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Vergeltung

Version II
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Entschlossenheit

London, England (2012):
 

Alec wich einen Schritt zurück, als sich Oscar ihm langsam näherte, und hob beschwichtigend die Hände. „Nur nicht so eilig, du Narr“, sagte er, zu seinem eigenen Erstaunen in einem leicht zittrigen Tonfall. „Streng doch dein Hirn an. Erkennst du mich denn wirklich nicht?“

Oscars Blick schien direkt durch ihn hindurchzugehen. Seine leeren Augen zeigten nicht im Geringsten, ob Alecs Worte irgendwie zu ihm durchgedrungen waren. Er wirkte wie eine willenlose Puppe.

Alec spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. Was hatte Seth nur mit ihm gemacht? Hatte er etwa vollkommen Oscars Geist ausgelöscht und lediglich eine Hülle zurückgelassen, die man bedienen konnte wie eine Marionette?

Alec schüttelte bei diesem Gedanken energisch den Kopf. Zugegeben, Seth schien momentan die völlige Kontrolle über Oscar zu haben, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sein alter Freund und Bruder endgültig verschwunden war. Seth besaß vielleicht bisher ungeahnte Kräfte, aber niemals war es ihm möglich, derart schnell einen Sa’onti auszuschalten.

Zumindest hoffte Alec dies.
 

„Wach endlich auf, du Volltrottel!“, warf er Oscar entgegen. „Lässt du dich wirklich von so einem kümmerlichen und manisch depressiven Magier kontrollieren? Wo ist deine gottverdammte Ehre geblieben?“

Alec glaubte, in Oscars Augen kurz ein Funkeln gesehen zu haben, doch er erhielt keine Zeit, dies näher zu analysieren. Der ferngesteuerte Vampir holte bereits zum Schlag aus und Alec ging rasch in die Knie, um diesen zu entgehen. Somit traf Oscar stattdessen die Wand hinter ihm und hinterließ dort ein großes Loch, als er mit Leichtigkeit durch den Stein drang. Staub und Mörtel rieselte auf Alec hinab, der im nächsten Augenblick hastig zur Seite auswich, um dem Tritt Oscars zu entkommen. Auch dieser traf nicht das gewünschte Ziel.

Oscar war schon immer ein gradliniger und zerstörerischer Typ gewesen, während Alec stets auf seine Schnelligkeit gesetzt hatte. Auf diese Weise war er Oscar zumindest immer entwischt, wenn dieser mal wieder vorgehabt hatte, ihn aus irgendeinem banalen Grund zu erwürgen.

Alec kaute unruhig auf seiner Unterlippe, während er dabei zusah, wie sich Oscar ihm wieder zuwandte. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Mit solch einer Situation hatte er einfach nicht gerechnet. Oscar umzubringen kam selbstverständlich überhaupt nicht in Frage. Ihn in seine Schranken zu weisen schon eher, aber das würde sich wahrscheinlich als sehr schwierig erweisen, vielleicht sogar als unmöglich. Wenn Oscar erst einmal in Fahrt war, konnte nichts ihn aufhalten – außer dem Tod selbst.

Und diesen Schritt war Alec keinesfalls bereit zu gehen, um sein eigenes Leben zu retten. Lieber ließ er sich hier und jetzt töten, als Oscar irgendetwas anzutun.
 

Alec warf einen Blick zur Seite. Dort stand Seth, triumphierend lächelnd und ganz offensichtlich der Ansicht, dass er schon längst gewonnen hätte. Mit seinen Fingern vollführte er immer noch eigenartige Bewegungen, die in der Tat den Anschein erweckten, als würde ein Puppenspieler seine Marionette lenken.

Alec verengte seine Augen zu Schlitzen. Nicht Oscar war es, auf den er seine Energien konzentrieren musste, sondern Seth! Er hatte das ganze Chaos zu verantworten und nur wenn er aus dem Spiel ausschied, konnten sich die Verhältnisse wieder normalisieren.

Der Vampir verlor keine Zeit. Hastig einem weiteren Schlag von Oscar ausweichend wirbelte er herum und stürmte direkt auf Seth zu. Er ließ sich weder von dem aufbrüllenden Oscar noch von der Schwadron anrückender Jäger, die entgeistert die Szene vor sich betrachteten, ablenken. Immer sein Ziel vor Augen.

Und obwohl Seth trotz des Angriffs seinen unbekümmerten Eindruck beibehielt, verspürte Alec doch seine aufsteigende Unsicherheit. Er wich sogar unwillkürlich einen Schritt zurück.

Der Sa’onti setzte ein Lächeln auf. Offenbar musste Seth all seine Kraft auf Oscar richten, um ihn zu kontrollieren, und hatte somit keine Reserven mehr, um sich anderweitig zu verteidigen. Zumindest war weder ein Anzeichen des von Seth so geliebten Feuers noch andere magische Aktivität zu spüren.

Er hatte nur Oscar … und dieser war, obwohl mächtig, trotzdem eine Spur langsamer als Alec.
 

„Lass es lieber sein!“, stieß Seth hervor, gerade als Alec kurz davor stand, seine Hände um dessen Hals zu legen. „Du wirst deinen Freund damit nur töten.“

Alec hielt in der Bewegung inne, leise fluchend. „Was willst du damit sagen?“

„Wenn du den Kontakt zwischen mir und Oscar so abrupt abbrichst, wird das seinen Geist vollends vernichten.“ Seths breites Lächeln wirkte teuflischer als das so manches Dämons. „Also solltest du deine Finger lieber bei dir behalten, wenn du seinen Tod nicht verantworten willst.“

Alecs Knöchel knackten hörbar, als er seine Hand zur Faust ballte. „Bastard!“

Für weitere Beleidigungen hatte er keine Zeit mehr, denn er spürte, wie Oscar sich ihm blitzschnell näherte. Alec hatte durch die kurze Ablenkung keine Gelegenheit, dem Angriff auszuweichen. Somit stellte er sich dem heransausenden Vampir entgegen und versuchte, ihn so gut es ging abzublocken. Oscar hatte aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit eine enorme Kraft, als er Alec seine Faust in die Magengrube graben wollte. Dieser konnte zwar Oscars Arm noch rechtzeitig abwehren, musste sich dann aber damit abfinden, dass der ferngesteuerte Sa’onti, wie es nun mal seine Art war, nicht stehenblieb, sondern Alec mit voller Breitseite rammte.

Alec wurde von den Füßen gerissen und wäre wahrscheinlich mit einem großen Aufprall gegen die Steinwand hinter sich geschmettert, hätte er sich nicht noch frühzeitig gefangen und seinen unfreiwilligen Flug abgebremst. Er schlitterte über den Boden, ehe er kurz vor der Mauer zum Stehen kam.
 

Alecs Hand wanderte zu seiner Schulter, die Seth vorhin arg in Mitleidenschaft gezogen hatte. Zwar war der gebrochene Knochen innerhalb kürzester Zeit wieder geheilt gewesen, aber dennoch hatten seine Regenerationskräfte noch keine Möglichkeit gehabt, die Verletzung komplett zu beheben. Und so wie es den Anschein machte, würde sich diese Gelegenheit in nächster Zeit auch nicht unbedingt ergeben.

Ebenso die Brandverletzung, die Seth ihm zugefügt hatte, machte ihm zu schaffen. Sie prickelte, als würden tausend Nadeln tief in seiner Haut stecken, und machte es dem Vampir somit zusätzlich schwer, sich richtig zu konzentrieren.

Alec knirschte mit den Zähnen. Seine Chancen sahen nicht allzu gut aus. Oscar – oder besser gesagt: sein manipulierter Geist – war wild entschlossen, ihn zu töten, während Alec selbst kaum eine andere Wahl blieb, als seinen Angriffen aus dem Weg zu gehen. Jede Konfrontation hätte tödliche Folgen für sie beide haben können.

Und Seth war, solange er Oscar kontrollierte, unantastbar. Zumindest hatte keine Lüge in seiner Stimme gelegen, als er behauptet hatte, dass sein Tod auch Oscars nach sich ziehen würde.

Alec saß in der Falle. Und da er das Ableben seines Bruders nicht verantworten wollte, konnte er sich auch nicht ohne weiteres daraus lösen.

 
 

*  *  *  *  *  *  *
 

 

Sie bewegten sich unglaublich schnell. Jenseits dessen, was ein menschliches Auge wahrzunehmen vermochte.

Alec und Oscar waren kaum mehr als verschwommene Schemen. Wie dunkle Schatten, die man kurz aus den Augenwinkeln bemerkte und bei denen man sich nicht sicher war, ob man sie nun wirklich gesehen oder ob es sich doch nur um Einbildung gehandelt hatte.

Einzig Oscar war ein wenig besser zu erkennen, da noch immer das weiße Pulver an ihm klebte. Aber bei der unmenschlichen Geschwindigkeit, die er an den Tag legte, konnte man seinen Bewegungen trotzdem nur noch schwer bis gar nicht folgen.

Eve lief ein jäher Schauer über den Rücken, als sie ihren Blick auf Seth richtete. Fasziniert sah er aus, während er lächelnd den Kampf der Vampire beobachtete, dem Eve nicht folgen konnte. Er schien jede Bewegung erkennen zu können, seine Augen zuckten in einer unglaublichen Geschwindigkeit hin und her.

Eve wusste nicht, was sie als nächstes tun sollte. Sie spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Hand, gleichzeitig mit der bitteren Erkenntnis, dass sie ihr in dieser speziellen Situation wohl kaum vom Nutzen würde sein können. Die Sa’onti zu töten wäre reiner Wahnsinn gewesen, da man damit automatisch den unendlichen Groll der verbleibenden Sieben auf sich gezogen hätte. Und sich gegen Seth zu wenden, erschien auch keine gute Idee, weil man somit auch – zumindest nach der eben getätigten Aussage Seths – Oscar geschadet hätte.

Konnte sie nichts weiter tun, als hier herumzustehen und darauf zu warten, dass sich die Situation entschied? Waren ihr wirklich die Hände gebunden?
 

„Was sollen wir nur tun?“, vernahm sie Richards Stimme neben sich. Eve spürte, wie er ihre Hand ergriff, offenbar trotz der verfahrenen Lage mehr als froh, sie wieder an seiner Seite zu wissen.

„Ich weiß nicht“, flüsterte Eve. Ihr Blick wanderte zu den anderen Jägern, die das Schauspiel aus sicherer Entfernung verfolgten und ebenfalls nicht zu wissen schienen, wie sie sich verhalten sollten. Etwas Vergleichbares hatte noch niemand von ihnen je erlebt.

Unvermittelt vernahm Eve, wie Richard seine Waffe entsicherte. Sie drehte sich zu ihm hin und fragte verwirrt: „Was hast du vor?“

„Ist nicht alles, was wir brauchen, eine Ablenkung?“ Seine Augen ruhten auf Seth. „Sieh nur, wie fixiert er ist. Ich vermute, er muss sich ziemlich konzentrieren, um Oscar kontrollieren zu können. Wenn wir Seth nun ins Bein schießen …“

Keine schlechte Idee, wie Eve fand. Aber trotzdem viel zu riskant. „Vielleicht schadest du Oscar dadurch dennoch“, entgegnete sie. „Und ich will ehrlich gesagt nicht den Hass von Asrim und den anderen Sieben auf mich ziehen.“
 

Richard seufzte. „Und was schlägst du dann vor? Sollen wir einfach zusehen, wie die beiden sich gegenseitig umbringen?“ Er verstummte kurz und meinte dann nachdenklich: „Na ja, das wäre vielleicht gar nicht mal so übel. Zwei Vampire weniger auf der Welt und man könnte nicht uns für ihren Tod verantwortlich machen.“

Eve verstand selbst nicht genau, warum, aber sie verspürte einen unterschwelligen Widerwillen, als sie Richards Worte hörte. Normalerweise hätte sie einfach zugestimmt und den Dingen ihren Lauf gelassen, doch nun hatte sie Zweifel. Sie gab es zwar ungern zu, als sie wollte nicht, dass die beiden Sa’onti starben. Sie musste an Oscars Liebe für Hunde denken und an seine entglittenen Gesichtszüge, als Larva die Gestalt seines längst verstorbenen Bruders angenommen hatte. Ebenso entsann sie sich an das Gespräch mit Alec über seine Vergangenheit und an sein schelmisches Lausbubengrinsen.

Sie war zwar noch weit davon entfernt zu behaupten, dass sie die beiden mochte, aber es war dennoch so etwas wie Sympathie vorhanden. Zumindest genug, um ihnen keinen grausamen Tod zu wünschen.
 

Ohne groß darüber nachzudenken, setzte sie sich in Bewegung und trat auf Seth zu. Sie hörte Richard hinter sich schockiert protestieren, aber darum kümmerte sie sich nicht. Ihr Blick war einzig und allein auf Seth gerichtet, der nun auch seine Aufmerksamkeit ihr zuwandte.

„Warum tust du das?“, wollte Eve wissen. „Was haben sie dir getan, dass sie solch ein Schicksal verdient haben?“

Seth lächelte traurig, während er ohne Unterlass seine Finger bewegte. „Sie haben es dir nicht erzählt, nicht wahr? Kein großes Wunder. Würdest du es wissen, würdest du mich anfeuern, anstatt mich mit diesem vorwurfsvollen Blick anzusehen.“

Eve schaute kurz zur Seite, als ein Schatten knapp an ihr vorbeirauschte. Sie glaubte, Alec erkannt zu haben, aber hundertprozentig sicher war sie sich nicht.

„Alec und Oscar haben sicher viele schreckliche Dinge in ihrem Leben getan“, versuchte Eve es erneut. „Aber warum hasst du sie so sehr, dass du sie dermaßen leiden lässt?“

Seths Miene wirkte mit einem mal extrem leidlich, sodass in Eve unfreiwillig Mitleid aufwallte. „Sie haben sie umgebracht!“
 

Eve wusste zwar nicht, von wem er sprach, aber offenbar hatte ihm dieser spezielle Jemand eine Menge bedeutet. Trauer über den Verlust und auch Hass für die Mörder blitzten in seinen Augen auf.

„Alec und Oscar?“, hakte Eve nach.

Sie alle!“, meinte Seth zischend. „Alec, Oscar, Asrim, Sharif … sie alle sind daran schuld! Sie alle haben es zu verantworten!“

Bevor Eve näher darauf eingehen konnte, ließ ein lauter Knall sie zusammenfahren. Als sie herumwirbelte, bemerkte sie, dass eine Vase, die in der Bibliothek auf einem Tischchen gestanden hatte, zu Bruch gegangen war. Offenbar waren die Vampire daran gestoßen, auch wenn zuvor keiner von ihnen wirklich zu erkennen gewesen war.

„Tut mir leid“, sagte Seth daraufhin. „Die zwei nehmen wirklich keinerlei Rücksicht auf ihre Umgebung. Wäre es dir lieber, wenn sie ihre kleine Auseinandersetzung draußen fortführen würden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er: „Hey, Oscar! Kämpft draußen weiter!“
 

Bei diesen Worten trat Oscar aus dem Schatten. Sein leerer Blick starrte ins Nichts und ließ Eve unwillkürlich frösteln. Mit seiner Hand hielt er Alecs Unterarm umklammert. Offenbar war es ihm irgendwie gelungen, den verletzten Arm seines Gegners zu fassen zu kriegen und ihn somit aus dem Konzept zu bringen. Eve konnte Alec zwar nicht genau sehen, da er zum Teil noch in der Dunkelheit versunken war, aber das kurze schmerzvolle Stöhnen sprach Bände.

Oscar scherte sich nicht großartig darum. Er nickte Seth kurz zu – wohl um deutlich zu machen, dass er seinen Befehl verstanden hatte –, wirbelte blitzschnell herum und schleuderte Alec von sich fort. Bereits im nächsten Augenblick war ein lautes Rumpeln und Poltern zu hören, als der Vampir quer durch die dicke Wand krachte und draußen auf dem Grundstück landete.

Eve starrte entsetzt auf das große Loch in der Mauer und selbst Seth wirkte überrascht. „Oh“, sagte er. „So hatte ich das eigentlich nicht gemeint.“

Oscar kümmerte sich nicht weiter um die geschockten Gesichter der Anwesenden. Unbekümmert trat er hinaus in den Garten und blinzelte einmal kurz in die hell strahlende Sonne. Für einen Augenblick geblendet nutzte der am Boden liegende Alec die Gelegenheit, wieder in die Schatten zu tauchen, eine Sekunde später gefolgt von Oscar.
 

„Er hat einfach ein Loch in die Wand geschlagen“, hörte Eve Avery hinter sich entgeistert murmeln. Auch die anderen Jäger blinzelten ungläubig, schienen es nicht fassen zu können.

Seth jedoch schien es nicht sonderlich zu stören, dass er den altehrwürdigen Sitz der Dämonenjäger beschädigt hatte. Er lächelte bloß amüsiert und meinte, gespielt entschuldigend: „Tja, so ist das leider mit willenlosen Puppen. Sie haben nicht besonders viel Grips und nehmen Befehle zum großen Teil sehr wörtlich. Ich hätte vielleicht erwähnen sollen, dass er durch die Tür zu gehen hat, dann hätte er euch sicher keinen zweiten Ausgang beschert.“ Er zuckte bloß mit den Schultern. „Na ja, ihr könnt dort ja jetzt ein schönes Fenster einbauen.“

Ohne weitere Worte zu verlieren stieg er durch das Loch, den beiden Vampiren hinterher. Nach einem kurzen Blick auf Richard, der eindringlich den Kopf schüttelte und sie ganz offensichtlich zum Bleiben bewegen wollte, folgte auch Eve, entgegen Richards inständiger Bitte, Seths Beispiel und kletterte in den Garten.
 

Hier nun, so bemerkte sie, waren die Vampire ein wenig besser zu erkennen. Im Gegenteil zur doch recht dunklen Bibliothek, wo sich die Sa’onti zwanglos in der Dunkelheit hatten bewegen können, war nun draußen der Großteil in Sonnenlicht getaucht. Regelmäßig sah man die Vampire kurz aus den Augenwinkeln. Immer noch übernatürlich schnellen Windböen gleich, aber trotzdem waren sie ein wenig deutlicher auszumachen.

„Wen haben sie umgebracht?“, nahm Eve den Gesprächsfaden wieder auf. Erneut trat sie nahe an Seth heran. „Deine Mutter, deine Frau, deine Geliebte? Wen denn?“

„Sie haben meine Welt getötet“, sagte er bloß. Seine Stimme klang merkwürdig brüchig. Offenbar schmerzte es ihn, über das Thema zu reden, auch wenn es gleichzeitig sein wichtigster Antrieb zu sein schien.

Eve runzelte die Stirn. Wieso nur musste diese ganze Gemeinschaft so dermaßen wortkarg sein? Sie wollte nichts mehr als eine kurze, klare Antwort. War das wirklich zu viel verlangt?
 

Seth starrte sie noch einen Augenblick mit traurigen Augen an, ehe er sich wieder dem Spitzengeschwindigkeitskampf zuwandte. Eve bemerkte, dass ihm einige Schweißperlen die Stirn herunter rannen und er allgemein betrachtet einen etwas schwächlicheren Eindruck erweckte als noch vor fünf Minuten. Sein Gesicht wurde zusehends blasser, die Fingerfiguren schienen immer mehr Kraft zu erfordern.

Offenbar kostete es eine Menge Energie, den Geist eines anderen zu beherrschen. Außerdem handelte es sich gleichzeitig nicht um irgendwen, sondern um einen fast dreitausend Jahre alten Vampir, der unter anderem spielend leicht eine dicke Steinmauer zertrümmern konnte. Kein Wunder, dass Seth allmählich müde wurde.

„Du solltest es aufgeben“, riet Eve ihm. „Die beiden können noch Ewigkeiten so weiterkämpfen, bis du irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrichst.“

„Da irrst du, Schatz“, erwiderte Seth. „Oscar hat etwas, was Alec fehlt.“

„Und das wäre?“

Entschlossenheit!“ Seths Miene wurde hart. „Alec weicht nur aus und hat Angst davor, seinen Bruder zu verletzen. Aber Oscar nimmt keinerlei Rücksicht, wie du ja vielleicht schon bemerkt haben dürftest. Und das wird ihm letztlich den Sieg bringen.“
 

Langsam verlor Eve wirklich ihr letztes bisschen Geduld. Sie verspürte wenig Lust, darauf zu warten, bis die beiden Vampire sich gegenseitig niedergemetzelt hatten. So ein Schicksal hatten sie trotz ihrer zahllosen Verbrechen sicher nicht verdient.

Niemand hatte solch ein Schicksal verdient.

Somit entschloss sich Eve, zu handeln. Sie riss ihre Waffe hoch und richtete sie direkt auf Seth. „Hör endlich auf mit deinem sadistischen, kleinen Spielchen! Lass Oscar frei und verschwinde einfach von hier, das wäre das Beste für uns alle und ganz besonders für dich. Mein Gott, weißt du denn nicht, was du anrichtest, wenn du nur einen der Sieben töten würdest? Nicht nur die Vampire würden dich bis an dein Lebensende jagen. Du würdest existieren mit der schrecklichen Gewissheit, dass du jeden Moment einen grausamen Tod sterben könntest. Ist es wirklich das, was du willst?“

Seth schaute ihr tief in die Augen. „Machst du dir etwa Sorgen um mich, Liebes?“

Eve knirschte mit den Zähnen. Langsam hatte sie es satt, dass ihr alle irgendwelche Kosenamen gaben. „Ich mache mir ganz sicher keine Sorgen um dich! Es geht mir nur um das Gleichgewicht. Wenn du einen der Sieben tötest, stellst du alles auf den Kopf. Ich fürchte mich schon davor, mir überhaupt vorzustellen, was dann passieren wird.“

Seth seufzte schwer. „Dann tut es mir wirklich leid, dass ich dir Angst bereiten muss.“
 

Er hob plötzlich seine Hand und vollführte damit eine kurze Bewegung. Eve spürte, wie sie im selben Moment jegliche Kontrolle über sich selbst verlor. Anstatt ihre Waffe weiterhin auf Seth zu richten, wurde ihr Arm nach links gerissen und zielte somit mitten ins Herz des Gartens.

Und dann löste sich ein Schuss.

Eve fuhr bei dem unerwarteten Knall zusammen. Ihr Finger hatte gezuckt, bevor sie es überhaupt registriert hatte, und den Abzug betätigt. Die Kugel zischte blitzschnell davon.

Und bereits im nächsten Augenblick war ein schmerzvolles Stöhnen zu hören.

Einer der Vampir tauchte aus den Schatten hervor. Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen taumelte er nach hinten, die Hand auf seine Brust gepresst, aus der ein großer Schwall Blut hervor floss. Entsetzt starte er zu Eve hinüber, die noch immer die Waffe auf ihn gerichtet hatte.

Eve ließ vor Schreck die Pistole fallen. Sie schaute kurz zum breit grinsenden Seth, ehe sie sich wieder dem blutenden Alec zuwandte. Dieser war bereits ächzend auf die Knie gesunken, nach Luft schnappend wie ein Fisch an Land.

Eve konnte es einfach nicht fassen. Niemals im Leben wäre es ihr möglich gewesen, einen Vampir zu treffen, der sich außerhalb ihrer Sphäre bewegte. Die Chancen standen gleich null. Aber Seth war es offenbar gelungen, die Grenze zu überschreiten und die Kugel direkt in Alecs Brust eindringen zu lassen.

Auch Oscar kam nun aus der Dunkelheit hervor. Seine wie tot wirkenden Augen waren auf dem am Boden kauernden Alec gerichtet.

Er hatte nun jede Gelegenheit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.

 
 

*  *  *  *  *  *  *  *
 

 

Eve hatte ihm damals in ihrer Wohnung erzählt, dass die speziell angefertigte Munition der Jäger einem Vampir höllische Schmerzen bereiten würde. Alec hatte geglaubt, dass sie bloß übertreiben würde, aber sie hatte tatsächlich die Wahrheit gesprochen.

Es tat wirklich unbeschreiblich weh.

Zwar nicht zu vergleichen mit den Qualen, die Seth ihm bei dem brennenden Lagerhaus zugefügt hatte, aber dennoch schlimm genug, um ihn völlig aus der Bahn zu werfen. Ein inneres Feuer schien sich in seiner Brust auszubreiten, nicht mal mehr klar denken konnte er. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien und wäre in den nächsten kalten See gesprungen, um die quälende Glut in seinem Inneren zu löschen.

Die Menschen hatten im Laufe der Zeit wahrlich wirksame Waffen erschaffen.

Alec konnte nicht umhin, trotz alledem beeindruckt zu sein. Dass es ausgerechnet die Kugel einer Jägerin sein würde, die ihm den Tod bringen würde, hatte er nun wirklich nicht gedacht.
 

Als Oscar direkt vor ihm auftauchte, wusste Alec, dass es vorbei war. Mit dieser Wunde war er nicht mehr imstande, seinen Vorteil gegenüber Oscar, seine Schnelligkeit, weiterhin auszunutzen. Auch ein Gegenangriff kam nicht in Frage. Alec spürte, wie er mit jedem verlorenem Tropfen Blut immer schwächer wurde.

Die Kugel hatte direkt sein Herz getroffen. Ein perfekter Schuss, um einen Vampir das zu nehmen, was ihn am leben hielt: Blut. Seth war nun wirklich kein Narr, er wusste ganz genau, wie er ihnen am meisten schaden konnte.

„Tut mir … leid, Oscar, … dass ich dich … immer so … genervt habe“, brachte Alec mühevoll hervor. „Ich hoffe, … du vergibst mir.“

Oscar zeigte keinerlei Reaktion. Stattdessen stürzte er sich mit einer übernatürlichen Geschwindigkeit, mit der Alec nicht mehr mithalten konnte, auf den geschwächten Vampir. Alec versuchte zwar noch ein letztes Ausweichmanöver, aber er war nun einfach zu langsam.

Alec spürte nur noch, wie Oscar seine Hände, schärfer als die schärfsten Messer, in seinen Brustkorb rammte. Mit einem Mal waren die von der Kugel verursachten Schmerzen vergessen und machten weitaus größeren Qualen Platz. Alec entwich ein letztes Aufstöhnen, bevor sich seine Lungen mit Blut füllten. Seine Knochen knackten, das Brustbein gab schließlich unter der Belastung völlig nach. Der Geruch seines eigenen Blutes stieg Alec demonstrativ in die Nase.

So also fühlte sich der Tod an.
 

Alec merkte bereits, wie seine Sicht verschwamm. Seine Sinne gaben dem Dienst auf, selbst die Schmerzen wurden mit einem Mal weniger und machten einer noch erschreckenderen Lähmung Platz. Innerhalb eines Sekundenbruchteils spürte er plötzlich so gut wie gar nichts mehr.

Dennoch konnte sich Alec eines schwachen Lächelns nicht erwehren, als er in Oscars Augen sah. Zuvor noch leer wie eine tiefe, dunkle Schlucht, zeigte sich nun ein Funkeln. Es kam wieder Leben in seinen Blick, als er erkannte, was er getan hatte. Entsetzen zeichnete sich auf seiner Miene ab.

Entsetzen … etwas Vergleichbares hatte Alec bei seinem langjährigen Freund nur extrem selten gesehen. Unter anderen Umständen hätte es ihn geängstigt oder auch amüsiert, nun aber war er bloß froh. Froh darüber, dass Seth offenbar die Kontrolle verloren hatte.

Wenigstens ein kleiner Sieg, den sie errungen hatten.

Es war der letzte Gedanke, der durch seinen Kopf schoss, bevor es um ihn herum finster wurde.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
An alle, die die erste Version nicht kennen: Sorry für den Cliffhanger ;p Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2014-09-25T10:16:15+00:00 25.09.2014 12:16
Das ist so grausam... so grausam...
Ich gehöre doch zu denen, die vorher nicht wirklich gelesen haben. Das ist so gemein, aber ich habe immerhin den Vorteil, dass ich einfach weiterlesen kann. Hehe... vorausgesetzt natürlich, dass es in den anderen Kapiteln nochmal aufgegriffen wird. Erschreckenderweise sind es ja nur noch zwei, wenn ich mich richtig erinnere und die Titel lassen nicht wirklich erahnen, ob ich noch erfahren werde, ob Alec es packt.
Tja... das haste nun davon.
Ich muss weiter lesen und kann mich nicht auf den Kommi konzentrieren, deswegen wird er so klein und gewöhnlich wie selten.
Na... ein bisschen kommt schon noch. Der Kampf an sich z.B. war verdammt gut beschrieben. Und wie du Eves Sicht ganz geschickt eingebaut hast. Klasse. Dass sie es tatsächlich geschafft hat, Shadyn ein paar Infos zu entlocken, ist toll, auch wenn es natürlich noch nicht wirklich befriedigend ist. Aber zu behaupten, dass die eigene Welt von jemandem zerstört wurde... nun... ich nehme an, das kann man nicht mehr steigern. Was hat Asrim da nur angestellt... meine Güte...
Diese FF macht mich fertig...
Hatte ich das schon erwähnt.
Und dieses Fertigmachen gepaart mit der Sucht... ganz miese Kombination.
Von:  SamAzo
2014-09-18T20:36:33+00:00 18.09.2014 22:36
Mah, da brauch ich so lange um einen Kommentar zu schreiben und bin noch immer der einzige?
Kann ja wohl nicht sein... wo sind die denn alle?

Ach Alec... [*spoilerverhinderndes biepen*] und wenn dann [*fahrstuhlmusik einspiel*]...
Hatteste da dran dann auch was dran geändert?
[xD Das is jetzt sicher total einfach zu beantworten.]
Antwort von:  Nochnoi
19.09.2014 17:31
Die warten alle auf dich! Als offiziell gewählte und gekrönte Königin hast du bei allem den Vortritt xDD
Hast du das Memo etwa nicht gekriegt?

Ob ich an dem Kapitel was geändert habe? Nö, ich glaub, abgesehen von ein paar Wörtern und Formulierungen kein einziges Stückchen ;p
Antwort von:  SamAzo
19.09.2014 21:25
xD
Nein, das ist nicht bei mir angekommen.

Eigentlich meine ich bereits das Kapitel, das nach diesem Kapitel hier kommen müsste - also um den "Klippenhänger" aufzulösen. (Aber da denk ich zuweit, ich weiß xD)
Antwort von:  Nochnoi
19.09.2014 21:34
Ach, du meinst das übernächste Kapitel ;p Also ein bisschen was umgeschrieben ist schon, aber die Grundprämisse (schweres Wort - wird das so überhaupt geschrieben?) ist immer noch dieselbe ^^


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