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Das magische Zimmer

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Das magische Zimmer

Ivan hat ein Geschenk dabei, als er an diesem Tag die Treppe hinauf steigt. Es ist ziemlich klein und leicht, dafür, dass es seinem Empfänger eine unglaubliche Freude machen wird. Jedenfalls hofft Ivan das.

Er klopft an die Tür, erhält aber keine Antwort. Entweder schläft Gilbert (es ist zwar mitten am Tag, aber bei ihm kann man nie wissen), oder er schmollt noch. Wahrscheinlich ist es letzteres, denkt Ivan mit einem traurigen Lächeln. Man kennt das ja schon.

„Gilbert?“

Noch immer gibt niemand eine Antwort. Ivan öffnet die Tür und betritt das kleine Zimmer unter dem Dach. Sein Haus ist so groß, dass es mehr Räume hat, als er sinnvoll füllen könnte. Bisher hat er es immer für Verschwendung gehalten, dieses spezielle Zimmer ungenutzt zu lassen. Für eine Abstellkammer ist es viel zu schade. Es ist klein und schlicht, aber es hat etwas. Eine Art von Magie, denkt Ivan. Jetzt hat das magische Zimmer also einen Bewohner und muss nicht mehr leer stehen. Wie schön.

„Verpiss dich, Braginsky.“

Ja, Ivan ist froh, dass jetzt jemand hier wohnt.

„Guten Tag, Gilbert. Ich hoffe, ich störe dich nicht.“

„Wobei solltest du mich stören?“, faucht Gilbert. „Beim stumpf-die-Wand-anstarren? Ist ja nicht so, dass ich hier irgendetwas zu tun hätte.“

„Wenn du nicht immer weglaufen würdest, müsstest du nicht hier drinnen bleiben und könntest im Haus irgendetwas Sinnvolles tun.“

„Leck mich“, knurrt Gilbert. „Oder noch besser, nimm mir das hier ab.“

Er schiebt zwei Finger unter den Ring an seinem Fußgelenk, der mit einer Kette an einem der Bettpfosten befestigt ist.

„Lieber nicht. Ich will nicht, dass du noch einmal versuchst, dich umzubringen.“

„Ich wollte mich nicht umbringen, ich wollte verschwinden!“

„Du hättest sterben können“, beharrt Ivan ernst. „Da gebe ich dir das Zimmer unter dem Dach mit dem kleinsten Fenster, damit du bloß nicht hinaus springst, und du versuchst es trotzdem.“

„Ich hätte das überlebt“, sagt Gilbert wütend. „Ich wäre hier rausgekommen. Und sobald sich die Gelegenheit ergibt, versuche ich es noch einmal.“

Ivan seufzt tief. „Wieso bist du nur so starrhalsig?“

„Weil das Bett scheiße-unbequem ist“, antwortet Gilbert und legt den Kopf in den Nacken. Seine Knochen knacken. „Wenn du nicht vorhast, mich loszumachen, schlage ich vor, du verziehst dich wieder. Es wird kalt hier drinnen.“

„Oh, zieht es? Verzeihung“, sagt Ivan und schließt die Tür.

„Es würde mehr bringen, wenn du die Tür von außen schließen würdest.“

„Aber ich habe etwas für dich.“

„Was?“, fragt Gilbert misstrauisch. „Ich will es nicht.“

„Du weißt doch noch gar nicht, was es ist. Es wird dir gefallen.“

„Ich sagte doch, ich will ... Was ist das?“

„Ein Brief“, antwortet Ivan geduldig.

„Dass es ein Brief ist, sehe ich! Was steht drin?“

„Die einfachste Art, das herauszufinden, ist, ihn zu entfalten und zu lesen. Muss ich dir denn alles vorkauen?“

„Was soll schon drin stehen?“, fragt Gilbert schlecht gelaunt, schnappt sich aber den Brief. „Von wem ist er?“

„Von mir.“

„Auch das noch. Wer das liest, ist doof?“

Ivan gluckst in sich hinein. „Diesmal nicht.“

Stirnrunzelnd beginnt Gilbert, zu lesen. Je weiter er kommt, desto größer werden seine Augen. Ivan wartet schweigend, bis er fertig ist. Er weiß nicht recht, ob er sich freuen soll.

„Was ist das?“, flüstert Gilbert.

„Ein Angebot an Ludwig, ihr beide könntet euch wieder zusammentun.“

„Wie ... zusammentun?“

„Ihr sollt beide in einem eigenen Haus zusammen ziehen.“

„Wieso zum Teufel solltest du das vorschlagen?“, fragt Gilbert fassungslos. „Doch wohl nicht, um mir einen Gefallen zu tun.“

„Es behagt mir überhaupt nicht, dass Ludwig in letzter Zeit so auf Schmusekurs mit Alfred geht.“ Ivan sieht aus dem Fenster. „Er ist schon seit ein paar Monaten in Übersee, angeblich zur Erholung. Ich weiß nicht, ob er zurückkommen wird. Also werde ich ihm einen Anreiz geben, zurückzukommen.“

Gilbert lacht kurz auf. „Einfach so? Ohne irgendwelche Bedingungen für deine grenzenlose Güte?“

„Natürlich nicht. Ihr werdet euch verpflichten müssen, in der Auseinandersetzung zwischen Alfred und mir absolut neutral zu bleiben. Unter anderem.“

Gilbert schüttelt den Kopf, anscheinend noch immer nicht sicher, was er davon halten soll. „Ich weiß“, sagt er plötzlich und grinst breit. „Du willst, dass wir auf das Angebot eingehen und uns wegen unserer Neutralität mit Alfred überwerfen, sodass wir letztendlich komplett isoliert dastehen und du uns beide in der Hand hast. Raffiniert, Braginsky. Hätte ich dir überhaupt nicht zugetraut.“

„Wieso interessieren dich meine Gründe?“, fragt Ivan leise. „Ich dachte, du würdest dich freuen.“

„Ich freue mich nicht, bevor ich nicht wieder mit West zu Hause sitzen und Bier trinken kann.“

Ivan zuckt die Achseln. „Wie du meinst. Ich habe diesen Brief an Ludwig geschickt. Sobald er antwortet, sage ich dir Bescheid, wie er sich entscheidet.“

Gilbert verengt die Augen zu Schlitzen. „Wenn du diesen Brief abschickst und es nicht nur ein blöder Streich ist, um mich zu ärgern, dann weiß ich, wie West sich entscheiden wird. Es gibt nichts, was ihm wichtiger ist als ich. Nichts in der Welt.“

„Das hoffe ich“, sagt Ivan und lächelt. „Das hoffe ich sehr.“
 

Am Abend, als er zufällig an der Waschküche vorbeikommt, sieht er, wie Toris über die Wanne gebeugt steht und ein helles Hemd bearbeitet, auf dem ein dunkelroter Fleck zu sehen ist. Er reibt so heftig über den Stoff auf dem Waschbrett, dass Ivan glaubt, er müsste reißen.

„Nicht so grob. Pass auf deine Sachen auf.“

Toris zuckt zusammen und dreht sich um. „Oh ... ich passe schon auf“, sagt er und lächelt nervös. Es ist kein Wunder, er ist immer nervös in Ivans Nähe. Gedankenverloren tritt Ivan näher.

„Ist das Wasser kalt?“

„Ich habe es warm gemacht.“

„Aber damit geht es nicht raus“, sagt Ivan und greift nach dem Hemd. Der rote Fleck will tatsächlich nicht verblassen. „Blut muss man kalt auswaschen. Das solltest du doch mittlerweile wissen.“

„Oh nein, nein!“ Toris lacht zittrig. „Es ist Borschtsch.“

„Ach so.“

„Ja.“

Einen Moment lang stehen sie stumm da. Toris versucht, Ivan anzusehen, senkt dann aber den Blick und wendet sich wieder seinem Hemd zu. Seine Finger zittern, und Ivan fragt sich, wieso. Wenn das Wasser doch warm ist, haben sie keinen Grund dazu. Aber wahrscheinlich wird Toris nie aufhören, in seiner Gegenwart zu zittern.

„Es ist eine Schande“, sagt Ivan und seufzt.

„Was?“, fragt Toris vorsichtig und sieht zu ihm auf. Es ist etwas an seinem Blick, das sich verändert hat, denkt Ivan. Nicht in seinen Augen, denn die sind wie eh und je. Sie waren grün, als er Toris in einem Schneesturm von Feliks' reglosem Körper fortgezerrt hat, grün, als Toris geschrien und ihn angespuckt und verflucht hat. Und sie sind noch immer grün, nach allem, was passiert ist. Nein, denkt Ivan, es ist etwas an seinem Blick. Früher kannte Toris keine Unterwürfigkeit, keine Verzweiflung – vielleicht kannte er nicht einmal Furcht, früher. Vielleicht hat erst Ivan ihm all das beigebracht, in unzähligen Wochen, Monaten, Jahren. Er hat Toris beigebracht, sich zu fürchten.

Das macht ihn traurig.

„Viel Glück noch“, sagt Ivan und schlägt Toris kurz auf die Schulter. Er spürt, wie Toris unter seiner Berührung zusammenfährt, aber er versucht, es zu ignorieren. Erst, als er schon auf dem Weg ins Kaminzimmer ist, fragt er sich, wieso Toris einen so großen Fleck Borschtsch auf seinem Hemd hat.
 

„Wie lange geht das schon so?“

Toris' Blick huscht auf dem Boden herum, als gäbe es dort irgendetwas zu sehen. Ivan sieht kurz nach, aber da ist nichts.

„Nach ... seinem letzten Fluchtversuch hat er damit angefangen. Nach dem mit dem Fenster.“

„Stimmt das?“, fragt Ivan und sieht Gilbert an.

„Vertraust du deinem Leibeigenen etwa nicht, Braginsky? Natürlich stimmt es.“

„Und wie erklärst du mir, dass du seit fast einer Woche nichts mehr gegessen hast?“

„Ich hasse deinen Fraß.“

„Wenn das ein Hungerstreik sein sollte, war er schlecht organisiert. Normalerweise sagt man Bescheid, bevor man in den Hungerstreik tritt, sonst bringt er ja nichts. Nicht wahr, Toris?“

Toris nickt leicht.

„Es war kein Hungerstreik“, sagt Gilbert und rümpft die Nase. „Wieso sollte ich auf eine so dumme Idee kommen?“

„Eine dumme Idee“, stimmt Ivan zu. „Absolut nutzlos. Es bringt nur unnötige Gewalt und unnötige Tränen für alle Beteiligten. Nicht wahr, Toris?“

Wieder nickt Toris, den Blick noch immer gesenkt.

„Wir sprechen uns später“, sagt Ivan und deutet zur Tür. „Lass uns allein.“

Toris kommt dem Befehl hastig nach, den Kopf eingezogen, als mache er sich Sorgen, man könnte ihn ihm abreißen. Die Tür fällt hinter ihm zu.

„Also, Gilbert ...“

„Fang gar nicht erst an“, sagt Gilbert wütend. „Egal, was du sagen willst. Ich werde nichts essen. Dein Fraß kann mir gestohlen bleiben.“

„Du musst Hunger haben.“

„Das ist anzunehmen, Braginsky. Nach einer ganzen Woche.“

Ivan seufzt leise. „Du hast keine Ahnung, wie gut du es hast, Gilbert. Ich bin gerade dabei, dich wieder mit deinem geliebten Bruder zu vereinen, und so dankst du es mir?“

„Das ist doch eine verdammte Lüge“, knurrt Gilbert. „Du hast den Brief an West nie abgeschickt.“

„Du hast Recht, das habe ich nicht. Ich habe Eduard damit beauftragt, es zu tun. Der Brief muss vorgestern rausgegangen sein.“

„Verdammte Lüge.“

„Du wirst es sehen, sobald Ludwig zurück schreibt.“

„Wenn du den Brief abgeschickt hättest, würde er das sicher tun.“

Ivan seufzt und wendet sich ab. „Ich empfehle dir, etwas zu essen, Gilbert.“

„Vielen Dank für den Hinweis. Dann werde ich mal damit fortfahren, Lorinaitis mit Borschtsch zu bewerfen. Macht echt Spaß. Solltest du auch mal ausprobieren.“
 

Seine Gedanken sind noch immer bei Gilbert, weshalb er Toris, der nervös von einem Bein aufs andere tritt, kaum wahrnimmt. Er kennt Mittel und Wege, Gilbert seine Frechheit auszutreiben. Sicher würde es eine Weile dauern, aber es hat bis jetzt noch mit jedem geklappt. Er hat ja Zeit, so viel Zeit. Irgendwann würde er es schaffen, auch Gilbert das Fürchten beizubringen. Das Problem ist nur, dass Ivan es hasst. Er hasst es, sich mit zerbrochenen Seelen zu umgeben. Wieso bleiben nur die bei ihm, die ihn zu sehr fürchten, um wegzulaufen? Gibt es niemanden, der freiwillig bei ihm bleiben würde? Zerbrochene Seelen sind auf die Dauer so langweilig.

Toris räuspert sich, anscheinend, weil er die Stille nicht mehr aushält. „Es tut mir leid“, sagt er.

„Hmm?“, macht Ivan, aus seinen Gedanken gerissen. „Was tut dir leid?“

„Ich hätte Ihnen sagen müssen, was mit Gilbert los ist. Ich wollte nur ... dachte nur, weil ...“

„... weil du es eigentlich ganz angenehm findest, von ihm mit Essen beworfen zu werden?“

Toris senkt den Blick und starrt den Teppich an. Er zittert, stellt Ivan fest und steht von seinem Schreibtisch auf.

„Ich bin morgen den ganzen Tag lang unterwegs“, erklärt er beiläufig. „Ich werde sicher erst gegen Abend wieder zurück sein. Wenn ich wiederkomme, möchte ich, dass die Hecken hinten im Garten geschnitten sind.“

„Es wird alles zu Ihrer Zufriedenheit sein“, sagt Toris, und Ivan weiß, dass er dasselbe gesagt hätte, wenn er von ihm verlangt hätte, den Mond vom Himmel zu holen und ihn ins Gewächshaus zu sperren.

„Das will ich hoffen.“ Ivan hält noch einmal kurz inne. „Vielleicht liegt es wirklich am Essen, dass Gilbert nichts isst. Dabei schmeckt es mir persönlich immer sehr gut ... dir nicht auch, Toris?“

„Ja“, antwortet Toris. Noch immer sieht er angespannt aus, bis aufs Äußerste gereizt. Er glaubt nicht, dass das schon alles war.

„Sehr gut. Dann kannst du ins Bett gehen.“
 

Als Ivan am nächsten Tag gegen Abend nach Hause kommt, sind die Hecken geschnitten und in der Küche liegt noch sehr schwach der Geruch von Königsberger Klopsen. Toris wirft ihm den ganzen Abend über nervöse Blicke zu, wenn er glaubt, dass Ivan es nicht bemerkt, und Ivan bemerkt es und muss sich beherrschen, um nicht selig in sich hinein zu lächeln. Es hat tatsächlich geklappt. Guter, alter Toris, auf ihn kann man sich verlassen. Wenn Gilberts Magen heute Nacht ein bisschen weniger knurrt als in der vorherigen, dann weiß Ivan, woran es liegt. Aber er wird so tun, als wisse er von nichts.
 

Je mehr Zeit vergeht, desto angespannter ist Ivan jeden Morgen, wenn Eduard ihm die Post bringt. Gilbert wird ihn bald verlassen und wieder mit seinem geliebten Bruder Ludwig zusammenziehen, und Ivan weiß nicht, ob er sich darüber freuen soll. Gedankenverloren zieht er Raivis auf seinen Schoß und ignoriert dessen erschrockenes Quietschen. Eigentlich hat er gerne so viele andere wie möglich um sich, aber Gilbert will sich einfach nicht in die Familie fügen. Toris mit Essen zu bewerfen, so etwas Unanständiges ...

Nein, denkt Ivan und streicht liebevoll durch Raivis' Haare, er wird Gilbert gehen lassen. Wenn damit garantiert ist, dass von ihm keine Gefahr mehr für Ivans Kinder ausgeht, wird er diesen Handel dankend eingehen. Und außerdem ist es doch schön, eine gute Tat zu tun.

Raivis auf seinem Schoß zittert wie Espenlaub. Anscheinend möchte er irgendetwas sagen, bringt aber vor Angst kein Wort heraus. Ivan gluckst in sich hinein. Ja ja, Raivis. So ein drolliges Kerlchen.

„Du wirst bei mir bleiben, kleiner Raivis“, sagt er und hält kurz in seinem Streicheln inne. „Für immer und ewig. Nicht wahr?“

Raivis hört für einen Moment auf zu zittern und fängt danach noch stärker wieder damit an. Er gibt ein paar komische Geräusche von sich, zieht die Nase hoch und wischt sich mit dem Ärmel Tränen von den Wangen, und Ivan deutet all das als ein Ja. Er seufzt erleichtert, schlingt beide Arme um Raivis und drückt ihn an sich, so fest er kann. Es ist beruhigend, zu wissen, dass wenigstens einer immer da sein wird. Solange er Raivis hat, braucht er sich nicht einmal einen Hund anzuschaffen.
 

„Verpiss dich, Braginsky.“

„Ich sehe, es geht dir gut.“

„Nein, nein, Moment mal. Sieh genau hin. Bin ich immer noch in deinem Haus eingesperrt? Bin ich immer noch am Bett angeleint wie ein Kettenhund? Sieh genau hin und sag das noch einmal.“

Ivan seufzt. „Man kann es dir nicht recht machen.“

Man schon“, sagt Gilbert störrisch. „Du nicht.“

Am liebsten würde Ivan etwas darauf erwidern, aber wahrscheinlich war das nur die Wahrheit.

„Es ist noch kein Brief von Ludwig gekommen.“

„Spielst du dieses Spielchen immer noch?“, knurrt Gilbert. „Ich glaube dir nicht. Und außerdem, selbst wenn ...“

Er bricht ab.

„Selbst wenn was?“

„Selbst wenn West mich würde zurückhaben wollen, du würdest ja doch im letzten Moment einen Rückzieher machen. Du würdest hinterher ja doch sagen, du darfst nicht gehen, weil ich es sage. Weil Gilbert bei mir bleiben muss, da?“ Er schnaubt verächtlich.

Ivan zieht die Augenbrauen hoch. „Als ob ich so etwas jemals sagen würde. Und so hoch spreche ich auch nicht.“

„Doch, tust du. Und jetzt verzieh dich endlich.“

„Weißt du, dass es schwer ist, dich zu mögen, wenn du so gemein zu mir bist?“

„Ist mir recht. Aus irgendeinem verdrehten Grund behandelst du die, die du hasst, immer noch besser als die, die du liebst.“

„Ich hasse dich nicht“, sagt Ivan mit großen Augen.

Gilbert schüttelt den Kopf. „Dann wird’s aber langsam Zeit. Ich habe keine Lust, als dein Prügelknabe oder dein Schoßhündchen zu enden, oder womöglich als beides in einem. Aber so behandelst du alle, die du liebst. Irgendwie hast du einen Schuss weg, Braginsky, das ist es. Und jetzt lass mich endlich in Frieden meine Wand anstarren.“

Ivan könnte jetzt noch sagen, dass er keinen Schoßhund braucht, solange er Raivis hat, aber er tut es nicht. Stattdessen dreht er sich wieder um und geht. Das Zimmer ist zu hübsch für so hässliche Diskussionen, denkt er. Zu magisch für etwas so Banales.
 

Heute ist er dabei, Ivan spürt es. Er sieht es an Eduards Blick, der zu Boden gerichtet ist, als er einen Stapel Briefe auf dem Schreibtisch ablegt.

„Und?“, fragt er und bemerkt, dass sein Herz rast. Wieso ist er so angespannt?

Eduard versteht die Frage und presst kurz die Lippen aufeinander. „Ludwig ... hat das Angebot zurückgewiesen.“

Ivan braucht einen Moment, um diese Antwort zu verarbeiten. „Zurückgewiesen?“

„Er sagte, er würde sich weigern, irgendwelche Verhandlungen mit uns aufzunehmen.“

„Dieser Dummkopf.“

Eduard sagt nichts dazu, tritt von einem Bein aufs andere und beobachtet Ivan wachsam.

„Lies mir den Brief vor.“

„Ich denke nicht, dass ich das sollte“, erwidert Eduard hastig. „Es stehen einige ziemlich ... hässliche Dinge darin, und wenn Sie meine Meinung hören wollen, sollten Sie besser ...“

„Ich sagte, lies ihn mir vor.“

Angespannt zieht Eduard einen Brief aus dem Stapel, entfaltet ihn und beginnt stockend, zu lesen.
 

Wieder steigt er die Treppe hinauf, aber diesmal hat er kein Geschenk dabei. Das ist schade, denkt Ivan. Nun wird er doch gezwungen sein, Gilbert in seine Familie einzubinden, ob ihm das nun gefällt oder nicht. Aber vielleicht genügt es Gilbert ja, zu wissen, dass Ludwig ihn zurückgewiesen hat. Vielleicht genügt schon das, um ihn zu zerbrechen. Der Gedanke erleichtert Ivan ungemein. Nicht so viel Blut und Tränen. Diesmal nicht.

„Verpiss dich, Braginsky.“

„Ist das jetzt deine Begrüßung für mich?“

„Nein, die Verabschiedung.“

Gilbert ist mager geworden, trotz den Klopsen vor ein paar Tagen. Er sieht sehr blass aus, fast zerbrechlich, trotz seiner eigentlich breitschultrigen Statur. Besonders groß war er nie, aber immer aggressiv wie ein Terrier. Schade, dass der Terrier mittlerweile alt und müde ist, mit trüben Augen und stumpfen Zähnen.

„Was willst du hier?“, fragt Gilbert und wendet den Blick ab. „Erledige es und geh wieder.“

„Ich muss dir etwas sagen.“

„Was?“

„Dass du nicht zu Ludwig gehen wirst.“

Langsam dreht Gilbert den Kopf und starrt Ivan an. Er hat daran geglaubt. Trotz seinem Spott, trotz all seiner Beteuerungen hat er sich an die Hoffnung geklammert, er würde Ludwig wiedersehen. Und nun droht diese letzte Hoffnung, zu zerplatzen.

„Warum nicht?“, flüstert Gilbert.

Er wird zerbrechen, stellt Ivan fest. Der Gedanke, dass Ludwig ihn endgültig im Stich gelassen hat, wird zu viel für ihn sein. Er wird jeden Widerstand gegen Ivan aufgeben, er wird sich selbst aufgeben – und das ohne jedes Blutvergießen, ohne jede Gewalt. Er wird still werden, still und brav und folgsam, wie alle hier. Ein ewig zitterndes Nervenbündel wie Raivis. Eine leere Hülle, in der irgendwann einmal eine Persönlichkeit gelebt hat, wie Toris.

„Warum nicht, Braginsky?!“, brüllt Gilbert ihn an, ein Glitzern in den Augen.

„Weil ich es sage“, antwortet Ivan knapp. „Du wirst Ludwig nie wieder sehen. Du wirst für immer bei mir bleiben.“

Einen Moment lang starrt Gilbert ihn nur an. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Der ohnmächtige Zorn bricht in einem Schrei aus ihm heraus, der die Wände des kleinen Raumes zum Beben zu bringen scheint. Ohne ihn noch einmal anzusehen, dreht Ivan sich um und geht hinaus. Als er die Tür hinter sich schließt, wird der Schrei abgeschnitten.

Es muss ein magisches Zimmer sein, überlegt Ivan. Wie schön, dass es nicht wieder leer stehen wird.



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