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Am Tag ist es leicht

von

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Macht

Als Ibiki erwacht, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Erschrocken hebt er den Kopf und reibt sich die Wange, die er gegen den Fensterrahmen gelehnt hat. So ungemütlich hat er schon lange nicht mehr geschlafen.

Ima ist tot. Er weiß nicht, was er bei diesem Gedanken fühlt. Langsam hebt er die Hand und tastet nach seinem Gesicht. Die Tränen sind getrocknet, die Haut fühlt sich gespannt an. Die Narbe auf seiner Wange schmerzt dumpf, aber nicht so stark, dass er es nicht ignorieren könnte. Er steht vom Fenster auf, streift wie ein Schlafwandler ein paar herumliegende Kleider über und verlässt das Zimmer.

Vater findet er in der Küche, mit hängenden Schultern in seine Teetasse starrend. Die Uhr an der Wand zeigt halb elf am Vormittag. Eigentlich will Ibiki gleich wieder gehen, aber Vater hebt den Kopf und sieht ihn.

„Ibiki“, murmelt er. „Ich wollte dich nicht wecken.“

„Wo ist Ima?“, fragt Ibiki.

„Sie haben sie schon abgeholt. Die Beisetzung ist in drei Tagen.“

Ibiki will sagen, dass Vater nicht daran teilnehmen wird, weil sie ihn dann schon verhaftet haben. Er tut es nicht und weiß nicht einmal, warum. Angst hat er keine vor Vater, in diesem niedergeschlagenen Zustand erst recht nicht. Vielleicht sieht er einfach keinen Grund dafür.

Wortlos geht er in den Flur, zieht Jacke und Schuhe an und verlässt das Haus.
 

Das Polizeirevier liegt in dem Viertel Konohas, in dem die Uchihas wohnen. Auch der Mann, der ihm gegenüber hinter seinem Schreibtisch sitzt, trägt das Uchiha-Wappen auf seinen Kleidern. Er mustert Ibiki aus pechschwarzen Augen. Ayas Augen, denkt Ibiki und versucht, nicht an sie zu denken. Hier geht es um das zweite Mädchen, das er hat sterben sehen.

„Du bist also Morino Ibiki“, sagt der Mann langsam. „Ich kenne deinen Vater.“

„Es geht um meinen Vater.“

Der Uchiha hebt besorgt die Augenbrauen. „Ach ja? Was ist denn passiert?“

Ibiki holt tief Luft, aber eigentlich gibt es gar nicht viel zu sagen.

„Er hat meine Schwester ermordet.“

Der Mann starrt ihn fassungslos an.

„Seine Tochter. Morino Ima. Er hat sie vergiftet.“

„Langsam, Ibiki. Lass uns die Geschichte von Anfang an aufrollen, in Ordnung?“ Der Uchiha schlägt einen der Ordner auf seinem Tisch auf, sieht hinein und schließt ihn wieder. Er vermeidet Blickkontakt mit Ibiki.

„Dein Vater hat uns heute morgen benachrichtigt, er habe seine Tochter tot in ihrem Bett gefunden. Eine erste Untersuchung hat ergeben, dass sie ein schnell wirkendes Gift zu sich genommen hatte, das die Atemwege lähmt. Ihr Vater hat erklärt, sie sei verletzt von einer Mission zurückgekehrt, und er habe ihr ein Schmerzmittel geben wollen. Anscheinend hat er versehentlich zu den falschen Tabletten gegriffen.“

Ibiki starrt den Mann an und lauert darauf, dass er den Kopf hebt.

„Ein furchtbarer Unfall“, murmelt der Uchiha. „Aber es passiert leider öfter, als man meinen sollte. Vor allem Shinobi, die nur gelegentlich mit Gift arbeiten, bewahren es meistens bei den Medikamenten auf.“

„Es war kein Unfall. Er hat es mit Absicht getan.“

Endlich hebt der Uchiha den Kopf und runzelt die Stirn. „Warum sollte er so etwas tun?“

„Weil er geglaubt hat, es wäre besser für sie. Sie war traumatisiert nach dem Krieg, hatte Albträume. Er hat geglaubt, er würde ihr den Gnadenstoß geben.“

„Ihre Albträume hat er auch erwähnt. Er meinte, er wäre deswegen selbst nervlich angeschlagen gewesen, sonst wäre ihm der Fehler mit dem Gift nie passiert. Er macht sich bittere Vorwürfe deswegen ...“

Ibiki schlägt auf den Tisch. „Das ist nicht wahr! Er hat sie mit Absicht getötet, ich weiß es! Er hat es mir gegenüber zugegeben!“

„Dir gegenüber?“, fragt der Uchiha mit einem leisen Seufzen. „Gibt es weitere Zeugen dafür?“

„Er ist verdammt nochmal einer der besten Shinobi, die Konoha hat! Als ob er einen so dummen Fehler begehen würde, aus Versehen ...“

„Ganz richtig“, unterbricht der Uchiha ihn ruhig. „Er ist einer der besten Shinobi Konohas. Ich habe oft mit ihm oder unter ihm gearbeitet, und ich kann nicht zählen, wie oft er mir und anderen Kameraden das Leben gerettet hat. Er ist ein fähiger Shinobi, ein hervorragender Anführer, und abgesehen davon auch ein guter Freund.“

„Dass er seine Tochter ermordet hat, ändert in Ihren Augen nichts daran?“

„Er hat sie nicht ermordet, Ibiki. Es war ein Unfall. Ich weiß, dass der Tod am schwersten hinzunehmen ist, wenn er sinnlos scheint, aber ...“

„Und Sie unterstellen mir, dass ich verzweifelt einen Grund suche und mir deswegen Lügen ausdenke.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber gemeint“, erwidert Ibiki und bemerkt, dass seine Lippen zittern vor Wut. „Ich war sieben, als meine Mutter gestorben ist. Ich bin nicht so dumm, für etwas völlig Sinnloses wie den Tod einen Grund zu suchen. Ich bin hier, um meinen Vater wegen Mordes anzuzeigen, weil ich weiß, dass er es getan hat. Er hat es zugegeben! Ich weiß, dass er sie getötet hat!“

Der Uchiha hebt beschwichtigend die Hand. „Etwas leiser bitte, Ibiki.“

„Warum? Er ist ein Mörder, das kann hören, wer will!“

„Du bist verstört – das ist kein Verbrechen. Aber Rufmord ist eines.“

Ibiki verschlägt es die Sprache vor Entrüstung, und offenbar missdeutet der Uchiha es als Scham. Er seufzt und versucht ein aufmunterndes Lächeln.

„Es tut mir sehr leid, dass deine Schwester tot ist. Du brauchst Zeit, um dich damit abzufinden. Geh nach Hause, schlaf einige Male darüber und erhole dich. Es erleichtert die Trauer nicht, wenn du die Schuld bei deinem Vater suchst. Ihr beide solltet lieber miteinander reden und einander Halt geben.“

Langsam steht Ibiki auf. „Wahrscheinlich haben Sie recht“, sagt er, obwohl er es nicht meint. Ima hat immer gesagt, er ist ein schlechter Lügner.

„Du bist ein vernünftiger Junge, Ibiki. Das freut mich.“

Ibiki antwortet nicht, schiebt den Besucherstuhl wieder an den Schreibtisch und verbeugt sich kurz vor dem Uchiha.

„Wenn es geht ... bitte sagen Sie meinem Vater nicht, dass ich hier war.“

„Natürlich nicht“, erwidert der Mann mit einem mitfühlenden Lächeln. „Verlass dich auf mich.“
 

Die Sonne steht im Zenit, als Ibiki nach Hause läuft. Noch ist es Tag, und am Tag ist es leicht, nicht zu weinen. Aber irgendwann wird die Nacht kommen, und Ibiki graut es davor.

Am Straßenrand sitzt ein kleiner Hund, struppig, mit zerfetzten Ohren und einem lahmen Hinterbein. Ibiki bleibt stehen und sieht ihn an. Der Hund winselt und kommt hoppelnd näher, mit dem dürren Schwanz wedelnd. Schwerfällig geht Ibiki in die Hocke.

„Na, du.“

Der Hund schnuppert an seiner ausgestreckten Hand und leckt darüber. Jämmerliches, hässliches Ding, stellt Ibiki beiläufig fest. Noch immer knabbert er an dem himmelschreienden Unrecht, dass niemand ihm die Sache mit Vater und dem Mord glaubt. Eigentlich hätte Ibiki es wissen müssen. Er ist nur ein kleiner Genin. Vater ist bei der ANBU, er hat einflussreiche Freunde. Selbst wenn es zu einer Anklage kommen würde, würden sie Vater nicht verurteilen. Konoha kann auf einen Jounin seines Kalibers nicht verzichten, nur weil er einen Menschen getötet hat. Was für ein lächerliches Verbrechen.

„Es gibt keine Gerechtigkeit“, erklärt Ibiki dem Hund, gibt ihm einen Klaps auf den Kopf und schließt die Hand um seine Schnauze. Der Hund jault überrascht und versucht, sich loszureißen, aber Ibiki hält ihn fest.

„Wahrheit gibt es, denke ich. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen. Aber Gerechtigkeit gibt es nicht.“

Der Hund winselt und kratzt hilflos mit den Krallen über den Boden, und es amüsiert Ibiki. Es gibt ihm dieses befriedigende Gefühl von Macht, diese große, warme Ruhe, die seinen Körper durchströmt. Als würde er schweben.

„Alles, worum es geht, ist Macht. Glaubst du nicht auch, Kleiner?“

An diesem Mittag unter der prallen Sonne schwört Ibiki sich, dass er später zur ANBU gehen wird. Er wird sich eine Stellung erarbeiten, in der er unverzichtbar sein wird, und niemand wird es je wieder wagen, sein Wort anzuzweifeln. Er wird dafür sorgen, dass der Name Morino Ibiki von Freund und Feind gefürchtet wird. Ibiki will Macht. Wer Macht hat, ist unverletzlich und kann tun, was er will. Und ist das nicht Glück?

„Ibiki?“

Er dreht den Kopf. Gai steht zwei Schritte weiter auf der Straße und starrt den winselnden Hund an.

„Was machst du da?“

„Ich? Gar nichts.“

Er lässt den Hund los, der zurück zuckt und hastig um die nächste Häuserecke davon humpelt. Gai wirkt verstört, reißt sich dann aber zusammen.

„Ich habe gerade das mit deiner Schwester gehört. Tut mir furchtbar leid.“

„Sie ist jetzt an einem besseren Ort“, erwidert Ibiki ruhig, ohne eine Sekunde daran zu denken, den Mord zu erwähnen. Er richtet sich auf, und Gai kommt näher und drückt seine Schulter. Er presst die Lippen aufeinander, Tränen in den Augen. Dabei ist es doch am Tag so leicht, nicht zu weinen.

„Sei stark, Ibiki. Ihr zuliebe.“

„Das werde ich.“

Gai macht sich ja keine Vorstellung, wie Ibiki das wird.
 

Als er nach Hause kommt, sitzt Vater auf dem Sofa im Wohnzimmer und betrachtet Imas Bild an der Wand. Er rührt sich nicht.

„Ich bin wieder da“, sagt Ibiki und bleibt in der Tür stehen.

Vater hebt den Kopf, und Ibiki sieht, dass seine Augen verweint sind. Auf dem Tisch steht eine halb leere Flasche Alkohol.

„Ibiki.“ Er streckt den Arm aus. „Komm her.“

Ibiki tritt ein paar Schritte näher, aber eine Handbreit, bevor Vater ihn erreichen könnte, bleibt er stehen.

„Mein Sohn“, murmelt Vater. „Mein einziger.“

„Ich werde ausziehen“, sagt Ibiki.

Vater runzelt die Stirn und blinzelt verständnislos.

„Ich werde bald zum Chuunin befördert, und dann bin ich praktisch erwachsen. Danach siehst du mich nie wieder.“

„Das ist nicht ...“, beginnt Vater.

„Ich wollte nur, dass du es weißt“, unterbricht Ibiki ihn, dreht sich auf dem Absatz um und schließt die Tür hinter sich.



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