wo er sich befand, interessierte ihn nicht. Während Jean den Flug des Steinchens beobachtete, übertönten ungewohnte heftige Stimmen den gewohnten Pariser Tageslärm. Er hob den Kopf und sah schwarz vermummte Männer auf sich zukommen. Dann wurde er auch schon umgerissen. Seine Beine gaben unter der Wucht des Aufpralls nach und Jean kippte langsam nach hinten. Die Zeit drehte sich langsamer. Das Blut pulsierte durch seine Adern. Jean sah sich, als unbeteiligter Zuschauer, das Gleichgewicht verlieren. In Panik gruben sich seine Finger in den dunklen Stoff eines der Männer. Doch der Stoff gab nach und Jean stürzte den grauem harten Pflaster der Straße entgegen. Bei seinem Sturz riss er dem Mann seine schützende Maske vom Kopf und mit einer Deutlichkeit, die nur Schrecksekunden bringen können, sah er dem Mann ins Gesicht. Jede Falte, jede Furche, jede Besonderheit in dessen Gesicht brannte sich in Jeans Gedächtnis. Er schlug schmerzhaft auf. Die Wucht des Aufpralls trieb ihm die Luft aus den Lungen. Die Welt drehte sich, dann wurde sie angenehm schwarz.
 

Unauffällig beobachtete Marie ihr Gesicht in der Spiegelfläche des Bestecks. Fasziniert von ihrer eigenen Wirkung, lächelte sie sich zu. Es raschelte leicht, als der Butler den Raum betrat und Athos hereinführte. Marie warf ihr Haar zurück und war sich des Glanzes, den der Kerzenschein auf das dunkle Haar zauberte, durchaus bewusst. Schattengleich und diskret trugen Diener das Essen auf. Athos bedachte sie mit einem warmen Lächeln, voll Zuneigung. "Du siehst heute wieder bezaubernd aus. Wie war dein Tag?" fragte Athos und

Marie holte aus. Athos versank in ihren Anblick und ließ sich von den Nichtigkeiten ihres Tagesablaufes einlullen. Er wusste, dass Maries regelmäßige Besuche in der Hauptstadt ihm galten. Marie wollte, dass Athos den Musketierchor verließ, seinen Titel als Graf wieder annahm und auf seinem Schloss residierte, mit ihr als Gräfin an seiner Seite. Dies hatte sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Fünf Jahre ließ Athos sie jetzt schon auf einen Heiratsantrag warten und ihm taten die nächsten Worte leid, die er an sie richten musste.

"Marie, ich habe gestern einen Brief von meinem Vater erhalten. Wegen des Erfolgs seiner Investitionen in die Southwest Sea Company hat er weitere größere Anteile in ihre Expeditionen gesteckt." Marie hob alarmiert den Kopf. Natürlich hatte sie von den unglaublichen Verlusten der Gesellschaft, auf Grund von Stürmen und Piraterie, gehört. Die Börse in England und Frankreich lag brach. Die meisten Investoren hatten sich in den Ruien gestürzt. Marie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten ein stummes Nein.

"Doch," widersprach Athos sachlich. "Unser Verwalter hat mir den Verlust schriftlich bestätigt." Seine Stimme wurde leise und betrübt. "Mein Vater musste daran gehindert werden, sich etwas anzutun. Meine Zeit als Musketier ist nun wohl endgültig vorbei. Ich werde nach Hause zurückkehren und ich bitte dich, mich zu begleiten!" Stille legte sich über den Raum. Nur der Nachhall von Athos Worten blieb in der Luft hängen.

"Marie, heiratest du mich?"
 

***
 

II.

Der Mann hob Jean wie eine Puppe hoch und schliff ihn mit. Rücksichtslos zehrte er Jean mit, grundlegend, direkt und notwendigerweise gewalttätig. Jeans Sinne kehrten plötzlich und mit brutaler Klarheit zurück. Er versuchte mit zu laufen und geriet mehrfach in Straucheln. Nachdem er sich dem Tempo seines Peinigers angepasst hatte, konnte er seine Umgebung wahrnehmen. Sie befanden sich am Ende einer der besseren Gegenden von Paris, aus dessen Zentrum sie gerade zu kommen schienen. Jean zählte 6 Männer, die im Laufschritt in das Hinterhofgewirr der Armengegend eintauchten. Er war unfreiwilliger Zeuge eines Überfalls geworden. Da die Diebe damit beschäftigt waren, die stattliche Anzahle ihrer Verfolger abzuschütteln, verlängerte sich Jeans Lebenserwartung einstweilig. Häuserblocks, Straßenzüge und Plätze flogen an Jean vorbei. Die Flucht geriet ins Stocken, als eine Obsthändlerin mit ihrem warenbepackten Karren die Gasse versperrte. Rüde wurde die Frau beiseite gestoßen. Ihr Wagen kippte seitlich und das Obst rollte die Straße entlang. Ohne inne zu halten liefen die Männer mit dem Jungen weiter. Unter den glatten Sohlen ihrer Stiefel verwandelte sich das zertretene Obst in rutschigen Matsch. Mehrere der zerquetschten Aprikosen wurden schließlich Jeans Peiniger zum Verhängnis. Der schwarz gekleidete Mann geriet aus dem Gleichgewicht. Bei seinem Kampf um Balance lockerte sich der stahlharte Griff seiner Riesenpranken um Jeans Oberarm. Jean fühlte, dass seine einzige Chance zur Flucht gekommen war. Er wand sich hin und her. Trat und hämmerte auf den Riesen ein. Der rutschige Boden und der sich windende Junge waren zuviel auf einmal. Der Griff lockerte sich ganz. Jean versuchte den Sprung in die Freiheit. Noch nie hatte sein Herz derart gerast. Wieder packten ihn grobe Hände und rissen ihn zurück. Jean strampelte und trat blindlings um sich. Zu seinem Glück erwischte er eine Stelle, die wirklich weh tat. Auch wenn die Tritte von einem schmächtigen Jungen kamen. Der Kampf endete für David siegreich und Goliath ging wimmernd in die Hocke. Jean hörte schon das Rufen der herannahenden Verfolger, als er über Mauervorsprung, Fenstersims und Schuppendach nach oben kletterte. Er warf einen letzten Blick zurück, auf den Mann unter sich.

"Ich habe mir dein Gesicht genau eingeprägt, Kleiner. Du kannst mir nicht entkommen!" rief dieser hoch und grinste bei diesem Versprechen wie eine Scheißhausratte. Dann verschwand er mit den anderen Ganoven um die Häuserecke.
 

Maries Miene wurde kalt. "Wie konntest du nur diesem ... deinem Vater erlauben euer Vermögen wiederholt aufs Spiel zu setzen?"

"Mein Vater ist mir keine Rechenschaft schuldig. Ich verlange, dass du nie wieder derart über ihn redest!" Athos Stimme klang hart und messerscharf. Anerzogener Respekt vor der Autorität des Vaters sprach aus ihm. Maries Nasenflügel bebten vor Wut. Fünf Jahre! Fünf vergeudete Jahre, in denen sie ihre Fänge nach anderen potentiellen Ehemännern hätte ausstrecken können.

"Heirate mich Marie," bat Athos erneut. "Wir werden alles wieder aufbauen. Noch besitzt meine Familie genug Grund und Boden, der verpachtet werden kann. In den letzten Jahren wurde die Landwirtschaft revolutionär verändert. Ich habe alles darüber gelesen. Ich überzeuge unsere Pächter von den neuen Methoden und wir könnten die doppelte Menge an Ernte einbringen. Mit etwas Geduld wird unser Vermögen zurück kommen."

Es spielte gar keine Rolle, was er sagte, denn Marie hörte nicht zu. Marie schaffte es, sich irgendwo im Kopf den fehlenden Teil der Unterhaltung selbst zu liefern. Athos bot alles, was sich eine Frau wünschen konnte, nur eben keinen großen Reichtum. Und Reichtum war das, was Marie wollte.

"Mit etwas Geduld? Mit etwas Geduld? Ich bin fast 30. Ich habe keine Geduld mehr." Marie hatte sich erhoben und funkelte auf Athos hinab. "Ich bin der Gesellschaft einen bestimmten Status meiner Person schuldig. Dieses Haus ist nur gemietet. Gemietet! Das Vermögen meines verstobenen Mannes schwindet zunehmend und ..."

Athos erhob sich ruhig, ging zur Tür und schloss diese, ohne sich noch einmal umzusehen.

Er wartete auf seine Reaktion, wie jemand der sich den Zeh gestoßen hat und eine Sekunde Gnadenfrist hat, bevor der Schmerz einsetzt. Als sie kam, war sie so vielfältig und unterschiedlich, dass zu seiner Verblüffung Lachen daraus wurde. Athos lachte. Lachte über Menschen, deren Leben von eine Nichtigkeit wie Geld bestimmte wurde. Und er war sich sicher, Aramis hätte mit ihm gelacht. Athos hatte nie viel von den Lebensgrundsätzen und Verhaltensregeln gehalten, die für seinen Stand üblich waren. Er war ein Ein-Mann-Feudalsystem.
 

Nachdenklich schlenderte er zu seinem Haus zurück. Fensterläden öffneten sich ringsum, um die zunehmende Abendkühle herein zu lassen. In der Ferne nahm er Porthos wahr, der auf ihn zusteuerte. "Aramis ist kein verdammter Zwitter. " Porthos blieb drohend vor Athos stehen. Sein warmer Atem blies ihm ins Gesicht. "Ich warne dich! Wehe du behauptest noch einmal so etwas in der Art."

Athos beobachtete faziniert Porthos gewaltiger Zeigefinger, der beharrlich vor seinem Gesicht schwang.

"Ist schon gut Porthos. Ich wollte Aramis nicht abwerten."

"Wenn Aramis dich gehört hätte ..... Er hat schon Leute wegen viel weniger zum Duell gefordert."

"Selbst wenn Aramis ein ...... , ich sagte, wenn er es wäre, nicht das er es ist. Nimm deinen Zeigefinger aus meinem Gesicht Porthos! Hat das nichts zu sagen. Aramis ist mir als Freund genauso wertvoll wie dir."

Porthos beruhigte sich wieder. Ein paar Kollegen kamen vorbei und grüßten.

Beide wendeten ihr Gespräch wieder alltäglichen Dingen zu.

"... und ich sage noch... Ist das nicht Jean, dort oben? JEAN?" Porthos gewaltige Stimme halte durch die Gasse. "Komm da runter, mein Junge! Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?" Langsam kletterte Jean vom Dach. Beide Männer betrachteten das von Schürfwunden und Dreck bedeckte Gesicht des Jungen. Atemlos wiederholte Jean die vergangenen Erlebnisse.

"Was hältst du davon?" fragte Porthos an Athos gewandt.

"Mhm, wenn es sich um die Gruppe Diebe handelt, die ich vermute, dann haben wir mehr Ärger, als uns lieb ist."

"Also hast du auch an sie gedacht."

"Wovon redet ihr?" fragte Jean ungeduldig.

"Die Überfälle, die sich in letzter Zeit angehäuft haben, wurden von ein und der selben Gruppe durchgeführt," erklärte Athos. "Sie gehen direkt und brutal vor. Sie sind einfach zu viele und zu gut organisiert, um sie so ohne weiteres festnehmen zu können. Die Köpfe der Gruppe scheinen den gesamten Untergrund zu kontrollieren. Das macht sie so gefährlich. Und das macht es besonders gefährlich für dich."

"Wir bringen dich am besten zu Kapitän D'Treville," sagte Porthos und schob Jean sanft in die entsprechende Richtung.
 

Der Kapitän wandte ihnen den Rücken zu und sah nachdenklich aus dem Fenster. Die Hände lagen ruhig auf dem Rücken verschränkt. Das Rot der Abendsonne hob seine Silhouette goldschwarz hervor.

"Das gefällt mir nicht." Er wandte sich um und betrachtete den Jungen vor sich. Die Wangen waren dreckig und zerkratzt. Die Oberlippe aufgeplatzt und von der Nase zog sich ein getrockneter Blutfaden zum Mund. D'Treville befahl Porthos Wasser und Verbandsmaterial zu besorgen.

"Wir und Richelieus Männer können sie nicht festnehmen. Wenn wir versuchen sie zu verhaften, merken wir, dass es keinerlei Beweise gibt."

"Das Schlimme ist, dass diese Typen ganz Paris als Versteck nutzen. Hier gibt es wahrscheinlich keinen Platz, an dem Jean sicher ist," warf Athos ein.

"Das denke ich auch. Jean wird Paris verlassen müssen."

"Ich gehe nirgendwo hin. Ich bleibe bei D'Artagnan."

D'Treville drückte den aufspringenden Jungen sanft auf den Stuhl zurück. "Tot bist du D'Artagnan bestimmt kein guter Freund, mein Junge. Es tut mir leid, dich als kleines Kind behandeln zu müssen, aber du wirst Paris verlassen!" Jean kannte Kapitän D'Treville nicht einmal annähernd. Seine Begegnungen mit ihm konnte er an einer Hand abzählen, aber er spürte genau, dass hier die Unterredung beendet war und Widerworte nicht geduldet wurden.
 

Während die Pariser Bevölkerung sagte, man müsse sie von den Gaunern befreien!

Und Richelieus Garde sagte, das sei schon richtig, aber nicht so leicht!.

Und D'Trevilles Musketiere sagten, sie könnten es besser!

Und der König gar nichts sagte, handelte Kapitän D'Treville und schickte Jean noch am selben Abend aus der Hauptstadt. Zusätzlich sendete er seine Männer als Beobachtungsposten durch Paris und an den Hauptausgängen der Stadt.
 

***
 

III.

Es war verdammt früh für einen Montagmorgen. Gemeinhin betrachtete D'Artagnan das frühe Aufstehen als Verbrechen. Er reckte sich genüsslich und scheuchte mit seinen Schritten einen Schwarm Tauben auf. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen die angenehme Kühle der Nacht vertreiben. Sehnsuchtsvoll dachte er an seine 3 Wochen Urlaub zurück. In seiner Satteltasche befanden sich Constances liebevoll zurecht gemachten Brote. Als frischer Ehemann hatte man noch ein Anrecht auf abgeschnittene Krusten. Noch wusste er nicht, dass es in einem Jahr nur noch am Hochzeitstag abgeschnittene Krusten geben würde. Wenn es die Woche über ein und den selben Käse gibt, dann ist der Ehealltag eingezogen.

Er sprang die Treppenstufen hoch, drehte sich elegant um die eigene Achse und begrüßte den kauenden Porthos. Porthos schlang die letzten Bissen herunter und eilte zu dem Neuankömmling, um diesen stürmisch zu begrüßen. D'Artagnan spürte langsam, wie sich sein Rippenkostüm verengte und die Luft aus den Lungen wich. Lächelnd befreite er sich und beantwortete alle Fragen nach seinem Eheleben. Na, fast alle.

Beide Musketiere betraten Kapitän D'Trevilles Büro. Von den großen, auf Hochglanz polierten Bodenfliesen glitt der Blick zu dem riesigen Schreibtisch vor der Fensterfront. Doch nicht der Kapitän saß unnahbar auf dem Sessel, sondern Athos. Er hatte sich einem anderen Musketier zugewandt und unterhielt sich mit diesem. Bei ihrem Eintreten drehte er sich ihnen zu. Im hellen Morgenlicht stachen in seinem vertrauten Gesicht, deformierte Spuren deutlich hervor. Von zartem Blau bis zu dunklem Lila, zog sich ein großer Halbkreis um das linke Auge. Die Unterlippe hatte deutlichen Schaden an einem Fausthieb genommen.

"Athos, was ist denn mit dir passiert?" fragte D'Artagnan verwundert. Athos lächelte schief bei dem Hinweis auf seine Blessuren.

"Oh, das war ich," antwortete Porthos ruhig an seiner Stelle.

"Warum schlägst du Athos?" D'Artagnan war restlos verwirrt, bereit, sich nie wieder in seinem Leben Urlaub zu nehmen.

"Athos verlässt uns. Wusstest du das? Er muss auch KURZ wegen FAMILIENANGELEGENHEITEN NACH HAUSE."

"Bonjour D'Artagnan! Ich geh nicht KURZ nach Hause. Ich verlasse die Musketiere für immer," antwortet Athos betrübt, aber mit gnadenloser Ruhe.

"WAS?"

"Es geht nicht anders. Ich habe keine andere Wahl."

"Und genau deshalb habe ich ihn geschlagen," bestätigte Porthos. "Er hat sich nicht einmal gewehrt."

"Das war aber heftig," meinte D'Artagnan.

"Er musste die Prügel für Aramis mit einstecken," antwortete Porthos mit einem Schulterzucken.

"Ich nehme Porthos Schläge als Kompliment. So und nun teile ich Euch für den Tag ein. Kapitän D'Treville ist krank und bat mich, seine Vertretung zu übernehmen," Athos Lächeln verstärkte sich.

"Jawohl Kapitän!" D'Artagnans Hacken knallten auf einander.
 

Athos bewegte seine vom Schreiben taube Finger. Für die Eskorte des Königs, bei dessen Jagd war gesorgt. Die Einsätze für den nächsten Tag hatte er geplant. Bernard stand neben ihm und nahm die Liste in Empfang.

"Wir müssen uns noch um die Musketieranwärter kümmern, welche ein zusätzliches Training brauchen," wandte sich Athos an den Musketier neben ihm.

"Ich habe überlegt, ob wir ein paar neue Degengriffe in das Trainingprogramm mit einführen. Ich habe alles in einem Buch gelesen."

"Die Liste mit den Namen der Musketieranwärter müsste in einem Umschlag in einem der Schubfächer liegen. Ich kümmere mich derweil um dein Pferd ...ähm Kapitän," sagte Bernard und wandte sich der Tür zu. Athos grinste zufrieden. Die Position eines Kapitäns brachte erhebliche Vorteile mit sich. In der vorletzten Schublade fand er den Brief und lehnte sich genüsslich im Sessel zurück, um die Liste zu studieren. Doch nicht die Liste hielt er in den Händen. Er las ein Antwortschreiben an Kapitän D'Treville, in dem die Ankunft von Jean bestätigt wurde. Athos richtete sich auf. Er studierte jeden einzelnen Buchstaben. Jede charakteristische Eigenart in der Schreibweise des Adressanten. Es gab keinen Zweifel. Diese Schrift war von Aramis.
 

Bernard stand in der Sonne, im gedanklichen Nirgendwo verschwunden und hielt Athos Pferd am Halfter. Die Sonne brannte heiß auf seinen Rücken. Er schreckte auf, als Athos abrupt die Tür aufriss und ihm das Pferd abnahm.

"Ich mache dich hiermit zum Stellvertreter des Kapitän, Bernard," sagte er, während er schon vom Hof ritt. Der aufwirbelnde Staub brannte in Bernards Lungen, während er versuchte die gesagten Worte zu begreifen. Hilflos ließ er die Schultern hängen. Er war Musketier geworden, damit andere ihm sagen konnten, was er machen sollte. Bernard war nach Weinen zumute.
 

"In Richtung Westen sind sie geritten?" fragte D'Artagnan Porthos. "Ja, zehn dieser schwarzvermummten Typen sind vor einer Stunde durchs Stadttor geritten. Und wenn Alan nicht noch einen Abstecher nach Hause gemacht hätte, dann hätten wir früher Bescheid gewusst," ärgerte sich Porthos. "Wir können immer noch ihrer Spur folgen. Du reitest jetzt zu Athos und holst ihn. Zum Teufel mit der Vertretung. Und ich besorge Proviant."

Porthos sah dem Freund nach. Am Ende der Straße stand ein für Porthos nicht unbekanntes Gasthaus. Er hielt den davoneilenden Knecht auf.

"Sag bitte deinem Wirt Bescheid, dass Porthos, der Musketier etwas Proviant für eine Reise braucht. Hurtig, hurtig mein Junge!" scheuchte er ihn zurück. Wenig später trat der Knecht mit einem Paket unter dem Arm nach draußen.

"Und was hat er gesagt?" fragte Porthos neugierig.

"Seine Worte lauteten: O nein! Das hat mir gerade noch gefehlt."

Porthos strahlte. "Ich wusste doch, er kennt mich noch."
 

D'Artagnan stürmte ohne zu klopfen in D'Trevilles Büro. Auf einem Stuhl abseits des Schreibtisches saß einsam Bernard und sah ihm hilflos entgegen. Er hatte es nicht gewagt, auf Trevilles heiligem Stuhl platz zu nehmen.

"Wo ist Athos?"

"Ich weiß es nicht. Er ist einfach davon geritten."

Die Tür knallte zu und Bernard war wieder allein.
 

Porthos und D'Artagnan hatte keine Zeit mehr Athos zu suchen. Die Sorge, dass die berüchtigte Diebesgruppe Jeans Verfolgung aufgenommen hatte, trieb sie zum Aufbruch. Mit fast 2 Stunden Verspätung jagten die beiden den zehn Männern in Richtung Atlantikküste hinterher.
 

Athos stürmte die Treppe hinunter. Sein Gesicht brannte vor Wut über das, was er eben erfahren hatte. Den Brief hielt er immer noch zerknüllt in den Händen. Die Tür erzitterte von seinem Ausbruch. Er knallte die Stiefelfersen in die schweißnassen Flanken seines Pferdes und lenkte es in Richtung Bretagne. Vom Schlafzimmerfenster aus beobachtete Kapitän D'Treville seinen Musketier besorgt. Die kommenden Ereignisse wollte er nicht einmal vorausahnen.

Zusammentreffen

I.

"Das darf doch nicht wahr sein. Dies ist die letzte Richtung, in die sie hätten reiten können. Verdammter Mist! Eine Gruppe von schwarzgekleideten Männern kann doch nicht von einem ganzen Dorf übersehen worden sein."

"Entweder, sie haben sie nicht gesehen oder aber sie WOLLTEN sie nicht sehen."

Porthos Pferd tänzelte nervös auf der Stelle. Die Unruhe seines Reiters hatte sich auf ihn übertragen.

"Wir verlieren einfach zu viel Zeit."

"Die Pferde brauchen auch bald eine Rast," räumte D'Artagnan ein.

D'Artagnan fühlte Panik in sich aufsteigen. Keiner der beiden konnte sicher sein, dass die Ganoven hinter Jean her waren, aber die bloße Vorstellung bereitete ihnen unsagbare Sorgen. Die einzige Dorfstraße lag wie ausgestorben vor ihnen. Die armseligen Hütten am Straßenrand wirkten wie die leblosen Kulissen eines Bühnenstücks. D'Artagnan und Porthos hatten nicht geahnt, dass sie bis weit in die Bretagne vordringen mussten. Sie hatten die Spur der Männer bis nach Rennes verfolgt. Dann aber verlor sich die Fährte hinter der Stadt. Der letzte konkrete Hinweis lag schon mehrere Meilen hinter ihnen.

"Selbst das Wetter ist gegen uns. Hier kündigt sich ein mächtiges Gewitter an." D'Artagnan warf beunruhigende Blicke zur schwarzen Wolkendecke. Die schwarzgraue Wolkenwand umschloss fast den gesamten Himmel. Porthos tätschelte beruhigend sein Pferd.

"Wir müssen uns irgendwo unterstellen! Mein Pferd dreht jetzt schon fast durch. Es wittert das Unwetter. Ich habe schließlich keine Rosinante unter dem Hintern."

"Wo?" D'Artagnan sah sich fragend um. Das Dorf verfügte weder über eine Kirche, noch über den Luxus eines Gasthauses. Es bestand größenteils aus ein paar Holzhütten, die an eine zerfurchte Straße geworfen waren. Die alten römischen Meilensteine, am Wegrand waren der einzige Hinweis, dass dies eine reguläre Fernstraße war. Die Fassaden der wenigen Hütten wirkten abweisend und finster.

Der erste Blitz entlud seine Energie auf der Erde. Sekunden später war ein fernes Donnern zu vernehmen. Mit Mühe beruhigte Porthos sein Pferd, als die ersten Regentropfen auf die staubige Erde fielen. Eine Minute später prasselte der Regen als undurchsichtige Wand auf den Boden und verwandelte die trockene Erde in Schlamm.

Der nächste Blitz zeigte sich im gleißenden Licht am Himmel. Der Donner war kurz darauf zu vernehmen. Noch immer standen Porthos und D'Artagnan unschlüssig auf der Straße.

Blitz und Donner krachten wieder am Firmament. Diesmal fast gleichzeitig. Sie waren nun nicht mehr alleine auf der Straße .

Wieder grollte es am Himmel und die Welt erhellte sich für einen Sekundenbruchteil. D'Artagnan beobachtete die einsame Gestalt auf der Straße, welche sich im Blitzlicht des Gewitters unheimlich auf sie zu bewegte. Sein schwarzer Umhang wehte theatralisch im Wind.

Die Welt wechselte von Hell zu Dunkel. Nur noch 100 Meter Entfernung. Krachend und funkensprühend versenkte sich ein Blitz in einen der Bäume. Porthos Pferd wieherte panisch und schlug aus. Nur noch 50 Schritte Entfernung. Porthos stieg ab, um sein Pferd am Halfter zu packen und beruhigend auf ihn einzureden. Nur noch 20 Schritte Entfernung. Sein Pferd war nahe daran in Panik durchzugehen. Geduld gehörte zu keinen von Porthos Tugenden und so holte er aus und hieb kurzentschlossen seinem Pferd eine runter.

Die Gestalt war heran.

"Athos?" rief D'Artagnan. Porthos drehte sich erstaunt um. Reiter und Pferd, welches immer noch vom Schlag betäubt war, sahen die Gestalt erstaunt an.

"Was machst du denn hier? Wir haben dich schon gesucht. Wir jagen diesen Mistkerlen von den Überfällen hinterher. Wir glauben, dass sie Jean jagen," sprudelte Porthos runter. Seinem Pferd knickten die Beine weg.

"Allerdings kommen wir nicht weiter. Wir haben ihre Spur verloren," gestand D'Artagnan in der Annahme, dass Athos ihnen aus diesem Grund folgte.

"Ich weiß, wo wir lang müssen," antwortete Athos schlicht.

"Wo ist dein Pferd?"

"Es ist vor fünf Meilen zusammengebrochen."

Porthos und D'Artagnan sahen sich verwundert an. Was musste geschehen, dass jemand besonnener, wie Athos sein Gaul zu Schande ritt.

"Dann musst du wohl oder übel auf Rosinante mit aufsteigen," bot ihm D'Artagnan an.

Athos seufzte ergeben. "Ich bekomme nie wieder ein Pferd mit dieser Mischung. Sein Vater war ein Araber," murmelte er, während er hinter D'Artagnan aufsaß und versuchte so würdevoll wie möglich zu wirken.

"Das Gewitter verzieht sich schon wieder," sagte Porthos und bemühte sich noch immer, sein Pferd auf die Beine zu bekommen.

Der Umstand, dass auf einer öffentlichen Dorfstraße zwei gestandene Musketiere sich ein Pferd teilen mussten und ein anderer versuchte seinen ohnmächtigen Klepper wiederzubeleben, traf mindestens zwei der Männer hart in ihrem Stolz. Und so machten sie sich auf, den Ort der Schande möglichst schnell zu verlassen.
 

Porthos Voraussage bestätigte sich schon bald und der Himmel zeigte sich in seinem schönsten Blau. Die gefangenen Regentropfen in den Wipfeln der Bäume reflektierten das satte Sonnenlicht. Die Straße schlängelte sich, umgeben von Feldern und Wiesen in Richtung Westen. Sie waren noch nicht weit geritten, als eine Kutsche in Sicht kam. Die Räder der Kutsche standen zur Hälfte im Straßengraben und seine Insassen liefen ratlos herum. Gräfin d'Grinold hatte die letzte halbe Stunde ihre Wut an ihren Bediensteten ausgelassen. Nachdem sie anständig am Selbstwertgefühl ihres Kutscher gewürgt hatte, ging es ihr schon wesentlich besser. Ihre Laune verbesserte sich noch um ein weiteres, als sie die drei Männer in der Ferne auf sich zu kommen sah. Gräfin d'Grinold machte sich zur Jagd bereit. Mit subtilen Schrittchen tastet sie sich vor und platzierte den üppigen Körper in die Mitte der Straße. Sie fand, dass Sonnenlicht ihr gut stand. Um an Kutsche und Gräfin vorbei zu kommen, hätten die drei Männer schon in den Straßengraben ausweichen müssen. Der Höflichkeit wegen, stiegen die drei von ihren Pferden und begutachteten das Übel. Gräfin d'Grinolds zupfte ihr Mieder tiefer und klimperte mit den Augen in Richtung Athos. Irritiert registrierte sie, dass dessen Interesse nicht ihr, sondern ihren Pferden galt. Ihr Blick wendete sich Porthos zu. Dieser hatte schon etwas übrig, für die Freuden ihres Dekolletes. Die üppigen Formen standen im Widerspruch mit jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit. Die Schwerkraft war nur dann von Bedeutung, wenn die doppelt geschnürten Miederbänder sich lösten würden. Ihre Zunge strich verführerisch über die unregelmäßigen Zähne. Porthos musste sich an seinem Pferd festhalten. Er war nicht jener gutaussehende Braunhaarige, mit dem regen Interesse an ihren Pferden, aber sie ließ sich nicht mehr von ihrem Kurs abbringen, wenn sie erst einmal eine gewisse hormonelle Geschwindigkeit erreicht hatte.

"Im Namen des Königs konfiszieren wir dieses Pferd!" Athos hatte sich entschieden.

"Ähm...dürfen wir das denn?" D'Artagnan sah ihn zweifelnd an.

"Sei Still! ... für einen geheimen Auftrag im Namen der Krone."

Die Gräfin strich sich eine kastanienbraune Locke aus dem Gesicht und senkte ihre Wimpern zum lasziven Schlafzimmerblick.

"Vorher helfen wir Ihnen selbstverständlich noch," bot Porthos an. Er ließ seine Muskeln spielen und machte sich daran, die Kutsche mit purer Muskelkraft auf die Straße zu hieven.

"Er hat doch tatsächlich sein Hemd ausgezogen." Athos explodierte.

"Porthos komm jetzt! Wir müssen los, die Zeit rennt uns davon!"

Mit größtem Bedauern unterbrach Porthos seine Mannbarkeitsrituale und verabschiedete sich von Gräfin d'Grinold und ihrem wunderbaren Busen. Er beeilte sich seinen Freunden zu folgen.
 

***
 

II.

D'Artagnan lenkte sein Pferd gegen Athos, während sie im halsbrecherischen Tempo die Straße entlang ritten. "Du bist ungewohnt ungeduldig Athos. Weißt du mit Sicherheit, dass sie zu Jean wollen?"

"Nein, das weiß ich nicht sicher, aber ich weiß, dass ich dort hin muss." Athos trieb sein Pferd ungeduldig an. Er gab damit zu verstehen, dass er nicht mehr sagen wollte.

Dunkelheit senkte sich langsam auf Frankreich nieder, während sie sich Trézien-Plouarzel näherten. D'Artagnan und Porthos hatten es aufgegeben, Athos nach ihrem Ziel zu fragen.

Sie folgten den Weg, über den Aramis, vor über 5 Jahren in einer dunklen kalten Postkutsche nach Trézien-Plouarzel gekommen war. Die alte Fernstraße, welche mit ihren unzähligen Schlaglöchern und hinderlichen Baumwurzeln durch die Bretagne führte.

"Wie weit ist es noch, Athos? Wo wollen wir denn hin?" fragte D'Artagnan voller Ungeduld.

"Ich fürchte dorthin." Athos zügelte sein Pferd und ließ es langsam in die gezeigte Richtung traben. Jetzt sahen sie es auch. Dicke Rauchsäulen verschmolzen mit dem Dunkel der Nacht. Ein roter Schein schimmerte spärlich durch das dicke Geäst des Waldes.

Sie preschten die Straße entlang, der Feuerwand entgegen. Bald wurden lange Flammenzungen sichtbar, die über die Baumwipfel schlugen. Der Wald öffnete sich vor ihnen und gab den Blick auf das Gasthaus frei. Das Gelände war taghell erleuchtet.

Chaos tobte auf dem Platz. Das Hauptgebäude wand sich in den Flammen. Hitze, stickige Luft, Windböen mit Funken- und Aschestaub wirbelten ihnen entgegen. Das gesamte Gebäude schien zu ächzen und zu stöhnen. Schreie durchdrangen panisch-grell die Nacht. Tiere flüchteten führerlos ins Dickicht.
 

Sprachlos starrten die Drei das Inferno an. Keiner rührte sich, wie erstarrt saßen sie auf ihren Pferden. Athos bewegte sich als Erster. Er rannte dem Haus entgegen und versuchte die Gefahr abzuschätzen. Porthos und D'Artagnan beeilten sich ihm zu folgen. Vereinzelte Personen waren zu erkennen, die das Feuer zu löschen versuchten. Sie hatten kaum die Hälfte zum Gasthof zurückgelegt, als ihnen ein Mann entgegen gelaufen kam. Er schien die drei Männer nicht wahrzunehmen. Immer wieder glitt sein Blick gehetzt nach hinten. Seine schwarze Kleidung hob sich deutlich von der Flammenwand ab. Es war unschwer zu erkennen, zu welcher Gruppe er gehörte. Er erkannte nicht, dass er direkt in die Arme von Porthos rannte. Zu spät versuchte er auszuweichen. Porthos gewaltige Pranken schnellten vor, packten ihn und hielten ihn umfangen, so dass er den Boden unter den Füßen verlor. Er blickte hinauf in wütende Gesichter.

Athos Blick glitt von der dunklen Gestalt des Mannes am Boden zu dessen Verfolger. Jetzt sahen D'Artagnan und Porthos auf. Synchron klappten drei Kinnladen herunter.

Vor ihnen stand Aramis.
 

Oder auch nicht?

Erschrocken war die Frau mitten im Schritt erstarrt. Ungläubig starrte sie die Männer an. Hinter ihr tobte weiter das Feuer. Im Widerschein des Feuers wirkte ihre Gestalt blutdurchtränkt. Die Haare, die Haut, das Kleid reflektierten das Rot der Flammen. Die Haare wehten schleierhaft im Wind. Das Kleid war am rechten Arm eingerissen. Flammen hatten sich am Rock hochgefressen und gaben die Hälfte des rechten Beins frei. Sie trug keine Schuhe. In der Hand hielt sie einen Degen. Noch immer starrten die Männer sie an.

Sie starrte zurück.

Der Mann in Porthos Würgegriff hoffte, dass man ihn vergessen hatte.

Es war Aramis Gesicht, aber der Rest schien nicht zu passen. Jetzt nahmen sie auch Einzelheiten wahr. Ihr Gesicht war zerkratzt und rußverschmiert. Am Degen tropfte Blut herunter. Das rechte Bein wies Brandstellen auf. Immer noch irrten ihre Augen zwischen den Männern umher, dann fixierte sie den schwarzgekleideten Mann. Ihre Züge veränderten sich. Der Mund wurde ein farblosen Strich, die Augen sprühten vor Hass. Ohne Vorwarnung ging sie auf den Mann los. Sie zehrte ihn mit geradezu unheimlicher Kraft aus Porthos Umklammerung und nagelte ihn mit den Knien auf den Boden fest.

"Wo ist mein Sohn? Wo ist mein Sohn?" schrie sie ihn mehrmals an. Sie hatte sein Hemd gepackt und schüttelte ihn wie eine Puppe, so dass sein Kopf fortwährend auf dem Boden knallte.

"Wenn mein Sohn auch nur einen Kratzer hat, folge ich dir bis in die Hölle und noch weiter! Rede du Mistkerl!" Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie zu allem fähig war.
 

Als ihre Faust seinen Nasenrücken brach, erwachten die Anderen aus ihrer Erstarrung. Athos zehrte sie von dem Mann weg und hielt sie fest. Raoul war das Kostbarste, was Aramis besaß und sie zeigte es ihnen. Schwarze Finsternis verschluckte alles außer dieser Dringlichkeit, als sie um sich trat und sich wand und kreischte und flehte, man möge ihr das Kind zurückgeben.

"Ich habe kein Kind gesehen." verzweifelt wand sich der Mann in Porthos erneuter Umklammerung. Er blickte von der blondhaarigen Furie am Boden zu den harten Zügen des Kolosses, der ihn festhielt und beschloss in Ohnmacht zu fallen.
 

"Reneè, Roaul ist hier. Ihm ist nichts passiert. D'Aragnan! Athos! Porthos!" Jean begrüßte jeden hoffnungsvoll und erleichtert. Auch er trug einen blutigen Degen in der Hand.

"Meré Jeannot hat dem Typen eins mit der Bratpfanne rübergehauen," erzählte er grinsend. Seine Stimme durchdrang Aramis Bewusstsein. Sie richtete sich auf und sah sich suchend um. Jean trat zur Seite und gab den Blick auf Meré Jeannot frei, mit dem kleinen Jungen an der Hand. Unendliche Erleichterung durchflutete Aramis und sie streckte ihrem Sohn die Arme entgegen.

Raoul fand die Nacht furchtbar aufregend. Schlafen gehen war doch sooo langweilig. Das Feuer und die fremden Männer waren um so vieles aufregender. Er war Meré Jeannot sehr böse, dass sie ihn weggetragen hatte. Aber jetzt befand er sich ja wieder im Mittelpunkt des Geschehens. Alle sahen zu ihm hin. Raouls blaugraue Augen leuchteten auf. Er lachte und rannte zu seiner Mutter, um seinen dunkelbraunen Lockenschopf in ihren Armen zu vergraben. Oh, halt! Jetzt drückte sie ihn doch ein bisschen zu heftig und warum sah sie ihn so komisch an? Warum sahen die Anderen ihn so komisch an?

Aramis küsste gerade die Stirn ihres Sohnes, als Athos sie am Arm packte, hochzog und quer über den Platz schleifte.

"Ihr bleibt hier!" bestimmte er und zog sie unnachgiebig mit sich.

Jemand zupfte Porthos am Hosenbein. Er sah auf das kleine Gesicht von Raoul herunter.

"Warum bist du so dick?"

"Ich bin nicht dick ... ich bin stattlich," belehrte Porthos ihn.

"Bist du richtig schwer?"

"Ich habe einen schweren Knochenbau."

Raoul nickte wissend. "Was wäre, wenn du auf einer Brücke stehen würdest ....?

Porthos seufzte gequält. Kinder konnten so grausam sein.
 

Hinter einer Baumgruppe ließ er sie los. Unnahbar und streng stand er mit verschränkten Armen vor ihr. Seine Augen musterten sie kalt. Aramis schrumpfte unter seinem Blick. Sie studierte die ökonomische Beschaffenheit des Waldbodens eingehend, während sie sich ihre Unterlippe blutig bis. Noch immer schwieg Athos. Eine kleine Unendlichkeit verging, bis er sprach.

"Wieso finde ich einen Mann, von dem ich dachte, er wäre ein Freund, nach fünf Jahren als Frau wieder? Und das mit einem Kind? Einem Kind, von dem sich nicht leugnen lässt, dass es meine Gesichtszüge trägt? Und wenn ich richtig liege, dann entstand dieses Kind vor fünf Jahren, als ich dessen Mutter zu meinen angeblichen Freunden zählte? Als ich dachte, sie wäre ein Mann, ein Kollege, ein Freund. Ein Freund, dem ich vertrauen kann und den ich kenne?"

Athos sprach das Wort Freund wie ein Schimpfwort aus. Seine Mimik blieb weiterhin unnahbar. Die Gesichtszüge hart, wie aus Marmor gemeißelt.
 

***
 

III.

"Du hast geübt?"

"Ja, war es zu aufgesetzt?"

"Nein, nein. Das war gut. Ich hatte gehofft, in Ohnmacht fallen zu können. Bist du nicht wütend?" fragte Aramis leise.

"Doch, ich bin sogar furchtbar wütend. Ich habe mein Pferd zu Schande geritten ... und hatte 5 Meilen zu Fuß Zeit, über alles nachzudenken. Kapitän d'Treville hat mir alles erzählt. Auch, dass er denkt, dass dein Kind von mir ist. Er ist doch mein Sohn?"

"Ja," gestand Aramis zerknirscht. "Ich habe aber dem Kapitän nie davon erzählt. Woher ...?"

"Er hat es auf Grund deines Verhaltens geahnt. Und wie es aussieht, ist Kapitän d'Treville gut im Ahnen."

"Wir müssen nachher weiterreden. Ich muss jetzt beim Feuerlöschen helfen, es ist schließlich mein Haus."

"Du hast mir eine Menge zu erklären, Aramis. Ich weiß immer noch nicht, WIE du von MIR schwanger werden konntest. Aramis? Aramis .. "

Athos fand, dass ihm in letzter Zeit die Frauen zu oft wegliefen.
 

"Wie, das Feuer ist gelöscht?"

"Ja, na das siehst du doch," sagte Pierrè leicht irritiert.

"Wir haben das Forellenbecken geöffnet und das Haus überflutet. Halt, geh nicht dorthin! Die Balken könnten zusammenbrechen. Das ist zu gefährlich,"

"Es kann doch nicht schon alles gelöscht sein?" sagte Aramis panikerfüllt.

"Ihr müsst mir irgend etwas zu tun geben! Sonst muss ich mit ihm reden und ihm alles erklären. Es gibt einfach Dinge, die kann ich ihm nicht erklären." Sie biss sich auf ihren Handknöchel. Pierrè betrachtete ihren Ausbruch fasziniert.

"Dem da hinten? Es hat nicht rein zufällig damit zu tun, dass Raouls Züge seinen gleichen? Lass mich raten! Er ist der Vater?"

Aramis hörte auf, auf ihrer Hand herumzubeißen.

"Er ist Herr Brunet und du bist ihm davongelaufen!"

"Falsch."

"Er ist dir davongelaufen?"

"Nein."

"Er ist dein Liebhaber und du bist ihm und Monsieur Brunet davongelaufen?"

"Nein."

"Er ist eine alte Jugendliebe?"

"Nein."

"Sag nichts! ... Er ist dein Cousin?"

"Nein."

"Bruder, Halbbruder, Stiefbruder?"

"Nein, nein und nein."

Pierrè massierte sich die Schläfen. "Deine Schwester?"

Aramis verschränkte die Arme und wippte auf den Absätzen.

"Du wirst es mir nicht sagen?"

"Ja."

Pierré hob freimütig die Schultern und trottete von dannen. "Ich geh schlafen, guten Nacht,"
 

"Das ist eine Nacht." Meré Jeannot trat aus dem Schatten und legte Aramis den schlafenden Raoul in die Arme. "Der Anbau hat es wieder geschafft, ein Feuer zu überleben. Er ist nur ein wenig durch Pierrès Forellenteichaktion in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich habe deinen Gästen Zimmer zugewiesen" Aramis nickte Meré Jeannots Entscheidung ab.

"Sie suchen dich übrigens. Ich kann bei Suzanne schlafen. Komm mit mir!"

"Nein, ich bleibe hier."

"Dann gute Nacht."

Aramis sah zu ihren unverhofften Gästen hinüber und zog sich weiter in den Schatten zurück. An einen Baum gelehnt, sank sie erschöpft nieder. Sie war vor fünf Jahren aus Paris davon gelaufen. Da kam es jetzt auf ein paar Minuten mehr nicht an. Sie war so unendlich müde und die Brandblase am Bein schmerzte.

Als die Anderen sie schließlich fanden, stand Aramis, ihren schlafenden Sohn auf dem Arm haltend, mit einem Bein im Teich.

"Warum stehst du im Wasser und wie kannst du es wagen, dich als Frau zu entpuppen?" fragte Porthos. D'Artagnan und Athos hatten ganz vergessen, dass Porthos, als Einziger, VÖLLIG unvorbereitet auf Aramis traf.

"Mein Bein brennt und ich fürchte, ich hatte in dieser Angelegenheit nicht viel mitzureden," erwiderte diese sachlich.

"Salute Aramis."

"Salute D'Artagnan, schön dich zu sehen."

"Du weißt ganz genau, was ich meine. Warum hast du nie etwas gesagt?"

"Was willst du denn hören? Es ging um meine Existenz."

"Die Wahrheit!"

Aramis nickte.

"Wir sollten zuerst ein Feuer machen," schlug Athos vor.

Als das kleine Lagerfeuer brannte und die kleinen Flammen knisternd das Holz versengten, ließen sich die Männer, Aramis und Jean im Kreis nieder. Athos wollte erfahren, was in den letzten Monaten in Paris zwischen ihm und Aramis vorgefallen war, aber vor den anderen war es ein denkbar schlechter Zeitpunkt, danach zu fragen. Er hörte ruhig zu, wie sie von ihrem Verlobten und den vergangenen Jahren als Gasthauswirtin berichtete. Ein gewisser Pierrè und ein äußerst hässlicher Vogel namens Nobby gesellten sich dazu und hörten zu. Er stützte das Kinn in die Hand und beobachtete in aller Ruhe Aramis, während diese redete.
 

Wohlgemerkt, mit dem rußverschmierten Gesicht, dem dreckigen Kleid und den zerzausten Haaren sah sie nicht eben aus wie ein Gegenstand inbrünstiger Begierde.

Aber sie schien in jedem Mann ein behagliches, wehmütiges Wohlgefühl zu erwecken. Aramis war keine zerbrechliche Schönheit wie Marie. Sie war eine Mischung aus Geliebte und Waffengefährtin, die einzige Frau, die da gewesen war, wo sie auch waren.

Als die Morgendämmerung hereinbrach, wollte jeder noch für ein paar Stunden in ein Bett klettern, um zu schlafen.

"Weißt du, was ich beunruhigend finde?" verabschiedete sich Porthos von Aramis.

"Was denn?"

"Das ich dich jetzt nicht mehr verprügeln kann."

"Ich finde das sehr beruhigend," erwiderte sie grinsend.
 

***
 

IV.

Gähnend reckte sich Athos in der Morgensonne. Er hatte nicht einmal ansatzweise genug Schlaf bekommen. Warm brannten die Strahlen auf seinen Rücken. Unweit von ihm stand Porthos. Aramis saß, umgeben von ihren Leuten, auf einem verkohlten Holzbalken. Alle starrten deprimiert auf die Überreste des Haupthauses. Im Tageslicht wirkte der Schaden noch verheerender.

Athos beobachtete Porthos, welcher Aramis betrachtete. Die prüfenden Blicke im Rücken spürend drehte sich Porthos um und gesellte sich zu ihm.

"Ich hab dir doch gesagt, dass Aramis kein Hermaphrod... was auch immer ist. Übrigens hättest du mir sagen können, dass Aramis eine Frau ist."

"Ich wusste es selbst nicht, Porthos."

"Aber du bist doch der Vater von dem Bengel. Ich bin doch nicht blind."

"Ich wusste es trotzdem nicht."

"Das ist mir zu hoch," Porthos schüttelte hilflos den Kopf.

"Bonjour ihr zwei." D'Artagnan gesellte sich zu ihnen.

Direkt in ihrem Blickfeld kam etwas Orangeleuchtendes den Weg hoch. Monsieur Nicolas Gillet ritt auf einer traurigen Version von einem Pferd die Straße hoch und hielt vor den Männern. Zu seinem orangefarbenen Wams und Kniehosen trug er heute stechend hellgrüne Socken. Porthos hatte noch nicht ganz Aramis im Kleid verdaut, aber diese kuriose Gestalt in schreienden Farben war zuviel für ihn.

"Ach sagen sie, Monsieurs, wo kann ich Madame Brunet, die Wirtin dieses bejammernswerten Gasthofes finden?"

Alle Finger zeigten gleichzeitig in die besagte Richtung. Keiner wagte es etwas zu sagen, in der Annahme, Monsieur Gillet wäre nur eine Fantasiegestalt und würde sich gleich auflösen.
 

Man hatte mehrere Tische und Stühle ins Freie gerückt, um zu speisen. Am Ende der linken Seite saß Aramis, den Kopf in die Hände gestützt, vor ihren Rechnungsbüchern. Monsieur Gillets Angebot war niederschmetternd gewesen. Noch immer war der alte Kredit nicht abgezahlt. Ein Neuer kam einfach nicht in Frage.

"Können wir nicht Vincent d'Estouville bitten, mit Monsieur Gillet zu reden, damit er uns einen niedrigeren Zins gibt?" fragte Meré Jeannot.

"Oh, ich fürchte, der ist etwas angeschlagen, seit Renée wiederholt seinen Heiratsantrag ausgeschlagen hat. Du könntest ihn immer noch heiraten?" wandte sich Pierré an diese.

Alle am Tisch hielten den Atem an und warteten auf Aramis Antwort. Sie schwieg, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Athos stockte das Herz. Aramis dachte offensichtlich wirklich über eine Heirat nach. Eifersucht stach in sein Herz.

Erst jetzt bemerkte er, dass sie Pierrès Worte gar nicht registriert hatte. Aramis schreckte hoch. "Was hast du gesagt, Pierrè? Raoul hör auf! Nicht auf den Baum klettern!"

"Heirate doch Vincent d'Estouville."

Sie zog unwillig die Nasenspitze hoch und schüttelte den Kopf. Athos atmete innerlich erleichtert auf. Warum er so reagierte, dass verstand er nicht.
 

"Oh, wenn man vom Teufel spricht. Sieh mal, dein Verehrer kommt!" Aramis stöhnte innerlich.

Vincent d'Estouville sprang vom Pferd und eilte zu ihr.

"Geht es dir gut? Es tut mir so unendlich leid," plusterte er sich auf. "Wäre ich doch nur in der Stadt gewesen. Ich wäre dir sofort zu Hilfe geeilt. Stimmt es, dass es ein Überfall war?"

"Ja."

"Diese Hunde!"

"Es ist alles meine Schuld, tut mir leid, Renée." Jean plagte sich mit Schuldgefühlen.

"Das muss es nicht, Jean, du kannst nichts dafür," beruhigte sie ihn.

"Du siehst doch jetzt ein, dass es das Beste wäre, mein Angebot anzunehmen," wandte Vincent ein. "Ich bestehe darauf. Du handelst dir nur Ärger ein. Denk an den Jungen. Es ist die beste Entscheidung für dich! Glaube mir!"

"Noch kann sie alleine entscheiden, was das Beste ist." Athos hatte sich erhoben.

"Wer sind Sie denn?" fragte Vincente mit aller Arroganz, zu der er fähig war.

"Der Vater des Jungen"

"Ach, Monsieur Brunet ist aus der Hölle auferstanden?"

Aramis knirschte unwillig mit den Zähnen.

"Damit das klar ist. Niemand ist hier irgend jemandes Vater und niemand muss für mich sorgen," donnerte sie und ließ die beiden Männern stehen, um davon zu eilen. Vincent drehte sich zum Tisch hin. Sieben Augenpaare, die ihn zuvor interessiert angestarrt hatten, irrten jetzt, Desinteresse vortäuschend, in der Gegend herum.
 

Athos lief hinter Aramis her. Endlich konnte er mit ihr alleine sprechen. Der Wind rauschte sanft in den Baumwipfeln.

"So, was ist nun in Paris in den letzten Wochen vorgefallen?"

Aramis schwieg betreten.

"Ich meine, wie konnte ich es nicht mitbekommen, dass ..."

Aramis wurde rot. So fern das überhaupt ging, übertrug sich das Rot sogar auf ihre Kleidung.

"Du warst im Fieberwahn und hast mich anscheint für ... diese, diese ... zierlich, schwarzhaarig?"

"Marie?"

"Ja, Marie. Du hast mich für Marie gehalten."

"Marie?" wiederholte Athos nachdenklich. "Die Nacht hatte ich schon fast vergessen ...oh, jetzt wird mir einiges klar."

"Ja, jedenfalls hast du ihren Namen gerufen." Die Erinnerung schmerzte noch immer.

"Es tut mir leid. Ich kann dir nicht sagen, was in mich gefahren war. Du solltest dieses Gespräch jetzt mit Marie führen. Nicht mit einem ehemaligen Musketier. Deshalb bin ich auch fortgegangen."

Ja, ein ehemaliger Musketier. Ein kläglicher Fang. Als Gegenstand romantischer Verehrung kaum zu gebrauchen. Aber für mich bist du zufällig die Sonne und der Mond und die Sterne, dachte Aramis. Doch sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als diese Worte laut auszusprechen.

"Du kannst nicht sagen, was in dich gefahren war?"

"Was möchtest du denn hören? Ich war einsam?"

"Einsam?" Athos Tonfall klang fordernd.

"Allein."

"Allein?"

"Mein Gott ... ich fühlte mich zu dir hingezogen, ist es das, was du hören möchtest? Es hat keine Bedeutung. Du kannst nach Paris zurückkehren. Was passiert ist, soll dich nicht belasten."

"Glaubst du wirklich, ich könnte einfach wieder nach Paris gehen?"

"Ich habe doch gesagt, dass ich niemanden brauche, der für mich sorgt," erwiderte Aramis hitzig.

"Und was ist, wenn ich dich brauche? Wenn ich mir eine Familie wünsche?" Sie hob den Blick, weil seine Stimme verändert klang.

"Wenn ich jemanden brauche, der mein Freund und meine Frau ist."

"Ich war dein Freund. Erinnerst du dich? Aramis der Musketier, ein Mann!"

"Das ist es ja. Dauernd habe ich mich an etliche Augenblicke mit dir erinnert. Und ich denke: Da ist doch nichts besonderes an diesem Musketier, überhaupt nichts."

"Oh, danke vielmals."

"... und nun sehe ich dich endlich wieder ... schlimmer noch als eine Vogelscheuche."

"Das sagst du sicher zu jeder." Aramis lachte leise.

"Verstehst du, was ich dir sagen will. Der Frau, die ich zu lieben glaubte, ist Geld wichtiger als Liebe. Dein Verlobter hatte eine Frau, die sich aus Liebe zu ihm, als Mann verkleidet, um für ihn Rache zu nehmen. Er wäre sicher stolz."

"Er wäre schockiert. Als er mich kennen gelernt hat, war ich ein wohlerzogenes Mädchen, dass nicht einmal alleine auf ein Pferd kam."

"Ich würde es nicht freiwillig zugeben, aber ich wäre es. Und ich bitte dich, mich zu heiraten," seine Stimme klang flehend.

Vögel zwitscherten mehrstimmig im Wald. Der Bach bahnte sich rauschend seinen Weg. Vom Haus her klang leise das Lachen der anderen herüber.

"Du musst mich nicht heiraten. Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nicht um mich sorgen brauchst."

"Du bist töricht. Die Jahre mit dir waren die besten meines bisherigen Lebens. Ich vermisse unsere Freundschaft. Ich will, dass es so wird wie früher! Nein, ich will, dass es besser wird! Mein Gott, mit jeder Minute, die ich mit dir verbringe, fühle ich mich näher zu dir hingezogen. Glaubst du, ich handle völlig uneigennützig?" Dies war die leidenschaftlichste Rede, die je von Athos gehalten wurde.
 

Porthos war sich nicht sicher, was Athos von Aramis neuer Identität hielt und die Sache mit dem Kind verstand er rein gar nicht. Er verließ zwar nur ungern Hähnchenkeulen a la Madame Scoric, aber die beiden waren jetzt schon zu lange weg. Eine Hühnerkeule nahm er sich aber für den Weg mit. Und so schlenderte er, um das ausgebrannte Skelett des Gasthauses herum in Richtung Athos und Aramis.

Währendessen hörte sich D'Artagnan in der Mittagssonne Pierrés interessanten Lebenswandel an. Als Musketier sollten ihm Pierrès Aktivitäten eigentlich weniger zusagen, aber er konnte nicht leugnen, dass von diesem Mann ein ziemliche Faszination ausging. Jean durchstreifte mit Raoul und Nobby die Überreste des ehemaligen Schankraumes.

"Das Gasthausgewerbe ist eigentlich nichts mehr für mich. Ich würde Reneè selbstverständlich helfen, es wieder aufzubauen, aber mir fehlt die Abwechslung," gestand Pierrè.

"Würde es sich denn lohnen, wieder von vorn anzufangen?" fragte D'Artagnan seinen Gesprächspartner.

"Nein, ich fürchte nicht."

Porthos kam wieder zurück. Er hatte versucht mit Athos und Aramis zu reden, aber er glaubte nicht, dass sie ihn gehört hatten. Sie enttäuschten ihn, wie sie sich so stumm gegenübersaßen und sich einander ansahen.

"Ich glaube, das Gasthaus hat sich für Aramis erledigt," mischte er sich nachdenklich ein.

Auf einmal sehnte sich Porthos nach einer Frau zum Heiraten und Kindern und er dachte sehnsuchtsvoll an Gräfin d'Grinolds und ihren wunderbaren Busen zurück.



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von: abgemeldet
2005-04-22T09:17:15+00:00 22.04.2005 11:17
Du schreiobstb echt super, mir gefaellt es echt gut und ich freue mich schon aufs weiterlesen.
ich finde dei idee super eine frau bei den Musktieren!
Von: abgemeldet
2005-02-21T18:33:15+00:00 21.02.2005 19:33
Tolle Geschichte! Spannend bis zum Schluß!
Deine Mekura
Von:  Kitty
2004-06-16T08:56:22+00:00 16.06.2004 10:56
Juhu!! Fertiiig!!! Bin echt stolz auf dich! Da gehts doch hoffentlich noch weiter??? Ja???

Kitty *knuddel*
Von:  Kitty
2004-02-12T12:21:38+00:00 12.02.2004 13:21
Schmuggel also... hmmm bin leider erst bis zur ersten SEite vorgestoßen (Pause ist immer so kurz *grummel*)
Sie hat ihren Sohn Raoul genannt. Der Name kommt mir so bekannt vor, kannst du mir mal auf die Sprünge helfen? Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber er kommt mir wirklich bekannt vor...
Gruß Kitty
Von:  Kitty
2004-02-10T12:02:34+00:00 10.02.2004 13:02
Oh, das war ein schönes Kapitel. Vorallem zum Ende hin, das klang so schön, so zärtlich das mit dem ungeborenen Kind und den Erinnerungen.
Örtliche Gerichtsbarkeit?? Das kenn ich doch irgendwoher... *grins*
Gruß Kitty
Von:  Kitty
2004-02-04T10:07:34+00:00 04.02.2004 11:07
Ach du scheiße, jetzt ist sie auch noch schwanger!! Ojoi jetzt bin ich aber mal gespannt, ob sie es ihm sagen wird. *gleich weiterlesen wird*
Von:  Kitty
2004-01-29T12:23:11+00:00 29.01.2004 13:23
Woow, die is ja klasse die FF! Du kannst echt toll die Umgebung und alles so beschreiben! Der Arzt find ich irgendwie klasse (Gevatter Tod lässt grüßen, ha,ha) Kommen Aramis und Athos zusammen? Ich hab mir das damals, als die Serie noch lief ein bisschen gewünscht...
Werde demnächst auch die andern Kapitel lesen... bis denne
Von: abgemeldet
2003-08-13T10:43:59+00:00 13.08.2003 12:43
Ich habe selten eine so detaillierte FF gelesen.Du hast die Atmosphäre und die Charas wirklich treffend dargestellt, weiter so.
Von: abgemeldet
2003-07-26T07:48:46+00:00 26.07.2003 09:48
Hallo Schneggsche XD
also wie schon einmal geschrieben, finde ich die Story sehr einfühlsam und auch wieder humorvoll geschrieben...dein Stil eben, den ich supi finde, wie du ja weißt *lol*
Ich kann mich nur Noboda anschließen, hör nicht auf zu schreiben und erfreue uns weiterhin mit deinen Fanfics und ich weiß ja, dass da noch einiges auf uns zukommen wird ;o)
Jipeeeeehhhhhhhh
Von: abgemeldet
2003-07-23T21:24:20+00:00 23.07.2003 23:24
Liebe ifastcaranibethrem, abgesehen von deinem langen Namen, den ich immer noch nicht ganz verstehe (dein nächster Name wird hoffentlich kürzer) muss ich sagen, dass deine Geschichte sehr gelungen ist. Hast du toll gemacht, weiter so! ICH WILL NOCH MEHR VON DIR LESEN! Vor allem deinen Humor solltest du weiterhin einbauen, dadurch macht das Lesen viel Spaß. Ich freue mich auf jede Geschichte, da ich weiß, dass wieder schöne spitze Kommentare kommen.


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