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Am Tag ist es leicht

von

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Offenbarung

In den nächsten Tagen herrscht Funkstille zwischen Vater und ihm. Vater hat auffallend viele „Dienstbesprechungen“, und Ibiki fragt nie nach, obwohl er ihm kein Wort glaubt. Etwa eine Woche später ist er abends allein zu Hause, als es an der Tür klingelt. Nichts Böses ahnend öffnet er und schnappt im nächsten Moment nach Luft.

„Ima!“

Sie kauerte auf der Fußmatte und hebt langsam den Kopf, als er vor ihr in die Hocke geht. Den rechten Arm hat sie an sich gepresst, der Verband darum ist schon völlig mit Blut durchtränkt. Teilweise sieht es noch frisch aus.

„Was um Hokages Willen machst du hier?“

„Wir sind fertig. Mit der Mission.“

„Ja, das dachte ich mir gleich, aber was machst du hier? Du bist verletzt! Du musst ins Krankenhaus!“

„Da will ich nicht hin“, erwidert Ima trotzig. „Da wird gestorben.“

„Wenn wir die Blutung nicht bald stoppen, verblutest du, Ima! Du brauchst sofort einen Arzt!“

Er will sie vom Boden hochziehen, aber sie streckt den gesunden Arm aus und krallt die Hand in seinen Pullover. Ihr Gesicht ist blass, Tränen stehen in ihren Augen.

„Bitte schick mich nicht weg, Ibiki. Ich will nicht ins Krankenhaus. Ich habe euch so vermisst.“

Ihre Stimme klingt erstickt. Ibiki ringt mit sich.

„Also schön. Komm mit ins Badezimmer, ich versuche, die Blutung zu stoppen. Aber wenn ich das nicht sehr bald schaffe, gehen wir beide ins Krankenhaus. In Ordnung?“

Sie zögert.

„Ich bleibe die ganze Zeit bei dir. Egal, was passiert.“

Er hält ihr die Hand hin, und sie ergreift sie mit der gesunden linken. Ihre Finger sind eiskalt und zittern, aber sie lächelt.

„Ich vertraue dir, Ibiki.“

„Das solltest du auch“, erwidert er schroff. „Ich bin dein großer Bruder. Und jetzt komm.“
 

Zu Ibikis eigener Überraschung schafft er es, die Blutung zu stoppen. Die Wunde wurde offenbar von einer großen Waffe verursacht, er fragt nicht nach. Trotz des tiefen Schnitts beschwert Ima sich mit keiner Silbe über Schmerzen. Nachdem Ibiki den Verband angelegt hat, trottet sie in ihr Zimmer, legt sich auf ihr Bett und sieht an die Decke.

„Wo ist Vater?“

„Er kommt bald nach Hause.“

„Ich habe euch vermisst“, murmelt Ima. „Vater und dich. Es tut mir leid, was ich gesagt habe, als ich gegangen bin. Wenn ich nicht wiedergekommen wäre ...“

Sie verstummt.

„Jetzt bist du ja wieder da“, sagt Ibiki.

„Aber diesmal war es knapp.“

„Grübele nicht darüber, Ima. Versuch lieber, zu schlafen. Wenn du möchtest, kann ich dich wecken, wenn Vater nach Hause kommt.“

„Mach das“, flüstert Ima und schließt die Augen. „Ich bin so müde.“

Er zieht die Decke über sie und betrachtet sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Nach der mehrtägigen Mission sind ihre Haare wirr und strähnig, ihr Gesicht ist blass, die Haut spannt sich über ihre Wangenknochen. Sie sollte dringend mehr essen, denkt Ibiki. Und mehr in die Sonne gehen, damit sie Farbe bekommt. Und mehr lächeln sollte sie.

Es ist Frieden, ruft er sich in Erinnerung. Es ist genau die richtige Zeit zum lächeln. Alles wird wieder gut.
 

„Ima ist wieder da“, sagt Ibiki, als Vater gegen halb neun die Tür öffnet, eine Papiertüte mit irgendwelchem Fertigessen in der Hand.

„Schon?“

„Ja.“

Vater zögert kurz. „Wie geht es ihr?“

„Sie schläft. Aber sie hat gesagt, sie möchte geweckt werden, wenn du wiederkommst. Sie hat dich vermisst.“

Er nickt und hält Ibiki die Tüte hin. „Bringst du das kurz in die Küche? Zur Not ist bestimmt auch genug für Ima da, wenn sie Hunger hat ...“

„Mache ich. Sie ist in ihrem Zimmer.“

Ibiki nimmt die Tüte entgegen und geht in die Küche. Er lässt sich Zeit damit, die Pappschachteln auszupacken und auf dem Tisch aufzureihen. So leise wie möglich schiebt er die Papiertüte in den Müll, seine Ohren lauschen auf jedes Geräusch aus Imas Zimmer. Er zuckt zusammen, als er sie aufschreien hört.

„Ima!“, erklingt Vaters alarmierte Stimme. „Was hast du denn?“

Ibiki rennt in Imas Zimmer. Sie sitzt aufrecht auf dem Bett, so weit wie möglich vor Vater zurückgewichen, und starrt ihn an, als sei er ein giftiges Tier.

„Ist ja gut, Ima“, sagt Vater, der Ibiki den Rücken zudreht. „Beruhige dich und ...“

„Du fasst mich nicht an!“, kreischt sie. „Spielst hier den liebenden Vater! Du hast mich immer verhätschelt, mir Geschenke gemacht, und ich habe es zugelassen. Meinst du, ich wüsste nicht, dass du gleichzeitig Ibiki wie Dreck behandelst? Meinst du, ich hätte nicht jedes Mal wach gelegen und gelauscht, wenn du ihn verprügelt hast? Ich wusste, dass deine Liebe zu mir nur deine Schuldgefühle waren, die du Ibiki gegenüber nicht zeigen konntest. Ich wusste es die ganze Zeit, und ich habe dich gehasst! Ich hasse dich immer noch! Du bist nicht mein Vater! Ich wünschte, du wärst tot!“

Bei ihren Worten ist Vater immer blasser geworden. Seine Lippen beben.

„Ima“, sagt Ibiki entschieden. „Es reicht.“

„Du hasst ihn doch auch! Sag ihm, dass du es tust!“

Ibiki tritt näher ans Bett und greift nach ihren dünnen Oberarmen. „Ich sagte, es reicht, Ima. Komm runter. Du hattest einen Albtraum, du bist völlig durcheinander. Schlaf eine Nacht darüber.“

Noch während er spricht, steht Vater auf und verlässt den Raum.

„Du hasst ihn doch auch“, fragt Ima trotzig. „Oder?“

„Er ist unser Vater.“

„Na und?“

„Er verdient das Geld, um uns zu ernähren“, sagt Ibiki pragmatisch. „Wir werden bei ihm bleiben, bis wir erwachsen sind.“

„Wir sind erwachsen“, erwidert Ima störrisch. „Wir haben beide schon getötet.“

Er muss lächeln. „Das ist es nicht, was es ausmacht, erwachsen zu sein.“

„Was dann? Einen Meter neunzig groß zu sein und grundlos seinen Sohn zu schlagen?“

Ibiki beißt sich auf die Lippe.

„Ja“, sagt Ima. „Ich habe es die ganze Zeit über gewusst.“

„Ich wollte nicht, dass du es erfährst“, murmelt er.

„Ich weiß. Deswegen habe ich dir nie gesagt, dass ich es wusste.“

„Du hast mich angelogen.“

„Du mich auch, Ibiki.“

Sie sehen einander an, und Ibiki muss einige Male tief durchatmen.

„Und dabei hast du gesagt, du hättest Vater so vermisst.“

„Habe ich ja auch ... solange er weit genug weg war. Aber jetzt, da ich ihn gesehen habe, ist mir wieder eingefallen, dass ich ihn eigentlich hasse.“ Ima hält kurz inne. „Ist das verrückt?“

„Die meisten Dinge sind aus der Ferne betrachtet hübscher als von Nahem.“

Wieder schweigen sie einander an.

„Was sollen wir jetzt tun, Ima?“

„Du bist der große Bruder, und du fragst mich?“

„Ja.“

Ima zieht die Schultern hoch. „Keine Ahnung“, erwidert sie gleichgültig. „Vielleicht weitermachen wie bisher. Vielleicht zur Polizei gehen und Vater wegen häuslicher Gewalt anzeigen. Macht doch sowieso keinen Unterschied.“

„Es macht keinen Unterschied?“, fragt Ibiki aufgebracht. „Warum sagst du so etwas, Ima? Früher wärst du nicht so lethargisch gewesen!“

„Ich habe gemerkt, dass irgendwie alles sinnlos ist“, murmelt Ima. „Kennst du das nicht auch? Solange man um sein Leben kämpft, ist man lebendig, und das ist gut. Aber wenn man nach Hause kommt, ist alles so steif und alt und langweilig.“

„Das ist Unsinn“, sagt er schroff.

„Ist es nicht. Du denkst genau wie ich, Ibiki. Du bist kein guter Lügner.“

Er spürt, wie er rot wird. Es war gelogen, und er hätte nie gedacht, dass Ima ihn so durchschaut.

„Also schön. Ich kenne dieses Gefühl. Alles wirkt langweilig, zu Hause. Aber es ist ein Trugschluss, weißt du? Im Kampf musst du schlitzen und stechen und Kehlen aufreißen, um zu überleben. Du redest dir ein, genau das wäre dein Leben, genau das würde dich glücklich machen, und am Ende macht es dich glücklich. Aber es ist nur ein Schutzmechanismus, um nicht durchzudrehen. Letztendlich ist es eine Lüge.“

„Dich macht es auch glücklich.“

„Du weißt gar nicht, wie sehr. Aber es ist und bleibt eine Lüge, Ima.“

„Und was macht mich in Wahrheit glücklich?“

„Na ... das Leben. Sonne und Vögel und Regen. Lachende Menschen. Gutes Essen. Solche Dinge machen glücklich.“

Imas Blick ist leer. „Wer sagt mir, dass nicht dieses Leben die Lüge ist?“

„Das ist Unsinn, Ima.“

„Wieso Unsinn? Du kannst Vögel und Sonne machen, und lachende Menschen. Alles mit Genjutsus. Sind das etwa keine Lügen, Ibiki?“

Er knirscht mit den Zähnen, aber ihm fällt nichts mehr zu sagen ein. „Du bist nicht mehr du selbst!“, spuckt er irgendwann aus.

„Nein“, antwortet sie teilnahmslos. „Ich bin nicht mehr ich selbst.“

Dann fängt sie an zu weinen, nicht lauthals, sondern leise in sich hinein. Es ist der Laut von purer Hoffnungslosigkeit, und Ibiki bricht es fast das Herz. Zaghaft streckt er den Arm nach ihr aus.

„Nicht weinen, Ima. Es wird alles gut.“

Müde hebt sie den Kopf und sieht ihn an, Tränen in den Augen.

„Es wird niemals alles gut, Ibiki.“



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